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© 2020 Joachim Schmidt
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7504-4902-2
Joachim Schmidt M.A., geboren 1951 in Düsseldorf, studierte Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte, sowie evang. Theologie. Er war Studienleiter an der Evang. Akademie Tutzing, (gemeinsam mit Elisabeth Borchers gründete er 1984 den Marie-Luise Kaschnitz-Preis), lange Jahre Mitglied der Jury des Illustrationspreises für Kinder- und Jugendbücher (beim Gemeinschaftswerk der Evang. Publizistik), und von 1992 bis zur Aufgabe des Amtes (2012) aufgrund einer schweren Depression Direktor der Evang. Fachschule für Sozialpädagogik (Herbrechtingen). Von 2006-2011 Vorsitzender des Bundesverbandes Evang. Ausbildungsstätten für Sozialpädagogik (BeA). Mitglied zahlreicher Gremien, Mitarbeit beim Rundfunk, Vortragstätigkeit und zahlreiche Veröffentlichungen.
2013 gründete er mit seiner Frau die "Selbsthilfegruppe Depression für Betroffene und Angehörige".
Verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Söhnen.
Depressionen erzählen davon, was unserer Seele nahe geht, so nah, dass es uns belastet und wir erkranken. Wir geraten in eine Lebenskrise, die uns nicht selten an die Grenze von Leben und Tod führt. Die enge Verzahnung von Depression und Biographie erfordert daher, sich mit der eigenen Lebensgeschichte auseinanderzusetzen. Wer nach Wegen aus der Depression sucht, und welcher depressiv erkrankte Mensch tut das nicht, der kann nicht umhin, dem nachzufragen, was ihm bisher meist latent und oftmals schon über einen langen Zeitraum hinweg auf der Seele lag, aber unbeachtet und unbearbeitet geblieben ist, aus welchen Gründen auch immer.
Der biographische Bezug depressiver Erkrankungen muss heute wieder eigens betont werden, weil sich die Psychiatrie in den letzten Jahrzehnten immer mehr zu einer Psychiatrie ohne Psyche (Fuchs) entwickelt hat. Dabei ist ihr die Person des Kranken mit seiner Lebensgeschichte aus dem Blick geraten. Ganz abgesehen davon, dass der Begriff Seele bei der Mehrzahl der Psychiater nur noch Achselzucken oder ein mitleidiges Lächeln hervorruft.
Was der Neurologe und Epilepsieforscher Dieter Janz für die Medizin allgemein feststellte, dass sie, so wie sie gelehrt wird, eine Medizin sei, „die sich mehr einem Etwas zuwendet als einem Jemand“1 das gilt für die Psychiatrie in besonderem Maße.
Psychiater verstehen sich heute zunehmend als Neurowissenschaftler und haben sich dem Mainstream, dessen Leitstern Hirnforschung heißt, längst unterworfen. Dorthin fließen die Forschungsgelder, dort wird wissenschaftliches Ansehen erworben. Von dort kommen die Versprechungen, im Gehirn seien die Ursachen für Depressionen zu suchen und hier werde man auch den Schlüssel für ihre Heilung finden. Der neuste Trend heißt individuelle oder personalisierte Therapie.2 Nur, damit keine Missverständnisse aufkommen, hier ist nicht der einzelne Mensch als Person mit seiner je eigenen Lebensgeschichte, seinen Erfahrungen und Erlebnissen, seinen Gedanken und Gefühlen gemeint, nein, es geht einzig um das ‚richtige‘ Medikament, dass Patienten zugeordnet wird, nachdem man sich mit ihren messbaren Werten befasst hat. Wie anders klingt das bei Janz: „Entscheidend ist, zu verstehen, daß Krankheit immer in einem lebensgeschichtlichen Zusammenhang eingebettet ist und daß die ihr zugrunde liegenden Konflikte und Spannungen verborgen sind. Will man sie ans Licht bringen, muß man in die Biographie des Kranken einsteigen.“3
Auf einer Tagung4 zum Thema Depression stellte die Mehrzahl der dort anwesenden, sehr angesehenen Psychiater Metastudien vor, die die Wirksamkeit von Antidepressiva beweisen sollten, oder waren mit Hirnscans, EEG und anderen messbaren Werten der ‚effektivsten‘ Therapie auf der Spur. Der kranke Mensch kam nicht mehr vor oder nur in Form seiner Blut- und Leberwerte. Und mehr als dürftig waren die Ergebnisse, woraus die Referenten aber keineswegs den Schluss zogen, man befinde sich womöglich mit seinen Hypothesen und Forschungen auf einem Holzweg.
Die Psychiatrie befindet sich offensichtlich in einer Krise. Nur leider ist es unter den Fachkollegen eine Minderheit, die das bemerkt und es klar und unmissverständlich auszusprechen wagt: Der Kaiser ist nackt.
Einer von ihnen ist der Heidelberger Psychiater und Philosoph (Karl Jaspers-Lehrstuhl) Thomas Fuchs.
In einer sehr eindringlichen Rede zur Eröffnung des Jahreskongress der DGPPN5 (2016) hat er eine ernüchternde Bilanz zur Standortbestimmung der Psychiatrie gezogen und seine Zunft dazu aufgerufen, inne zu halten. „Sind wir denn wirklich auf der richtigen Fährte“, so fragt er. „Oder verlieren wir im immer genaueren, schließlich molekularbiologischen Hinsehen am Ende das Phänomen aus den Augen, um das es uns eigentlich geht – die psychische Krankheit, das Kranksein eines Menschen? Sind die leitenden Grundannahmen: ‚Psyche = Gehirn‘ und ‚psychische Krankheiten = Gehirnkrankheiten‘ vielleicht zu einfach, womöglich gar nicht zutreffend?“6
Es sind jetzt fast zehn Jahre her, dass eine schwere Depression mein Leben erschütterte. In diesen zehn Jahren habe ich viel lernen und erfahren können über mich und mein Leben, über das, was mir auf der Seele lag und liegt, über Möglichkeiten, mich konstruktiv damit auseinander zu setzen. Und zugleich habe ich mich vor dem Hintergrund meiner eigenen Erfahrungen mit der Depression und dem heute gängigen psychiatrischen Umgang mit ihr befasst. An mehreren Stellen in diesem Buch wird davon noch die Rede sein.
Stand am Anfang die Frage, welche Nebenwirkungen Antidepressiva haben, noch im Vordergrund, so wurde mir im Laufe der Zeit immer klarer, dass Antidepressiva das Ergebnis einer umstrittenen oder gar falschen Hypothese sind. Denn der Einsatz von Antidepressiva macht ja nur Sinn, wenn die Depression als eine Erkrankung des Gehirns verstanden wird, bei der, so die landläufige Meinung, ein Defekt vorliegt, z.B. ein Mangel oder ein Ungleichgewicht von bestimmten Hormonen (z.B. Serotonin) und diesen Mangel oder dieses Ungleichgewicht könne, so die Vorstellung, durch Einnahme von Antidepressiva behoben werden. Das diese These längst widerlegt ist, lassen wir hier einmal unberücksichtigt.
Gehe ich jedoch davon aus, dass die Ursachen einer Depression in der Lebensgeschichte des erkrankten Menschen zu finden sind, verliert die Einnahme von Antidepressiva ihren Sinn. Dass die Mehrzahl der Psychiater trotz geringer Erfolge immer noch an erster Stelle für eine pharmakologische Therapie plädiert, hängt nicht zuletzt auch mit der starken Verbindung von Pharmaindustrie und Psychiatrie zusammen. Hier sind Abhängigkeiten entstanden, denen sich zu entziehen nur wenige Mediziner die Kraft und den Mut besitzen.
Und so ist auch in die Leitlinien7 zur Behandlung von Depressionen die Verabreichung von Antidepressiva fraglos und selbstverständlich aufgenommen worden.
Die Kritik an den Leitlinien geht aber weit über die Medikamenten-Frage hinaus. Leitlinien suggerieren, man könne Krankheiten, auch die Depression, schematisch behandeln. Auch hier wird wieder die Person des Kranken ausgeblendet, seine Mündigkeit als Patient unterlaufen und die ärztliche Haltung aufgegeben, nach der der Arzt gemeinsam mit dem Patienten den Weg der Behandlung finden muss.
Deshalb beginnt dieses Buch mit dem leidenschaftlichen Plädoyer, sich auf eine Ethik der Medizin zu besinnen, die vom Patienten her denkt, die das ärztliche Wissen zu seiner Behandlung zur Verfügung stellt, ohne ihn zu bevormunden. Das setzt allerdings voraus, dass Psychiater den Patienten wieder als Person entdecken. Der ist und bleibt mehr als ein Reservoir von Daten oder ein Gegenstand für Vermessungen.
Die einzige Leitlinie, die hilft, ist die Leitlinie Mensch. Das hat mit Romantik nichts zu tun und geht auch nicht in einem Seid nett zueinander auf. Leitlinie Mensch erinnert vielmehr daran, was Auftrag und Movens ärztlicher und therapeutischer Kunst einst war und immer noch sein sollte, dass es nämlich um das Wohl des Patienten geht und dass darum jeder Patient in seiner Einzigartigkeit wahrgenommen werden muss. Dass es notwendig ist, dies wieder neu ins Gedächtnis zu rufen, mag man bedauern, aber nur so kann Veränderung beginnen.
So soll dieses Buch Leserinnen und Leser zum Nachdenken über Depression einladen. Ich erzähle von meinen Erfahrungen, damit jede und jeder ermutigt werde, sich die eigenen Erfahrungen (als Betroffener oder Angehöriger) zu vergegenwärtigen und sie für sich fruchtbar zu machen.
In den Text bzw. im Anschluss an einzelne Kapitel habe ich einige Texte aus meinen Aufzeichnungen Notizen aus einem anderen Land gestellt. Es sind persönliche Notizen, die in unterschiedlichen Stadien meiner Erkrankung entstanden. Sie wollen und sollen keinen voyeuristischen Blick auf meine Depression werfen, sondern den Zusammenhang von Durchleben und Nachdenken, auch in seinen Widersprüchen, verdeutlichen.
Dass jeder Patient seinen eigenen Weg finden muss, wie er der Herausforderung zu begegnen versucht, vor die ihn die Depression stellt, den Weg, der ihm entspricht und von dem er sich Heilung oder zumindest Linderung erhofft, das ist mir im Verlauf meiner Krankheit, nicht zuletzt auch durch die Arbeit in der Selbsthilfegruppe, immer deutlicher geworden.
Im Zentrum dieses Buches steht die Musiktherapie, die mein Weg war für die Auseinandersetzung mit der Depression und ihren Ursachen. Gerade weil diese Therapie vielen noch unbekannt ist, möchte ich Einblicke in diese Art der Behandlung geben und Neugierde wecken.
Musik besitzt das Vermögen, uns im Innersten unserer Seele anzusprechen und das zum Ausdruck zu bringen, was mit Worten oft schwer oder gar nicht zu sagen ist.
Das gehet meiner Seele nah, singt eine Stimme in Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion.
Ist das nicht auch die Melodie der Depression?
1 Dieter Janz: Nebensachen – Ansichten eines Arztes; Berlin, 2017, S.8
2 „Zum anderen hat die an molekulargenetischen Merkmalen ausgerichtete Therapie nichts mit einer Medizin zu tun, die dem einzelnen Patienten zugewandt ist… Der Gebrauch des Begriffs ‚personalisiert‘ …soll für ein positives Image sorgen und breite Akzeptanz in der Gesellschaft erzielen.“ Jochen Vollmann, Die Galle auf Zimmer 7, Berlin, 2019, S. 107 ff.
3 Janz, a.a.O., S. 13
4 Depression ohne Zukunft? Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing, 9.10. Januar 2019
5 Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde
6 Thomas Fuchs: Zwischen Psyche und Gehirn – Zur Standortbestimmung der Psychiatrie; In: Der Nervenarzt, Bd.88, Heft 5, Mai 2017, S.521
7 s. S. 86 ff.
Fliehen. Fliehen. Aber wohin?
Unter Elsheimers Milchstraße z.B. In eine Höhle aus Licht.
Aus meinen Aufzeichnungen Notizen aus einem anderen Land
Am Sonntagmorgen, den 3. September 1978, gegen 6 Uhr ereignete sich im Zollerngraben ein Erdbeben der Stärke 5.7 (Richterskala), dessen Auswirkungen noch in einem Umkreis von 4oo km zu spüren waren.
Ich erlebte das Erdbeben in Tübingen, wo ich zu dieser Zeit studierte. Obwohl rund 4o km vom Epizentrum entfernt, traf mich dieses Ereignis zentral. Zwar kann, darf und soll dieses Erdbeben, bei dem – Gott sei Dank! - kein Mensch ums Leben kam, nicht mit den großen, verheerenden Beben in anderen Teilen der Welt verglichen werden, aber es reichte, dass sich mir eine verstörende Erfahrung einprägte: Der Boden, auf dem du stehst, ist nicht stabil. Was fest schien, ist erschütterbar, die Erde wankt und du mit ihr. Du suchst Halt und findest keinen.
Das Erdbeben war nicht nur eine körperliche Erfahrung, sondern zugleich auch eine seelische. Verlässlichkeit und Vertrauen erwiesen sich mit einem Mal als instabile Größen. Noch lange ging mir dieses Ereignis nach, bis die Zeit das ihre dazu tat, wieder sicheren Boden unter den Füßen zu gewinnen.
Das änderte sich dann aufs Neue, jetzt jedoch auf andere, existentiellere Weise, als Ende August 2010 eine schwere Depression mein Leben erschütterte. Die Gedanken an das Erdbeben kehrten zurück und wurden mir zu einer Metapher für das, was mit einem Mal mein Leben bestimmte und bis heute bestimmt.
Die Depression ist wie ein Erdbeben. Jedoch keines, dessen Ursache außerhalb von mir liegt, sondern in mir selbst ist das Epizentrum. Mit ungeheurer Macht und Gewalt reißt die Depression ein, was fest und sicher schien. Wie Dominosteine fallen Lebensentwürfe und Gewissheiten, Pläne und Vertrautheiten, Sicherheit und Verlässlichkeit, ja, das Leben in seiner Gesamtheit wird erschüttert und stellt alles neu zur Disposition. Augustins Bemerkung nach dem Tod seines Freundes: "Ich bin mir selbst zur Frage geworden“8 lässt sich auch auf die Situation des Depressiven übertragen.
„Was ist mit mir los?“, fragt der Depressive sich selbst. „Was ist mit Dir los?“, fragen ihn die Anderen. Und schon beginnt die Suche nach Ursachen und Erklärungen. Bei mir stellten sich sehr rasch zwei Bilder ein, die auf unterschiedliche Fragen erste Hinweise lieferten.
Die Depression als innerpsychisches Beben war das erste Bild. Mit ihm wurden meine Gefühle und Empfindungen zum Ausdruck gebracht: das Ausgeliefertsein, der Absturz in einen Abgrund, der Verlust von Halt und Sicherheit, die Erfahrung, dass der Boden, auf dem ich mich bewege, nicht mehr trägt. Insgeheim wies dieses Bild aber zugleich auch schon auf die Ursachen (m)einer Depression hin.
Seismographen wissen, dass lange vor dem Ausbruch eines Bebens im Erdinnern Prozesse ablaufen, wie z.B. Verschiebungen der tektonischen Platten, die an der Erdoberfläche nicht wahrgenommen werden, dann aber schließlich zum Ausbruch eines Erdbebens führen können.
Übertragen auf die Depression bedeutet dies, dass auch sie nicht ohne Ursache ausbricht. Vielmehr gehen ihr seelische Prozesse voraus, die einen Ausbruch der Krankheit begünstigen und auszulösen vermögen.
Und damit bin ich bei dem zweiten Bild, das sich schnell bei mir einstellte: Ich sehe mich in der Friedhofskapelle bei der Beerdigung meines Vaters. Als der Sarg in die Kapelle gefahren wird, bin ich der Erste, der sich erhebt. Dieses Aufstehen ist mir im Laufe meines Lebens immer wieder in den Sinn gekommen, mit all seinen unterschiedlichen Bedeutungsebenen wie ‚Auferstehung‘, ‚Aufstand‘ ‚Protest‘ oder auch ‚Selbst-Ständigkeit‘. Für mich hatte das Bild im Moment seines Auftauchens eine Signalfunktion. Mir wurde bewusst, dass meine Trauererfahrungen nach dem frühen Tod meiner Mutter und dem meines Vaters (fünf Jahre später) noch nicht verarbeitet waren.
Es waren und sind bis heute Bilder, Metaphern, auch Träume, die mir Hinweise geben auf meine Erkrankung und auf die zu achten, für mich wichtig geworden ist.
Auf ganz andere Weise ist auch die Wissenschaft auf der Suche nach Erklärungen, doch bis heute hat sie keine gesicherten Antworten finden können.
„Es liegt an den Genen“, sagen die einen, „Es sind die Botenstoffe im Gehirn“, sagen andere. Und dann gibt es eine Reihe von Symptomen, mit deren Hilfe Psychiater und Therapeuten Vorhandensein und Schwere der Depression diagnostizieren. Und die sich selbst gern überschätzende Hirnforschung zeigt ihre bunten Bilder des Gehirns (Neuroimaging) wie Trophäen vor, sollen sie doch den meist dürftigen Inhalt ihrer Forschungsergebnisse kaschieren und zugleich ein hohes Maß an Wissenschaftlichkeit suggerieren. Das bringt neue Forschungsgelder für neue, noch schönere Bilder.
Fuchs hat in zahlreichen Veröffentlichungen die Irrwege der Hirnforschung analysiert. In einem Interview führt er u.a. aus:
„Wir leben zwar in einem medialen Neuro-Hype, der suggeriert, man könne die psychologische Sprache unseres Alltagsverständnisses durch eine neurophysiologische Beschreibung ersetzen. Das ist aber überhaupt nicht der Fall. Sie können Krankheitseinheiten wie eine Angststörung oder eine Depression nicht in neurobiologischen Termini beschreiben. Abgesehen davon, dass wir keine einheitlichen neuronalen Korrelate finden, kann man auch die Genese einer Erkrankung nicht im Gehirn nachvollziehen. Denn sie ist ja immer verknüpft mit interpersonellen Erfahrungen, mit einer Lebensentwicklung und Lebenssituation (…) Ich halte ihren Nutzen (gemeint ist die Neurowissenschaft, Anmerkung des Verfassers) für die klinische Diagnostik und Therapie jedenfalls für deutlich begrenzter, als in der Öffentlichkeit und auch gerne in der wissenschaftsinternen Konkurrenz dargestellt wird. Da wird etwa eine ‚personalisierte Psychiatrie‘ in Aussicht gestellt, die es möglich mache, ganz individuell maßgeschneiderte Therapieverfahren für einzelne Störungen zur Verfügung zu stellen. Sie solle sich nach biologischen Markern richten und nicht mehr nach dem klinischen Eindruck, sodass man endlich zu anderen Krankheitseinheiten komme, die auf physiologischer Grundlage basieren. Dabei hat diese Forschung bislang letztlich zu so gut wie keinen therapeutischen Ergebnissen geführt. Die Vorstellung, dass man dadurch etwa die individuellen Mechanismen der Depressionsentstehung entschlüsseln und genau passende Pharmaka dazu entwickeln könnte, hat sich als illusorisch erwiesen.“9
Mir ist der Hinweis wichtig, dass die Lebensgeschichte eines Menschen wesentlich für das Verständnis (s)einer Depression ist. Für mich war sie daher auch der Ausgangspunkt, von dem her die Krankheit bedacht und behandelt werden sollte.10
Mögen die Bilder und Metaphern auch eine gewisse Unschärfe aufweisen, wenn sie zu beschreiben versuchen, was eine Depression für den an ihr Erkrankten bedeutet, so ist doch ihr Vorzug, dass sie nicht von außen an den Depressiven herangetragen werden, sondern selbst Teil des psychischen Erlebens des depressiven Menschen sind. Es sind seine Bilder, gesättigt von seinen Lebenserfahrungen und seiner Lebensgeschichte. So wie jede Depression ihre eigene Ausformung besitzt, so sind auch die Bilder, die darüber Auskunft geben, individuell verschieden. Zudem entstammen Bilder, Metaphern und Symbole selber einem Denken, das nicht erklären, sondern verstehen, nicht beweisen, sondern deutend erzählen will. Es besitzt eine eigene Grammatik des Schreibens und eine eigene Hermeneutik des Verstehens.
Die Unschärfe der Bilder mag auch der Grund dafür sein, dass es, jedenfalls in den meisten Fällen, mehrere Bilder gibt, deren sich der Depressive bedient. Alternierend, sich ergänzend, sich wandelnd, die Perspektiven wechselnd, so treten sie im Verlauf der Krankheit auf, immer auf der Suche nach einer Sprache, die der eher sprachlos machenden Depression angemessen und gewachsen ist. Die Mehrstimmigkeit der Bilder ist der Komplexität der Krankheit geschuldet, die sich nicht in wenigen Worten beschreiben und schon gar nicht erklären lässt.
Mit Hilfe der Bilder versucht der depressive Mensch aber nicht nur, die Krankheit sich selber verständlicher zu machen, er wendet sich mit ihnen zugleich auch an die Anderen, die sie nicht verstehen können, selbst wenn sie verstehen wollen.11
Wer sind die Anderen? Zunächst die eigene Familie, Verwandte, Freunde und Bekannte, vielleicht auch Begleiter wie Ärzte und Therapeuten. Aber der Begriff ‚die Anderen‘ weist auf eine noch grundsätzlichere Differenz hin. Die Anderen, das sind zumeist die nichtdepressiven Menschen. Es sind die, die die Krankheit nur von außen wahrnehmen, die Depressive begleiten oder den Kontakt mit ihnen ängstlich meiden, die Wege mitgehen oder dem Depressiven ausweichen, die schweigen oder verschweigen, die achtsam reden oder einfach drauflos. Sie alle, wie immer sie auf den depressiv Erkrankten reagieren, stehen jenseits der Grenze, die der Depressive durch seine Krankheit überschritten hat. Und damit gelangt auch ihr Verstehen im besten Fall nur bis zu dieser Grenze.
Seit meiner Depression verstehe ich mich als einer, der, nicht aus eigenem Antrieb heraus, grenzgängerisch lebt. Mal bin ich Bewohner im Land der Anderen, dem Land der nicht depressiven Menschen, mal Bewohner eines anderen Landes, des Landes jenseits der Grenze, des Landes der Depression, das den anderen Menschen fremd ist und bleiben wird.
8 Augustinus: Bekenntnisse, Viertes Buch, 4.9; Jörg Ulrich (Hg.), Frankfurt a.M., 2007, S. 7o
9 Thomas Fuchs: Dem Kranken als erlebendem Menschen begegnen; In: Psychologie Heute, Januar 2o14
10 „Die Vielfalt menschlicher Empfindungen, Gefühle und Gedanken, die sich wechselseitig bedingen und ineinander übergehen, entzieht sich weitgehend der bisherigen neurowissenschaftlichen Forschung. Was wir durch achtsames Innewerden unserer eigenen Gefühle und Gedanken feststellen können, sprengt die Möglichkeit einer neurowissenschaftlichen Analyse.“ Hell, Depression, Freiburg i.B., 2015, S 83 ff.
11 „Die Depression ist für den, der sie nicht kennt, ein nahezu unvorstellbarer Zustand, der sich nur durch eine Reihe von Metaphern…umschreiben lässt.“ Andrew Solomon: Saturns Schatten – Die dunklen Welten der Depression, Frankfurt a.M., 2oo1, S. 3o
Das Röntgenbild zeigt ein Infiltrat auf der Lunge, dem Antibiotika nicht gewachsen sind. Fast drei Monate wird es bleiben. Schubartige Überfälle zwingen den Körper nieder. Später wird meine Therapeutin mir die Zusammenhänge von Lungenentzündung und Trauer erklären. Noch später werde ich sie verstehen. Im anderen Land
Dorthin bin ich unterwegs. „Wasser ist auf der Lunge stehengeblieben“, sagt die Therapeutin.
Über-setzen. Hinüberfahren. Ich, der Ruderer. Ich, der Fährmann. Auf der Reise ins andere Land.
Aus meinen Aufzeichnungen Notizen aus einem anderen Land
Mit dem Begriff das andere Land habe ich für mich versucht, einer neuen Erfahrung einen Namen zu geben. Die neue Erfahrung besteht darin, dass ich mich als Depressiver auf einem Territorium bewege, dass sich wesentlich vom Land der Anderen, dem Land der nicht Depressiven, unterscheidet und darum auch isoliert und in die Einsamkeit führt.
Es beginnt damit, dass sich dem depressiven Menschen das gewohnte Hier und Jetzt schleichend oder auch abrupt entfremdet. Was ihm früher Freude machte, wird zur Last und verliert seine Attraktivität, was ihm wichtig war, wird zweitrangig und verworfen. Die Welt, die er bisher selbstverständlich bewohnte, rückt in weite Ferne. Wie ein Fremder bewegt er sich im bis dahin Vertrauten. Als säße er in einem Kino und vor ihm liefe ein Film ab, so sitzt er unter den Leuten. In ihrer Nähe, aber innerlich weit von ihnen entfernt.
Die Gespräche der Anderen langweilen ihn oder drücken ihn nieder. Denn er hat mit der Depression all das verloren, was Leben ausmacht. Die Depression wird manchmal auch als Krankheit der Losigkeit bezeichnet: Freudlosigkeit, Interesselosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Mutlosigkeit, Ruhelosigkeit, Antriebslosigkeit usw. Gezeichnet von diesen Merkmalen erfährt sich der depressive Mensch als außerhalb des gewohnten Lebens, als Fremder, auch unter den Nächsten.
Weitere Symptome einer Depression, wie z.B. Schlafstörung, Konzentrationsschwäche, ständige Müdigkeit, sowie oftmals körperliche Beschwerden, denn die Depression ergreift Seele und Körper, tragen ferner dazu bei, dass das normale alltägliche Handeln sich als nahezu undurchführbar erweist. Der Depressive erlebt sich wie gelähmt.
Und so zieht er sich in sich zurück. Was in dieser Verborgenheit des mit sich Alleinseins geschieht, lässt sich mit Worten nur schwer beschreiben. Es sind Augenblicke, Stunden oder Tage tiefster Dunkelheit, Empfindungslosigkeit und Grübeleien, die allesamt negativ besetzt sind, bis dahin, dass der Depressive den Suizid als Befreiung in Erwägung zieht. Aus Tag wird Nacht, und selbst dann, wenn in solchen Zeiten und Zuständen seine nächsten Angehörigen um ihn sind, so nimmt er die Anderen nicht mehr wahr, sieht und hört sie nicht, will sie auch gar nicht sehen und hören. Er hat sich ihnen entzogen. Er hat die Grenze überschritten. Er ist im anderen Land.
„Wo bist du gerade?“, hat mich meine Frau oft gefragt. Was soll ich antworten? Jedenfalls nicht hier, sondern ganz woanders, in einem anderen Land