Über das Buch
Schauplatz ist eine kleine Stadt in Westfalen an der Lippe im 19. Jahrhundert. Marias Ehemann ist nach sechsmonatiger Ehe an einer Krankheit gestorben, die noch unbekannt ist. Die junge Witwe ist verzweifelt. Sie zieht wieder in ihr Elternhaus ein und hilft mit, den Haushalt zu führen und die jüngeren Schwestern zu erziehen, weil ihre Mutter mit einem Leiden bettlägerig ist. Ihren Kummer und ihre Trauer kann sie durch das Schreiben von Gedichten verarbeiten. Sie erkennt ihr Talent und hat den Mut, Romane zu verfassen. Ihre Leidenschaft für das Schreiben ist außergewöhnlich. Als sie öffentlich als Schriftstellerin auftritt, machen ihr mehrere Bewohner in der Stadt das Leben schwer. Sie beschimpfen sie als »Möchtegern-Dichterin« und »Federfuchserin«. Das Schreiben solle sie lieber Männern überlassen, weil das weibliche Gehirn dafür nicht geschaffen sei. Aber Maria findet auch Verbündete, die sie auf ihrem schweren Weg begleiten und Spuren hinterlassen.
Doch dann tritt jemand in ihr Leben, der alles auf den Kopf stellt …
Über die Autorin
Edelgard Moers, Dr. phil., ist Lehrerin im Ruhestand und war in der Lehrerausbildung tätig, führt Lehrerfortbildungen durch, ist Schulbuchautorin, schreibt pädagogische Fachbücher und Romane und wohnt mit ihrem Mann in Dorsten.
www.edelgardmoers.de
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© 2019 Edelgard Moers
Lektorat: Uta Kegel
Korrektorat, Satz, Umschlaggestaltung, Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7504-5542-9
»Mir ist heute nicht gut.« Gustav sah seine Frau nur flüchtig an und versuchte zu lächeln. Noch bevor sie etwas sagen konnte, drehte er sich um und verabschiedete sich. »Ich lege mich etwas hin und kuriere mich aus.«
Maria dachte an die schwere Bronchitis, die ihr Mann erst neulich überstanden hatte. Als sie ihm kurze Zeit später eine Tasse Kräutertee ans Bett stellte, erschrak sie. Sein Gesicht war kreidebleich, und er schwitzte am ganzen Körper. »Gustav, ich hole sofort einen Arzt.«
»Lass nur, Maria. Es wird schon werden. Ich muss nur einmal gründlich ausschlafen.«
»Es kann auf keinen Fall schaden, wenn dich ein Arzt untersucht.«
Der herbeigerufene Mediziner diagnostizierte Nervenfieber.
In den nächsten Tagen verschlechterte sich Gustavs Zustand, und Maria sorgte sich sehr. Fast den ganzen Tag saß sie nun an seinem Bett, wechselte von Zeit zu Zeit die Wadenwickel, um das Fieber zu senken.
Drei Wochen vergingen, ohne dass sich sein Zustand verbessert hätte.
Am Abend vor Fronleichnam saß sie wieder an seinem Krankenbett und streichelte ihrem Mann stumm das Gesicht.
Schwer atmend und mit geschlossenen Augen lag er da.
Maria waren vor Erschöpfung die Augen zugefallen, als Gustav auf einmal eine starke Unruhe überkam. Wie lange hatte sie schon da gesessen? Sie ergriff seine Hand und versuchte, ihn zu beruhigen. Aber er stöhnte nur laut, öffnete die Augen und bäumte sich ruckartig auf. Dann fiel er zurück ins Kissen.
Maria sah auf seinen Brustkorb und fühlte den Puls. Doch nichts bewegte sich. Ihr Schrei hallte durch das ganze Haus.
Die Sonne schien an diesem Sommertag seit dem frühen Morgen von einem fast wolkenlosen Himmel. Das warme Wetter lockte die Bewohner der kleinen Stadt an der Lippe aus ihren Wohnungen zum Marktplatz.
»Habt ihr schon gehört? Die Maria ist wieder da. Der Mann ist ihr weggestorben. Das arme Ding.«
Einige der Frauen, die sich auf dem Marktplatz in Dorsten aufhielten, steckten ihre Köpfe zusammen und tuschelten. Dabei schauten sie immer wieder in die Richtung des Hauses mit der Nummer 14, Marias Elternhaus.
»Sie ist doch erst neunzehn Jahre alt und dann schon Witwe.«
»Ob sie guter Hoffnung ist und bald allein ein Kind großziehen muss?«, warf eine der Damen in die kleine Runde und schaute die anderen dabei erwartungsvoll an.
Aber die zogen nur die Schultern hoch und wussten keine Antwort.
»Es wird erzählt, dass ihr Mann vergiftet worden ist«, wollte die Ältere gehört haben und erntete mit ihrer Vermutung bei den anderen Damen einen verhaltenen Aufschrei.
»Er soll ein schädliches Pulver beim Trocknen der Tinte eingeatmet haben.«
Eine hielt sich entsetzt die Hand vor den Mund und wagte auszusprechen, was alle dachten. »Ein Mord!« Dabei stützte sie sich auf den Brunnenrand, als wenn sie in Ohnmacht fallen müsste.
Maria, die junge Witwe, stand am Fenster im ersten Stock ihres Elternhauses und beobachtete die Händler, die ihre Ware auf dem Markt den zahlreichen Kunden anpriesen. Sie hatte ihre dunkelbraunen Haare zu einem schlichten Nackenknoten mit seitlichen Korkenzieherlocken frisiert. Schon am frühen Morgen hatte sie mit zwei ihrer Schwestern Obst und Gemüse aus ihrem Garten hinter dem Wall geholt und die notwendigen Einkäufe für den Tag erledigt. Gerade als sie sich wieder abwenden wollte, fiel ihr Blick auf die Frauen, die sichtlich erregt neben dem Brunnen standen und immer wieder in ihre Richtung schauten. Die Damen waren in ein sehr reges Gespräch vertieft und hielten dabei mit einer Hand ihre Einkaufskörbe fest.
»Mein Schicksal hat sich schnell herumgesprochen«, dachte Maria. »Es wird nicht leicht werden, hier in Dorsten wieder Fuß zu fassen.«
Als sie im Flur des Erdgeschosses die Stimme ihres Vaters hörte, der gerade einen Patienten verabschiedete, verließ sie ihren Fensterplatz. Von der Treppe aus rief sie ihm zu. »Vater, das Mittagessen ist gleich fertig.«
»Ich komme, mein Kind.« Rüdiger Sebregondi schloss die Tür seiner Praxis und stieg die Treppe zur Wohnung hinauf. Das Haus an der Nordseite des Marktes gehörte zu Dorstens Bürgerhäusern, und die Familie Sebregondi genoss in der kleinen Stadt besonderes Ansehen. Die Patienten kamen gern zu Marias Vater, denn er nahm sich Zeit und hörte ihnen stets aufmerksam zu, wenn sie ihm von ihren Beschwerden erzählten.
Rüdiger Sebregondi begleitete seine älteste Tochter in das geräumige Esszimmer. Die Mitte des Raumes füllte ein ovaler Biedermeiertisch, umrahmt von geschwungenen Stühlen. Es war bereits gedeckt. An der einen Seite stand ein Vitrinenschrank mit Geschirr hinter einer Glastür, und gegenüber befand sich das Buffet aus Kirschbaumholz mit sechs Schubladen, über dem ein Bild hing.
»Mutter hat heute fast nichts gegessen«, berichtete Maria. »Ich habe sie in eine Decke gewickelt und in den Hof zum Kutscher gesetzt, damit ihr die Sonne ein wenig Kraft gibt.«
»Das ist gut. Ich sorge mich sehr um sie.« Marias Vater wirkte bedrückt. Seitdem der Zustand seiner Frau unverändert blieb, grübelte er ständig, was ihr noch helfen könnte, wieder auf die Beine zu kommen.
»Es will und will einfach nicht besser werden. Ich habe nun den Kollegen Adolph Schlotjunker hinzugezogen. Doch er konnte mir auch nicht mehr sagen, als ich selbst schon unternommen hatte.«
Maria legte ihm die Hand auf die Schulter. »Vater, du hast alles Mögliche getan und dich um jeden Rat eines Fachmannes bemüht. Wie es mit Mutter weitergeht, liegt nun in Gottes Hand«, versuchte Maria ihren Vater zu trösten.
Er machte ein sorgenvolles Gesicht. »Lauf bitte noch schnell zur Hirsch-Apotheke und lass dir von Franziska Geiger die Kräuter und Medikamente geben, die ich hier aufgeschrieben habe.« Er reichte ihr ein Papier, auf dem die Namen einiger stärkender Kräuter und auch zwei Medikamente standen.
»Ja, Vater, das mache ich noch vor dem Essen«, erwiderte sie, nahm das Rezept und lief hinüber zur Apotheke, die an der Westseite des Marktplatzes lag und nur wenige Schritte vom Haus entfernt war.
Kurze Zeit später saß Rüdiger Sebregondi mit seinen Töchtern am Tisch.
Maria hatte ihren Platz ihm zur Rechten eingenommen, daneben saßen Alina und Hilda.
Auf der anderen Seite des Tisches hatten sich Fine, Alexa und Elise auf die Stühle gesetzt.
Während die Mädchen angeregt plauderten, lächelte der Vater in die muntere Runde.
Der Kutscher Jakob kam aus dem Hof die Treppe hinauf und gesellte sich zu ihnen.
Frieda, die Köchin, stellte einen Korb mit Brot und eine Terrine auf den Tisch. Sie füllte die Gemüsesuppe, in der eine kräftige Fleischeinlage zu erkennen war, auf die Teller. Dann setzte auch sie sich an den Tisch.
Rüdiger Sebregondi sprach ein Gebet:
Komm, Herr Jesu, sei unser Gast,
und segne, was du uns bescheret hast.
Nachdem alle gemeinsam Amen gesagt hatten, griffen sie zu ihren Löffeln.
Während des Essens schwiegen sie und ließen es sich gut schmecken.
Später halfen die jüngeren Mädchen der Köchin Frieda, den Tisch abzuräumen, und Alina ging zusammen mit Hilda in den Hof, um nach der Mutter zu schauen.
Da wandte sich der Arzt seiner ältesten Tochter zu und ging mit ihr in die gute Stube. »Maria, Mutter ist zu schwach, um den Haushalt zu organisieren. Wir haben uns gedacht, dass du das übernehmen solltest, und du könntest auch helfen, deine Schwestern zu erziehen. Das bringt dir bestimmt Ablenkung.«
»Ja, Vater, das will ich gerne tun. Elise hat mein Bett wieder an mich abgetreten, das sie in den letzten Monaten genutzt hat, und Hilda hat meine Aussteuer in die Truhe zurückgelegt. Die Mädchen sind sehr rücksichtsvoll und respektieren meine Anweisungen.«
»Das ist gut. Du sollst wissen, dass deine Mutter und ich mit dir fühlen. Wir verstehen, welch schweres Schicksal dir widerfahren ist.«
»Ja, es ist nicht einfach. Da ist ein Mensch gestorben, und für mich scheint die ganze Welt auf einmal kalt und leer zu sein. Aber du weißt, dass mir das Schreiben hilft, meinen Kummer zu verarbeiten. Wenn ich meine Gedanken zu Papier bringen kann, spüre ich, dass etwas in mir passiert.«
»Lies mir bitte ein Gedicht von dir vor. Ich möchte an deinen Gedanken teilhaben«, bat der Vater, während er sich in der Stube in einem Sessel niederließ.
Maria freute sich über diese Einladung. Sie ging zum Schreibtisch, holte ein Blatt mit einigen handgeschriebenen Zeilen hervor und begann zu lesen.
Abschied
Leb wohl, leb wohl, du trautes Tal!
Muss heute noch dich meiden.
Du Zeuge meiner tiefsten Qual,
wie meiner höchsten Freuden.
Dort schlummert auf der stillen Höh‘
mein süßes Lieb schon lange.
Die Morgenwinde säuseln Weh,
die Wogen stöhnen bange.
Erwartungsvoll sah Maria ihren Vater an.
»Deine Trauer hast du in schönen Bildern beschrieben«, lobte Rüdiger Sebregondi ihre Zeilen. »Was du schreibst, ist sehr gefühlvoll, und ich erkenne in den Worten deine Trauer um Gustav, den schweren Abschied von Elberfeld und die Einsamkeit in dir.«
»Ja, Vater, ich habe meinen Mann sehr geliebt. In meinem Herzen wird er ewig lebendig bleiben. Mir ist so, als wenn ein Teil meines Körpers fehlen würde. Mein Zuhause sollte eigentlich in Elberfeld sein. Doch dann ist alles so schnell gegangen. Nach allem, was passiert ist, ist es gut, wieder hier in Dorsten zu sein.«
»Wir wollen dir das Gefühl der Geborgenheit und der Sicherheit geben. Mehr können wir nicht tun. Hier kannst du bleiben, solange du möchtest.«
»Danke, Vater. Ich habe ja sonst niemanden mehr.« Maria begann zu schluchzen.
Rüdiger Sebregondi nahm seine Tochter in den Arm und streichelte ihr über den Kopf, so wie er es oft getan hatte, als sie noch ein kleines Mädchen war.
Ihr Blick fiel auf das Bild, das schon seit ihrer Kindheit an der Wand hing und von einem italienischen Maler war. Es zeigte eine Frau vor einem Haus sitzend, die auf der Laute spielte, und ihr zu Füßen saßen ein kleines Mädchen und ein Junge, wahrscheinlich ihre Kinder. Dieses Bild strahlte eine große Harmonie aus. Maria hatte es schon oft angeschaut und sich manchmal darin verloren.
Nun hatte sie sich wieder beruhigt. »Es gibt hier im Hause genug für mich zu tun«, sagte sie. »Solange Mutter krank ist, kümmere ich mich um den Haushalt. Ich werde Alina und Hilda anleiten, einige Aufgaben zu übernehmen. Die drei Jüngeren sollen auch mit anfassen, wenn sie es können. Doch ihre Schulaufgaben müssen immer Vorrang haben. Ich muss jetzt mein Leben neu finden.«
»Leben und Sterben liegen oft so eng beisammen. Höhen und Tiefen im Leben wechseln sich manchmal schneller ab, als wir es aushalten können«, sagte Rüdiger Sebregondi. »Du weißt, dass ich es selbst erleben musste. Als mein Vater starb, war ich nicht einmal drei Jahre alt. Ich habe keine Erinnerung an ihn. Meine Mutter musste mich allein durchbringen. Das war nicht leicht für sie. Du weißt, Maria, dass sie Hebamme war, und viel war es nicht, was sie verdiente.«
Maria mochte es, wenn ihr Vater von seiner Kindheit erzählte.
»Was für ein Glück, dass sie einen guten Mann fand und ihn heiraten konnte. Theobald de Leuw, dein Großvater, Maria. Er wurde mir ein liebevoller Stiefvater und ein Vorbild für das Leben. Er war, wie du weißt, Arzt in Dinslaken. Er hat mir den Beruf vorgelebt, und so habe ich mich selbst dafür begeistert. Sonst wäre ich vielleicht ein Handwerker geworden.«
»Ein Kind erwarte ich nicht«, flüsterte Maria.
Rüdiger Sebregondi hielt inne und wurde nachdenklich.
»In der Nacht, als Gustav starb, hat deine Großmutter Anna ihn im Traum an ihrem Bett stehen sehen. Gleich am nächsten Morgen hat sie einen reitenden Boten zu uns nach Dorsten geschickt. Er sollte fragen, wie es den Kindern in Elberfeld gehe. Sie hat geahnt, dass etwas Schlimmes geschehen ist.«
»Großmutter Anna kann Ereignisse voraussehen. Diese Fähigkeiten haben nur wenige Menschen.«
»Ja, das ist ein Phänomen. Ich würde gerne herausfinden, wie es um diese Dinge steht. Wie kommt es, dass einige Menschen eine solche Gabe haben? Ich habe vor, meine Beobachtungen und Überlegungen dazu aufzuschreiben«, erklärte Rüdiger Sebregondi, senkte den Blick und schwieg eine Weile. Dann fasste er sich wieder und sprach nun in einem ernsten Ton. »Ich will es dir nicht verschweigen, mein Kind. Heute war ein junger Mann bei mir, der sich als neuer Ehemann für dich empfohlen hat. Ich habe ihm gesagt, dass du noch in Trauer bist und dass er das respektieren soll.«
»Vater, ich will gar nicht wissen, wer es war. Es ist noch zu früh«, erwiderte Maria mit Tränen in den Augen.
»Ich möchte um Gustav in Ruhe weinen können. Meine Gefühle gehören ihm ganz allein. Und das wird auch noch lange so bleiben, denke ich.« Sie schluchzte wieder auf. Doch dann drückte sie ihren Rücken durch, putzte sich die Nase und verkündete: »Ich habe vor, einige Frauen einzuladen und mit ihnen regelmäßig über Literatur zu sprechen. In dieser Runde möchte ich auch meine Gedichte vortragen. Mich interessiert, wie anderen meine Texte gefallen.«
»Das ist gut. Eine gebildete Dame gehört heute einem Kränzchen an«, bestätigte der Vater. »Glaube an dich und an deine Fähigkeiten. Eine Frau kann vieles genauso gut wie ein Mann.«
»Das denke ich auch«, meinte Maria und lächelte schon wieder.
»Warum wird den Frauen eigentlich nicht zugetraut, dass sie sich in die Gesellschaft einbringen, so wie die Männer?«
Marias Vater ließ sich auch gerne auf Diskussionen dieser Art mit seiner Tochter ein und erwiderte: »Ich weiß nicht, warum das so ist. Einige Frauenvereine geben vor, Wohltätigkeitsvereine zu sein und sind in Wirklichkeit heimliche politische Versammlungen.«
Maria machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ich weiß, dass die meisten Frauen durchaus mit offenen Augen und Ohren durchs Leben gehen. Viele machen sich Gedanken auch über ihre Arbeit im Haushalt hinaus. Ich kann mir vorstellen, dass Frauen das gesellschaftliche Leben mitgestalten können.«
Während Maria ihre Meinung kundtat, nickte ihr Vater zustimmend.
»Ich bin ganz deiner Meinung, und ich bin sogar sicher, dass den Frauen in Zukunft noch vieles mehr gelingen wird. Mein Kollege Ferdinand von Ritgen hat bei einem Treffen erzählt, dass sich in Gießen gebildete Damen mit Medizin beschäftigen. Wie du weißt, ist von Ritgen ein angesehener Medizinprofessor, der hier aufgewachsen ist. Er hat der Hebamme Josepha von Siebold die Ehrendoktorwürde für Entbindungskunst verliehen, und ihre Tochter Charlotte hat bei Ritgen promoviert. Du siehst, Damen bringen auch außerhalb ihres Haushaltes viel zustande, und ihre Leistungen werden gewürdigt. Unsere Mädchen werden sich bestimmt später im Leben auch behaupten und vielleicht sogar studieren.«
»Es ist aber leider so, dass Frauen immer männliche Fürsprecher benötigen«, warf Maria ein.
»Ja, das mag häufig noch so sein. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass du von der Kunst des Schreibens etwas verstehst, noch viel dazulernen kannst und irgendwann auch Erfolg haben wirst, auch ohne männliche Fürsprache, einfach nur deshalb, weil du deine Sache gut machst, weil du den Menschen etwas mitzuteilen hast, das sie gerne lesen möchten.«
Maria lächelte. »Danke, Vater, dass du an mich glaubst und mich in meinem Tun so bestärkst.«
»Bei mir stehen heute Nachmittag noch einige Krankenbesuche an«, beendete Rüdiger Sebregondi das Gespräch mit seiner Tochter, stand auf und schaute durch das Fenster auf den Hof, in dem Jakob gerade das Pferd anspannte. Er streichelte Maria sanft über die Wange, nickte ihr stumm zu, ging in seine Praxis und holte seinen Arztkoffer.
Als der Tilbury vor der Haustür hielt, eine leichte, einachsige, offene Kutsche mit großen Rädern und einem Klappverdeck, stellten sich alle Töchter des Hauses an der Tür auf und schickten ihrem Vater einen freundlichen Gruß mit auf die Fahrt.
Maria setzte sich gleich darauf an den Schreibtisch, versank in einen Tagtraum und hielt ihre Gedanken und Gefühle auf dem Papier fest. Doch dann dachte sie darüber nach, worauf sie ihr Vater aufmerksam gemacht hatte, dass sie nicht nur für sich selbst, sondern für andere schrieb, für Menschen, die ihre Texte hören oder lesen würden. Ja, das ist ein wichtiger Gedanke, ich möchte ihnen etwas mitteilen, über das sie nachdenken können, dachte sie und überarbeitete daraufhin das Geschriebene noch einmal.
»Ihr müsst euch nach jedem Patienten gründlich die Hände waschen. Mit Seife, wie ich es euch gezeigt habe. Bitte denkt daran«, belehrte Rüdiger Sebregondi seine Töchter Alina und Hilda.
An manchen Nachmittagen gingen sie ihrem Vater in der Praxis zur Hand. »Es gibt immer noch Menschen, die glauben, dass Waschen für den Körper schädlich ist. Sie haben Läuse, Flöhe oder irgendwelche Parasiten und bringen sie mit in die Praxis. Doch Sauberkeit ist sehr wichtig und kann verhindern, dass Krankheiten übertragen werden.«
»Ja, wir werden es befolgen«, beruhigte Hilda ihren Vater.
Maria hatte unterdessen ihre Mutter gewaschen und ihr ein frisches Nachthemd angezogen. Während dieser Prozedur schwiegen die beiden Frauen, aber als Elisabeth Sebregondi wieder erschöpft in ihre Kissen sank, hielt sie Marias Hand fest und bedeutete ihr mit einer Geste, sich zu ihr auf die Bettkante zu setzen.
»Mein liebes Kind, wir sind so traurig über das, was geschehen ist. Wenn wir nur könnten, würden wir dir etwas von deinem Leid abnehmen. Du und Gustav, ihr wart ein besonderes Paar. Eure Seelen hatten sich gefunden, und eine konnte die andere anregen und erbauen. Gustav erkannte deine besondere Begabung und schätzte sie. Er hatte solche Freude daran, dich zu fördern. Was für ein Glück hattest du mit diesem Ehemann, Maria.«
Maria stiegen die Tränen in die Augen. »Du hast Recht, Mutter. Wir beide waren sehr gut miteinander. Gustav war in seinem Beruf sehr zufrieden. Er war neugierig auf alles, was ihn umgab, und las sehr gerne Bücher über ferne Länder und frühere Zeiten. Nicht nur ich, auch er interessierte sich für Lyrik und Prosa, und wir haben oft über Literatur gesprochen. Er hat mir gutgetan.«
Elisabeth Sebregondi strich ihr sanft über die Hände. »Ach, meine Liebe.«
»Ich habe ihn durch Josef Rive kennengelernt. Weißt du noch? Mir kommt es vor, als wenn es erst im letzten Monat gewesen ist. Josef hat mit Gustavs Vater am Gericht in Köln zusammengearbeitet, und als Gustav dort ein Praktikum gemacht hat, haben sich die beiden angefreundet. Bald hat Josef ihn auch in unser Haus gebracht, und nach seinem Studium ist Gustav als Referendar am Dorstener Gericht gewesen.«
»Ja, das ist alles noch gar nicht so lange her. Wie geht es deinen Schwiegereltern? Hast du etwas von ihnen gehört?«
»Es ist ihnen nicht gut gegangen, als ich sie das letzte Mal gesehen habe. Ihre Trauer ist groß. Theodor und Josepha tragen schwer am Tod ihres geliebten Sohnes. Sie haben mich in ihr Herz geschlossen, genauso wie ich sie, und sie haben mich immer gefördert. Durch meinen Schwiegervater habe ich Köln kennengelernt. Er hat mir die Sehenswürdigkeiten und besonders die Kirchen dieser wunderbaren Stadt gezeigt. Der Dombauverein saniert dort den Dom, und es gibt Pläne, dass er ganz vollendet werden soll. Ist das nicht wunderbar? Und auch unsere Reisen zur Mosel sind für mich ein unschätzbarer Reichtum. Mir hat es gutgetan, dass mich Theodor immer in meinem Schreiben bestärkt hat. Ich bin ihm sehr dankbar, Mutter.«
Maria sah, dass ihre Mutter erschöpft war und ihr die Augen zufielen. Schweigend strich sie ihr sanft über das Haar und wartete, bis sie eingeschlafen war.
Dann ging sie zum Schreibtisch. Sie nahm ein Blatt Papier und begann, eine Liste mit Namen verschiedener Frauen zu erstellen, die sie zu ihrem neuen Damenkränzchen einladen würde.
In den letzten Jahren hatte sie sich bei Zusammenkünften gerne mit anderen Personen über Bücher ausgetauscht. Sie wollte hören, wie Menschen durch Texte Grenzen in ihrer Fantasie überschreiten und sich frei fühlen konnten. Sie wollte an den Leseabenteuern anderer teilhaben, und für sie war wichtig, welche Autoren bei ihren Lesern Spuren hinterlassen hatten. Aber sie hatte auch die Absicht, ihre eigenen Texte einem kleinen Publikum vorzustellen. Das konnte nur gelingen, wenn sie ein Kränzchen mit regelmäßigen Treffen ins Leben rief.
Viele Bürger in der kleinen Stadt waren gebildet, ihre Jungen erhielten Unterricht von den Franziskaner-Patres am Gymnasium Petrinum. Sie legten aber auch Wert darauf, dass ihre Töchter eine gute Schulbildung erhielten, und so gingen ihre Mädchen zu der höheren Schule, dem Gymnasium St. Ursula. Deshalb konnten die Gespräche in einer reinen Frauengruppe sicherlich fruchtbar werden.
Wen soll ich einladen? Wen darf ich auf keinen Fall vergessen?, fragte sie sich. Ihre Freundin Margarete Gieben, die Frau des Lehrers Anton Gieben, musste unbedingt dabei sein. Ohne sie ging es nicht. Maria dachte weiter nach. Die Ehefrauen einiger angesehener Kaufleute sollten dabei sein. In Gedanken ging sie eine nach der anderen durch, Katharina Heuwing, Martha Wemhoff und natürlich Elisabeth de Weldige Cremer, die Frau des Bankiers, aber auch Caroline Cremer, deren Mann vor einiger Zeit gestorben war, sowie die Frau des Bürgermeisters Luck, Marianne, mit der sie auch freundschaftlich verbunden war. Zufrieden las sie ihre Liste noch einmal durch.
Bald darauf setzte sie ihre Schute auf und legte ihr Cape an. Sie ging hinaus, betrat den Marktplatz und lief am Hotel des Johann Söller vorbei. Als sie rechter Hand in die Lippestraße eingebogen war, kam sie bald darauf nicht mehr weiter. Sie blieb abrupt stehen, denn vor der Poststation hatte gerade eine Postkutsche angehalten.
Die Reisenden stiegen aus und waren eifrig damit beschäftigt, ihr Gepäck in Empfang zu nehmen und zu sortieren. Dabei versperrten sie Maria den Weg.
In der Menschengruppe erblickte sie den Postmeister Franz Rive. Als er Maria sah, winkte er ihr freundlich zu.
Sie kannte ihn gut, denn er gehörte zur Familie. Er hatte die Schwester ihrer Mutter, Mechthild Wehling, geheiratet. Seine Tochter Alexandrine war erst sechs Jahre alt, als ihre Mutter Mechthild starb. Seitdem lebte das Mädchen wie eine eigene Tochter im Hause der Sebregondis. Alle nannten sie Alexa, und sie war im gleichen Alter wie Elise, wissbegierig und fleißig und Schülerin der Ursulinen. Außerdem liebte sie es, Musik zu machen, ganz besonders auf der Flöte.
Maria schmunzelte bei dem Gedanken an Alexa. Dem Humor und dem Temperament der mittlerweile Zehnjährigen konnte sich niemand in ihrer Nähe entziehen.
Als die Kutsche den Weg frei gab, winkte Maria ihrem Onkel noch einmal zu und lief dann weiter am Franziskanerkloster vorbei die Lippestraße entlang in Richtung Lippetor. In diesem Teil der Stadt hatten viele Händler und Handwerker ihre Wohnungen und Werkstätten. Vor einem der Häuser blieb sie stehen und klopfte. Als die Tür aufging, stand ihre Freundin Margarete vor ihr. »Guten Tag, Grete«, begrüßte sie die junge Frau freundlich.
»Maria! Wie schön es ist, dich zu sehen. Komm in die Stube.« Aber Maria winkte ab und blieb im Flur stehen. »Grete, ich kann mich heute nicht lange aufhalten. Ein andermal bleibe ich gerne. Ich möchte dich einladen. Nächste Woche findet mein neues Damenkränzchen statt. Es wäre wunderbar, wenn du kommen würdest.«
Mit ihrer kleinen, zarten und anmutigen Gestalt hatte Maria etwas Herzgewinnendes an sich. Sie war voller Energie, und Margarete verstand gleich, dass Marias Damenkränzchen anders sein würde als das, was bisher in ihren Kreisen unter den Damen stattfand. Maria brauchte sie nicht zu überreden, dabei zu sein. Im Gegenteil, sie freute sich sehr, dass sie dazugehören würde.
»Danke, Maria, für die Einladung. Ich komme sehr gerne. Wen wirst du noch einladen?«
»Das freut mich, dass du dabei bist«, erklärte Maria schmunzelnd. »Ich werde gleich noch zu Marianne Luck gehen und zu Martha Wemhoff. Außerdem dachte ich noch an Katharina Heuwing und Elisabeth de Weldige Cremer. Was meinst du, wer von den Damen dieser Stadt sollte noch dabei sein?« »Deine Wahl ist gut. Vielleicht würde Anna Schürholz noch in diese Runde passen.«
»Ja, du hast Recht. Ich werde sie einladen.«
Zum Abschied nahmen sich die Freundinnen in den Arm. Dann machte sich Maria auf den Weg zum Haus des Bürgermeisters Franz Luck, in der Hoffnung, dort Marianne anzutreffen.
In Gedanken vertieft ging sie die Essener Straße entlang und hatte auf einmal das Gefühl, dass ihr jemand folgte. Ein Mann fiel ihr auf, den sie schon öfter gesehen hatte und der sie anstarrte. Doch als sie sich umdrehte, war er nicht mehr da. Vielleicht war es auch nur eine Einbildung, beruhigte sie sich.
Als sie am Bürgermeisterhaus ankam, klopfte sie an die Tür.
Marianne war zu Hause. Sie nahm, wie Margarete, die Einladung zum Damenkränzchen gerne an und versprach, am nächsten Mittwoch zu kommen.
Maria lief nun zurück über den Marktplatz, ein kurzes Stück die Recklinghäuser Straße entlang und blieb gegenüber der St.-Agatha-Kirche vor dem Haus der Familie de Weldige Cremer stehen. Sie klopfte an, und Elisabeth, mit ihrem jüngsten Kind auf dem Arm, öffnete die Tür. Elisabeth freute sich über die Einladung, konnte aber wegen ihrer Kinder noch keine feste Zusage machen.
Bald hatte Maria alle Frauen, die auf ihrer Liste standen, angesprochen. Bei allen stieß sie auf großes Interesse und erfreute Gesichter.
Die Frauen fühlten sich geehrt, im Hause Sebregondi zu verkehren. Geistreiche Gespräche und neue Geschichten waren für sie eine willkommene Abwechslung zu ihren häuslichen Pflichten.
Schon wenige Tage später saßen die Frauen im Hause Sebregondi in munterer Plauderstimmung am ovalen Biedermeiertisch zusammen. Die Köchin Frieda hatte Maria beim Eindecken der Kaffeetafel geholfen und für die Damen einen kräftigen Kaffee gekocht. Auf dem Tisch stand das frisch gebackene süße Mandelgebäck. Es duftete köstlich.
Elisabeth de Weldige Cremer rutschte noch etwas nervös auf ihrem Stuhl hin und her. Es war seit langer Zeit das erste Mal, dass sie das Haus für mehrere Stunden verlassen hatte. »Ich bin unschlüssig gewesen, ob ich gehen soll oder nicht. Doch die Kinderfrau und auch mein Mann haben mir zugeredet. Sie haben gemeint, ich soll mir keine Sorgen machen und an dem Kränzchen teilnehmen. Außerdem bin ich in wenigen Schritten zu Hause, wenn ich es möchte.«
»Elisabeth, du hast dich richtig entschieden«, ermunterte sie Maria. »Gründe, nicht zu kommen und keine Zeit für gute Gespräche zu haben, finden sich immer.«
Nachdem Alina die Tassen der Damen mit dem frisch aufgebrühten Kaffee gefüllt hatte und allen etwas Gebäck auf die Teller gelegt hatte, begann Maria mit ihrer Ansprache.
»Ich freue mich, dass ihr gekommen seid, und heiße euch herzlich willkommen. Bei meiner Einladung habe ich bereits erwähnt, dass es in diesem Damenkränzchen um Literatur gehen soll. In Berlin oder anderen großen Städten laden die wohlhabenden Damen für den Nachmittag einen bekannten Dichter ein, der ihnen aus seinen Werken vorliest und dann mit ihnen diskutiert. Doch das können wir uns nicht leisten. Ich stelle mir vor, dass jeder etwas liest, was ihm zusagt, und uns davon berichtet, oder dass wir gemeinsam einige der vielfältigen Werke lesen und uns darüber austauschen. Wir können aus ganz unterschiedlich geprägter Literatur wählen. Heute können wir mit kleinen Texten, zum Beispiel mit Gedichten, beginnen. Ich denke, wir werden in Zukunft viel Gesprächsstoff haben.«
»Mir gefallen die Werke von Johann Wolfgang von Goethe«, fing Margarete an. »Beispielsweise das Gedicht Heideröslein. Vielleicht kennt ihr es auch. Es hat mich sehr nachdenklich gemacht.« Margarete schaute in interessierte Gesichter und begann, das Gedicht frei vorzutragen. »Sah ein Knab’ ein Röslein stehn, Röslein auf der Heiden …«
Die Damen kannten es bereits aus der Schule, aber Margaretes Vortrag half ihnen, sich noch einmal zu erinnern. Als sie fertig war, teilte sie ihren Zuhörerinnen ihre Gedanken mit. »In diesem Text beschreibt Goethe, wie ein Knabe eine Rose pflückt. Die Rose steht sinnbildlich für ein Mädchen. Aber es geht nicht um eine erwiderte Liebe. Der Knabe bestimmt allein, was passiert, lässt sich nicht von dem Vorhaben abbringen und setzt sich am Ende durch, ohne die Einwilligung des Mädchens. Es ist machtlos, wie diese Rose auch. Sie hat keine Chance.«
»Mich macht das traurig und wütend zugleich«, warf Marianne Luck ein.
»Goethe hat diese schwierige Situation des Mädchens und der Frauen verstanden und sie im Bild der Rose dargestellt«, ergänzte Margarete. »Er hat es mit seinem Sinnbild sehr deutlich gemacht, was Frauen in so einer Lage empfinden und wie rücksichtslos so mancher verliebte Knabe ist. Er war ein großer Dichter, finde ich, der leider schon verstorben ist.«
Die Damen schwiegen betroffen. Jede ging ihren eigenen Gedanken nach.
Endlich wagte es Caroline Cremer, das Wort zu ergreifen: »Auch Johann Gottfried Herder hat ein ähnliches Gedicht verfasst. Ich überlege gerade, wie es heißt. Vielleicht kennt es eine von euch.«
»Herder ist mir nicht so geläufig«, mischt sich nun Martha Wemhoff ein. »Für mich sind die Gedichte von Friedrich Schiller eine Erbauung. Er greift oft philosophische Fragen auf oder beschreibt Vorgänge, die er beobachtet hat. Wenn ich seine Werke lese, kann ich mir die Abläufe genau vorstellen.«
Die Gastgeberin verfolgte aufmerksam das Gespräch, das sich zwischen den Damen entwickelte. Sie alle hatten auf ihre Weise etwas beizutragen und kannten sich aus.
Maria nahm sich vor, die erwähnten Schriftsteller bei den weiteren Treffen zu berücksichtigen.
Nach einer kleinen Pause meldete sich Elisabeth de Weldige Cremer zu Wort und berichtete von einem Gedicht, das auch von einer Rose handelte und das sie auswendig aufsagen konnte. Leider wusste sie nicht mehr, wer es geschrieben hatte. Sie atmete tief durch und begann, den Text auswendig vorzutragen. Ihre Stimme war warm und hatte eine dunkle Färbung. Während sie sprach, wurde es in der Runde ganz still. Selbst Frieda und Alina ließen ihre Arbeit ruhen und lauschten dem Vortrag.
Als sie fertig war, war es Anna Schürholz, die das Wort ergriff. Sie hatte bisher nichts gesagt, aber nun brach es aus ihr heraus. »Das Gedicht berührt mich sehr, Elisabeth, und du hast es wunderbar vorgetragen«, schwärmte sie.
Maria nutzte diesen Moment, um etwas anzumerken. »Gedichte können die Leserinnen berühren, sie können aufrütteln und Gefühle wecken, wie wir gehört haben, und sie können wunderbar mit Sprache spielen. Das ist eine hohe Kunst. Hört einmal dieses Gedicht. Ich habe es geschrieben. Es hat auch mit einer Rose zu tun«, sagte Maria.
Die Rose
Mich hält ein Traum umfangen;
Er war so klar und licht!
Die Rose sah ich prangen;
Die Dornen sah ich nicht.
Die Mutter brach die Blume
Und schmückte mir das Haar.
Ich stand im Heiligtume;
Ich kniete am Altar.
Und nahm aus lieben Händen
Ein goldnes Ringlein an;
Ich wollte eines spenden –
Da war mein Traum getan!
Und tausend Schmerzen füllen
Die Brust, wie ich erwacht;
Ich sah das Land sich hüllen
In winterliche Pracht.
Auf einem Hügel wanken
Sah ich, im Mondenlicht,
Die dürren Dornenranken,
Die Rose sah ich nicht.
Nachdem Maria ihren Gedichtvortrag beendet und das Blatt auf den Tisch gelegt hatte, blickte sie in staunende Gesichter.
»Maria, du hast mich mit deinen Worten tief bewegt«, sagte ihre Freundin Margarete voller Bewunderung. »In deinem Gedicht steckt so viel Gefühl und sogar Weisheit. Du hast Menschen etwas mitzuteilen.«
»Ich stimme dir zu, Grete, und ich bin völlig überrascht. Das hätte ich nicht gedacht, dass eine Frau auch so schreiben kann wie ein Mann«, gab Anna Schürholz leise zu.
»Ich freue mich, dass euch mein Gedicht gefällt«, bedankte sich Maria bei ihren Zuhörerinnen. »Aber ich verstehe nicht, warum alle denken, eine Frau könnte nicht genauso gut schreiben wie ein Mann. Ich habe es ja bewiesen, und ich weiß, dass es auch andere können. Anna Maria Karsch, die auch die Karschin genannt wird, war eine Dichterin, die in den literarischen Salons in Berlin für Aufsehen sorgte.«
»Ach ja, ich erinnere mich, auch Goethe hatte mit ihr Kontakt. Sie war eine Frau mit großem Talent«, ergänzte Margarete.
»Vielleicht habt ihr auch von Therese Huber gehört, die viele Jahre Redakteurin für das Morgenblatt im Verlag Cotta war. Vom Schreiben verstand sie viel, und sie war sehr begabt. Doch die männlichen Redakteure bekamen für die gleiche Arbeit viel mehr Lohn als sie und versuchten sie wegzudrängen. Therese Huber musste sich Männern gegenüber immer wieder durchsetzen«, erzählte Marianne.
»Für das Morgenblatt hat Friedrich Schiller geschrieben«, warf Martha Wemhoff ein.