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DER TOD

KAM VOR DEM

FRÜHSTÜCK

 

 

(EIN COZY-KRIMI MIT LACEY DOYLE — BUCH 1)

 

 

FIONA GRACE

 

 

 

 

Fiona Grace

 

Die Debutautorin Fiona Grace ist die Verfasserin der LACEY DOYLE COZY-KRIMI Buchreihe, die bisher aus den Romanen DER TOD KAM VOR DEM FRÜHSTÜCK (Buch Eins), FÄHRTENSUCHE IM SAND (Buch Zwei), VERBRECHEN IM CAFÉ (Buch Drei), EIN VERHÄNGNISVOLLER BESUCH (Buch Vier) und EIN TÖDLICHER KUSS (Buch Fünf) besteht. Fiona ist außerdem Autorin der EIN TOSKANISCHER WEINGARTEN COZY-KRIMI Buchreihe.

 

Fiona würde sich sehr freuen, von Ihnen zu hören, deshalb besuchen Sie bitte ihre Webseite www.fionagraceauthor.com, über die Sie kostenlose E-Books erhalten, wissenswerte Neuigkeiten rund um die Autorin erfahren und mit ihr in Kontakt treten können.

 

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Copyright © 2019 durch Fiona Grace. Alle Rechte vorbehalten. Vorbehaltlich der Bestimmungen des U.S. Copyright Act von 1976 darf kein Teil dieser Publikation ohne vorherige Genehmigung des Autors in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln reproduziert, verteilt, übertragen oder in einer Datenbank oder einem Abfragesystem gespeichert werden. Dieses eBook ist nur für Ihren persönlichen Gebrauch lizenziert. Dieses eBook darf nicht weiterverkauft oder an andere Personen weitergegeben werden. Wenn Sie dieses Buch mit einer anderen Person teilen möchten, kaufen Sie bitte für jeden Empfänger ein zusätzliches Exemplar. Wenn Sie dieses Buch lesen und Sie es nicht gekauft haben, oder es nicht nur für Ihren Gebrauch gekauft wurde, dann senden Sie es bitte zurück und kaufen Sie Ihre eigene Kopie. Vielen Dank, dass Sie die harte Arbeit dieses Autors respektieren. Dies ist eine fiktive Geschichte. Namen, Charaktere, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind entweder das Ergebnis der Fantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, ob lebendig oder tot, ist völlig zufällig. Jacket image Copyright Helen Hotson, verwendet unter der Lizenz von Shutterstock.com.

 

 

 

BÜCHER VON FIONA GRACE

 

EIN COZY-KRIMI MIT LACEY DOYLE

DER TOD KAM VOR DEM FRÜHSTÜCK (Buch #1)

FÄHRTENSUCHE IM SAND (Buch #2)

VERBRECHEN IM CAFÉ (Buch #3)

EIN VERHÄNGNISVOLLER BESUCH (Buch #4)

EIN TÖDLICHER KUSS (Buch #5)

EIN MALERISCHER MORD (Buch #6)

VERSTUMMT DURCH EINEN ZAUBER (Buch #7)

VERDAMMT DURCH EINE FÄLSCHUNG (Buch #8)

KATASTROPHE IM KLOSTER (Buch #9)

 

EIN TOSKANISCHER WEINGARTEN COZY-KRIMI

EIN ERLESENER MORD (Buch #1)

EIN ERLESENER TODESFALL (Buch #2)

EIN ERLESENES VERBRECHEN (Buch #3)

 

 

 

 

 

 

INHALTSVERZEICHNIS

 

 

KAPITEL EINS

KAPITEL ZWEI

KAPITEL DREI

KAPITEL VIER

KAPITEL FÜNF

KAPITEL SECHS

KAPITEL SIEBEN

KAPITEL ACHT

KAPITEL NEUN

KAPITEL ZEHN

KAPITEL ELF

KAPITEL ZWÖLF

KAPITEL DREIZEHN

KAPITEL VIERZEHN

KAPITEL FÜNFZEHN

KAPITEL SECHZEHN

KAPITEL SIEBZEHN

KAPITEL ACHTZEHN

KAPITEL NEUNZEHN

KAPITEL ZWANZIG

KAPITEL EINUNDZWANZIG

KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG

KAPITEL DREIUNDZWANZIG

KAPITEL VIERUNDZWANZIG

KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG

KAPITEL SECHSUNDZWANZIG

KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG

KAPITEL ACHTUNDZWANZIG

EPILOG

 

 

 

 

 

KAPITEL EINS

 

 

Einvernehmlich.

So stand es schwarz auf weiß und deutlich auf dem Scheidungsurteil.

Einvernehmlich geschieden.

Lacey seufzte und betrachtete das vor ihr liegende Dokument. Der so harmlos aussehende Briefumschlag war gerade von einem pickeligen Boten im Teenageralter mit gleichgültigem Gesichtsausdruck bei ihr abgegeben worden. Fast so, als handle es sich um eine Lieferung des Pizzadienstes. Und obwohl Lacey genau wusste, worum es sich bei diesem, von einem Kurier zugestellten Brief, handelte, hatte sie in diesem Moment rein gar nichts gefühlt. Ihre Gefühle holten sie erst wieder ein, als sie sich auf ihr Sofa sinken ließ. Neben ihr stand der Cappuccino, den sie wegen des Klingelns an ihrer Tür unberührt auf dem Couchtisch hatte stehen lassen. Als sie den Umschlag öffnete und die Dokumente entnahm, stieg noch immer leichter Dampf auf.

Die Scheidungspapiere.

Scheidung.

Zuerst hatte sie aufgeschrien und die Papiere auf den Boden geworfen, fast so als hätte sie panische Angst vor Spinnen und jemand hätte ihr eine Vogelspinne geschickt.

Und nun lagen sie da, kreuz und quer auf dem modernen und äußerst teuren Teppich verstreut. Der Teppich, den ihr ihre Chefin Saskia, die Besitzerin des Möbelhauses, in dem sie arbeitete, geschenkt hatte. Selbst von da unten aus starrten ihr die Worte David Bishop gegen Lacey Bishop entgegen. Daneben kristallisierten sich aus dem Wust der vor ihr liegenden Worte ein paar einzelne Begriffe heraus: Aufhebung der Ehe, unüberbrückbare Differenzen, einvernehmlich…

Zögerlich sammelte sie die Papiere vom Boden auf. Eigentlich war das Ganze gar nicht so überraschend gekommen. Mit den Worten „Du hörst noch von meinem Anwalt!“ hatte David einen Schlussstrich unter ihre vierzehnjährige Ehe gesetzt. Doch das alles hatte Lacey nicht vor dem Gefühlsausbruch bewahren können, der nun, wo sie die Papiere tatsächlich in den Händen hielt, über sie hereingebrochen war. Es gab einfach nichts, das sie vor dem Schrecken und der Endgültigkeit des schwarz auf weiß vor ihr liegenden Dokuments, das ihr bescheinigte „einvernehmlich geschieden“ zu sein, bewahren konnte. So ging man eben in New York an die Dinge heran – einvernehmliche Scheidungen sind doch weniger schmutzig als strittige Scheidungen, oder? Aber das Wort „einvernehmlich“ kam Lacey in ihrem Fall etwas dick aufgetragen vor. Wenn man allerdings David glaubte, dann war sie – und zwar sie ganz allein – Schuld am Ende ihrer Ehe. Denn schließlich war sie 39 Jahre alt und noch immer kinderlos, ja sie hatte noch nicht ein einziges Mal irgendwelche Anzeichen dafür gezeigt, dass sie schwanger sein könnte. Genauso wenig hatte sie beim Anblick fremder Babys, zum Beispiel denen, die es im Laufe der Jahre in ihrem Freundeskreis zuhauf gegeben hatte, irgendwelche Hormonwallungen bekommen. 

„Deine biologische Uhr tickt“, hatte ihr David eines nachts bei einem Glas Merlot erklärt, womit er aber wohl eher meinte: „Unsere Ehe ist eine tickende Zeitbombe.“

Lacey seufzte. Ach, wenn sie damals, mit 25 Jahren, als sie ihn in einem einzigen Rausch aus weißem Konfetti und überschäumendem Champagner geheiratet hatte, nur schon gewusst hätte, dass ihr die Tatsache, dass es ihr wichtiger sein würde, Erfolg im Beruf zu haben als Mutter zu werden, einmal zum Verhängnis werden würde.

Einvernehmlich. Ha!

Mit Gliedern, die plötzlich so schwer wie Blei zu sein schienen, machte sie sich auf die Suche nach einem Stift und fand schließlich einen in dem Behälter, in dem sie ihre Schlüssel aufbewahrte. Wenigstens hatte jetzt – wo kein David mehr hier herumschwirrte und nach verschusselten Schuhen, verlegten Schlüsseln, verlorenen Brieftaschen und nicht mehr auffindbaren Sonnenbrillen suchte – alles wieder seine Ordnung. Zwar war jetzt wieder alles dort, wo sie es platziert hatte, doch, wenn sie ehrlich war, war ihr das auch kein besonderer Trost.

Mit dem Stift in der Hand ging sie zurück zum Sofa, wo sie diesen auf der gepunkteten Linie ansetzte, auf der sie unterschreiben sollte. Doch bevor der Stift das Papier tatsächlich berührte, hielt Lacey inne und ließ diesen weniger als einen Millimeter über der gepunkteten Linie schweben, als gäbe es eine unsichtbare Grenze zwischen dem Kugelschreiber und dem Papier. Denn inzwischen hatte das Wort „Ehegattenunterhalt“ ihre Aufmerksamkeit erregt.

Stirnrunzelnd blätterte Lacey die entsprechende Seite auf und überflog die entsprechende Klausel. Diese besagte, dass Lacey als der besserverdienende Teil von ihnen und die alleinige Eigentümerin der Wohnung in der Upper Eastside, in der sie gerade saß, David über einen „Zeitraum von bis zu zwei Jahren“ hinweg eine „bestimmte Summe“ zu zahlen hätte, damit er sich „unter ähnlichen Bedingungen wie den ihm bisher gewohnten“ ein neues Leben aufbauen könne.

Lacey lachte kläglich. Was für eine Ironie es doch war, dass David jetzt ausgerechnet von ihrer Karriere profitieren sollte, die doch der Faktor gewesen war, der letztendlich zum Ende ihrer Ehe geführt hatte! David, der schon immer ein etwas kleinkarierter Gerechtigkeitsfanatiker gewesen war, würde dies bestimmt als eine Art „Entschädigung“ sehen. Doch Lacey wusste genau, was diese Zahlungen wirklich sein sollten, nämlich: Vergeltung. Rache. Heimzahlung.

Das ist wie ein Arschtritt, dachte sie.

Plötzlich verschwamm alles vor Laceys Augen, so dass sie ihren Nachnamen nicht mehr erkennen konnte und ihr die Tinte verlaufen und das Papier unter ihrem Stift zerknittert vorkam. Dies lag wohl an der außer Kontrolle geratenen Träne, die aus ihrem Auge und auf das Papier getropft war. Wütend wischte sie sich mit dem Handrücken über das Auge.

Jetzt muss ich wohl wieder meinen Mädchennamen annehmen, dachte sie.

Denn Lacey Fay Bishop war Geschichte. Sie existierte nicht mehr. Das war der Name von Davids Frau gewesen und die war sie, sobald sie auf der gepunkteten Linie unterschrieben hatte, nun einmal nicht mehr. Sie würde wieder zu dem ihr seit ihren zwanziger Jahren nicht mehr vertrauten und inzwischen fast gänzlich in Vergessenheit geratenen Mädchen namens Lacey Fay Doyle werden.

Doch der Name Doyle bedeutete Lacey fast noch weniger als der Name, den sie sich in den letzten vierzehn Jahren von David „geborgt“ hatte. Ihr Vater hatte die Familie verlassen, als sie sieben Jahre alt gewesen war, direkt nach einem ansonsten wunderbaren Familienurlaub in dem idyllischen englischen Küstenstädtchen Wilfordshire. Seitdem hatte sie ihren Vater nicht mehr gesehen. Eben noch da – Eis schleckend an einem zerklüfteten, wilden, windigen Strand – war er am nächsten Tag verschwunden gewesen.

Und nun hatte sie ebenso versagt wie ihre Eltern damals! Nach all den Tränen, die sie in ihrer Kindheit wegen des Verschwindens ihres Vaters vergossen hatte und all den bitteren Vorwürfen, die sie ihrer Mutter als Teenager deswegen gemacht hatte, hatte sie nun als Erwachsene dieselben Fehler gemacht wie ihre Eltern! Sie hatte ihre Ehe ebenso in den Sand gesetzt wie sie. Der einzige Unterschied war, dass von ihrem Versagen nur sie und David betroffen waren und niemand sonst in Mitleidenschaft gezogen worden war. Ihre Scheidung ließ wenigstens keine zwei verstörten, psychisch angeknacksten Töchter zurück. Sie starrte erneut auf diese verdammte Linie, auf der sie unterschreiben sollte. Sie zögerte weiterhin. Es schien, als könne sie sich gerade auf nichts Anderes konzentrieren als auf ihren neuen Namen.

Vielleicht lasse ich meinen Nachnamen in Zukunft ganz weg, dachte sie sich ironisch. Ich könnte mich Lacey Fay nennen, als wäre ich irgendein Popstar. Sie spürte wie sich ein hysterisches Lachen in ihrer Brust ausbreiten wollte. Aber warum nicht gleich Nägel mit Köpfen machen? Für ein paar Dollar könnte ich mir einen ganz neuen Namen zulegen. Ich könnte mich – sie sah sich auf der Suche nach einer Eingebung in ihrem Wohnzimmer um, wobei ihr Blick schließlich an der immer noch unberührt vor ihr auf dem Tisch stehenden Kaffeetasse hängen blieb – Lacey Fay Cappuccino nennen. Warum eigentlich nicht? Prinzessin Lacey Fay Cappuccino!

Sie brach in Gelächter aus, bei dem sie ihren mit schimmernden dunklen Locken bedeckten Kopf in den Nacken warf. Doch dieser Lachanfall verebbte so schnell wie er gekommen war und so wurde es in der Wohnung, in der sich ja außer ihr selbst niemand aufhielt, plötzlich wieder sehr still.

Schnell kritzelte Lacey ihren Namen auf die Scheidungspapiere. Das war‘s dann also.

Sie nippte an ihrem Kaffee. Er war kalt.

 

*

 

Wie jeden Tag betrat Lacey die ziemlich volle U-Bahn, die sie zu dem Büro bringen sollte, in dem sie als Assistentin einer Innenarchitektin beschäftigt war. Mit ihren hochhackigen Schuhen und ihrer Handtasche reihte sich Lacey nahtlos in die Menge der anderen Pendlerinnen ein. Nur, dass sie anders war als die anderen. Denn unter der halben Million anderer Pendler, die an diesem Morgen die New Yorker U-Bahn bevölkerten, war sie wahrscheinlich die einzige, die noch vor ihrem Aufbruch zur Arbeit ihre Scheidungspapiere zugestellt bekommen hatte. Und so war sie nun das neueste Mitglied im Club der traurigen Scheidungsopfer. 

Lacey spürte wie ihr die Tränen kamen. Sie schüttelte ihren Kopf und zwang sich dazu, an schönere Dinge und bessere Zeiten zu denken. Das erste, das ihr dabei in den Kopf kam, war Wilfordshire und der friedliche, wildromantische Strand. Plötzlich erinnerte sie sich sehr lebhaft an das Meer und die salzige Luft. Sie erinnerte sich an den Eiswagen mit seiner gruseligen Klingel und an die heißen Pommes, die man dort in kleinen Styropor-Boxen kaufen konnte und man mit kleinen Holzgabeln aß. Ihr Vater hatte ihr erklärt, dass Pommes in England Chips hießen.

Auch erinnerte sie sich an die vielen Möwen, die versuchten, die Pommes zu klauen, sobald man einmal nicht hinsah. Sie dachte an ihre Eltern und wie fröhlich sie ihr damals im Urlaub vorgekommen waren.

War das alles eine einzige Lüge gewesen? Sie war damals erst sieben Jahre alt gewesen und Naomi sogar erst vier und damit waren sie beide zu jung gewesen, um die wahren Gefühle von Erwachsenen deuten zu können. Aber wie es aussah scheinen ihre Eltern wahre Meister im Vorspielen und Verhehlen von Gefühlen gewesen zu sein, denn eigentlich schien alles um sie herum perfekt zu sein, bis quasi über Nacht alles den Bach hinabgegangen war.

Zwar waren Lacey ihre Eltern damals wirklich glücklich vorgekommen, aber wahrscheinlich hatten auch David und sie auf ihre Umgebung so gewirkt als fehlte es ihnen an nichts. Und eigentlich war das ja auch so gewesen. Sie hatten eine nette Wohnung gehabt und gut bezahlte Jobs, die ihnen Spaß machten. Und sie waren gesund. Das einzige, das ihnen gefehlt hatte, war eines dieser verdammten Babys, die auf einmal angefangen hatten, eine so große Rolle in Davids Gedanken einzunehmen. Sie waren fast genauso schnell gekommen, wie ihr Vater verschwunden war. Vielleicht war das so ein „Männerding“. So ein plötzlicher Moment der Erkenntnis, nach dem es kein Zurück mehr in ihr altes Leben geben konnte und alles, was ihnen im Weg stand, niedergebrannt werden musste, weil es ihnen sowieso nichts mehr wert war.

Lacey verließ die U-Bahn und reihte sich in die Menschenmassen ein, die sich durch die Straßen von New York City schoben. Sie lebte schon ihr ganzes Leben lang in New York, doch nun kam ihr ihre Umgebung dort auf einmal erdrückend eng vor. Sie hatte die Geschäftigkeit dieser Stadt immer geliebt – ganz zu schweigen von ihren Geschäften. Eigentlich war New York immer ihr ein und alles gewesen. Doch inzwischen sehnte sie sich von ganzem Herzen nach einer radikalen Veränderung in ihrem Leben. Und nach einem Neuanfang.

Auf dem Weg zu ihrem nur ein paar Blocks entfernt gelegenen Büro fischte sie ihr Handy aus ihrer Handtasche und rief Naomi an. Ihre Schwester nahm schon beim ersten Klingeln ab.

„Alles okay bei dir, Schätzchen?“

Dass Naomi trotz der frühen Stunde so schnell an ihr Telefon ging lag daran, dass sie schon damit gerechnet hatte, dass Lacey ihre Scheidungspapiere bekommen würde. Doch die Scheidung war das Letzte, worüber Lacey jetzt sprechen wollte.

„Kannst du dich noch an Wilfordshire erinnern?“

„Hä?“

Naomi klang verschlafen, was nicht weiter verwunderlich war, weil sie als alleinerziehende Mutter von Frankie, dem wildesten 7-jährigen Jungen aller Zeiten, jeden Tag ziemlich viel zu tun hatte.

„Wilfordshire. Unser letzter Urlaub mit Mama und Papa.“

Einen Augenblick lang war es ganz still am anderen Ende der Leitung.

„Warum fragst du mich das?“

Wie ihre Mutter sprach auch Naomi nie über etwas, das irgendwie mit ihrem Vater zu tun hatte. Als er verschwand, war sie jünger gewesen als Lacey, weshalb sie behauptete, sowieso keine Erinnerung an ihn zu haben und auch keine Zeit und Energie damit verschwenden wolle, sich Gedanken über sein plötzliches Verschwinden zu machen. Aber als sie eines Nachts ein paar Schnäpse zu viel intus hatte, hatte sie zugegeben, dass sie sich doch sehr gut an ihn erinnerte und oft von ihm träumte. Außerdem hatte sie ihrem Vater in ihren über einen Zeitraum von drei Jahren stattfindenden, allwöchentlichen Therapiesitzungen stets die Schuld am Scheitern all ihrer eigenen Beziehungen gegeben. Mit vierzehn hatte Naomi ihre erste chaotische Beziehung gehabt, der seitdem eine Menge weitere, nicht weniger chaotische gefolgt waren. Naomis Liebesleben war ein solches Durcheinander, dass es Lacey ganz schummerig wurde, wenn sie nur daran dachte.

„Die Papiere sind gekommen.“

„Oh Schätzchen, das tut mir so leid. Bist du – FRANKIE, LEG DAS HIN ODER ES SETZT WAS!“

Während Naomi Frankie alle möglichen schrecklichen Dinge androhte, wenn er nicht sofort mit dem aufhöre, was er gerade tat (was immer das auch sein mochte), hielt Lacey das Handy mit einem leisen Seufzen ein wenig von ihrem Ohr entfernt. 

„Tut mir leid Schätzchen“, sagte Naomi jetzt wieder in normaler Lautstärke. „Bist du okay?“

„Es geht mir gut.“ Lacey machte eine kleine Pause. „Nein, eigentlich geht es mir nicht so besonders. Ich bin irgendwie durcheinander. Auf einer Skala von eins bis zehn – wie verrückt würdest du es finden, wenn ich nicht zur Arbeit gehen und den nächsten Flug nach England nehmen würde?“

„Ähm, wie wär’s mit elf? Die werden dich feuern.“

„Ich frage sie einfach, ob sie mir unbezahlten Urlaub geben.“

Lacey konnte förmlich hören wie Naomi mit den Augen rollte.

„Du willst Saskia echt nach einem freien Tag oder gar nach unbezahltem Urlaub fragen? Erinnerst du dich denn nicht mehr daran, wie sie dich letztes Jahr über Weihnachten hat durcharbeiten lassen?“

Bestürzt zog Lacey eine Schnute – eine Geste, die sie laut ihrer Mutter von ihrem Vater geerbt hatte. „Ich muss aber irgendwas tun, Naomi. Ich fühle mich so erdrückt von alledem.“ Wie zur Bekräftigung ihrer Worte begann sie am Hals ihres Rollkragenpullovers, der sich plötzlich wie eine Schlinge um ihren Hals anfühlte, zu zupfen.

„Natürlich fühlst du dich jetzt so, als müsstest du etwas an deinem Leben ändern. Das ist in deiner Situation wohl ganz normal. Ich will bloß nicht, dass du etwas Unüberlegtes tust. Die Frage ist doch: warum wirfst du jetzt, wo David weg ist, auch noch deine Karriere hin, die dir ja scheinbar immer wichtiger war als er?“

Lacey blieb stehen und runzelte die Stirn. Meinte Naomi das, was sie da gerade gesagt hatte, wirklich ernst?

„Ich habe meiner Karriere nie den Vorzug vor David gegeben – schließlich war es doch er, der mir ein Ultimatum gestellt hat.“

„Leg dir die Geschichte ruhig so zurecht wie sie dir am besten passt, Lace, aber… FRANKIE! FRANKIE! ICH SCHWÖRE DIR – “

Inzwischen war Lacey an ihrem Büro angekommen. Sie seufzte kurz. „Tschüss, Naomi.“

Damit beendete sie ihr Telefonat und blickte an dem großen Backsteingebäude hoch, in dem sie fünfzehn Jahre ihres Lebens gearbeitet hatte. Fünfzehn Jahre für den Job. Vierzehn Jahre für David. Jetzt war es an der Zeit, einmal an sich selbst zu denken. Nur ein kleiner Urlaub. Eine Reise in ihre Vergangenheit. Eine Woche. Vierzehn Tage. Höchstens einen Monat lang. Plötzlich wurde es Lacey ganz leicht ums Herz. Sie betrat das Gebäude. Saskia stand über einen Computer gebeugt da und brüllte einem verängstigt dreinblickenden Angestellten Befehle ins Gesicht. Noch bevor ihre Chefin die Gelegenheit hatte, sich ihr zuzuwenden, streckte Lacey ihr eine Hand entgegen, um ihr zu signalisieren, dass sie ruhig sein solle. Denn jetzt sprach sie: „Ich nehme mir ein paar Tage frei.“

Bevor sie auf den Absätzen kehrtmachte und auf demselben Weg, auf dem sie eben hereingekommen war, wieder hinausmarschierte, sah sie gerade noch, wie Saskia die Stirn runzelte.

Fünf Minuten später war Lacey wieder am Telefon und buchte einen Flug nach England.

 

 

 

 

 

 

 

KAPITEL ZWEI

 

 

„Mensch, Schwesterherz, bist du jetzt total durchgeknallt?“

„Liebling, du verhältst dich vollkommen irrational.“

„Geht’s Tante Lacey gut?“

Diese Worte von Naomi, Mama und Frankie geisterten immer noch in Laceys Kopf herum, als sie aus dem Flugzeug stieg und das Rollfeld des Flughafens Heathrow betrat. Vielleicht war es ja verrückt gewesen, den ersten Flug vom JFK Flughafen nach England zu nehmen, sich sieben Stunden in ein Flugzeug zu setzen und nichts weiter mitzunehmen als ihre Handtasche und eine Tragetasche, die nur ein paar schnell in den Läden am Flughafen zusammengekaufte Hygieneartikel und Kleidungsstücke enthielt. Aber seit dem Moment, in dem sie Saskia, David und New York den Rücken zugekehrt hatte, fühlte sie sich richtig beschwingt. Sie fühlte sich jung. Sorglos. Zu Abenteuern aufgelegt. Mutig. Sie fühlte sich wieder wie die Lacey Doyle, die sie VD (vor David) gewesen war.

Ihrer Familie die Neuigkeit zu überbringen, dass sie sich mal eben ohne Vorwarnung auf den Weg nach England machen würde, war allerdings deutlich weniger berauschend gewesen. Zwar hatte sie dies nur übers Telefon erledigt, doch das Dumme an der Sache war, dass keiner ihrer Lieben einen Anrufbeantworter zu haben schien und sie alle kein Blatt vor den Mund nahmen. Und so hatte Lacey das „Vergnügen“ gehabt, von allen dreien die Leviten gelesen zu bekommen.

„Was ist, wenn du gefeuert wirst?“, hatte ihre Mutter gejammert.

„Die feuern sie ganz bestimmt“, hatte Naomi zugestimmt.

„Hat Tante Lacey einen Nervenzusammenbruch?“, hatte Frankie gefragt.

Lacey stellte sich vor, wie die drei an einem Konferenztisch saßen und alles dafür taten, sie von der Verwirklichung ihres Traums abzuhalten. Aber natürlich verhielt das Ganze sich in Wirklichkeit doch ein wenig anders, denn schließlich waren diese Drei die Menschen, die ihr am nächsten standen, und so war es geradezu deren Pflicht, zu versuchen, sie auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Wer sollte das denn in diesem, ihrem neuen, ihr noch vollkommen unvertrauten Abschnitt ihres Lebens, den sie ND – nach David – nannte, auch sonst tun?

Lacey ging durch die Flughafenhalle, wobei sie einfach den anderen, ebenfalls übernächtigten Passagieren, folgte. Draußen nahm sie der berühmte englische Sprühregen in Empfang. So viel zum Frühling. Doch obwohl die feuchte Luft die Haare auf Laceys Kopf kräuseln ließ, kehrte in ihrem Kopf eine wohltuende Ruhe ein, die es ihr endlich einmal ermöglichte, richtig nachzudenken. Doch was auch immer kommen würde, eines war klar: es gab keinen Weg zurück – nicht nach dem 7-stündigen Flug, der gerade hinter ihr lag und den hunderten von Dollar, die sie für das Flugticket bezahlt hatte.

Das Terminal war ein riesiges, an ein Gewächshaus erinnerndes Gebäude, das nur aus Stahl und glänzendem, blau getöntem Glas zu bestehen schien und von einem hochmodernen, gewölbten Dach beschirmt wurde. Lacey betrat das geflieste Bauwerk, an dessen Wänden sie einige der von der „British Building Society“ zur Verfügung gestellte kubistische Gemälde ausmachte, und reihte sich in die Schlange am Passkontrollschalter ein. Als sie an der Reihe war, sah sie sich einer finster dreinblickenden Blondine mit schwarzen, extra breit geschminkten Augenbrauen gegenüber. Lacey reichte der Frau ihren Pass.

„Was ist der Zweck Ihres Aufenthalts? Geschäftlich oder privat?“

Die Frau sprach mit einem ziemlich harten Akzent, der Lacey in nichts an den sanften, charmanten Akzent, den sie von den Auftritten einiger britischer Schauspieler in ihren Lieblingstalkshows her kannte und mochte, erinnerte.

„Ich mache Urlaub.“

„Sie haben kein Rückflugticket.“

Es dauerte eine Weile bis Lacey bewusstwurde, worauf die Frau hinauswollte. „Ich weiß noch nicht, wann ich zurückfliege.“ 

Die Polizistin zog ihre breiten Augenbrauen hoch. Man konnte ihr mittlerweile vom Gesicht ablesen, dass ihr anfängliches Misstrauen zu einem richtigen Verdacht geworden war. „Aber wenn Sie hier arbeiten wollen, dann brauchen Sie ein Visum.“ Lacey schüttelte den Kopf. „Das habe ich nicht vor. Das letzte, was ich hier tun möchte, ist arbeiten. Ich habe gerade eine Scheidung hinter mir. Ich brauche einfach eine Auszeit, um mich zu sammeln – vielleicht mal ein Eis essen gehen und mir den ein oder anderen schlechten Film anschauen.“

Sofort entspannte sich das Gesicht der Frau und nahm sogar einen mitleidigen Ausdruck an, der Lacey vermuten ließ, dass auch sie Mitglied im Club der traurigen Scheidungsopfer war.

Sie gab Lacey ihren Pass zurück. „Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt. Und Kopf hoch!“

Lacey schluckte, um den plötzlich in ihrem Hals aufgetauchten „Frosch“ loszuwerden, bedankte sich bei der Polizistin und ging in Richtung Ausgang. Dort standen ein paar Grüppchen von Leuten herum, die auf die Ankunft ihrer Lieben warteten. Einige hatten Ballons dabei und wieder andere Blumen. Eine Gruppe, die aus ein paar sehr blonden Kindern bestand, hielt ein Schild in den Händen, auf dem stand: „Herzlich willkommen zu Hause, Mama! Wir haben dich vermisst!“

Natürlich war da niemand, der auf Lacey wartete. Auf dem Weg durch die belebte Wartehalle zum Ausgang dachte sie darüber nach, dass es von nun an keinen David mehr geben würde, der sie an irgendeinem Flughafen willkommen heißen würde.

Wenn sie doch nur bei der Rückkehr von ihrer bisher letzten Geschäftsreise, die sie zum Einkauf antiker Vasen nach Mailand geführt hatte, geahnt hätte, dass dies das letzte Mal sein würde, dass David sie am Flughafen mit einem Grinsen im Gesicht und einem großen Strauß bunter Gänseblümchen in Empfang nehmen würde. Denn dann hätte sie diesen Augenblick viel mehr zu schätzen gewusst.

Draußen angekommen winkte Lacey sich ein Taxi heran. Es handelte sich dabei um einen der für englische Taxis typischen, altmodischen, schwarzen Wagen, so dass Lacey gleich in eine nostalgische Stimmung versetzt wurde. Denn auch damals, in ihrem so viele Jahre zurückliegenden, fatalen, letzten Familienurlaub, waren sie, Naomi und ihre Eltern mit so einem schwarzen Taxi gefahren.   

„Wohin möchten Sie?“, fragte der Taxifahrer, als sie auf den Rücksitz des Taxis sprang.

„Nach Wilfordshire.“  

Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie wieder etwas von dem Taxifahrer hörte. Der drehte sich auf seinem Sitz ganz zu ihr herum, um ihr bei dem, was er zu sagen hatte, ins Gesicht schauen zu können; dabei runzelte er sichtlich entgeistert seine Stirn. „Sie wissen aber schon, dass die Fahrt dorthin zwei Stunden dauert?“

Lacey blinzelte ebenfalls irritiert, denn sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was ihr der Fahrer mit dieser Frage sagen wollte.

„Das ist schon okay“, meinte sie und zuckte dabei mit den Schultern.  

Jetzt wirkte der Taxifahrer noch etwas entgeisterter als zuvor. „Sie kommen aus Amerika, oder? Ich weiß zwar nicht, was ihr dort drüben so für Taxifahrten zahlen müsst, aber hier bei uns kostet eine zweistündige Fahrt eine ganze Stange Geld.“

Die raue Art des Taxifahrers überraschte Lacey ein wenig, denn zum einen entsprach diese so gar nicht dem Klischee des frechen Londoner Taxifahrers und zum anderen war sie irritiert davon, dass dieser Typ anscheinend glaubte, sie könne sich eine solche Fahrt nicht leisten. Sie fragte sich, ob das wohl daran lag, dass sie eine allein reisende Frau war. Denn bei keiner der längeren Taxifahrten, die sie bisher zusammen mit David unternommen hatte, waren sie je gefragt worden, ob sie diese Fahrt auch bezahlen könnten.

„Keine Sorge, ich kann das zahlen.“, versicherte sie dem Taxifahrer.

Daraufhin drehte sich der Fahrer wieder nach vorne und setzte sein Taxameter in Gang. Dieses meldete sich mit einem Piepsen und dem Aufleuchten eines grünen Pfund-Symbols, das schon wieder nostalgische Gefühle in Lacey auslöste.

„Ich fahre Sie so lange Ihr Geld reicht“, meinte der Taxifahrer und setzte den Wagen in Bewegung.  

Das ist dann wohl die englische Gastfreundschaft, dachte Lacey bei sich.   

 

*

 

Wie von dem Taxifahrer angekündigt kamen sie zwei Stunden später in Wilfordshire an, was Lacey sage und schreibe 250 Pfund kostete. Doch als Lacey aus dem Wagen stieg und die herrlich frische Meeresbrise einatmete, gerieten die hohe Taxirechnung und der unfreundliche Taxifahrer sofort in Vergessenheit. Sogar die Luft hier roch noch genau so, wie sie es in Erinnerung hatte.

Lacey hatte sich schon immer darüber gewundert, wie viel Gerüche und unser Geschmackssinn zu unserem Erinnerungsvermögen beitrugen, und tat das auch jetzt wieder. Die nach Salz riechende Luft hatte sie sofort in einen ihr seit dem Verschwinden ihres Vaters abhanden gekommenen Zustand einer sorglosen Leichtigkeit versetzt. Dieses Gefühl von Leichtigkeit war so stark, dass es sie ganz zittrig machte. Mit einem Schlag fielen die ganzen Ängste, die ihre Familie ihr wegen dieser ungeplanten Reise eingeimpft hatte, von ihr ab. Das hier war genau das, was Lacey jetzt brauchte.

Sie ging die Hauptstraße entlang. Hier gab es keinen leichten Regen wie zuvor am Londoner Flughafen, sondern einen Sonnenuntergang, dessen letzte Strahlen die Umgebung in ein goldenes Licht tauchten und auf diese Weise fast magisch erscheinen ließen. Alles war genauso wie Lacey es in Erinnerung hatte: Da waren die zwei sich gegenüberliegenden Reihen alter Steinhäuschen, die direkt auf dem Kopfsteinpflaster des Ortes erbaut worden waren und deren große, noch im alten Stil erhaltenen Erkerfenster zur Straßenseite hinausragten. Und auch die Lädchen einschließlich ihrer Schaufenster sahen noch genauso aus wie früher. Sie hatten sogar noch alle ihre ursprünglichen Holzschilder, die über den Ladentüren im Wind hin und her schwangen. Jeder dieser Läden war einzigartig, ganz gleich, ob es dort nun Kinderbekleidung, Kurzwaren, Gebäck oder Kaffee zu kaufen gab. Und dann war da noch ein altmodischer Süßwarenladen, in dem man die Wahl zwischen vielen farbenfrohen Süßigkeiten hatte, die alle jeweils nur einen Penny kosteten. 

Es war April. Die Stadt war überall mit Girlanden und bunten Wimpeln für das bevorstehende Osterfest geschmückt worden. Und die Sitzgelegenheiten vor den Pubs und Bistros der Stadt waren von Leuten bevölkert, die ihren Abend mit einem Bierchen oder einem schönen Essen ausklingen ließen. Die Stimmung war gut, es wurde geplaudert und gelacht.

Angesichts dieses entspannten Moments, in dem Lacey endlich eine lang ersehnte Ruhe empfand, griff sie zu ihrem Smartphone und hielt das fröhliche Treiben in einem Schnappschuss fest. Da auf dem Foto auch der silbern glitzernde Ozean sowie der vom Sonnenuntergang in verschiedene Rosatöne versetzte Himmel zu sehen war, hätte dieses auch gut als Postkarte durchgehen können. Sie lud das Bild in der Doyle Girlz-Gruppe hoch, die Naomi vor einiger Zeit erstellt hatte.

Es ist alles noch so, wie ich es in Erinnerung hatte, schrieb sie unter das tolle Bild.

Einen Augenblick später gab das Telefon einen Ton von sich. Naomi hatte geantwortet. 

Sieht ganz so aus, als wärst du zufällig in der Diagon Alley gelandet, Schwesterherz.

Lacey seufzte. Diese Antwort von ihrer kleinen Schwester war genauso sarkastisch ausgefallen wie sie es erwartet hatte. Denn natürlich konnte sich Naomi nicht einfach mit ihr freuen oder stolz auf sie sein, weil sie auf dem besten Weg war, ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen.

Hast du einen Filter drübergelegt, fragte ihre Mutter einen Augenblick später.

Lacey rollte mit den Augen und steckte ihr Smartphone wieder weg. Sie nahm sich vor, sich von niemandem die Laune verderben zu lassen und atmete tief ein, um sich wieder ein wenig zu beruhigen. Dabei war sie ein weiteres Mal erstaunt über den Unterschied zwischen der wunderbar frischen Luft hier und der verschmutzten Luft, die sie noch heute Morgen in New York eingeatmet hatte.

Sie ging weiter die Straße hinab, wobei ihre Absätze auf dem Kopfsteinpflaster ein klapperndes Geräusch machten.

Ganz oben auf ihrer To-do-Liste stand, ein Hotelzimmer für die ihr selbst noch unbekannte Zeit ihres Aufenthalts hier zu finden. Also blieb sie vor dem ersten B&B, das auf ihrem Weg lag, stehen. Es hieß „The Shire“, doch leider war es ausgebucht, wie ein Schild in einem Fenster verriet. Aber das machte ihr nichts aus. Denn die Hauptstraße war lang und wenn Lacey sich recht erinnerte, dann lagen noch einige andere Pensionen, bei denen sie ihr Glück versuchen konnte, vor ihr.

Das nächste B&B – es hieß „Laurel’s“ – war ganz in Zuckerwatte-Pink gehalten, aber ebenfalls „ausgebucht“. Nur, dass die Erkenntnis, dass sie auch hier nicht unterkommen würde, bei Lacey inzwischen schon eine Art leichter Panik auslöste.

Sie unterdrückte die Panik und redete sich tapfer ein, dass diese nur daher kam, dass ihre Familie ihr ihren Trip hierher so schlecht geredet hatte. Sie musste keine Angst haben. Denn sie würde ganz sicher bald ein Zimmer finden.

Sie ging weiter. Das zwischen einem Juwelier und einem Buchladen gelegene Seaside Hotel war „ausgebucht“ und auch das nächste, Carol’s B&B, das sie nach einem Laden für Campingbedarf und einem Schönheitssalon entdeckte, war voll. Es ging immer so weiter bis Lacey schließlich am Ende der Straße angekommen war. 

Jetzt wurde Lacey langsam wirklich panisch. Wie hatte sie nur so dumm sein können hierher zu kommen, ohne auch nur die allerwichtigsten Vorbereitungen für ihren Aufenthalt zu treffen? Alles Mögliche zu organisieren war das A & O in ihrem Beruf gewesen und jetzt stand sie da und hatte nichts, aber auch gar nichts, für ihren eigenen Urlaub vorbereitet! Sie hatte so gut wie nichts dabei und noch nicht einmal ein Zimmer. Hieß das jetzt, dass sie die Straße wieder hochgehen, weitere zweihundert Pfund für ein Taxi zurück nach Heathrow ausgeben und den nächsten Flug nach Hause nehmen musste? Kein Wunder, dass David sie bei ihrer Scheidung auf Unterhalt verklagt hatte, denn anscheinend konnte sie überhaupt nicht mit Geld umgehen! 

Lacey drehte sich um und betrachtete niedergeschlagen den sich vor ihren Augen auftuenden Rückweg, ganz so, als wäre es möglich, allein durch ihren hilflosen Blick ein weiteres B&B herbeizuzaubern, das ihr bisher entgangen war. Erst durch dieses ängstliche Herumschauen bemerkte Lacey, dass das letzte Haus am Ende der Straße, vor dem sie sich gerade befand, tatsächlich ein Gasthaus war. Es hieß „The Coach House“.

Obwohl Lacey sich ziemlich blöd dabei vorkam, sammelte sie sich und räusperte sich. Dann betrat sie das Gasthaus, das mit seinen großen Holztischen, der als Speisekarte dienenden Schiefertafel und dem unübersehbaren, in einer Ecke stehenden Spielautomaten, das Urbild eines Pubs abgab. Sie ging an die Bar, hinter der man bis zum Anschlag mit Weinflaschen gefüllte Glasvitrinen und eine Menge Flaschen, die Schnäpse in allen möglichen Farben enthielten, sehen konnte. Das Ganze wirkte ziemlich altmodisch. Und es gab sogar den sprichwörtlichen alten Trinker, der an der Bar eingeschlafen war und seinen Kopf auf seine verschränkten Arme gebettet hatte.   

Hinter der Bar stand ein schlankes Mädchen mit hellblondem Haar, das auf ihrem Kopf zu einem unordentlichen Dutt zusammengebunden war. Sie wirkte viel zu jung, um an einer Bar zu arbeiten. Doch dann dachte Lacey, dass ihr die Barfrau wohl nur so jung vorkam, weil man in England schon früher Alkohol konsumieren durfte als in Amerika.

„Was darf es für Sie sein?“, fragte die Barfrau.

„Ein Zimmer und ein Glas Prosecco“, antwortete Lacey.

Ihr war irgendwie nach Feiern zumute.

Doch die Barfrau schüttelte den Kopf und sagte mit einem so weit geöffneten Mund, dass man den Kaugummi zwischen ihren Zähnen sehen konnte: „Wir sind über Ostern ausgebucht. Übrigens genauso wie alle anderen Unterkünfte in der Stadt auch. Denn wegen der Schulferien machen viele Familien Urlaub hier bei uns in Wilfordshire. Mindestens für die nächsten zwei Wochen geht da zimmermäßig gar nichts mehr.“ Nach einer kleinen Pause fragte sie: „Also dann nur einen Prosecco?“ 

Lacey musste sich an der Bar festhalten, um nicht umzukippen. Ihr Magen rotierte. Jetzt glaubte sie endgültig, die dümmste Frau der Welt zu sein. Inzwischen wunderte es sie gar nicht mehr, dass David sie verlassen hatte. Denn sie war einfach das personifizierte Chaos. Eine Schande für die ganze Menschheit. Da stand sie nun und tat so, als wäre sie ein erwachsener Mensch, der zu selbstständigem Handeln in der Lage war, und dabei konnte sie sich nicht einmal ein Hotelzimmer organisieren.

In diesem Moment sah Lacey jemanden von der Seite her auf sie zukommen. Als sie sich umdrehte, erblickte sie einen etwa 60-jährigen Mann, der ein in seine Jeans gestecktes Hemd mit Gingham-Muster sowie eine von seinem Gürtel baumelnde Handy-Gürteltasche trug und sich eine Sonnenbrille auf seinen Glatzkopf gesteckt hatte.

„Habe ich das richtig verstanden, dass Sie eine Unterkunft suchen?“, fragte er sie.

Lacey wollte gerade sagen, dass dem nicht so sei – denn so verzweifelt sie auch sein mochte, war es eher Naomis Stil, mit einem Mann mitzugehen, der doppelt so alt war wie sie und sie noch dazu in einer Bar angesprochen hatte. Doch dann sagte der Mann: „Ich vermiete nämlich Ferienhäuser.“ 

Sie war so überrascht, dass sie nur ein erstauntes „Oh?“ als Antwort hervorbrachte.

Der Mann nickte und zog eine kleine Visitenkarte aus seiner Jeanstasche hervor, die Lacey schnell überflog. Darauf stand:

Ivan Parrys gemütliche, rustikale, einfach zauberhafte Ferienhäuser. Die ideale Unterkunft für die ganze Familie!

„Wie Brenda schon sagte, bin auch ich ausgebucht“, fuhr Ivan mit einem kurzen Nicken in Richtung der Barfrau fort. „Bis auf ein Haus, das ich gerade bei einer Auktion ersteigert habe. Eigentlich ist es noch nicht fertig hergerichtet, sodass man es vermieten könnte, aber wenn Sie wirklich nichts Anderes haben, dann zeige ich es Ihnen gerne. Weil es noch nicht so tipptopp in Schuss ist, würde ich es Ihnen zu einem günstigen Preis vermieten – nur so als Zwischenlösung, bis Sie in einem Hotel unterkommen können.“

Lacey fühlte sich unglaublich erleichtert. Die Visitenkarte sah echt aus und Ivan kam ihr auch nicht vor wie ein Typ, der darauf aus war, jemanden abzuschleppen. Endlich schien das Glück ihr wieder hold zu werden! Sie war so erleichtert, dass sie Ivan am liebsten einen Kuss auf seinen kahlen Schädel gedrückt hätte!

„Sie haben mir gerade das Leben gerettet“, sagte sie stattdessen.

Ivan errötete. „Warten Sie mit Ihrem Lob besser erst mal ab, bis Sie das Haus besichtigt haben.“

Lacey kicherte. „So schlimm kann es gar nicht sein.“

 

*

 

 

Lacey keuchte wie ein Ackergaul, als sie neben Ivan her den steilen Abhang erklomm.

„Ist Ihnen der Weg hier herauf zu steil?“, fragte er besorgt. „Ich hätte Ihnen sagen sollen, dass das Haus an einer Klippe liegt.“

„Kein Problem“, keuchte Lacey. „Ich – liebe – die Aussicht – aufs Meer.“

Während des ganzen Weges hier herauf hatte Ivan sich als das komplette Gegenteil eines ausgebufften Geschäftsmannes erwiesen, hatte er Lacey doch immer wieder versichert, dass er ihr einen schönen Nachlass auf den Mietpreis für das Haus (den sie im Übrigen noch gar nicht ausgehandelt hatten) gewähren würde und sie gebeten, sich keine allzu großartigen Vorstellungen von dem Haus zu machen. Jetzt, wo ihr ihre Oberschenkel vom Aufstieg hier herauf ziemlich weh taten, fragte sie sich allerdings schon, ob er mit seinen Warnungen vielleicht doch recht gehabt hatte.

Ihre Zweifel fanden jedoch ein jähes Ende, als das auf dem Gipfel der Anhöhe liegende Haus in Sichtweite kam. Denn da stand es nun also, als schwarze Silhouette gegen die langsam verblassenden Rosatöne des Sonnenunterganges: ein großes Steinhaus.

Lacey schnappte hörbar nach Luft. 

„Ist es das?“, fragte sie immer noch atemlos.

„Das ist es“, antwortete Ivan.

Ein plötzlicher, unerwarteter Energieschub ermöglichte es Lacey, den Rest der Anhöhe auf einmal zu nehmen. Mit jedem Schritt, den sie näher an dieses hinreißende Haus herankam, entdeckte sie etwas Neues, das sie begeisterte. Angefangen von der hübschen steinernen Fassade über das mit Schiefer bedeckte Dach und die Rosenstaude, die sich um die hölzernen Pfeiler der Veranda rankte, bis hin zu der massiven alten Haustür, die aussah als wäre sie der Illustration eines Märchenbuches entsprungen. Und als Sahnehäubchen zu dem Ganzen hatte man von hier aus auch noch einen überwältigenden Blick auf das glitzernde, leise vor sich hin rauschende Meer.

Mit weit aufgerissenen Augen und offenstehendem Mund nahm Lacey die letzten Schritte bis zu dem Haus sozusagen im Galopp. Neben der Tür desselben hing ein Schild, das es als Crag Cottage auswies.

Ivan, der inzwischen neben ihr aufgetaucht war, zog einen großen Schlüsselbund hervor und durchsuchte diesen mit lautem Klappern nach dem richtigen Schlüssel für das vor ihnen stehende Haus. Lacey kam sich vor wie ein Kind, das ungeduldig von einem Fuß auf den anderen tretend vor einem Eiswagen stand und darauf wartete, dass die Softeismaschine endlich seine Portion Eis ausspuckte.

„Erwarten Sie bloß nicht zu viel“, sagte Ivan zum gefühlt tausendsten Mal, als er endlich den richtigen Schlüssel gefunden hatte. Der Schlüssel war groß und aus inzwischen rostiger Bronze und sah nicht nur so aus, als gehöre er zum Schloss von Rapunzel, sondern passte auch perfekt zu dem Haus. Endlich war es soweit: Ivan steckte den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn um und schob die Tür des Hauses auf.

Keine Sekunde später stand Lacey schon mitten in dem Haus und fühlte sich sofort wie zu Hause darin. 

Den Korridor mit seinen Bohlen aus unbearbeitetem Holz und seinen verblassten Chintz Tapeten konnte man – wohlwollend formuliert – nur als rustikal bezeichnen. Und die Mitte der zu Laceys rechten nach oben führenden Treppe war mit einem plüschigen roten Läufer ausgelegt, der an den Seiten von goldfarbenen Teppichstangen begrenzt wurde, ganz so als befände man sich in einem herrschaftlichen Gebäude und nicht nur in einem netten, altmodischen Landhaus.

Zu Laceys linker Seite gab es eine Tür, die offenstand und sie dadurch geradezu dazu einlud, das dahinterliegende Zimmer zu betreten.

„Wie ich schon gesagt habe, ist das Haus in keinem besonders guten Zustand“, sagte Ivan, als Lacey das Zimmer betrat.

Bei dem betreffenden Raum handelte es sich um das Wohnzimmer des Hauses. Drei der vier Wände des Raums waren mit einer verblassten, mintgrün und weiß gestreiften Tapete beklebt und die vierte Wand war überhaupt nicht tapeziert, sondern zeigte sich in ihrem Rohzustand, also als rote Backsteinwand. Von dem großen Erkerfenster des Raums aus hatte man einen herrlichen Blick auf den Ozean, den man ganz bequem von der unter dem Fenster angebrachten Sitzgelegenheit aus betrachten konnte. Eine Ecke des Raums wurde von einem Holzofen mit einem langen Abzugsrohr eingenommen, neben dem noch ein mit Holzscheiten gefüllter silberner Eimer bereitstand. Außerdem gab es ein großes, hölzernes Bücherregal, das fast eine ganze Wand des Zimmers für sich beanspruchte, sowie eine anscheinend aus den 40er Jahren stammende Sitzgarnitur, die aus einem Sofa und einem dazu passenden Lehnstuhl mit Fußbank bestand. Zwar musste das ganze Zimmer einschließlich der Möbel einmal gründlich abgestaubt werden, doch das trug für Lacey nur noch mehr zum Charme des Hauses bei.

Sie drehte sich zu Ivan um, der sich wegen ihres bevorstehenden Urteils über das Haus nicht recht wohl in seiner Haut zu fühlen schien. 

„Ich liebe es!“, sprudelte es aus ihr heraus.

Nach dieser Ansage wirkte Ivan ziemlich überrascht und – wie Lacey feststellte – auch ein wenig stolz.

„Oh!“, entfuhr es ihm. „Wie schön!“

Lacey war nicht mehr zu bremsen. Voller Enthusiasmus lief sie im Wohnzimmer herum und sah sich alles genau an. Auf dem mit gekonnten Schnitzereien verzierten Bücherregal fand sie ein paar Kriminalromane, die so alt waren, dass ihre Seiten schon verknittert waren. Auf dem darunterliegenden Regalbrett stand eine Sparbüchse aus Porzellan in der Form eines Schafes sowie eine Uhr, die schon vor längerer Zeit stehengeblieben zu sein schien. Und auf dem obersten Regalbrett befand sich ein Sammelsurium von aus feinstem Porzellan gefertigten Teekannen. Das Zimmer war soweit ein einziger Traum für Antiquitätenliebhaber.

„Kann ich mir auch den Rest des Hauses ansehen?“, fragte Lacey überglücklich.

„Gerne doch“, antwortete Ivan. „Ich gehe inzwischen in den Keller und kümmere mich um die Heizung und den Wasseranschluss.“

Sie traten in den kleinen, dunklen Flur hinaus und während Ivan durch eine Tür nach unten verschwand, ging Lacey freudig gespannt weiter in Richtung der Küche des Hauses.

Dort angekommen schnappte sie nach Luft. Die Küche sah aus als wäre sie einem Museum, das seinen Schwerpunkt auf das viktorianische Zeitalter gelegt hatte, entsprungen. Es gab einen echten schwarzen AGA-Herd, über dem kupferne Töpfe und Pfannen von der Decke baumelten und in der Mitte des Raums stand ein großer, viereckiger Metzgerblock. Durch die Fenster der Küche sah man auf eine große Rasenfläche hinaus. Hinter diesen eleganten Fenstertüren lag ein Innenhof, in dem ein klappriger Tisch und ein ebenso klappriger Stuhl standen. Lacey konnte sich gut vorstellen, dort zu sitzen, frische Croissants vom Bäcker zu essen und dazu biologisch produzierten peruanischen Kaffee aus dem Coffeeshop ihres Vertrauens zu trinken.

Plötzlich wurde Lacey von einem lauten Schlag aus ihren Träumereien gerissen. Der Knall kam von unten herauf und war so laut, dass er sogar die Dielenbretter unter Laceys Füßen zum Vibrieren brachte.

Lacey rief nach Ivan und fragte diesen, ob bei ihm alles in Ordnung sei. 

Durch die offene Kellertür gab Ivan erst einmal Entwarnung. „Das waren nur die Rohre. Wie es aussieht, sind die schon ein paar Jahre lang nicht mehr benutzt worden. Es könnte also ein wenig dauern, bis sie wieder funktionieren.“

Es folgte ein weiterer lauter Knall, der Lacey zwar zuerst erschreckte, ihr aber – jetzt, wo sie die Ursache dafür kannte – keine Angst mehr einjagte, sondern sie stattdessen sogar zum Lachen brachte.

Ivan kam die Kellertreppe herauf.

„Soweit ist alles okay. Ich hoffe nur, dass die Rohre bald gerichtet werden können“, meinte er leicht verärgert.

Lacey schüttelte den Kopf. „Ich finde so etwas macht ein altes Haus wie dieses nur noch charmanter.“

„Dann können Sie von mir aus so lange in dem Haus wohnen bleiben wie Sie wollen“, sagte er. „Ich halte aber die Ohren offen und gebe Ihnen Bescheid, wenn eines der Hotels ein Zimmer für Sie frei hat.“ Dann fragte er mit dem für ihn typischen schüchternen Lächeln: „Sind zehn Pfund pro Nacht für sie okay?“

Lacey zog die Augenbrauen hoch. „Zehn Pfund – das sind doch ungefähr 12 Dollar?“

„Ist Ihnen das zu viel?“, fragte Ivan mit inzwischen vor Verlegenheit flammend roten Backen. „Wie wäre es dann mit fünf Pfund?“

„Nein, zehn Pfund ist zu wenig!“, rief Lacey, die sich durchaus bewusst war, dass sie ihn gerade hinauf statt hinunter handelte. Doch das Haus zu dem lächerlich niedrigen Preis, den er verlangte, zu mieten, käme ihr fast vor wie Diebstahl. Und Lacey würde den Teufel tun und diesen furchtbar netten, unbeholfenen Mann, der sie vor ihrem Malheur mit dem fehlenden Zimmer bewahrt hatte, über den Tisch zu ziehen. 

„Das Haus ist historisch und hat zwei Schlafzimmer. Es eignet sich ideal für Familien. Und nach einem gründlichen Hausputz können Sie es bestimmt für ein paar hundert Pfund pro Nacht vermieten.“

Ivan war so verlegen, dass er nicht wusste, wo er hinsehen sollte. Über Geld zu sprechen bereitete ihm sichtlich Unbehagen, was ihn in Laceys Augen nicht gerade dazu befähigte, ausgerechnet als Geschäftsmann tätig zu sein. Sie hoffte nur, dass seine Mieter ihn nicht andauernd über den Tisch zogen. 

„Dann sagen wir eben fünfzehn Pfund pro Nacht“, schlug Ivan vor. „Und ich schicke Ihnen jemand zum Saubermachen vorbei.“

„Zwanzig Pfund“, antwortete Lacey. „Und das Saubermachen übernehme ich selbst.“ Sie grinste und streckte ihm ihre Hand entgegen. „Jetzt brauche ich nur noch den Schlüssel. Ich lasse kein ‚Nein‘ gelten.“

Inzwischen erstreckte sich das verlegene Rot auf Ivans Wangen schon bis zu seinen Ohren und über seinen Hals. Zur Bestätigung ihres Deals nickte er nur und legte den bronzenen Schlüssel in Laceys ausgestreckte Hand.

„Meine Telefonnummer steht auf meiner Visitenkarte. Rufen Sie mich an, falls irgendetwas am Haus nicht funktioniert – oder besser sobald etwas nicht mehr funktioniert.“

„Danke“, sagte Lacey, die ihm tatsächlich sehr dankbar war, mit einem leisen Kichern.

Ivan machte sich auf den Weg. 

Endlich allein ging Lacey nach oben, um ihre Erkundungstour fortzusetzen. Das Elternschlafzimmer lag nach vorne hinaus und verfügte über Meerblick und einen Balkon. Auch dieses Zimmer mit seinem großen, aus dunklem Eichenholz gefertigten Bett, das auf vier soliden Pfosten stand und dem dazu passenden riesigen Kleiderschrank, der aussah als wäre er der Eingang in das fiktive Land Narnia, hätte jedem Museum Ehre gemacht. Das zweite Schlafzimmer lag auf der Rückseite des Hauses und damit mit Blick auf den Garten hinaus. Badezimmer und Toilette waren getrennt, wobei die Toilette nicht viel größer als ein Schrank war. Das Badezimmer bestand mehr oder weniger nur aus einer auf bronzenen Füßen stehenden, weißen Badewanne mit hoher Rückenlehne und einer Abdeckung über ihrem unteren Teil. Es gab keine extra Dusche, sondern nur eine Duschvorrichtung in der Wanne. 

aufregend