eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2020
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Alle Rechte vorbehalten
Titel der englischen Originalausgabe: Gods and Beasts
© 2012 by Denise Mina
Diese Übersetzung wurde ermöglicht mit der Hilfe des
Publishing Scotland translation fund.
Printausgabe: © Argument Verlag 2020
Lektorat: Else Laudan
Covergestaltung: Magdalena Gadaj
eBook-Herstellung: CulturBooks
Erscheinungsdatum: September 2020
ISBN 978-3-95988-176-0
Einen fremden kleinen Jungen im Arm, hockt Martin Pavel im Glasgower Dezemberregen auf einer Bordsteinkante. Beide sind blutbespritzt, halb taub und stehen unter Schock. Doch im Gegensatz zum Großvater des Jungen leben sie noch.
Detective Sergeant Alex Morrow und ihr Partner DC Harris sollen herausfinden, was hinter dem Massaker in der Post steckt. Begonnen hat es wie ein ganz gewöhnlicher Raubüberfall: Ein maskierter Mann mit einer AK47 marschiert kurz vor Weihnachten in eine Postfiliale und zwingt die Schlange stehenden Kunden mit vorgehaltener Waffe, sich auf den Boden zu legen. Dann erhebt sich ein älterer Mann, tritt zu ihm und assistiert bei dem Raub, nur um anschließend von dem Maskierten niedergemäht zu werden. Wer war dieser Brendan Lyons, der einem völlig Fremden seinen Enkel anvertraut und sich in dieses Selbstmordkommando gestürzt hat?
Kriminalität, Korruption, Katastrophenstimmung: Mit »Götter und Tiere«, einem Roman ihrer Alex-Morrow-Reihe, legt Denise Mina einen rasanten, geschichtsbewussten und philosophischen Noir vor, der von den verblüffend tiefenscharfen Figuren lebt – und nicht alle sind unbedingt sympathisch.
Denise Mina, Jahrgang 1966, brach nach einer rastlosen Kindheit in Glasgow, Paris, London, Invergordon, Bergen und Perth die Schule ab, jobbte halbherzig in einer Fleischfabrik, in Bars, als Köchin und als Krankenpflegehelferin, qualifizierte sich per Abendschule fürs Jurastudium an der Universität Glasgow. Statt danach wie geplant in Kriminologie und Strafrecht zu promovieren, begann sie Kriminalliteratur zu schreiben. 2014 aufgenommen in die Crime Writers’ Association Hall of Fame. Sie hat 12 Romane publiziert, außerdem verfasst sie Shortstorys, Bühnenstücke, Graphic Novels und macht TV- und Radiosendungen. Denise Mina lebt in Glasgow.
Denise Mina
Götter und Tiere
Kriminalroman
Deutsch von Karen Gerwig
CulturBooks Verlag
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Denise Minas Reihe um die Glasgower Polizeiermittlerin Alex Morrow, bislang nur lückenhaft auf Deutsch verfügbar, komplettiert sich mit Götter und Tiere, dem dritten der fünf Romane. Die rastlose »Queen of Tartan Noir« hat diese Serie multiperspektivisch aufgezogen, sodass der ermittelnden Perspektive diverse Wahrnehmungswelten mehr oder weniger krimineller, mehr oder weniger »normaler« Menschen gegenüberstehen. Dadurch entsteht ein Kaleidoskopeffekt, der das urbane Schottland mit einer Vielzahl gesellschaftlicher Schichten und Geschichten auf den Plot projiziert.
Anders als bei vielen Genre-Autor/innen gehören nie alle auftretenden Figuren dem bürgerlichen Mittelstand an, und kaum eine bietet gemütliches Identifikationspotenzial, sie sind Opfer der herrschenden Verhältnisse in allen Schattierungen und (Mit-)Täter/innen. Das ist clevere und scharf sozialkritische zeitgenössische Kriminalliteratur, die mit klassischen Mustern des Genres spielt, dem Publikum viel zutraut und auch viel zumutet – in Minas Glasgow hat die Gewalt viele Gesichter, und sie ist sehr gegenwärtig. Mich fasziniert die Schärfe des Blicks auf menschliche Motive, Sehnsüchte, Hoffnungen, Ängste und Interessen: Mina psychologisiert nicht, sie zeigt die Seele und das Streben der Einzelnen an ihren Taten und Zurechtlegungen mitsamt dem sozialen Humus, auf dem solches Handeln erst gedeiht, und den Spuren, die es gesellschaftlich hinterlässt. Äußerst milieugenau, historisch akkurat, extrem noir und mitreißend – das ist Denise Minas finsterer Realismus, dem der schottische Dezember hier in Götter und Tiere eine extra regendunkle Note verleiht.
Ich bedanke mich bei Denise für dieses Kunstwerk, bei Karen Gerwig für Feuereifer und Engelsgeduld sowie bei Jim Byrne und Pat Byrne, die auf glasgowwestend.co.uk starke Fotos all dieser Schauplätze in und um Glasgow bereitstellen.
Ich habe zu vielen Leuten zu danken, dafür hat der Tag nicht genug Stunden, aber die folgenden kommen mir sofort in den Sinn: Peter Robinson, Jon Wood und Jemima Forrester, Susan Lamb und Graeme Williams, den Gott schützen möge, aus Utrecht. Von der scheidenden Regierung: Jade, Sophie und Hellen, vielen Dank und einen freundlichen Knuff gegen den Oberarm.
Dank an Margery Laird mit den Adleraugen (die ich im Barnes and Noble auf der Upper East Side kennengelernt habe), weil sie es für sich behalten hat.
Dank an Richard Halligan, weil er mir Kenny McLachlans Autobiografie One Great Vision geschenkt hat …
Dank an Prof. Graeme Pearson für seine Zeit, seinen Rat und ein Grundgerüst auf dem Silbertablett.
Dank an Mr. Willie Mottram, der uns noch zum Flieger am Edinburgh Airport geschafft hat, als wir aus Versehen nach Glasgow gefahren sind.
Dank an meine ganze Familie und alle Freunde für eure Unterstützung, eure Liebe und euer Verständnis.
Martin Pavel hörte alles wie durch ein Kissen: das schwache Greinen der Notarztsirenen, das Hubschraubermurmeln in der Luft, die gedämpften Rufe von Männern in dicken Uniformen, Sanitäter und Cops brüllten sich Anweisungen zu – HOLT DAS ABSPERRBAND, SCHAFFT DIE LEUTE WEG. Aber es war ein Anbrüllen gegen längst vergangenes Chaos. Das Chaos war lässig aus der Postfiliale geschlendert und davonspaziert. Jetzt war das Chaos irgendwo in der Stadt unterwegs, sah in Schaufenster, aß vielleicht etwas, schaute womöglich fern, auf jeden Fall in aller Ruhe. Wo immer das Chaos auch war, es war ruhig dort. Martin wünschte, er wäre bei ihm.
Er saß auf der Bordsteinkante, die Beine auf die Great Western Road gestreckt. Er sah die Menschenmengen am Fuß des Hügels und unten bei den Lichtern, die Hälse gereckt, denn so viele Polizeiautos und der darüber kreisende Hubschrauber konnten nur bedeuten, dass etwas Schlimmes passiert war.
Die Ampel auf der anderen Straßenseite sprang um, von der Seite war das rote Leuchten zu sehen. Erstaunt stellte Martin fest, dass es schon dämmerte. Die Welt wurde wirklich dunkler, das kam ihm nicht nur so vor. Er drückte den Rücken durch, um tief einzuatmen, und warf beinahe den kleinen Jungen ab, der sich wie ein Koala an ihn klammerte. Der Junge barg verbissen das Gesicht an seiner Brust, presste sich an ihn, schrak zusammen, wenn jemand in ihre Nähe kam.
Jetzt, wo der Nebel des Schocks nachließ, erinnerte sich Martin an Schüsse aus einer automatischen Waffe, rote Explosionen auf dem Rücken des alten Mannes, seinen zuckenden Rumpf, das glitschige Abwärtsgleiten. Die Bilder fielen ihn an. Entsetzt von seiner Reaktion zog er den Jungen an sich, schützte seinen Kopf mit der Hand, nahm ihn unter seine Jacke.
Der Junge drückte sich fest an ihn, während Martins Sichtfeld grün wurde. Eine Sanitäteruniform. Der Mann kniete sich vor ihn hin, versuchte Martins Blick einzufangen, bewegte den Kopf hoch und runter, nach links und rechts. »Hey, Freund, können Sie mich hören?«
Martin brachte ein Nicken zustande.
»Sind Sie verletzt?«
Er schüttelte den Kopf.
»Und der kleine Mann? Ist Ihr Sohn verletzt?«
Martin blinzelte langsam. »Das …« Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, und der Junge wimmerte vor Angst, aber Martin musste es aussprechen: »Er ist nicht mein Sohn.«
»Wer ist er dann?«
In Martin sträubte sich alles. Der Junge war jetzt seiner, daran war nichts zu ändern, aber danach hatte der Mann nicht gefragt. Er drehte den Oberkörper, zeigte mit dem Daumen nach hinten auf das zersplitterte Fenster der Post. Drinnen war alles rot und schwarz gesprenkelt. »Seiner.«
Der Junge bohrte sich noch enger an Martins Brust, presste ihm die Luft aus den Lungen.
Martin hob die Knie, drückte den Jungen heftig an sich, versuchte ihn einer Welt zu entreißen, in der ein Großvater so etwas tat.
In einem Rollstuhl aus Segeltuch durch den Warteraum der Notaufnahme; nicht besonders sauber hier, nicht besonders hübsch. Nicht gleich Caracas, aber auch nicht das Cedars-Sinai. Ein Kasten aus Panzerglas für die Angestellten am Empfang, aufgereihte Stühle. Der Junge immer noch auf seinem Schoß, die Arme um seinen Hals geschlungen, die Augen fest zugekniffen.
Durch eine Tür. Da wartete eine große Frau auf ihn. Sie war blond, grauer Anzug. Ich bin Detective Sergeant Alex Morrow. Ich komme gleich und rede mit Ihnen. Martin nickte. Sie rollten weiter.
In einen Korridor mit Vorhängen zwischen Kabinen. Die Person, die den Stuhl schob, parkte sie beide in einer ruhigen Ecke, zog einen Vorhang vor, trat auf die Feststellbremse und ging.
Zeit verrann. Uhren tickten und Rollwagen rollten. Pflegepersonalschuhe quietschten vor dem Vorhang vorbei.
Plötzlich das Geräusch hektischer Schritte, die hohe Stimme einer Frau: »Joseph?« Der Junge löste die Arme und Beine, drückte sich von Martin ab, horchte. »Joe!«
Er kletterte von Martins Schoß und stellte sich vor den Vorhang, als hätte er Angst, ihn aufzuziehen. Er wirkte winzig und hilflos und den Tränen nahe, dieses Maschinchen, und Martins Hand streckte sich nach ihm aus, er wollte ihn wiederhaben. Rasch nahm er die Hand wieder runter: Ihm fiel ein, wie es aussah, wenn sich ein Mann nach der Berührung eines Jungen sehnte; er gehörte einer Generation an, die dazu erzogen war, sich selbst zu misstrauen.
Er sah den Jungen am Vorhang zittern, die Schultern bis zu den Ohren hochgezogen. Auf Safari hatte Martin Löwen, Nilpferde, sogar Leoparden Beute hetzen und reißen sehen. Er hatte zugesehen, wie ein Nilpferd einem Löwen das Bein abbiss. Aufregend, überraschend, ja demütigend, aber nichts im Vergleich zu dem, was er heute gesehen hatte, denn das heute war furchtbar sinnlos gewesen.
Der Vorhang wurde zurückgerissen. Ein roter Daunenmantel, lang, wie ein blutiger Schlafsack. Der kleine Junge sah nicht auf, stand nur da, erstarrt, stierte auf die Beine der Frau. »Tut mir leid, Mami.«
Sie ließ sich auf die Knie fallen, wickelte sich um ihn. Sie war kräftig, dick um die Hüften – der dicke Steppmantel machte das nicht besser – und hatte ein dunkles, fein gezeichnetes Gesicht. So blieben sie lange, bis die Pflegerin ungeduldig hüstelte.
Die Mutter sah zu Martin auf, und der Kummer in ihren rotgeweinten Augen wich Entsetzen. Sie hielt den Jungen von sich ab, um ihn anzusehen, spuckte heftig in ihre Hand und rubbelte mit ihrer Spucke über sein Gesicht. Martin schaute auf seinen Unterarm: Er war übersät mit getrockneten, blutigen Sprenkeln.
Sie schmierte dem Jungen das Blut in die Haare, spuckte wieder, weinte und spuckte. Die Pflegerin reichte ihr ein feuchtes Tuch. Sie rubbelte fest, drückte ihm den Kopf in den Nacken, und er verdrehte bei ihrer Berührung verzückt die Augen.
Sie stand auf. Ihr kummervolles Gesicht kam Martin bekannt vor, dann wurde ihm klar, dass der tote Großvater ihr Vater war, und dass sie ihn sehr geliebt hatte.
Der Vorhang fiel und sie waren weg und Martin blieb allein zurück, kalt und betäubt.
Leute, die er nicht sehen konnte, sprachen miteinander. Telefone klingelten. Um ihn herum verrann knirschend die Zeit.
Eine junge Ärztin kam nach ihm sehen. Sie leuchtete ihm mit einer Stiftlampe in die Augen, schaute in seine Ohren, fragte ihn, ob er einen Schlag auf den Kopf bekommen hätte. Hatte er nicht. Er stehe unter Schock, erklärte sie ihm. Sie ging.
Eine Pflegerin kam mit einer Pille und er nahm sie. Das Zeug wirkte ein bisschen wie das Xanax seiner Stiefmutter, nur schnell. Nach einer Weile fühlte sich alles weicher an. Es war angenehm.
Eine andere Pflegerin tauchte auf, nahm ihn beim Ellbogen, bewegte ihn zum Aufstehen. Sie passte auf, dass er nicht stolperte, und führte ihn sanft und mit aufmunternden Lauten den Korridor entlang, um eine Ecke in einen kleinen, hellen Raum mit weißen Wänden und einem ausgeschalteten Computer auf einem Tisch.
Die blonde Polizistin war da und ein Mann. Sie standen auf und stellten sich vor: Detective Sergeant Morrow und Detective Constable Harris. Sie schüttelten ihm die Hand.
Dann setzten sie sich alle.
Der Polizist zog ein Klemmbrett mit kopierten Fragebögen heraus. Er hielt allerdings die Tasche zusammen mit dem Klemmbrett fest, und als er sich wieder hinsetzte, rutschte ihm das Brett aus der Hand. Er reagierte übertrieben hektisch, versuchte, es zu fangen, bekam nur das Papier zu fassen und riss das leere oberste Blatt aus dem Metallclip.
Sie sahen alle zu, wie das Brett auf den Boden fiel, auf der Kante abprallte und mit dem Gesicht nach oben landete. Ein ausgefülltes Formular darunter: Joseph Lyons, Lallans Road 9 … – die Hand des Polizisten landete auf der Adresse. Er hob es auf, zog den Rest des leeren Blatts heraus. Seine Lippen waren vor Verlegenheit blutleer. Martin verstand gar nicht, was daran so schlimm war.
Die Frau übernahm das Kommando. Sie bat Martin, ihr zu erzählen, was in der Postfiliale in der Great Western Road passiert war. Warum war er dort gewesen?
Er wollte Weihnachtsgeschenke nach Hause schicken.
Martin hätte längst nach Hause fahren sollen, aber er konnte sich nicht dazu aufraffen. Seine Ausrede waren fiktive Prüfungen und eine fiktive Freundin. Er fuhr mit ihr zum Weihnachtsessen zu ihren fiktiven Eltern. Im Januar würden sie sich trennen, und seine Eltern würden nie erfahren, dass er sie erfunden hatte.
Den Cops erzählte er nichts davon, nur dass er Martin Pavel war, einundzwanzig Jahre alt, Geologiestudent an der Glasgow University. In der Post war er mit zwei Päckchen, die er zu Weihnachten nach Hause schicken wollte.
»Wo ist zu Hause?«
San Francisco.
Sie sah skeptisch drein. »In Amerika?«
Kalifornien.
»Sind Sie hier in Schottland aufgewachsen?«
Martin schüttelte den Kopf.
»Aber Sie haben einen schottischen Akzent.«
Aye.
Sie sah deswegen wütend aus. »Und woher kommen Sie nun?«
Von hier. Oder sonst wo.
»Aber Sie sind hier nicht aufgewachsen und Ihre Familie ist nicht hier …«
Die Fragen waren zu kompliziert, die Antworten zu wortreich, und er konnte nur daran denken, dass er am liebsten den Gangster mit seiner Pistole hierhätte, damit er sie wegpustete. Er schüttelte den Kopf, das war zu hart, und die Frau beugte sich vor, sprach sanft, um ihn zu trösten, dabei wusste Martin, dass er es nicht verdient hatte.
»Schon gut, das macht nichts. Vergessen Sie das mal. Vorhin in der Post, wer war da noch?«
Der Großvater stand genau vor ihm und hielt den Jungen an der Hand.
Der Mann hatte weiße Haare, ein eckiges Gesicht wie die Mutter, die den Jungen abgeholt hatte. Er trug eine rote Funktionsjacke mit schwarzen Schultern und einen roten Schal. Er war braun, wie ein sizilianischer Bauer, und seine Kleidung war so gut gebügelt wie die eines Parisers, aber er sprach mit Glasgower Akzent.
Martin kam am Ende der Schlange an. Er schaltete seine Musik aus und der Junge lächelte zu seinem Großvater hoch und fragte: »Würstchen im Schlafrock?«, und der Großvater nickte ernst und antwortete: »Natürlich Würstchen im Schlafrock«.
Martin verhedderte sich in dieser Erinnerung. Natürlich. Natürlich Würstchen im Schlafrock. Innere Werte. Die Würstchen im Schlafrock waren eine ernste Angelegenheit.
»Wirkte der alte Mann nervös?«
Nein, denn Nervosität hätte auf Unsicherheit hingedeutet. Nein, er war weder unsicher noch nervös. Er hatte Martin den Jungen mit Bestimmtheit übergeben, sich dem Chaos, dem bewaffneten Barbaren mit entschiedener, würdevoller Klarheit dargeboten. Martin wünschte, er selbst wäre derjenige gewesen, und er wusste, dieses Gefühl war falsch. Er begann zu weinen.
»Lassen Sie sich Zeit«, versuchte die Frau ihn anzutreiben.
Er war ruhig, der Großvater. Sehr ruhig. Natürlich Würstchen im Schlafrock. Der Junge lächelte und wandte sich ab, sah zu dem »Frohe Weihnachten«-Banner hinüber, das an einer Seite aus der Halterung gerutscht war und träge im Luftzug eines Heizlüfters schlenkerte.
Vor ihnen zog sich eine lange Schlange durch die Gurtabsperrung zu den Kassen. Fünf, vielleicht sechs Leute: ein großer Typ in teurer Radsportausrüstung, sehr fit, orangefarbener Rucksack und schwarzer, spitz zulaufender Helm. Nervös, ungeduldig, sah ständig auf die Uhr. Vor ihm vielleicht noch ein anderer Mann und weiter vorn eine Frau. Martin achtete nur vage auf die Schlange, er spielte mit seinem Handy. Checkte E-Mails, löschte Spam. Eine Frau kam herein, stellte sich hinter ihn. Er sah sie nicht, wusste aber, dass ihre Haare gelb waren. Er hatte gesehen, wie sie in dem blutigen Nebel rosa wurden.
In der Postfiliale waren drei Schalter geöffnet, von insgesamt vier. Martin war oft dort, denn es lag auf dem Weg zur Bibliothek, er hatte die Familie beobachtet, die den Laden betrieb. Der Mann, den er für den Vater hielt, arbeitete immer: ein Asiate über fünfzig, mit grauen Schläfen, höflich und fleißig; die Filiale war auch sonntags geöffnet. Die Tochter hatte die weibliche Version des Gesichts ihres Vaters, schmaleres Kinn, lange schwarze Haare und glitzernde Haarspangen. Sie war zu alt für Haarspangen.
Ein jüngerer Mann, vielleicht ein Cousin, er sah nicht wie der Vater und die Tochter aus, aber sie verhielten sich wie Familienmitglieder, standen dicht beieinander und kommunizierten mit Ein-Wort-Bemerkungen.
»Wann haben Sie den Bewaffneten bemerkt?«
Martin setzte sich auf, als er daran dachte, wie am Rand seines Blickfelds eine schwarze Gestalt zur Tür hereingekommen war. Schwarze Kleidung, eine schwere Segeltuchtasche. Die Gestalt trat beiseite, hinter die freistehenden Regale mit Schreibwaren direkt an der Tür; schlüpfte hinter Aufsteller mit Geburtstagskarten, hässlichen Kühlschrankmagneten, Teddybären mit Schottenkaroschärpen, billigem Mist.
Martin sah erneut auf sein Handy.
Die Gestalt kam wieder hervor. Und die Tasche war nicht mehr schwer. Der Mann ging einfach an der Schlange vorbei nach vorn. Dass er sich vordrängelte, machte alle aufmerksam, noch bevor sie seine hellgraue Maske bemerkten, lange bevor sie den Bogen des Ladestreifens der AK-47 bemerkten, der an seinem Oberschenkel hervorlugte.
»In seiner rechten Hand oder in der linken?«
Er hielt sie in der rechten Hand, unten neben dem rechten Bein, von der Schlange abgewandt. Es war eine Pistole.
»Sie sagten, eine AK-47 …«
Ja, aber eine AK-47-Pistole.
»Wo ist der Unterschied für jemanden, der nichts von Waffen versteht?«
Pistole: kürzerer Lauf natürlich.
Er trug eine enganliegende Jagdhaube, die seinen Mund und Hals und Kopf verdeckte, aber nicht seine Augen.
»Mit zwei Löchern für die Augen?«
Nein. Es war ein durchgehendes Loch. Ein Oval. Es war eine Tarnhaube für Jäger. Die Cops verstanden ihn nicht, deshalb musste Martin es erklären: Sie war aus anliegendem Filz und nicht aus gestrickter Wolle, sodass sie eng um Kinn und Mund lag, damit das Wild den Atem des Jägers nicht roch. Martin hatte so etwas bei der Jagd in Kanada gesehen.
Der Bewaffnete ging zum Anfang der Schlange. Die Jagdhaube sah lässig aus. Und die Augen darin sahen lässig aus. Das hatte Martin wirklich getroffen: Dieser Mann hatte seine ganze Welt im Griff, er war nicht besorgt, zweifelte nicht, suchte nicht nach Halt. Er ging nicht zum Psychiater und heulte rum wie ein Mädchen. Er war lässig.
»Was meinen Sie mit lässig?«
Martin dachte an diese Augen. Der Mann war nicht nervös. Kein bisschen. Die Augen leuchteten, als er die Waffe ans Gesicht hob. Tiefblaue Augen, umrahmt von weißen Wimpern.
Der Radfahrer schrie auf. Niemand sah ihn an. Sie waren hypnotisiert von dem Bewaffneten. Er hob das Kinn, sodass die Lippen näher an die Augenöffnung kamen, und brüllte: »ALLE RUNTER AUF DEN SCHEISS-BODEN!«
»Wie klang er?«
Dem Akzent nach Greenock oder Ayr, untere Arbeiterklasse. War vielleicht mal eine Weile in Birmingham, in England.
»Ayr?«
Breite, offene Vokale von der Westküste und das schmelzende Singen des Birmingham-Akzents. Außerdem hatte er etwas Raues in der Stimme, als hätte er am Abend vorher viel geraucht, als wäre er heiser vom Überschreien der Musik in einem Nachtclub.
»Was ist dann passiert?«
Alle legten sich auf den Boden. Sie tauchten so schnell ab, als gäbe es etwas zu gewinnen. Sie legten sich so flach hin, wie sie konnten, die Nasen an den schmutzig nassen Boden gedrückt, sie alle. Bis auf den Großvater. Der blieb stehen.
»Woher wissen Sie das?«
Martin lag mit der Nase auf dem Boden, als er den Jungen neben sich sah, eng zusammengerollt wie eine Walnuss, die Knie unter der Brust, die Fäuste vor dem Mund. Der Großvater war zwei Schritte weitergegangen, sodass es aussah, als gehörte der Junge zu Martin.
Er hörte den Großvater murmeln: »Du?« Wie eine Frage.
Der Bewaffnete hauchte: »Du.«
Pause. Der Großvater wartete, bis sich der Bewaffnete wegdrehte, dann raunte er Martin zu: »Er gehört zu dir.«
In der Rückschau wusste Martin nicht, ob der Großvater mit ihm sprach oder mit dem Jungen, aber jetzt gehörte er plötzlich zu ihrer Geschichte.
»Wer gehörte zu was für einer Geschichte?«
Martin. Er gehörte zu ihrer Geschichte.
»Meinen Sie damit, Sie haben sich vorher unbeteiligt gefühlt?«
Nein, aber er hatte Verpflichtungen ihnen gegenüber, weil er jetzt zu ihrer Geschichte gehörte. Die Polizistin sah ihn ausdruckslos an. Geschichte, erklärte er, wir sind Teil einer Geschichte. Sie sah skeptisch aus.
»Nein, sind wir nicht. Das hier ist die Wirklichkeit.«
Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Es war zu viel zu erklären. Ein Schotte aus Kalifornien, Barbarei und die Zugehörigkeit zu einer Geschichte. Sie runzelte die Stirn, genervt von ihm. »Er hat gesagt ›Er gehört zu dir‹, und was dann?«
Der alte Mann stand da, dem Bewaffneten zugewandt, die Fäuste seitlich geballt. Martin konnte nur bis zu seiner Brust sehen.
»Kannten Sie den Großvater?«
Martin sagte nein.
»Sind Sie sicher?«
Martin dachte darüber nach: sein Leben vor diesem Moment. Graue Zeitschlieren, Anwälte, Spaziergänge, Hitze und Hügel, Palmen, Ratten und Orangen und Streit. Und dann rief er sich den Großvater ins Gedächtnis, wie er ihm in der Schlange aufgefallen war, wie ihre Blicke sich trafen, klick, ein Blinzeln, klick, zweiter Blick. Nichts. Kein Anflug eines Wiedererkennens.
Martin war sich sicher, dass er ihn nicht kannte. Er hätte sich an den Mann erinnert. Er war sehr braungebrannt und gepflegt, aber sehr schottisch, und Martin hätte ihn gefragt, warum.
»Er hat gesagt ›Er gehört dir‹, und dann?«
Und dann Stille, eine tiefe, schreckliche Stille, bis der Bewaffnete wieder etwas sagte: »Scheiße, dann komm her!«
»Das sagte er zu dem Großvater?«
Ja.
»Was meinte er damit?«
Er meinte, komm hierher. Er meinte, stell dich zu mir, fühl mein herrliches Feuer. Er meinte, komm her und hilf mir und dann bringe ich dich um.
»Und was hat der alte Mann getan?«
Martin sagte ihnen, was er gesehen hatte: Scheiße, dann komm her. Da hoben sich die Absätze des alten Mannes kurz vom Boden, als ob er salutieren wollte: ein Soldat, für eine ruhmreiche Mission ausgewählt. Die Absätze der Lederslipper hatten Metallbeschläge, damit sie länger hielten, und sie knallten laut auf dem Boden.
Ein Slipper hob sich, stieg über den Radfahrer, der in die Erde schluchzte, über die Leute und die auf dem Boden verteilten Taschen. Martins Blick folgte den Füßen, bis sie dicht vor den schwarzen Turnschuhen am Schalter standen. Der Bewaffnete gab dem Großvater die Tasche, und der alte Mann hielt sie ihm auf.
»Er hat dem Typ freiwillig geholfen?«
Martin antwortete nicht. Natürlich hatte er ihm geholfen. Sie war nicht dabei gewesen. Martin hätte es auch nicht geglaubt, wenn er es nicht selbst gesehen hätte.
»Wo waren Sie da?«
Die Frage warf ihn zurück zu dem Geräusch des Jungen, der mit dem Gesicht nach unten in die nasse Straßenschmiere hechelte. Aus unerfindlichem Grund streckte Martin den Arm über den Rücken des Jungen und zog ihn herüber und an sich, bis sie Stirn an Stirn waren. Der Junge sah ihn mit teilnahmslosen braunen Augen an. Martin schaute zurück, und sie blinzelten einander an, verankert, hörten die Welt da draußen, aber sahen nichts. Martin war ein Einzelkind und ein einsames Kind. Er hatte sich noch nie jemandem so nah gefühlt wie da auf dem staubigen Boden, als er den Jungen ansah. Das verdankten sie dem Bewaffneten.
Hinter ihnen, an einem weit entfernten Ort, befahl der Bewaffnete den Leuten hinterm Schalter zu verschwinden, nein, du nicht, du bleibst. Menschen bewegten sich. Türen öffneten sich. Türen schlossen sich. Die Welt wurde auf seinen Befehl hin neu geordnet.
Eine Stimme hinter dem Schalter, gedämpft durch das dicke Panzerglas.
»Beweg dich!«, sagte der Bewaffnete.
Und dann schlug er wohl gegen die Scheibe, denn ein Donnern erschütterte den Raum und alle auf dem Boden zuckten vor Schreck.
»Spar dir die Mühe, verdammt, die ist immer noch aus.«
Beim Wortlaut war Martin sich sicher. Die Polizistin bat ihn, es zu wiederholen, und er tat es – die ist immer noch aus. Der Mann wurde deswegen wütend. »Aye, immer noch, versuch bloß nicht, mich zu verarschen!« Er wurde immer wütender, und dann schrie er: »Du! Geh rüber und hau ihr eine rein!«
Pause.
Dann das Tappen der Schuhe des alten Mannes durch den Laden. Das Gewicht verlagerte sich, Sohlen knirschten auf dem schmutzigen Boden, das laute Klatschen eines Schlags, gefolgt vom erschrockenen Aufschrei einer Frau. Er brachte sie dazu, sich gegenseitig anzugreifen, und Martin spürte, wie er das genoss.
Der Junge schloss die Augen, nur einmal, ein kurzes Blinzeln, er nahm die Hand seines Großvaters auf sich.
»BRING ES RAUS!« Türenöffnen, Schritte. Das Ziehen einer Tasche über den knirschigen Boden.
Dann bewegten sich zwei Paar Schritte auf den Ausgang zu: die hart knallenden Slipper und die schmatzenden Sohlen der Turnschuhe des Räubers. Martin atmete schneller bei der Erinnerung daran, was als Nächstes kam.
Die Tür schnappte auf, ein quietschendes Scharnier, und der kalte Luftzug von der Straße brauste über den Boden, wirbelte Staub auf und schleuderte ihn ihm in die Haare. Er blinzelte angestrengt, um den Blickkontakt mit dem Jungen zu brechen, und drehte den Kopf zur Tür, um zu sehen, ob sie weg waren.
Doch sie waren noch im Laden, ziemlich weit weg jetzt, und Martin konnte sie deutlich sehen. Zwischen ihnen und ihm lag die blonde Frau auf dem Bauch, das Gesicht in Martins Richtung gedreht, Tränen quollen zwischen ihren fest zugekniffenen Augenlidern hervor.
Die beiden Männer standen voreinander an der offenen Tür.
»Wie groß war der Bewaffnete im Vergleich mit dem Großvater?«
Er war groß, vielleicht eins fünfundachtzig oder eins achtundachtzig. Er trug ein schwarzes Sweatshirt ohne Logo und dunkle Jeans und schwarze Turnschuhe. Billige, abgetragene Klamotten, aber seine Pose war elegant, wie ein verwegener Cowboy. Die Polizistin bat ihn, das zu erklären, und Martin stand auf, um es ihr zu zeigen: Der Gangster stand mit ausgestelltem Becken da, der Kolben der Waffe ruhte auf seinem rechten Hüftknochen, ihr Lauf deutete nach oben, er hielt sie mit einer Hand. Martin stand da und schaute an der Wand des schmucklosen Raums hinauf, genoss es, ihn nachzuahmen, spürte die Kurve seiner Wirbelsäule und wusste, wie entspannt und sicher er sein müsste, um so dazustehen. Er blickte dorthin, wo der alte Mann gewesen wäre, und hatte kurz das Gefühl, er könnte ihn sehen. Dann ergriff sie wieder das Wort und verdarb alles:
»Warum stand er so da?«
Martin setzte sich wieder. Er sammelte sich, legte sein idiotisches Grinsen ab. Es ist das Gewicht, erklärte er. Bei diesen Waffen liegt das ganze Gewicht vorn, deshalb neigt man sie, wenn man sie mit einer Hand hält. Martin brach ab. Er hatte sich hinreißen lassen und sein Akzent glitt über den Atlantik, rauschte über turmhohe Wellen, ditschte über die schwarzblauen Täler, auf dem Weg nach nirgendwo. Er schwieg verwirrt.
Die Frau hakte nach: »Wer hatte die Tasche? Wer hatte in dem Moment die Tasche?«
Der Gangster hielt sie in seiner anderen Hand, er trug die Sporttasche mit dem, was sie mitgenommen hatten. Sie sah nicht schwer oder sonderlich voll aus. Eigentlich nach fast nichts. Martin glaubte nicht, dass es hier um Geld ging.
Der Großvater hielt die Tür auf.
Martin war plötzlich erschöpft, als ihm die Haltung des alten Mannes wieder einfiel: aufrecht, die Schultern zurück, so würdevoll wie ein Portier an der Upper Eastside nach fünfzig Jahren im Beruf. Doch sein Kinn zitterte über seiner Brust, denn er weinte. Martin spürte, er wusste, was passieren würde, und er stand einfach da und weinte.
Der Lauf der Pistole senkte sich auf seine Brust.
Das Geräusch des ersten Schusses traf Martins Ohr, und Feuer blitzte am Lauf auf. Er war schockiert, wie laut es war. Er hatte noch nie ohne Ohrenschützer eine Waffe losgehen hören. Zu laut, um es zu hören, kein Knall, sondern ein schmerzhaft lautes Ffft, das auf sein Innenohr eindrosch.
Feuer in der Patronenkammer, und fft, fft, fftfftfft fftfftfftfft, zehn Kugeln, Patronenhülsen flogen in alle Richtungen, blinkendes Messing schlug fröhlich Räder in der Luft.
Martin sah Austrittswunde um Austrittswunde aus dem Rücken des alten Mannes explodieren, roter Nebel sprühte aus ihm heraus, landete auf Postkarten und färbte die Haare der schluchzenden Blonden hübsch prinzessinnenrosa.
Plötzlich zersplitterte das Schaufenster zur Straße milchig weiß.
Dann Stille.
Der Kiefer des alten Mannes klappte herunter. Sein Körper neigte sich zur Seite, die Schultern drehten sich zur Tür, als zeigte er den Leuten im Laden das kraterübersäte Fleisch seines Rückens. Dann rutschte er irgendwie weg, der Oberkörper, rutschte von den Beinen in Richtung Tür, und Beine und Becken fielen nach vorn.
Martin stockte bei der Erinnerung der Atem, aber eine winzige Hand, wie eine fleischige Spinne, legte sich flach an seine Wange: Der Junge griff durch die Lücke unter seinem Hals. Er zog Martins Gesicht wieder zu sich herum, befahl ihm, ihn anzusehen. Ich bin noch hier. Jetzt gehören wir gemeinsam zu einer Geschichte.
Dankbar ließ sich Martin von den braunen Augen in Empfang nehmen, und der Junge sah nicht weg.
Die rettende Hand blieb lange an seiner Wange, bis die Polizei kam und sie anschrie, sie sollten aufstehen.