Instinkt
Vor fünf Jahren, als Henry vom Klärwerk nach Hause fuhr, sprang ihm etwas ins Auge. Er bog von der County 151 nach
links ab und fuhr rechts ran. Mehrere Minuten lang saß er da und starrte seine Handrücken an, die, wie sie da so das Lenkrad umklammerten, jemand anders zu gehören schienen. Dann legte seine rechte Hand den Rückwärtsgang ein.
Es war ein Gartenflohmarkt, an dem er vorbeigekommen war, bunter Plunder, auf
Klapptischen unter Pecannussbäumen ausgebreitet. Zwei Zehngang-Fahrräder lehnten neben einem Messerblock aus Holz an einem Tischchen, und an einem
Trampolin im Hintergrund hing ein Schild: Preis VHS. Die Frau, die den
Flohmarkt veranstaltete, trug einen langen Rock und eine Alabama-Baseballmütze und saß auf einem ausgebleichten Zweiersofa. Als Henry aus seinem Pick-up stieg,
klappte sie das Paperback zu, in dem sie gelesen hatte. Er trug die Hose seiner
Klärwerkskluft und ein Unterhemd.
Die Badewanne mit den Klauenfüßen stand hinter den Tischen. Wenn er aus der anderen Richtung gekommen wäre, hätte er sie vielleicht gar nicht gesehen.
»Heiß heute«, sagte die Frau, ohne aufzustehen. Sie blinzelte, schaute die Straße entlang und fächelte sich mit dem Buch. Das Haus hinter ihr war zweistöckig, aus roten Ziegeln, Mansardenfenster mit Vorhängen anstelle von Jalousien, was Henry gefiel. Neben der Eingangstreppe lag ein
aufgerollter Gartenschlauch.
Während sie von dem Zweiersofa aus zusah, ging er zu der Badewanne, schaute hinein
und kniete sich dabei ins feuchte Gras. Die Emaille war schmutzig, ein paar
Rostflecken. Aber der Ablassstopfen war noch da, an einer dünnen, grünlichen Kette befestigt. Er strich mit den Fingern über den Wannenrand. Dass die Klauenfüße zwei Zentimeter tief in die Erde eingesunken waren, gefiel ihm nicht.
»Das ist eine Antiquität«, sagte die Frau. Sie war immer noch nicht aufgestanden. Henry fand, dass sie
eigentlich neben ihm stehen und in die Wanne starren müsste. Wie in einer Erinnerung sah er ein Frauenbein, das Bein einer jüngeren Frau als dieser, eingeseift über den Wannenrand ragen.
»Hat meiner Großmutter gehört«, fuhr die Verkäuferin fort. »Sie ist vor zwei Jahren gestorben.«
»Wie viel?«, fragte Henry, und sie stand endlich auf.
Er bezahlte, ohne zu feilschen.
Mit seinem Pick-up fuhr er die Wanne zur Jagdhütte seines Onkels L. J. mitten in zweihundert Morgen altem Kiefernwald voller
Gestrüpp, wuchtete sie hinunter in den Gemüsekeller und zerrte sie neben den Metzgerblock, wo der Alte das Rotwild und die
Wildschweine ausgenommen hatte, die er geschossen hatte. Um die Wanne
anzuschließen, konnte er ein T-Stück in die Leitung des Industriespültischs in der Ecke einsetzen, den sein Onkel bei einer Krankenhausauktion
ersteigert hatte und der über Pedale verfügte, sodass man das Wasser mit dem Fuß an- und abstellen konnte.
Onkel L. J. war vor mehreren Jahren an einem Emphysem und einem golfballgroßen Gehirntumor gestorben. Henrys Mutter sagte ständig, sie sollten die alte Bruchbude mit den Geweihen, dem ausgestopften
Rotluchs und den Truthahnbärten verkaufen und das nutzlose Land gleich mit, aber Henry wusste, dass seine
Eltern sich in seinen achtunddreißig Lebensjahren noch nie von etwas getrennt hatten.
Zwei Jahre später wachte er eines Sonntagmorgens auf. Seine Mutter rief nach ihm und sagte, er
werde zu spät zur Kirche kommen. Er ging an die Tür und lugte hinaus. Sie stand vor der Flurgarderobe und legte Lippenstift auf.
»Ich bleibe zu Hause«, rief er. »Fühl mich nicht gut.«
Sie klappte ihre Handtasche zu. »Du warst mal wieder lange weg gestern Nacht«, sagte sie. »Hast getrunken, nehme ich an. Kein Wunder, dass es dir schlecht geht. John?«
Sein Vater erschien, mit umgebundener Krawatte, aber ohne Jackett. »Komm runter, Henry der Große.«
»Nein.« Henry machte die Tür zu und schloss ab. Er stellte sich vor, wie der Alte mit den Schlüsseln in seiner Tasche klimperte und sich die kahle Stelle an seinem Kopf
kratzte. Seine Mutter, wie sie im Spiegel den Blick seines Vaters auffing.
Aber bald ging die Haustür zu. Er teilte die Vorhänge am Fenster neben seinem Bett und sah zu, wie sie feierlich in den Wagen
einstiegen, seine Mutter mit ihrem gelben Sonntagshut. Sie verharrten einen
Moment lang, ohne wegzufahren, und ihm wurde klar, dass sie beteten. Für ihn, wie er wusste. Dann leuchteten die Bremslichter des Chryslers auf, und
der Wagen schob sich die Einfahrt hinunter.
Auf dem Dachboden rollte er die weiche Gästematratze zu einer Wurst und band sie mit einem Stück Nylonseil zusammen. Er schob sie über den staubigen Boden und durch die Falltür und warf dabei fast einen Beistelltisch mit einer Vase voller Gänseblümchen um. Die Matratze ließ sich ganz leicht die Treppe hinunter und zur Haustür hinausbefördern. Auf der Fahrt zur Hütte seines Onkels, die fast fertig war, begann er in der Hitze zu zittern.
Vor einem Jahr hielt ein Schulbus am Klärwerk. Henry, der gerade mit einer Rohrzange eine Belüftungspumpe einstellte, blickte auf. Er zog seine Handschuhe aus. Die Bustür ging auf, und der Fahrer stieg aus; auf den Sitzen hinter ihm saßen keine Kinder, und er stellte sich vor Henry und deutete über den Hof der Anlage hinweg auf das Vorklärbecken.
»Was sind das eigentlich für Ballons, die da rumschwimmen?«, fragte er. »Wissenschaftliche Geräte?«
Henry schaute mit zusammengekniffenen Augen zum Becken hinüber und sagte zu dem Fahrer, nein, das seien Gummis.
»Gummis?«
»Kondome«, sagte Henry und erklärte, dass der Mann nach dem Sex oft einen Knoten in den Gummi mache und ihn die
Toilette runterspüle. Im Abwassersystem werde es dann warm, fuhr er fort. Im Gummi bildeten sich
Gase und dehnten sich aus, und wenn die Gummis dann aus der Kanalisation ins
Vorklärbecken kämen, schwämmen sie wie Ballons.
»Ich glaube, das da drüben ist ein French Tickler«, sagte Henry und zeigte mit der Rohrzange darauf.
»Mein Gott«, sagte der Busfahrer. »Was sage ich denn jetzt den Kindern? Unsere Strecke ist geändert worden, und jetzt fragen mich die Kinder andauernd, was das für Ballons sind.«
»Sagen Sie ihnen, es sind Titten«, sagte Henry.
»Titten«, sagte der Fahrer und kicherte.
Später, im Mondlicht, fuhr Henry mit seinem Luftgewehr zum Klärwerk, setzte sich mit einem Päckchen Zigaretten auf den Steg und schoss die Gummis kaputt, einen nach dem
anderen.
An diesem Abend schleicht sich Henry aus dem Haus seiner Eltern. Seine Mutter
und sein Vater dösen am Kamin, der Fernseher läuft. Draußen herrschen um die null Grad, bei immer noch fallender Temperatur. Im Radio heißt es, dass Schnee möglich ist. Beim Fahren ertappt er sich dabei, dass er vor sich hin summt. Er
geht ins Key West, auf einen Jack und eine Cola. Das Lokal ist wie
ausgestorben. Er und der Barkeeper unterhalten sich über Schnee. Der Barkeeper sagt, er kommt aus Maryland, und dort schneit es
Unmengen. Henry sagt, und ob. Der Barkeeper sagt, er habe in einem Krankenhaus
in D.C. Nachtschicht gearbeitet, und man habe zu Schichtbeginn zur Arbeit
erscheinen müssen, ganz gleich wie kräftig es geschneit habe. Man habe nicht fehlen dürfen, man habe vorbereitet sein müssen. Dort ist man auf Schnee gefasst, sagt er. Überall Schneepflüge. Hier unten, sagt er, fällt alle fünf Jahre ein Teelöffel Schnee und sie machen die Scheißstadt dicht.
Draußen eilt Henry zu seinem Pick-up. Er wirft einen Blick auf den Nachthimmel
jenseits der Straßenlaternen. Als er den Blick wieder senkt, hockt eine Frau neben seinem Reifen.
Er beobachtet sie, denkt, dass sie auf der Straße pinkelt, aber sie hebt etwas auf, ein Stück Elektrokabel.
»Hallo«, sagt er.
Sie fährt zusammen, dann sieht sie sein Gesicht und lacht. »Sie haben mir einen Heidenschreck eingejagt.«
»Alles okay?«, fragt er.
»Sind Sie ein Cop?«
Er schüttelt den Kopf.
»Dann bin ich Brenda«, sagt sie. »Hast du Lust auf ein Date?«
Auf der anderen Straßenseite ist eine Gasse mit einem Müllcontainer weiter hinten. Das hier ist die Innenstadt und nichts regt sich.
Inzwischen liegt ein Dunst in der Luft, er sticht seine Wangen. Sie schiebt
sich näher an ihn heran, drängend, vor Kälte zitternd. Sie hat blondes Haar, das dringend gewaschen werden müsste, und sie ist sehr dünn.
»Ich will dir was zeigen«, sagt sie. »Sieh’s als ’ne Art Reklame.« Als sie in ihre Handtasche greift, stellt Henry sich vor, sie zückt eine Dienstmarke und nimmt ihn wegen Anstiftung zur Prostitution fest. Er
hat schon eine Vorstrafe, weil er vor Jahren versucht hat, die Sporthalle
seiner Highschool in Brand zu stecken. Aber sie holt Polaroidfotos aus ihrer
Handtasche. Er muss die Augen zusammenkneifen, um etwas zu erkennen, weiß aber, dass es Nacktfotos von ihr sind. Auf einem liegt sie auf einem Bett auf
dem Bauch. Man sieht ihren Hintern und einen Teil einer Brust, allerdings
keinen Nippel. Das nächste zeigt ihr Schamhaar und beide Brüste. Dann eines, auf dem sie mit gespreizten Beinen auf einem Hometrainer sitzt.
Und eines mit ihr in einer Badewanne.
»Kann ich die kaufen?«, fragt er.
»Kommt drauf an«, sagt Brenda. Sie starrt ihn lange an, so lange, dass ihm unwohl wird. »Hör zu«, sagt sie. »Mir geht’s nicht so gut. Wie heißt du?«
»Donald«, sagt Henry.
»Okay, Donny, pass auf. Gib mir zwanzig Dollar und eine Mitfahrgelegenheit, dann
blase ich dir einen. Abgemacht?«
Er betrachtet erneut die Bilder. »Die da«, sagt er.
Sie reißt sie ihm aus der Hand. »Mein Gott, Donny. Es ist kalt. Guck dich doch an, wie du zitterst.«
Sie hat lange rote Fingernägel, die eingerissen sind, und er denkt, dass ihre Haare eine Perücke sein könnten.
»Okay, dreißig«, sagt sie. »Für die Bilder und sonst nichts. Erst das Geld.«
Im Pick-up dreht sie die Heizung voll auf. Im Radio wechselt sie von Country zu
Rap. Sie stellt es laut. »Hast du eine Zigarette?«
Er reicht ihr seine Zigaretten und das Feuerzeug. Sie zündet sich eine an. »Also, was für Drogen hast du schon genommen?«
Er sagt, nicht viele. Die Wahrheit ist, keine.
»Bieg hier ab«, sagt sie und zeigt mit einem langen Fingernagel die Richtung. Er gehorcht. »Sag mir eins, Donny-Boy« – sie wühlt in ihrer Handtasche. »Warum hasst du Frauen? Das ist kein Werturteil«, sagt sie. »Es gilt für alle meine Mitfahrgelegenheiten. Ich bin bloß neugierig. Ist deine Mutter dran schuld? Eine Ex-Freundin? Wer?«
Er zuckt die Achseln, überlegt, was er sagen soll, aber sie holt etwas aus ihrer Handtasche. Sie hält es vor die Armaturenbeleuchtung.
»Schon mal gesehen?«, fragt sie.
Ein schmutzig-weißer Kristall, so groß wie ein Aspirin.
»Crack«, sagt Henry.
»Richtig geraten, Donny. Hast du ein Messer?«
Er sagt nein, obwohl er eins in der Tasche hat, das ihm seine Eltern vor
mehreren Jahren zum Geburtstag geschenkt haben. Er muss jetzt an sie denken. Sie werden mit dem Abendessen fertig
sein, seine Mutter wird in der Küche das Geschirr wegräumen. Die Arbeitsplatte abwischen. Sein Vater im Fernsehzimmer, wo er sich die
Alabama Tide ansieht. Sie werden sich fragen, wo Henry wohl steckt.
»Kein Problem«, sagt Brenda. »Keiner kann so improvisieren wie ein Süchtiger. Bieg da ab, Donny.«
Sie nimmt das Stück Kabel, zündet ein Streichholz an und hält es an das Kabel. Sie sieht nicht, dass Henry an der Abzweigung vorbeifährt. Es wird eine Weile dauern, bis ihr das klar wird. Als die Plastikisolierung
des Kabels zu schmelzen beginnt, zieht sie sie ab. Sie nimmt einen
Kugelschreiber aus ihrer Handtasche und entfernt die Mine. Sie zwängt den Draht ins Füllergehäuse. Dann hält sie ihn mit ihren langen Fingernägeln fest, bricht ein Stück von dem Crackkristall ab und schiebt es in das gegenüberliegende Ende des Kugelschreibers. Mit einem Fingernagel klemmt sie es
vorsichtig fest. Reißt noch ein Streichholz an.
Sie zündet die Pfeife an und inhaliert, wobei sie den Draht als Mundstück benutzt. Draußen hat es zu regnen begonnen und man sieht Kiefern. Drinnen sind ihre Augen
mittlerweile rot und verträumt und die Fahrerkabine hat sich mit Rauch gefüllt.
»Willst du sterben?«, fragt Henry.
»Erspar mir die Predigt«, sagt sie und bietet ihm die Pfeife an.
Er nimmt sie, kurbelt das Fenster herunter und wirft sie ohne nachzudenken
hinaus.
»Hey«, sagt Brenda.
Morgen, wenn Henry wieder hier vorbeikommt, wird er die Pfeife finden müssen. Er merkt sich einen Kiefernstumpf und ein großes Schlagloch. Brenda schreit jetzt, aber er hört es kaum. Er lebt schon im Morgen, kniet schon im starren kalten Gras, findet
die Pfeife, die gefroren sein und in seinen Fingern ganz leicht zerbrechen
wird.