Dr. Manuel Vermeer, Sohn einer indischen Mutter und eines deutschen Vaters, studierte klassische und moderne Sinologie in Heidelberg, Shanghai (1982/83) und Mainz. Er lehrt am Ostasieninstitut der HWG Ludwigshafen sowie Hochschulen in Europa und Asien. Er ist Inhaber der Dr. Vermeer Consult (Unternehmensberatung für China, Indien und Südostasien, www.vermeer-consult.com). Seit über 40 Jahren bereist er zahlreiche Länder Asiens, er ist Sachbuchautor zu Indien und China und arbeitet als Mediator und Coach im Asiengeschäft. Zahlreiche Interviews in Radio, TV und anderen Medien. „Das Jahr des Hahns“ ist sein zweiter Asienthriller um die deutsche Heldin Dr. Cora Remy.
2. Auflage 2020
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
©Manuel Vermeer asia@vermeer-consult.com
Umschlaggestaltung: Harms Kraa, www.dekstaslab.de
nach einer Idee von Ralf Kramp
© 2017
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH,
Norderstedt.
ISBN: 9783743111202
Bei meinem vorliegenden Buch handelt es sich um einen
Roman. Dieser ist das Werk meiner Fantasie und
beinhaltet damit eine Fiktion, keine Dokumentation. Den
Flughafen Hahn, die in seinem Zusammenhang in
Erscheinung getretenen Menschen und Unternehmen sowie
Institutionen gibt es natürlich tatsächlich. Sie alle sind u. a.
Gegenstand unterschiedlicher Berichte. Hierauf habe ich
bei den Recherchen zu meinem Buch zurückgegriffen.
Soweit mein Roman von der Realität abweicht, ist meine
Darstellung frei erfunden.
Als der Mann das Tier sah, wusste er, dass er heute sterben würde. Der Hahn war in einen engen Käfig gesperrt, schlug unruhig mit den Flügeln, als wüsste er, was ihm bevorstand. Der Mann wusste es. Er wusste auch, dass sein eigenes Ende nicht so leicht werden würde wie das des Tieres. Und dass es keinen Ausweg aus dieser Situation gab. Wenn die Gesellschaft etwas beschlossen hatte, gab es kein Entkommen. Wenn sie das Opfer vorwarnten, dann töteten sie es nicht. Wenn sie es töten wollten, warnten sie es nicht. Es hatte keine Vorwarnung gegeben.
Hätte er es wissen können? Eine müßige Frage, aber es war ganz natürlich, sie zu stellen. Die Verabredung an diesem Ort war ungewöhnlich, aber das war das ganze Unterfangen ohnehin. Er hatte Fehler gemacht, ja, aber er hatte sich eine zweite Chance erhofft. Offensichtlich vergeblich. Es gab keine Fluchtmöglichkeit; die Halle war auf allen Seiten abgesichert. Sie waren schon da, natürlich; der Hahnenkäfig auch. Seine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, und zunächst schemenhaft, dann langsam deutlicher konnte er das Szenario erkennen.
Sie hatten sich, entsprechend ihrem Symbol, zu einem Dreieck aufgebaut, und zwar so, dass er die Spitze bildete. Sie waren zu acht, auch das war logisch. Acht Männer, Sporthosen, T-Shirts, ganz in Schwarz. Alle trugen sie ihre langen, schwarzen Haare offen. Völlig ruhig sahen sie ihn an; da war kein Hass in ihren Augen, keine Gefühle, nichts. Nur ruhige, ausdruckslose Blicke. Unbeteiligte Blicke. Hatte er nicht wenigstens Hass verdient? Zorn? Nein, nicht einmal das gaben sie ihm.
Einer ging ruhig in die Mitte des Dreiecks und stellte sich neben den Käfig. Der Hahn wurde immer unruhiger; hatte er die Machete gesehen? Der Mann machte langsam einen Schritt nach vorn; wohin sonst? Hinter ihm war die Stahltür, durch die er eben eingetreten war, in diese riesige Halle voller Regale, Gabelstapler, undeutlich zu erkennender Gegenstände und Vorrichtungen. Der Boden bestand aus nacktem Beton; wie praktisch. Das Blut konnte man von diesem Boden leicht entfernen, und es würde viel Blut geben. Er hatte Bilder gesehen, viele Bilder. Sie gingen ihm gerade durch den Kopf.
Niemand sprach ein Wort, wozu auch? Es gab nichts zu sagen, keine Rechtfertigung, keine Erklärung. Langsam beugte sich der in der Mitte separat stehende Mann, fast ein Junge noch, ja, definitiv ein Junge, vielleicht achtzehn oder neunzehn Jahre alt, nach unten, öffnete die Käfigtür und griff blitzschnell nach dem Tier, packte es am Hals und zog es aus seinem Gefängnis. Der Mann, der voraussah, was gleich mit dem Tier geschehen würde, beneidete es; wer hätte gedacht, dass er je einen Hahn beneiden würde? Das Leben war seltsam. Nun, ihn betraf es nicht mehr, sein Leben würde nicht noch mehr seltsame Wendungen nehmen. Es war vorbei. Er sah ausdruckslos zu, wie der Junge, der mit der rechten Hand das Tier am Hals gepackt hatte, ihm mit der Machete, die er in der linken Hand hielt, ganz leicht den Hals anritzte. Er ließ einige Blutstropfen in eine vorbereitete Schüssel fallen. Dort befand sich bereits eine ansehnliche Menge Baijiu, chinesischer Schnaps. Rasch schnitt der Junge dem Tier den Hals komplett durch und ließ den Körper achtlos auf den Boden fallen. Dann bückte er sich, hob die Schüssel empor, schwenkte sie vorsichtig, sodass sich Blut und Alkohol vermischten. Er nahm einen tiefen Schluck aus der Schüssel und reichte sie an den neben ihm stehenden Mann weiter. Dieser trank ebenfalls einen Schluck und gab danach die Schüssel weiter. Als alle Männer schweigend getrunken hatten, somit Blut und Alkohol von allen gemeinsam getrunken worden waren, war das Ritual erfüllt.
Der Junge lachte laut; er war stolz. Dem Ritual war Genüge getan, er war ein Teil der Gruppe geworden.
Dann wandte der Junge sich ihm zu, um seine erste Aufgabe als vollwertiges Mitglied zu erledigen. Instinktiv trat der Mann einen Schritt zurück, er wusste, dass es sinnlos war; er spürte den warmen Urin, der seine Beine hinunterlief. Vor Angst hatte sich seine Blase entleert. Er wollte in einer Abwehrbewegung die Hände erheben, aber zu spät. Der Junge packte die Machete erneut und, mit einer für sein Alter erstaunlichen Fertigkeit und Eleganz, schlitzte er ihm den Bauch auf; zwei Hiebe, Blut und Eingeweide quollen hervor. Der Mann hielt seine Hände vor den Bauch, als wolle er alles, was da heraushing, wieder zurückstopfen, aber der Junge war nicht fertig, und das wussten sie beide. Noch zwei blitzschnelle, kaum sichtbare Bewegungen, und seine beiden Hände wurden vom Handgelenk abgetrennt und fielen zu Boden. Als der Junge erneute die blutige Machete hob, waren die Götter, wenn es sie denn gab, so gnädig, den Mann ohnmächtig werden zu lassen. So bekam er nicht mehr mit, was sie noch mit ihm machten.
Der Hahn war tot. Der abgeschlagene Kopf lag auf dem Boden. Die Augen, leer, tot, schienen dennoch zur Tür zu starren, genau zu der Stelle, wo, welche Ironie, das Schild hing: Cargohalle Flughafen Hahn.
Zhang wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er war es nicht gewohnt zu laufen, wozu hatte er schließlich einen Wagen mit Chauffeur? Aber der Stau war heute wieder unerträglich, und er wollte nicht zu spät kommen. Also hatte er seinem Fahrer kurzerhand gesagt, er solle anhalten und war ausgestiegen, um die letzten Meter zu Fuß zu gehen. Die Sommerschwüle Shanghais war kein Spaß. Natürlich kannte er das; er war hier geboren, aufgewachsen, hatte an einer der renommiertesten Universitäten des Landes studiert. Die Tongji Daxue, Tongji-Universität, hatte 1924 unter diesem Namen wiedereröffnet; ihre Vorgängerinstitution, die Deutsche Medizinschule für Chinesen in Shanghai, war 1907 von der deutschen Regierung und einigen Ärzten gegründet worden. Die deutsche Tradition hatte sich fortgesetzt; viele Unternehmen aus Deutschland unterstützten diese Institution auch in den folgenden Jahren und Jahrzehnten. Schließlich hatte man ein chinesisch-deutsches Hochschulkolleg dort gegründet, um die akademische Zusammenarbeit weiter zu fördern. Daher wurden dort noch immer viele Deutschkurse angeboten. Zhang hatte aber daran nicht teilgenommen; er hatte Wirtschaft studiert und sprach ein gutes Englisch.
Er konnte sich gar nicht erinnern, wann er das letzte Mal so weit zu Fuß gegangen war. Wie viele Chinesen seines Alters war er kein großer Freund von körperlicher Betätigung; aber er hatte es weit gebracht, er hatte eine schöne Villa, einen Fahrer, genug Geld, wozu also sollte er laufen? Da schwitzte man nur; er bereute es schon, ausgestiegen zu sein. Die Luftfeuchtigkeit hier in Shanghai war extrem hoch; sicher wieder über neunzig Prozent heute; dazu die circa fünfunddreißig Grad und der Smog … Er blickte sich um, aber sein Fahrer war abgebogen und verschwunden. Zaogao, Mist. Zhangs weißes, kurzärmeliges Hemd aus Polyester klebte an seinem Körper; er strich sich eine nasse Haarsträhne aus der Stirn und wischte sich mit einem seidenen Taschentuch, das er in Paris erstanden hatte, über sein Gesicht.
Endlich, da war es, in Sichtweite lag das Bürogebäude, in dem das entscheidende Meeting stattfinden sollte. Wolkenkratzer säumten die Century Avenue in Pudong; vor vierzig Jahren waren hier nur Hütten, Kanäle und Felder gewesen. China war, nach den verheerenden Jahren der maoistischen Gewaltherrschaft, wirtschaftlich und gesellschaftlich am Boden, eines der ärmsten Länder der Welt. Millionen waren für und durch Mao Zedong gestorben. Erst 1976, als der Große Vorsitzende endlich tot war, beruhigte sich die Lage, aber es hatte noch einige Jahre gedauert, bis die Wende erfolgt war. Deng Xiaoping hatte das Land umgekrempelt, die Reform- und Öffnungspolitik begonnen und China auf den Weg gebracht, auf dem es jetzt an die Weltspitze strebte. Und dann hatten sie, dank Leuten wie ihm, Zhang, die imposanteste Skyline der Welt errichtet! Ja, der Welt. Allerdings wäre etwas Schatten jetzt besser gewesen als diese tolle Skyline; es gab hier keine Bäume! Die mageren Sprösslinge, aus denen nie große Bäume werden würden, boten keinen Schutz vor der sengenden Sonne; aber gut, gleich hatte er es endlich geschafft.
Aiyaa! Mit einem erleichterten Aufatmen betrat Zhang durch eine Drehtür die Lobby des Bürogebäudes; sofort umfing ihn die erfrischende Luft der wie immer zu kalt eingestellten Klimaanlage. Ah! Das war jetzt gut! Auf dem blitzblank geputzten Marmorboden ging es direkt zu den Aufzügen, rechter Hand befand sich eine große Rezeption, daneben das obligatorische riesige Schild mit allen Firmen und Büros, die in diesem Gebäude untergebracht waren, und der dazugehörigen Stockwerk- und Raumnummer.
Zhang wusste genau, wohin er wollte, und steuerte auf die Aufzüge der linken Seite zu. Die hielten nicht in jedem Stock, wie die auf der rechten Seite, sondern nur ab dem zwanzigsten Stockwerk aufwärts, das sparte Zeit. Und Zeit war etwas, was Chinesen nicht hatten. Sie mussten ihr Land aufbauen, Geld verdienen, leben! Jetzt, hier und heute. Sofort. An ein Leben nach dem Tod glaubten nicht alle Chinesen, schon gar nicht an eine Wiedergeburt, wie die Inder. Tausende Male wiedergeboren zu werden, womöglich als Kuh oder als Gummibaum, na danke! Aber die Inder waren ohnehin unzivilisiert, das sah man doch; Dreck an jeder Ecke, sie beteten Elefanten an, oder waren das nicht sogar Menschen mit Elefantenköpfen? Egal, alles Humbug. Er hielt sich, wie die meisten Chinesen, lieber an das Hier und Jetzt, an Geld, das man jetzt hatte, nicht erst im übernächsten Leben!
Müßiggang war Chinesen sehr fremd; eine Studie hatte gezeigt, Zhang hatte das neulich irgendwo gelesen, dass weltweit die Chinesen diejenigen waren, die als Schnellste nach Betreten eines Aufzuges den Knopf mit dem Symbol für „Türe schließen“ drückten. Zhang fand das völlig normal, er verstand nicht, wieso sich der amerikanische Verfasser des Beitrages darüber lustig gemacht hatte. Warum Zeit verschwenden mit dem Warten? Man sah ja sehr gut bei den Amerikanern, wohin das führte. Die waren satt, langsam und pleite. China war auf dem Weg nach oben, hatte keine Zeit zu verlieren, nicht in der Welt und auch nicht in diesem verdammten Aufzug! Wieso fuhr der nicht los?
Ah, da kam Lao Peng, einer seiner Partner, wie immer in aller Ruhe. Deswegen schwitzte der auch nie. Auch er trug eine graue Stoffhose und ein weißes Hemd, aber eine schicke Intellektuellenbrille, der alte Angeber. Sicher hatte er den Lift gestoppt. Als Lao Peng (eigentlich war sein Nachname ja nur Peng, aber aus alter Freundschaft heraus, und weil Peng älter war als er, Zhang, nannte dieser ihn Lao Peng, „alter“ Peng, eine liebevolle und gleichzeitig höfliche Anrede) den Aufzug betrat, nickte er Zhang zu, mit einem Streichholz in seinen Zähnen stochernd. Unverkennbarer Knoblauchgeruch schlug Zhang entgegen, als Peng ihm nahekam, bemüht, ein kleines Stückchen Knorpel, das ihm von den eben genossenen Hühnerfüssen zwischen zwei Zähnen stecken geblieben war, zu entfernen und gleichzeitig zu sprechen. Hühnerfüße waren gesund, ja, und Peng achtete sehr auf seine Gesundheit.
„Zenmeyang?“, murmelte Peng. Diese Frage nach Zhangs Befinden war keineswegs von genuinem Interesse geprägt, und Zhang machte sich daher auch nicht die Mühe, zu antworten; man kannte sich, und jedes überflüssige Wort wurde vermieden. Nachdem sich noch eine Angestellte hineingedrängt hatte, schlossen sich die Türen endlich, während Zhang sein Handy checkte und Peng mit Kennerblick auf den kurzen Rock der jungen Frau starrte. Es galt ebenfalls als ausgesprochen gesundheitsfördernd, ja, geradezu lebensverlängernd, für einen Mann, möglichst oft mit einer Jungfrau …, vorausgesetzt, man beherrschte die richtige Technik, beherrschen war ohnehin das Entscheidende, aber, war sie überhaupt noch Jungfrau, man wusste ja nicht, heutzutage …. So glitten sie lautlos und rasend schnell in den zweiundvierzigsten Stock, wo sich ihr Meetingraum befand. Zhang lief raschen Schrittes zu einer Glastür zur Linken des Aufzuges, Peng folgte, einen letzten bedauernden Blick auf den Rock und die dazugehörigen Beine werfend. Die Unsterblichkeit würde warten müssen.
Sie waren zu viert, alle etwa gleich alt. Zhang, der erfolgreiche Geschäftsmann, der am Kopfende des braunen, ovalen Tisches Platz genommen hatte; Lao Peng, der in seiner Aktentasche schon wieder auf der Suche nach Essbarem war; Liang, ein Freund von Peng, ein hagerer Mittvierziger mit schon grauem Haar, schiefen Zähnen und dem aus Zhangs Sicht grauenhaften Dialekt der Bauern aus Zhejiang, und schließlich der hochgewachsene Mao, der, mit seinem rundlichen Gesicht und den breiten Schultern witziger Weise seinem berühmten Namensvetter auch äußerlich ähnelte, was ihm den Dauerspott seiner Freunde einbrachte. Aber er hatte das Geld, ihm hatte das größte Stück Land gehört, er besaß noch mehr, und seine Partner brauchten ihn.
Eine Assistentin hatte die weißen Teetassen gefüllt. Die Teeblätter, tiefgrün, schwammen noch oben auf dem kochenden Wasser. So musste der Tee sein, erst wenn die Blätter langsam nach unten sanken, war die Trinktemperatur erreicht. Man schlürfte kurz, probierend, dann legte man den Deckel mit der Unterseite nach oben auf den Tisch, damit das Wasser besser abkühlen konnte. Auf jedem Platz lagen Block und Kugelschreiber, in der Mitte des Tisches stand eine ganze Batterie von Plastikflaschen mit angeblich aus dem Himalaya stammenden Quellwasser; „5100“ hieß es, weil die Quelle auf dieser Höhe in Tibet lag. Wenn es keine Fälschung war, dachte Zhang bei dem Anblick dieser blauen Fläschchen; überall in China gab es zunehmend gefälschte Lebensmittel; auch vor Wasser wurde da nicht Halt gemacht. Es gab sogar gefälschten Reis aus Plastik! Eine Schande.
Zhang räusperte sich, zündete eine Zigarette an, blickte kurz durch die Fensterfront auf die Skyline von Shanghai und den gut zu erkennenden 632 Meter hohen Shanghai Tower und eröffnete die Runde.
„Also, Freunde, lasst uns anfangen. Ich fasse kurz zusammen, wie der Stand der Dinge ist. Mao und Liang haben ihre Grundstücke verkauft, dank meiner Beziehungen zur Stadtregierung zu durchaus … äh … angemessenen Preisen.“ Er grinste, auch die anderen konnten sich ein Lächeln nicht verkneifen. Natürlich waren die Preise völlig überzogen gewesen, aber der zuständige Parteisekretär hatte ihnen großzügig den verlangten Betrag gezahlt, wohl wissend, dass einige Prozente daraus wieder an ihn zurückfließen würden. So waren sie alle reich geworden, das übliche und in China tausendfach erprobte Schema im frisch erwachten Kapitalismus der letzten Jahrzehnte.
„Gut, das Geld ist da, und die Frage ist, wohin damit. Wir haben uns zusammengetan, ich habe die Beziehungen zur Partei und passe auf, dass uns nichts passiert. Lao Peng hier ist ein Freund von mir, den ich euch heute vorstellen möchte, und er hat einen interessanten Vorschlag. Los, erzähl, was du mir neulich berichtet hast!“
Zhang blickte auffordernd zu seinem Freund. Lao Peng nickte, nahm laut schlürfend einen ordentlichen Schluck aus seiner Teetasse, spuckte ein Teeblatt, das ihm in den Mund geraten war, auf den Tisch, rückte vornehm seine Brille zurecht und blickte in die Runde.
„Ja, also Zhang kenne ich aus unserer gemeinsamen Zeit an der Tongji-Universität. Er hat damals BWL und Englisch studiert, ich war an der deutschen Fakultät und habe dann in Deutschland studiert. Später habe ich hier in Shanghai eine Professur erhalten. Ein Freund von mir heißt Ma, er ist Ingenieur und hat auch viel mit Deutschland zu tun. Dazu später mehr, ihr werdet ihn kennenlernen. Als Zhang zu mir kam und mir bei einigen Gläsern Maotai erzählte, er suche nach Investitionsmöglichkeiten, dachte ich gleich an Ma. Wie ihr alle wisst, ist Deutschland eines der reichsten Länder der Welt. Sehr klein, aber mit hervorragenden Ingenieuren, Technikern, sehr guten Produkten, die ihr ja auch alle täglich benutzt.“
Sie nickten, sowohl Mao als auch Liang fuhren einen Audi A8, Zhang einen 7er BMW, er selbst einen Porsche Cayenne. Jeder Chinese wusste, wie weltweit anerkannt deutsche Produkte waren und dass man sich auf deutsches Knowhow verlassen konnte. Und die Frau, diese deutsche Kanzlerin, war ja die mächtigste Frau der Welt! Das stand in vielen Rankings, und so etwas beeindruckte Chinesen. Und, auch das war klar, sie ließ sich nichts sagen. Das beeindruckte noch mehr. Ebenso wie ihre Volksnähe; wie sie mit den Flüchtlingen umgegangen war, hatte auch viele Chinesen beeindruckt. Mitmenschlichkeit gehörte nicht zu den herausragenden Attributen ihrer Politiker, was sie aber sehr vermissten.
„Ja, also auch im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ist Deutschland unschlagbar. In Südeuropa gibt es viele finanzielle Probleme, marode Banken, hohe Verschuldung, Arbeitslosigkeit. Sogar Frankeich hat Probleme, Großbritannien nach dem Brexit-Beschluss ohnehin. Was bleibt außerhalb Europas? Afrika ist potenziell lukrativ, aber hochriskant, und wir kennen uns da nicht aus. Die USA sind derzeit auch nicht planbar, und wir haben zunehmend das Gefühl, dort nicht willkommen zu sein. Auch wenn – oder weil – schon weitaus mehr amerikanische Unternehmen in chinesischer Hand sind, als die meisten Menschen wissen. Ich denke, es ist offensichtlich, dass wir bei der Überlegung, wohin mit dem Geld, nach Deutschland blicken sollten. Und dabei kann ich helfen.“ Zufrieden lehnte er sich zurück und schob sich noch ein Stück Trockenfleisch in den Mund.
Liang nickte nachdenklich. Es war sein Geld, er war von Natur aus sehr vorsichtig, aber Deutschland erschien auch ihm als sicher. Auch Mao, der ja am meisten investieren wollte, schien interessiert.
„Und was genau schwebt dir vor, Peng? Ich meine, wir haben richtig viel Geld, aber was sollen wir damit machen? Immobilien? Fonds? Firmen? Kennst du vielleicht eine deutsche Firma, die etwas Interessantes herstellt, die wir kaufen können?“
Hier griff Zhang ein. „Genau“, sagte er und rülpste kräftig. „Dafür habe ich Peng mitgebracht. Er kennt sich aus, er spricht die Sprache, kennt die Kultur, kennt Leute. Lao Peng, was ist dein Vorschlag?“
Peng beugte sich vor. Seine Augen blitzten, und für einen Moment hörte er zu kauen auf (was ihm schwerfiel, denn die Streifen von getrocknetem Rindfleisch, die er in seiner Tasche gefunden hatte, waren sehr lecker). „Ich habe mir einiges angesehen an Firmen, Immobilien und so. Das ergibt Sinn. Keine Fonds, wir investieren nur in Sachwerte. Und dabei bin ich auf etwas äußerst Interessantes gestoßen.“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause, um die Wichtigkeit seiner Entdeckung und damit seiner Person zu unterstreichen. Alle warteten gespannt. Welche Investition würde er vorschlagen? Es gab viele gute Mittelständler in Deutschland, viele waren schon von Chinesen gekauft worden, und die Käufer hatten sehr gute Erfahrungen damit gemacht. Vielleicht ein Automobilzulieferer? Sie interessierten sich alle für Autos; das wäre doch eine gute Idee! Oder eine Bank?
Als eine junge Chinesin mit zwei Kannen heißem Wasser den Raum betreten wollte, um ihnen nachzuschenken, verscheuchte Zhang sie unwirsch mit einer Handbewegung.
Peng genoss noch kurz die Spannung, dann ließ er die Katze aus dem Sack. „Wir kaufen einen Flughafen!“
Er lehnte sich zurück und genoss den Augenblick der allgemeinen Überraschung. Mao und Liang saßen wie erstarrt, selbst Zhang sog scharf die Luft durch seine Zahnlücke ein. Donnerwetter, dieser Peng! Das alte Schlitzohr hatte sich wieder mal selbst übertroffen. Der wusste, wie man Eindruck machte; nicht kleckern, sondern klotzen. Ein Flughafen!
Nachdem sich die erste Überraschung gelegt hatte, sprachen alle durcheinander. Ein Flughafen? Kaufen? Durfte man das denn? War das nicht verboten? Das war doch sicher viel zu teuer, selbst sie hatten nicht so viel Geld? Und was sollten sie damit; keiner von ihnen verstand etwas von der Fliegerei, geschweige denn von Technik oder Logistik. Fragen über Fragen prasselten auf Peng ein, und er ließ es lächelnd geschehen. Sein Auftritt war wie geplant gelaufen, er hatte die volle Aufmerksamkeit seiner Partner.
„Hört mal zu. Das ist alles noch nicht im Detail ausgearbeitet, ich wollte erst mal mit euch sprechen. Es gibt mehrere Flughäfen in Deutschland, die sehr klein sind und sich nicht tragen. Einer speziell ist zu kaufen, ich habe euch die Unterlagen hier mal mitgebracht.“ Peng schob jedem von ihnen eine Mappe zu. „Schaut euch das kurz an, dann erläutere ich das.“
Zhang musterte ihn anerkennend von der Seite. Er hatte Peng unterschätzt. Sein ständiges Essen und sein unverhohlenes Interesse an der Damenwelt, um es vorsichtig auszudrücken, ließen ihn irgendwie unprofessionell erscheinen. Diese Präsentation war aber vom Feinsten. Man merkte, dass er in Deutschland gelebt hatte. Zhang blätterte durch die Mappe, und dann blieb sein Auge an dem Wort hängen, das, wie er aus den Augenwinkeln sah, auch seine Partner fesselte: Hahn. Flughafen Hahn im Hunsrück. Wo zum Teufel lag das denn?
Peng, der in der Zwischenzeit kurz den Raum verlassen hatte, um die Toilette aufzusuchen, kam zurück. Er lächelte, was seine Freunde fälschlicherweise auf den Flughafendeal zurückführten. Sie konnten ja nicht wissen, dass er draußen versehentlich eine wunderschöne Halskette hatte fallen lassen, als er an der von ihm präferierten Kellnerin vorbeikam. Das funktionierte immer. Er hatte sich entschuldigt und die Kette wieder eingesteckt, aber die Botschaft war angekommen. Der heutige Abend war gesichert. Zielstrebig und gut gelaunt nahm er Platz und, ohne auf Zhang zu warten, der ja eigentlich das Meeting leitete, fing er an, die Sache zu erläutern.
„Hao, gut. Fangen wir an. Ihr wisst ja hoffentlich, dass 1945 der Zweite Weltkrieg in Deutschland endete. Nicht? Na gut, auch egal. Die Deutschen hatten den Krieg ja angefangen, 1939 hatte Hitler Polen überfallen und den Krieg erklärt.“ Alles nickte; Hitler, Xi te le, war allen ein Begriff. Diktator, zielstrebig, diszipliniert, hatte halb Europa in wenigen Monaten erobert – beeindruckend. So lernte man das in der Schule. Liang und Mao hatten zwar als Bauern nicht nur wenig von der Schule gesehen, sondern auch darüber hinaus nichts von der großen Welt gehört, aber Diktaturen galten im chinesischen Reich sehr viel. Demokratie hatte es in China nie gegeben. Das Schlimmste, was einem Staat passieren konnte, war Luan, Chaos; das kannte man von Fremdherrschaften oder auch von den wenigen Regierungszeiten, in denen Frauen an der Macht gewesen waren. Und Demokratie war Luan; China, mit seinen 1,3 Milliarden Einwohnern, brauchte eine starke Zentralmacht, die alles regelte. Hitler hatte sein Land fest im Griff; sein Image war daher überwiegend positiv. Er war für den Tod vieler Menschen verantwortlich, gewiss. Aber das war Mao Zedong auch, und dennoch war die offizielle Bewertung seiner Amtszeit, dass er zu dreißig Prozent Fehler gemacht, aber doch zu siebzig Prozent Gutes für China geleistet hatte. Und störende Elemente mussten nun einmal eliminiert werden, darüber waren sich alle einig; wie sonst sollten die anderen in Frieden leben?
„Okay, also, nach dem Kriegsende in Deutschland 1945 warfen die Amerikaner noch Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, und der Zweite Weltkrieg war endgültig beendet. Ihr wisst, dass wir, also die Republik China, auch zu den Siegermächten gehörten, weil wir Japan besiegt hatten? Nein? Das solltet ihr aber. Deswegen bekam China auch einen permanenten Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Die Franzosen hatten eigentlich eine Niederlage gegen Hitler erlitten, wurden aber von den drei Siegermächten USA, Großbritannien und Sowjetunion auch zu einer Siegermacht erklärt.“
Peng merkte, dass er seine Zuhörer völlig überforderte, und kam auf das eigentliche Thema zurück.
„Frankreich fing dann an, in dieser nahe zu seiner Grenze gelegenen deutschen Region einen Militärflugplatz zu bauen. Die Amerikaner haben ihn dann, so 1953 glaube ich, übernommen und einen richtigen Flughafen daraus gemacht. Das war damals einer der größten Luftwaffenstützpunkte der USA in Deutschland! Das lief lange gut, und erst Anfang der Neunziger haben die Amerikaner den Flughafen den Deutschen übergeben, die ihn nun zivil nutzen wollten. Das war die Idee des damaligen Wirtschaftsministers. Dieser Flughafen bedient zur Zeit primär kleinere Linien, die innerhalb Europas in Konkurrenz zu den großen Flughäfen versuchen, mit Billigangeboten zu konkurrieren. Soweit ist alles gut. Der Flughafen gehört in erster Linie dem Bundesland, in dem er liegt, Rheinland-Pfalz, und zu einem kleinen Teil noch einem anderen Bundesland. Das muss uns alles nicht interessieren, ich erkläre es euch nur der Vollständigkeit halber. Aber in letzter Zeit ziehen sich die kleinen Linien zurück, der Hahn, so heißt der Flughafen, ist nicht ausgelastet und scheint Richtung Insolvenz zu gehen. Es gab irgendwie Probleme mit staatlichen Zuschüssen, angeblich lief da nicht alles sauber, na ja, das kennen wir ja. Das Konzept scheint also nicht aufzugehen, es gab eine Zusammenarbeit mit einem russischen Flughafen, auch mit einem chinesischen hier in Zhengzhou. Andere chinesische Fluglinien, vor allem im Frachtbereich, landeten auch auf diesem kleinen Provinzflughafen, sie sind aber inzwischen wieder abgezogen. Also, es droht die Insolvenz, denn die Konkurrenz von Frankfurt / Main ist einfach zu groß.“
„Was wäre denn daran so schlimm?“, fragte Mao interessiert. „Dann geht er eben pleite, ich dachte, so funktioniert Marktwirtschaft. Was sich nicht trägt, verschwindet. Oder nicht?“
„Stimmt genau, Mao, so ist das in der Theorie auch.“ Peng nickte zufrieden. So dumm waren diese Bauern doch nicht, hatten immerhin schon mal von Marktwirtschaft gehört. „Aber in Deutschland wird auch alle fünf Jahre gewählt, und wenn am insolventen Flughafen Arbeitsplätze verloren gehen, und das wird natürlich der Fall sein, gehen Wählerstimmen verloren. So muss man das verstehen. Rein rechnerisch wäre es wohl billiger, jedem Arbeitslosen einen Teil des Geldes zu geben, das die Regierung da jedes Jahr investiert, und den Laden zuzumachen.“ Peng lachte über diese Idee, die auch er absurd fand.
„Jedenfalls will die Landesregierung die Insolvenz verhindern. Sie könnte theoretisch die Subventionen weiterlaufen lassen und so mit dem Geld der Steuerzahler die Insolvenz verhindern; aber das erlaubt die Europäische Kommission nicht. Die Dauer und die Höhe weiterer Subventionen für den Flughafen sind begrenzt. In Europa ist das so geregelt, dass zwar jeder Staat seine Souveränität hat, aber dennoch in manchen Dingen die Kommission das Sagen hat und die Staaten sich daran halten müssen. Das macht Europa für uns Chinesen ja so interessant; die ungefähr achtundzwanzig Staaten sind ja nie einer Meinung. Jetzt treten die Briten auch noch aus der EU aus, sehr gut! Wir können günstig dort einkaufen, weil das Pfund gefallen ist, und wir können die einzelnen Staaten wunderbar gegeneinander ausspielen. Meist machen sie das auch selbst schon. Sie sind also oft zerstritten, auch zum Beispiel in der Frage, wie sie mit China Geschäfte machen sollten oder nicht, und machen sich so gegenseitig das Leben schwer. Das ist wunderbar für uns.“
Peng lachte zufrieden, Mao und Liang stimmten in das Lachen ein, auch wenn sie nicht alles verstanden hatten. Diese Europäer, die sie immer so bewunderten, waren offensichtlich nicht so schlau wie die Chinesen! So viel hatten sie verstanden. Peng war wirklich congming, ein Schlaukopf!
„Also“, fuhr Peng geduldig fort, „sucht Rheinland-Pfalz dringend Käufer, die selbstverständlich auch ein Konzept mitbringen sollen, was sie mit dem „Hahn“ vorhaben. So einfach ist das. Ein deutscher, voll funktionsfähiger Flughafen, mitten in Europa! Ein Logistikzentrum – ihr wisst, wie groß der Handel Chinas allein mit Deutschland ist? Die importieren jährlich Waren im Wert von hundert Milliarden Dollar von uns! Und vielleicht beeindruckt es euch, wenn ich sage, dass wir Chinesen allein im ersten Halbjahr 2016 fast fünfunddreißig Milliarden Dollar in Europa investiert haben! Das ist mehr als in den USA! Wenn wir auch nur einen Bruchteil dieses Handelsvolumens auf den Hahn umleiten können … stellt euch das vor! Frankreich, Belgien, die Niederlande liegen direkt vor der Tür; die Deutschen haben das beste Autobahnnetz in Europa, und der Hahn ist direkt daran angeschlossen. Na, wie klingt das für euch?“
Einen Moment herrschte Stille. So langsam ging ihnen die Tragweite dessen auf, was Peng da eben gesagt hatte. Er schien es ernst zu meinen. Sie hatten die Chance, etwas Unglaubliches zu tun. Sie konnten ihr Vermögen ins Unermessliche steigern, wenn es ihnen gelang, auch nur einen kleinen Teil des Frachtaufkommens dort hinzubringen und dann entsprechende Gebühren zu kassieren, Infrastruktur dort anzusiedeln, chinesische Firmen dazu zu bewegen, sich dort niederzulassen… Peng malte ihnen noch eine halbe Stunde lang die Möglichkeiten aus, und er sparte nicht mit Superlativen. Sie würden den Frachtverkehr zwischen China und Europa revolutionieren. Und ihr eingesetztes Kapital würde sich vervielfachen.
Schließlich war es Mao, der die entscheidende Frage stellte: „Was soll das denn kosten?“
Peng war gut vorbereitet. Er schaute langsam in die Runde. „Keine zehn Kuai“, sagte er langsam. „Oder einen Euro, um es in deutscher Währung auszudrücken.“
Seine Freunde sahen ihn verblüfft an. War er jetzt verrückt geworden? Oder hatten sie sich verhört? Zehn Kuai für einen Flughafen? Kuai war die umgangssprachliche Bezeichnung für die chinesische Währung, die ja eigentlich Yuan hieß; im Ausland sprach man auch von Renminbi, also wörtlich 'Volkswährung', abgekürzt RMB. Alles das Gleiche, aber in welcher Bezeichnung auch immer, es war ein absurd lächerlicher Betrag.
Peng lachte in die Runde. Es gefiel ihm, dass er im Mittelpunkt stand und alle, auch Zhang, auf ihn hörten.
„Jaja, ich weiß. Ihr glaubt, ich bin nicht mehr ganz dicht. Aber wartet ab. Natürlich bieten wir mehr. Viel mehr. Das läuft so: Ich habe euch ja gerade erklärt, dass die Regierung verkaufen muss. Es gibt für sie keinen Verhandlungsspielraum. Sie kann nicht Nein sagen oder mehr verlangen, als der beste Käufer bietet. Eigentlich sollte das Land also froh sein, wenn überhaupt jemand bereit ist, etwas zu investieren. Sind sie auch, deswegen werden sie den Flughafen verschenken müssen. Das dürfen sie nicht, also bieten wir einen Euro. Moment“, wehrte er den aufkommenden Protest ab, „hört doch mal zu! In der Kasse des Flughafenbetreibers sind ja noch Millionen drin. Ich musste rauskriegen, wie viel genau. Ich habe das getan, ich kenne da jemand, der mir die Infos geben konnte.“ Alle nickten verständnisvoll; Insiderwissen weiterzugeben, war eine ganz normale Sache in China. Niemand wäre auf die Idee gekommen, nachzufragen, wer das denn sei. Man hatte seine Guanxi, Beziehungen. Punkt.
„Ich weiß, dass in der Kasse derzeit etwa dreizehn Millionen Euro sind. Wir bieten offiziell dreizehn Millionen! Damit kriegen wir den Zuschlag! Denn ich weiß auch, dass die anderen Bieter nur einen Euro bieten. Also muss die Landesregierung uns als den höchsten Bieter akzeptieren!“
Triumphierend blickte er sich um. Und sah in verständnislose Gesichter.
„Aber“, warf Mao vorsichtig ein, da er Angst hatte, sich zu blamieren. „Wenn wir dann den Zuschlag bekommen, müssen wir doch dreizehn Millionen zahlen, richtig?“
„Ja!“, rief Peng aus. „Aber die sind doch in der Kasse, die kriegen wir ja wieder. Unterm Strich haben wir dann nix bezahlt! Wir lassen in der Presse verlauten, dass wir dreizehn Millionen zahlen wollen. Das finden alle gut. Im Vertrag steht dann, aber der ist ja nicht öffentlich, dass wir einen Euro zahlen plus den Kassenbestand zum Tag des Kaufs. Wenn also bis zum Kauf nur noch, sagen wir, sieben Millionen in der Kasse sind, zahlen wir sieben Millionen und einen Euro. Versteht ihr? Wir erscheinen als die Käufer, die den höchsten Preis zahlen, in Wirklichkeit zahlen wir nichts. Das heißt, einen Euro. Den müssen wir schon investieren“, fügte er augenzwinkernd hinzu. „Die Politiker in Mainz, so heißt die Hauptstadt des Bundeslandes, in dem der Flughafen liegt, werden froh sein, wenn sich überhaupt ein ernsthafter Investor findet. Ich kenne die Deutschen, die nehmen jedes Angebot als seriös an und glauben, da sei ohnehin kein Spielraum! Natürlich könnten wir auch viel mehr zahlen, aber warum sollten wir? Deutsche handeln nicht.“
Ungläubiges Kopfschütteln begleitete diese Aussage. Nicht handeln? Natürlich war jede Zahl nur ein Angebot; kein Chinese würde auch nur annähernd das zahlen wollen, was der andere verlangte. Das war ein Spiel, das gehörte dazu, das machte ja auch Spaß. Aber einfach bezahlen oder gehen? Gut, dass sie Peng an Bord hatten. Der kannte sich aus mit den Deutschen.
„Also, ich schlage vor, wir bieten für den Flughafen. Ein Schnäppchen, meint ihr nicht?“
Sie hatten alle keine Ahnung von den deutschen Preisen. Shanghai war eine der teuersten Städte der Welt; Deutschland war ein reiches Land, dort würde alles sehr teuer sein. Und dann nur wenige Millionen für einen Flughafen? Sicher war schon das Gelände viel mehr wert! Peng hatte keine Lust, ihnen zu erklären, dass der Hunsrück nicht Berlin war; die Quadratmeterpreise dort, wohin ja niemand mehr ziehen wollte, lagen für chinesische Verhältnisse unvorstellbar niedrig.
Mao hatte dennoch Bedenken, dass man sie von vornherein von der Liste der Bieter aussortierte. Nach einer heftigen Diskussion einigten sie sich schließlich auf Pengs Geniestreich, in der Presse einen anderen Preis zu streuen, als sie in den Vertrag schreiben würden.
Peng hatte sie überzeugt. Sie würden mitbieten. Ein Konzept konnte man dann immer noch erstellen; irgendetwas würde man diesen Politikern schon erzählen.
„Noch etwas. Wir müssen uns organisieren, also eine Firma gründen. Natürlich eine GmbH, damit unser Risiko begrenzt ist. Ganz einfach: Wir investieren das nötige Kapital, das sind etwa fünfhunderttausend Yuan, und diese GmbH kauft dann den Flughafen. So kann uns im schlimmsten Fall nichts passieren, wir haften nur für die fünfhunderttausend Yuan! Die Deutschen werden nie und nimmer an eine Investorengruppe verkaufen, die nicht einmal richtig eingetragen ist. Also brauchen wir eine GmbH und einen Namen; denken wir uns einen aus, dann soll Zhang das im Handelsregister eintragen lassen.“
Peng dachte aber auch an alles, ging es Liang durch den Kopf. Darauf wäre er nie gekommen! Eine Firma gründen! Kein Risiko! Genial!
„Und wie geht das? Wie machen wir das mit dem Geld? Wem gehört wie viel?“ Mao verstand nichts von diesen Dingen, aber er wollte auch nicht einfach alles hinnehmen. Etwas Kontrolle war immer gut.
„Ich kläre erst mal, welche Anforderungen aus Deutschland kommen“, warf Peng ein. „Die Unternehmensberatung, die die lokale Landesregierung unterstützt, wird mir sicher sagen, welche Voraussetzungen zu erfüllen sind. So, und die erfüllen wir dann eben. Aber einen Firmennamen benötigen wir auf jeden Fall. Zhang, du hast die meiste Erfahrung, wie sollen wir uns nennen?“
Zhang dachte einen Moment nach, während er die Flasche „5100“-Wasser betrachtete und überlegte, ob er das nachgemachte Zeug nicht auch den Deutschen verkaufen sollte. Die standen doch auf alles, was aus Tibet kam.
„Also, hm, der Name der Stadt, in der wir unser Unternehmen haben, sollte auf jeden Fall enthalten sein. Shanghai also. Dann hinten die Rechtsform, die GmbH. Dazwischen am besten etwas Allgemeines, Nichtssagendes, da wir ja noch nicht wissen, welche Geschäftsfelder wir noch eröffnen werden. Vielleicht wird das mit dem Flughafen ja nichts, und wir machen etwas völlig anderes. Oder es läuft gut, wir verdienen viel Geld und kaufen weitere Firmen oder so. Wenn wir uns da mit dem Namen zu sehr einschränken, ist das von vornherein schlecht. Wie wäre es mit einer Handelsfirma? Shanghai Trading GmbH? Und dann noch ein Fantasiename, mal sehen …“
Zhang dachte weiter nach, während Peng mit seinem Handy schon eine Mail nach Deutschland sandte und Liang und Mao etwas hilflos dabeisaßen. Sie bewunderten Zhang für seine Erfahrung und sein Wissen, und da mischten sie sich besser nicht ein.
„Es gibt ja zum Beispiel die berühmte chinesische Marke BYD, das steht für Build Your Dream. Versteht ihr? Der Name sagt nichts über das Produkt aus, so kann man Autos bauen, aber auch Batterien, rosa Plüschhasen oder sonst einen Müll, den die Ausländer uns dann abkaufen. So etwas brauchen wir auch. Wir wollen reich werden, das wäre dann das Wort „Fu“; wir sind Freunde, „You“, hm, nicht schlecht, wie wäre „Shanghai Fu You Ltd.“? „Shanghai Rich Friends Company“?“
Peng, der über mehr Bildung als alle anderen im Raum zusammen verfügte, lächelte freundlich, obwohl ihm innerlich bei diesem Namen graute. Das war nicht sehr elegant formuliert! Aber gut, es war besser, Zhang das Gesicht zu lassen und ihn zu loben, sie brauchten ihn nun mal. Also stimmte er in das begeisterte Nicken seiner Freunde ein, und sie beschlossen gemeinsam, die neue Firma so zu nennen, wie Zhang es eben vorgeschlagen hatte. Die soeben entstandene Shanghai Fu You Ltd. würde den Flughafen kaufen!
Und so war eines Tages, in einem schicken Meetingraum in der Century Avenue in Shanghai Pudong, am östlichsten Ende des eurasischen Kontinents, ein Jahr vor Coras Ankunft in der „Stadt überm Meer“, eine Firma von vier Freunden gegründet worden, die sich vorgenommen hatten, ohne jegliche Kenntnis der Materie einen deutschen Flughafen zu kaufen. Nicht, weil sie etwas davon verstanden, nicht, weil sie das Thema oder die Branche reizte, sondern einfach, weil sie es konnten, und auch, weil sie es wagten. Das war der Geist des neuen China: Wer wagt, gewinnt. Auch wenn er nichts, aber auch gar nichts von dem versteht, was er da erwirbt. Und auch das Gefühl, etwas zu tun, was eigentlich dem Staat vorbehalten war, war gut. Nur der Staat kaufte oder baute Flughäfen. Und nun sie!
Jetzt durfte das Mädchen hereinkommen und heißes Wasser nachschenken, aber sie bestellten auch rasch eine Runde Maotai. Den hatten sie sich jetzt verdient.
„Ganbei!“, rief Zhang, und alle hoben ihr Glas und leerten es auf einen Zug. Dann drehten sie die Gläser um zum Beweis, dass sie leer waren, wie der Trinkspruch es forderte: „gan“ hieß trocken, und „bei“ war das Glas. Die Stimmung war prächtig. Der Flughafen würde in chinesische Hände gelangen!
Während alle durcheinandersprachen, verließ Zhang kurz den Raum und machte im Hinausgehen eine entschuldigende Geste mit seinem Handy; er musste einen Anruf annehmen. Dass er direkt vor der Tür keinen Anruf annahm, sondern im Gegenteil eine eingespeicherte Nummer wählte, bekamen seine Geschäftspartner nicht mit.
Sorgfältig wischte sie die Blutspritzer von der hölzernen Tischplatte. Sie spülte den Lappen am Waschbecken aus und legte ihn dann beiseite. Cora besah sich nochmal den Schnitt an ihrer Hand und beschloss, die Wunde offen heilen zu lassen; ein Pflaster störte nur.
Sie war wieder einmal unkonzentriert gewesen; während sie die Zucchini in kleine Streifen schnitt, hatte sie schon wieder an ihr nächstes Projekt gedacht. Eine Reise nach Asien stand an; in der Mongolei plante ihr Ingenieurbüro eine Anlage zur Wasseraufbereitung in der Hauptstadt Ulan Bator. Nächsten Monat sollte sie fliegen; ausreichend Zeit, um sich mit dem Projekt vertraut zu machen. Als promovierte Hydroingenieurin war sie eine begehrte Fachkraft, und da sie gern reiste, bekam sie von Fischer, ihrem Chef, immer die exotischen Orte zugeteilt, an die nicht jeder Kollege wollte. Schon von den Namen bekam Cora glänzende Augen. Mongolei! Letztes Jahr war sie in Tibet gewesen, davor in Südamerika. Das war doch mal was anderes als der Westerwald! Aber wohnen wollte sie nur hier; sie liebte die einsamen, manchmal etwas düsteren Wege ihrer Heimat, die dunklen Wälder, die herrliche Luft. Leben in Shanghai oder New York? Nein, das nicht. Aber immer wieder in diese Orte reisen, fremde Kulturen und Menschen kennenlernen, spannende Aufträge erledigen – ja, das war ihr Leben.