Lynne Marshall, Wendy Warren, Laurel Greer, Helen Lacey
BIANCA EXTRA BAND 82
IMPRESSUM
BIANCA EXTRA erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
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Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: kundenservice@cora.de |
Geschäftsführung: | Katja Berger, Jürgen Welte |
Leitung: | Miran Bilic (v. i. S. d. P.) |
Produktion: | Jennifer Galka |
Grafik: | Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto) |
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA EXTRA
Band 82 - 2020 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
© 2018 by Janet Maarschalk
Originaltitel: „Soldier, Handyman, Family Man“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
in der Reihe: SPECIAL EDITION
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Valeska Schorling
© 2011 by Wendy Warren
Originaltitel: „Caleb’s Bride“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
in der Reihe: SPECIAL EDITION
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Meike Stewen
© 2018 by Lindsay Macgowan
Originaltitel: „From Exes to Expecting“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
in der Reihe: SPECIAL EDITION
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Victoria Werner
© 2018 by Helen Lacey
Originaltitel: „A Kiss, a Dance & a Diamond“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
in der Reihe: SPECIAL EDITION
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Stephanie Thoma-Kellner
Abbildungen: Ivanko_Brnjakovic / iStock, alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 04/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733748081
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Eigentlich hat Mark von romantischen Gefühlen genug. Doch da eröffnet die schöne Laurel nebenan eine Pension. Sie braucht einen Handwerker – das ist er. Aber sie braucht noch mehr … Kann er ihr das geben?
Solange Caleb denken kann, war Gabby die Einzige für ihn. Schade, dass sie in ihm nicht den einen sah! Aber jetzt zieht er zurück nach Honeyford und ist entschlossen, endgültig Gabbys Herz zu gewinnen …
Weltweit ist der Fotojournalist Tavish unterwegs, weshalb auch seine Ehe mit Lauren zerbrach. Aber ein Wiedersehen mit seiner schönen Ex macht ihm klar: Vor seinen Gefühlen kann er nicht länger fliehen …
Wenn Dr. Kieran O’Sullivan nur ungeschehen machen könnte, was er damals Nicola angetan hat! Dann würde sich der Hass in ihrem Blick in zärtliche Liebe verwandeln – und alles wäre wieder gut …
Die hübsche Dunkelhaarige, die mit einem sperrigen Umzugskarton und einem mit wer weiß was gefüllten Müllsack beladen war, brauchte offensichtlich Hilfe. Mark Delaney hatte sie gestern schon bemerkt, oder vielmehr hatte der Anblick ihres wippenden Pferdeschwanzes seine Aufmerksamkeit erregt.
Um die drohende Katastrophe abzuwenden, sprang er von der Leiter, von der aus er die Dachrandverkleidung des Drumcliffe-Hotels strich, wobei er mit einem Knöchel umknickte. Beim Überqueren der Straße versuchte er, sein Humpeln zu verbergen.
„Brauchen Sie Hilfe?“
„Oh!“ Da ihr der Karton runterzurutschen drohte, sah sie ihn voller Dankbarkeit an. „Ja, bitte.“
Mark griff rasch zu. Der Karton war überraschend leicht.
„Da ist mein englisches Lieblings-Teegeschirr drin. Ganz schön leichtsinnig von mir, oder?“ Sie atmete erst mal erleichtert auf und lächelte dann freundlich. „Ich bin übrigens Laurel Prescott. Und Sie sind?“
„Mark Delaney.“ Mit der freien Hand zeigte er auf die andere Straßenseite. „Meiner Familie gehört das Drumcliffe.“
Sie hob die hellbraunen Augenbrauen, ein paar Schattierungen heller als ihr Haar. „Ach, dann sind wir ja Nachbarn.“
Nachdem er den Karton auf ihrer Veranda abgestellt hatte, fiel ihm auf, dass ihre Augen haselnussbraun und mandelförmig waren. Hübsche Augen. „Sieht so aus. Wann wollen Sie Ihr Bed & Breakfast eröffnen?“
Sie holte tief Luft. „Gute Frage. Eigentlich wollte ich schon nächste Woche anfangen, aber es gibt noch so viel zu tun, das ich vorher nicht bedacht habe.“ Sie schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung, was ich mir dabei gedacht habe, ausgerechnet in der ersten Schulwoche umzuziehen.“ Scheppernd schwang sie den Müllbeutel über eine Schulter. „Ach ja, jetzt fällt’s mir wieder ein – ein paar Stunden für mich allein?“
Er musste lachen. „Haben Sie noch etwas, das reingetragen werden muss?“
Ihre sehr hübschen Augen leuchteten so erfreut auf, als sei er ein Geschenk des Himmels. Was ein verdammt gutes Gefühl war. „Haben Sie denn überhaupt Zeit?“, fragte sie. „Ich meine, Sie sind doch gerade beim Streichen.“
Mark senkte den Blick zu seinem schwarzen T-Shirt und seiner Jeans mit den Farbflecken. „Ich wollte sowieso gerade Pause machen.“ Er warf einen Blick auf die noch offene Farbdose auf der anderen Straßenseite. „Einen Moment, okay? Ich muss noch kurz die Dose schließen.“
„Natürlich!“ Sie stieg die Verandastufen zu dem prächtigen viktorianischen Haus im Queen-Anne-Stil hoch, das laut Marks Mutter schon eine Ewigkeit leer stand. In Marks Kindheit und Jugend hatte dort ein sympathisches altes Paar gewohnt. Bei ihnen hatte er mal den besten Apfelkuchen bekommen, den er je gegessen hatte.
In den letzten Monaten waren ständig Handwerker im Haus ein- und ausgegangen und hatten den heruntergekommenen Kasten in seine ursprüngliche Pracht zurückversetzt. Seitdem sie vor ein paar Wochen fertiggeworden waren, strahlte die ehemals abblätternde undefinierbar blaue Fassade mit dem großen Erker und der Rundum-Veranda in frischem Salbeigrün mit cremefarben abgesetzten Fensterrahmen und Türen und dunkelgrün gestrichenen Gesimsen. Mark musste zugeben, dass das Haus jetzt richtig Klasse hatte.
Genauso wie seine Besitzerin. Denn genau das war sein erster Eindruck von seiner neuen Nachbarin gewesen, als sie letzte Woche vorbeigekommen war, um sich das Ergebnis anzusehen – dass sie in einer ganz anderen Liga spielte als er.
Bei ihrem Anblick in Arbeitsklamotten – ausgeblichene, gerade geschnittene Jeans und ausgeleiertes Polohemd, das mal bessere Tage gesehen hatte – musste er lächeln. Jetzt passte sie schon viel besser zu ihm. Und trug zum zweiten Mal nacheinander einen Pferdeschwanz. Nicht dass er mitzählte, aber er fand die Frisur bei ihr irgendwie süß.
„Ein bisschen zu früh für eine Pause, oder nicht?“, fragte Marks Großvater, als er gerade den Deckel auf die Farbdose setzte. Padraig Delaney trug eine bunte Golfhose und ein lachsfarbenes Hemd und kam anscheinend gerade vom Golfplatz. Dank seines Hobbys, dem er täglich nachging, war er immer sonnengebräunt, was seine blauen Augen und seine weißen Zähne noch mehr betonte. Beides blitzte auch jetzt auf, als er sah, wo Mark herkam und wer auf der anderen Straßenseite beschäftigt war.
Mark erwiderte das Lächeln seines Granddas, der Guinness liebte und an übernatürliche Kräfte glaubte. Sie hatten einen ganz besonderen Draht zueinander, da sie beide wussten, wie es war, jung und weit weg von zu Hause zu sein und sich ängstlich und einsam zu fühlen, auch wenn einer von ihnen das in Friedenszeiten erlebt hatte und der andere in der Hölle des Mittleren Ostens.
Jeder kannte Padraig Delaneys Geschichte. In den 1950ern war er aus Irland ausgewandert, um beim Bau von Golfplätzen entlang der kalifornischen Küste mitanzupacken. Trotz seines mageren Lohns hatte er eisern gespart und sich schließlich ein kleines Stück Land in Sandpiper Beach gekauft. Je mehr Verantwortung er in seinem Job übernommen hatte, desto besser hatte er verdient, sodass er es sich Ende der Sechziger hatte leisten können, auf dem Grundstück ein kleines Hotel zu errichten.
Wer weiß, was aus dem Delaney-Clan geworden wäre, wenn Padraig seinen Traum nicht verwirklicht hätte. Also gönnte Mark seinem Großvater sein vormittägliches Golfspiel von Herzen. Der Mann hatte es sich redlich verdient.
So wie er auch Padraigs ständige Einmischung in sein Leben tolerierte. „Ich werde schon noch rechtzeitig fertig, keine Sorge. Lief das Spiel gut?“
„Jedes Spiel ist ein gutes Spiel, Marky, my boy, weil ich noch am Leben bin.“
Seit seiner Rückkehr aus Afghanistan letztes Jahr hörte Mark diesen Spruch täglich. Ihm war nur allzu klar, dass sein Großvater ihm damit auf nicht allzu subtile Art etwas sagen wollte, auch wenn er noch nicht wirklich wusste, was.
Heute jedoch, beim Anblick der Lady mit dem Pferdeschwanz auf der anderen Straßenseite, die seine Hilfe so dringend benötigte, bekam er plötzlich eine Ahnung. „Das stimmt, Grandda. Völlig richtig.“
„Verbrüderst du dich etwa mit der Konkurrenz?“
Mark lachte. Er wusste, dass Grandda nur einen Witz machte. Seine Mutter war die Einzige in der Familie, die sich Sorgen wegen des B&Bs machte. Padraig Delaney hingegen wusste, dass ein Hotel eine ganz andere Klientel als ein Bed & Breakfast anzog. Das Haus auf der anderen Straßenseite war daher keine Konkurrenz, sondern brachte frischen Wind in die Stadt, und davon würden alle profitieren. „Ich helfe nur einer Nachbarin.“
„Einer sehr attraktiven Nachbarin, wie ich hinzufügen möchte.“ Der alte Mann zwinkerte zweideutig, was Mark jedoch ignorierte.
„Hast du inzwischen mal darüber nachgedacht, ob du das Hotel übernimmst?“
Mark stellte die Farbdose an die Hotelmauer, klappte die Leiter zusammen und lehnte sie daneben. „Ich bin noch nicht so weit. Außerdem wollen Mom und Dad sich doch noch gar nicht zur Ruhe setzen.“ Zumindest hoffte er das.
„Schwer vorstellbar, da sie von morgens bis abends über nichts anderes reden. Außerdem bist du der Einzige, der dieses Hotel so liebt wie ich.“
Mark konnte nicht leugnen, dass er von den drei Delaney-Brüdern am geeignetsten dafür war, das Hotel zu übernehmen. Daniel war Physiotherapeut mit eigener Praxis und Conor Deputy Sheriff. Keiner von ihnen zeigte auch nur das geringste Interesse am Hotel. Doch seitdem Mark vor einem Jahr ehrenhaft aus der Armee entlassen worden war, schreckte er vor der Verantwortung zurück. Es reichte ihm völlig, sich vormittags als Handwerker zu betätigen und nachmittags surfen zu gehen. Er hatte zwar Pläne für das Drumcliffe, aber seine Eltern gebeten, ihm noch Zeit zu lassen und vorerst nicht in den Ruhestand zu gehen. Es war einfach noch zu früh.
Als Mark den Kopf senkte, um seinem Grandda zu signalisieren, dass er keine Lust auf ein Gespräch über die Zukunft des Familienhotels hatte, räusperte der sich resigniert, doch Mark wusste, dass er früher oder später wieder darauf zurückkommen würde. Er würde erst Ruhe geben, wenn Mark nachgab. Was vielleicht sogar zu Marks Bestem wäre.
„Also, ich gehe dann mal.“ Padraig ging weiter die Main Street entlang, um den anderen Geschäftsleuten in der Straße einen Besuch abzustatten. „Denk an den Selkie, Junge“, sagte er, ohne sich noch mal nach Mark umzudrehen. Er wusste genau, dass sein Enkel nur genervt gucken würde.
Würde der alte Mann wohl je von seiner fixen Idee ablassen, dass Mark und seine Brüder einen Selkie gerettet hatten – ein Wesen aus der keltischen Mythologie, das im Wasser ein Seehund war, sich an Land jedoch in einen Menschen verwandeln konnte? Natürlich war es kein Selkie gewesen, sondern ein Seehund, der von einer Gruppe Orcas gejagt worden war. Mark, Daniel und Conor waren mit ihrem Boot dazwischen gegangen und hatten die Orcas lange genug abgelenkt, um dem Seehund eine Chance zur Flucht zu geben.
Ihr größter Fehler dabei war nicht gewesen, sich der Gefahr auszusetzen, dass die erbosten Orcas ihr Boot umkippten, sondern ihrer Familie die Geschichte beim Sonntagsessen im Pub zu erzählen. Ihr Großvater war ganz außer sich gewesen vor Aufregung. „Der Seehund war ein Selkie“, hatte er steif und fest behauptet. „Jetzt schuldet er euch einen Gefallen.“
Seitdem bestand Padraig Delaney, sonst ein durchaus vernünftiger und intelligenter Mann, darauf, dass sie zur Belohnung die wahre Liebe finden würden. Ja, ja, wer’s glaubt …
Leider hatte Marks älterer Bruder Daniel Grandda noch in seiner fixen Idee bestärkt, indem er sich in seine Angestellte Keela verliebt hatte. Die beiden waren inzwischen verheiratet und erwarteten ein Baby, und seitdem bestand Grandda noch beharrlicher darauf, recht zu haben – vor allem, wenn er ein Glas Guinness oder zwei intus hatte. Dann verkündete er Mark, dem mittleren der drei Brüder, und Conor, dem Jüngsten, jedes Mal, dass sie als Nächstes an die Reihe kommen würden. Was für ein Schwachsinn!
„Von wegen Selkie“, murmelte Mark, als er den alten Mann die Straße entlanggehen sah. Wie kam der alte Mann eigentlich ausgerechnet jetzt darauf?
Sein Blick fiel wieder auf die andere Straßenseite. Wegen der bildhübschen neuen Nachbarin, deshalb.
Mark musste grinsen. Dann war Laurel Prescott seinem Großvater also auch aufgefallen. Er wischte sich die Hände mit dem Lappen ab, der an der Leiter hing, und ging lächelnd zurück zum B&B, obwohl sie ihn wahrscheinlich keines Blickes mehr würdigen würde, wenn er damit fertig war, ihr zu helfen.
Als Laurel zu ihrem Wagen ging, beobachtete sie verstohlen, wie Mark seine Farbdose schloss und sich dann mit einem alten Mann unterhielt.
Sie war eine verwitwete Fünfunddreißigjährige, die sich ständig selbst hinterfragte. Und Mutter eines noch trauernden Teenagers mit den üblichen Pubertätsproblemen und von vierjährigen Zwillingsmädchen zu sein, die gerade in die Vorschule gekommen waren, machte ihre Selbstzweifel nicht besser. Mit dem Geld von Alans großzügiger zweiter Lebensversicherung ein altes Haus zu kaufen und es in ein B&B zu verwandeln, war zwar ein riskantes Unterfangen, aber nachdem die letzten fünf Jahre von Alans Krebserkrankung, seiner zwischenzeitlichen Heilung und dem Albtraum eines Rückfalls zwei Jahre später überschattet gewesen waren, brauchten sie dringend einen Neuanfang. Sie alle. Nur Alan war eine zweite Chance nicht vergönnt gewesen …
Laurel musste wie immer beim Gedanken an ihren verstorbenen Mann schlucken. Das Leben ohne ihn war sehr hart gewesen und hatte seine Spuren hinterlassen, aber trotzdem wollte sie endlich wieder nach vorn blicken. Was blieb ihr auch anderes übrig?
Sie nahm ein paar kleinere Gegenstände aus dem Kofferraum ihres Wagens und lauschte unauffällig dem Wortwechsel zwischen dem alten Golfer und Mark, ihrem beunruhigend attraktiven Nachbarn, auf der anderen Straßenseite. Die Tatsache, dass der Mann ihr überhaupt aufgefallen war, gab ihr zu denken. Andererseits war er ein sehr attraktiver Mann. So, sie hatte es sich eingestanden. Wieso auch nicht?
Vor ihrem Umzug hatte sie zwei Jahre lang nur wie ferngesteuert funktioniert und gerade mal ihre Grundbedürfnisse befriedigt – abgesehen von Sex natürlich. Daran dachte sie so gut wie nie, nur in jenen Nächten, in denen sie Alan so schmerzlich vermisste, dass sie weinen musste. Sie wollte sich daher endlich ein neues Leben aufbauen, schon allein, damit es ihren Kindern wieder besser ging. Doch gleichzeitig hatte sie starke Zweifel, ob dieses B&B wirklich eine so gute Idee gewesen war.
So oder so gehörte das Haus in Sandpiper Beach jetzt ihr und erlaubte es ihr, von zu Hause aus zu arbeiten. Mit einer Festanstellung hätte sie zwar ein sicheres Gehalt, aber weniger Zeit für ihre Kinder.
Wieder spähte sie verstohlen zur anderen Straßenseite hinüber. Was war an dem Mann nur so faszinierend, dass sie den Blick kaum von ihm losreißen konnte? Sie hatte so viel um die Ohren, dass sie nicht wusste, wo ihr der Kopf stand, da konnte sie keine Ablenkung gebrauchen. Und trotzdem musste sie ihn immer wieder ansehen, sein dunkles Haar, seine leuchtend blauen Augen. So unglaublich irisch. Jünger als sie.
Also – was sprach gegen etwas Interesse oder gar eine heimliche Schwärmerei für einen Nachbarn? Vielleicht war das ja ein Zeichen, dass sie nach zwei trostlosen Jahren endlich bereit für einen Neuanfang war. Und das war doch schließlich genau das, was sie wollte, oder nicht?
Eine halbe Stunde später, in der Laurel und Mark auf dem Weg vom Auto zum Haus und zurück ständig aneinander vorbeiliefen und sich höflich zulächelten, trug er den letzten Umzugskarton die Verandastufen hoch ins Haus und sah sich um.
Die Eingangshalle und das Wohnzimmer waren frisch gestrichen, und der Stuck, der Kamin und das Holzgeländer waren liebevoll restauriert worden. Doch am beeindruckendsten war das große Esszimmer mit seinem langen Eichentisch, der Tapete im antiken Stil und dem Kronleuchter. Es würde den Gästen bestimmt gefallen.
„Sieht ja ganz toll aus“, sagte er.
„Danke. Manchmal kriege ich richtig Panik bei dem Gedanken, was passiert, wenn niemand kommt, nachdem ich so viel Geld reingesteckt habe.“
„Haben Sie schon mal ein B&B geführt?“ Seltsamerweise schoss ihm auch die Frage durch den Kopf, ob sie verheiratet war. Was ihn absolut nichts anging.
„Nein, noch nie.“ Für einen Moment wirkte sie fast verängstigt, erholte sich aber rasch wieder. „Möchten Sie ein Glas Limonade? Das ist das Mindeste, was ich Ihnen anbieten kann, nachdem Sie mir so lieb geholfen haben.“
Vielleicht ist sie ja geschieden.
Mark war eigentlich nicht der Typ, der sich spontan mit jemandem hinsetzte, um zu plaudern. Ehrlich gesagt lebte er ziemlich zurückgezogen, seitdem er aus Afghanistan zurückgekehrt war. Außer zu seinen Familienmitgliedern hatte er zu niemandem Kontakt, aber Laurel Prescott hatte etwas an sich, das ihn dazu bewog, ihr Angebot anzunehmen. „Klingt gut, danke.“
Er folgte ihr in eine Küche, die für ein so großes Haus eher von bescheidener Größe war, und warf einen Blick aus dem Fenster. Der Strand und das Meer waren nicht weit entfernt. Wahrscheinlich konnte man das Wasser von den meisten Zimmern aus sehen. „Ich würde mir nicht allzu viel Sorgen machen, dass niemand kommt. Es sei denn, Ihre Preise sind zu hoch.“
„Nein, ich habe vorher gründlich recherchiert.“ Sie öffnete einen doppeltürigen Edelstahlkühlschrank und nahm einen Krug Limonade heraus. Mark fiel auf, dass sie sich bei den Schränken und der Kücheninsel für eine moderne Variante entschieden hatte. „Ich liege mit meinen Preisen im Mittelfeld. Außer natürlich bei der Honeymoon Suite.“ Sie warf ihm einen verschmitzten Blick zu. „Die ist so schön, dass sie den hohen Preis wert ist.“
Mark hatte nie verstanden, warum man romantischen Gefühlen mit einem besonders schönen Zimmer noch mehr auf die Sprünge helfen wollte – seiner Meinung nach hatte man diese Gefühle oder nicht –, aber frisch verheiratete Paare fühlten sich vielleicht von so etwas angesprochen, während das Drumcliffe eher etwas für Familien und Rentner mit wenig Geld war.
Laurel reichte ihm ein zierliches, handbemaltes Glas mit Limonade. Anstatt es einfach in einem Zug zu leeren, wie er es sonst immer machte, probierte er vorsichtig einen Schluck des erfrischenden Zitronengetränks mit einem Hauch Minze. „Schmeckt großartig.“
„Danke. Ich habe die Limonade aus den Zitronen im Garten gemacht.“
„Wirklich lecker.“ Apropos Garten – vorhin war ihm aufgefallen, dass dort dringend Unkraut gejätet werden musste, und die Hecken brauchten auch einen frischen Schnitt. Aber wahrscheinlich hatte sie bereits einen Gärtner damit beauftragt, sodass es völlig überflüssig war, ihr seine Dienste anzubieten. Wozu auch? Er hatte im Hotel schon genug zu tun.
Laurels hausgemachte Limonade war wirklich gut. Mit so etwas konnte man Gäste dazu bringen, immer wiederzukommen … vorausgesetzt, sie fanden überhaupt hierhin. „Machen Sie eigentlich eine Eröffnungsfeier?“
Laurel trank ebenfalls einen Schluck Limonade. „Ich will ein paar Anzeigen schalten und einen Tag der offenen Tür anbieten.“
„Gute Idee.“
Sie schien sich über sein Lob zu freuen. „Ich bin in Pismo Beach aufgewachsen, deshalb weiß ich, dass die Touristensaison hier an der Küste immer lange dauert. Ist denn jemals gar nichts los?“
„Ich bin erst seit einem Jahr wieder hier und kann Ihnen das nicht wirklich beantworten. Aber ich kann mich gern bei meinen Eltern erkundigen, wenn Sie wollen.“
„Oh, sorry, ich ging davon aus …“
„Ich war zehn Jahre bei der Armee. Das Drumcliffe gehört meinen Eltern. Ich bin immer noch nicht ganz wieder hier angekommen.“
Ob sie jetzt weniger von ihm hielt, weil er im Hotel nur eine Art Mädchen für alles war? Wieder fragte er sich, warum ihn das überhaupt interessierte.
Als er zur Armee gegangen war, war er ein erfolgreicher Surfer gewesen, doch seit seiner Rückkehr aus dem Mittleren Osten – meistens Afghanistan, aber auch dem Irak –, war er nicht mehr der Alte. Er litt unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung, bewältigte seine Stimmungsschwankungen jedoch, indem er sich zurückzog und sich auf seinen Job im Hotel konzentrierte. Und aufs Surfen. Aber die Aufs und Abs gehörten zum Heilungsprozess dazu, wie sein Therapeut gesagt hatte.
Wegen eines „Abs“ waren er und seine Brüder am Tag des Vorfalls mit dem „Selkie“ zum Angeln rausgefahren. Daniel und Conor hatten ihm aus dem Loch raushelfen wollen, in dem er damals gesteckt hatte.
Mark war immer noch nicht hundertprozentig über seine Posttraumatische Belastungsstörung hinweg – er hatte immer noch ab und zu Albträume und hasste Menschenmengen –, war jedoch auf einem guten Weg. Insgesamt war er zurückhaltender Menschen gegenüber und weniger impulsiv als früher. Weniger leichtherzig. Aber vielleicht ging das ja allen Dreißigjährigen so.
Laurel sah ihn forschend aus karamellbraunen Augen an. Wahrscheinlich fragte sie sich gerade, was er alles erlebt hatte. Tja, sie war nicht die Einzige, die Fragen hatte. „Und was hat Sie hierhergeführt?“
„Oh“, sagte sie überrascht. Anscheinend hatte sie nicht damit gerechnet, dass er den Spieß umdrehen würde. „Ich habe das Meer vermisst. Als ich nach dem College geheiratet habe, bin ich zu meinem Mann ins Landesinnere nach Paso Robles gezogen, um meine Kinder großzuziehen. Vor zwei Jahren habe ich ihn verloren.“
„Das tut mir leid.“ Mark meinte das ernst, obwohl er sich kaum vorstellen konnte, wie es war, jemanden zu verlieren, den man liebte.
Seufzend trank sie einen Schluck Limonade. „Es war ganz schön hart.“
Mit harten Zeiten kannte Mark sich aus. Mitgefühl oder Empathie oder wie auch immer man das nannte, waren eigentlich nicht seine Stärke, aber sie tat ihm aufrichtig leid. Sie hatte eine Menge zu bewältigen, und ein so großes Projekt wie die Eröffnung eines B&Bs war auch kein Zuckerschlecken. „Wenn Sie Hilfe brauchen, können Sie sich jederzeit an mich wenden.“ Ich dachte, ich bin zu beschäftigt.
„Danke“, sagte sie freudig überrascht. „Ich werde bestimmt bei Gelegenheit darauf zurückkommen.“
Völlig untypisch hatte Mark gerade eine Tür geöffnet, für die er erstens keine Zeit hatte und durch die er zweitens vielleicht gar nicht gehen wollte. Zumindest noch nicht. Laurel mochte Single sein, aber sie hatte Kinder, um Himmels willen!
Plötzlich riss sie erschrocken die Augen auf. „Oh Gott, ich muss dringend die Mädchen abholen!“ Sie griff nach ihrer Handtasche und eilte zur Tür. „Heute ist ihr erster Tag in der Vorschule, da darf ich nicht zu spät kommen.“
Als Mark aufstand und ihr folgte, fiel ihm auf, dass sie Mühe hatte, die Haustür abzuschließen. „Ich kann gern nachher wiederkommen und mir das Schloss ansehen, wenn Sie wollen.“
Ihr Lächeln war so aufrichtig und so strahlend, dass er für einen Moment wie geblendet war. „Das wäre ganz toll!“ Sie eilte zu ihrem Minivan, auf dessen Rückbank sich zwei identische Kindersitze befanden.
Irgendwie musste Mark seinen antisozialen Verstand verloren habe, aber irgendwie fand er diese multitaskende Unternehmerin und Mutter verdammt sexy. Was absolut nicht zu seiner derzeitigen Lebensstrategie passte – sich bedeckt zu halten und herauszufinden, wie er in diese Welt hineinpasste … und ob er das überhaupt wollte.
Während Laurel auf dem Weg zur Vorschule die Geschwindigkeitsbegrenzung voll ausreizte, versuchte sie verzweifelt, nicht mehr an Mark Delaney zu denken. Wusste der Mann eigentlich, wie toll er aussah?
Sie sah immer noch sein aus der Stirn gekämmtes dunkelbraunes Haar vor sich, das sich hinter seinen Ohren kräuselte, seine klaren blauen Augen und seinen Dreitagebart mit einem Hauch Rot. Sein schwarzes T-Shirt, das sich über breiten Schultern und einem Waschbrettbauch spannte, seine Arme, die einem Bauarbeiterkalender alle Ehre machen würden, und die sich wie angegossen um schmale Hüften und lange Beine schmiegende Jeans.
Er sah echt heiß aus und schien das noch nicht mal zu merken. Oder es war ihm egal. Er war eine faszinierende Mischung aus sanft und abgründig, der sie einfach nicht widerstehen konnte. Was sie ganz schön beunruhigte.
Als Laurels Blick in den Rückspiegel fiel, zuckte sie erschrocken zusammen. So hatte sie also ausgesehen? Mit zerzaustem Pferdeschwanz und ohne jede Spur Make-up, noch nicht mal Lipgloss? Der Mann hielt sie wahrscheinlich für total ungepflegt.
Heftig trat sie auf die Bremse, als die Ampel vor ihr auf Rot sprang. Reiß dich zusammen! Du bist fünfunddreißig, offensichtlich älter als er, und noch dazu dreifache Mutter. Es ist völlig egal, wie du aussiehst. Er interessiert sich sowieso nicht für dich!
Trotzdem hatte Mark Delaney eine Menge fürs Auge zu bieten, und sie war weder blind noch tot. Zumindest noch nicht, auch wenn sie sich manchmal so fühlte. Im Grunde war ihre Reaktion auf ihn ein gutes Zeichen, nach allem, was sie durchgemacht hatte, oder? Sie löste das Haargummi und ließ ihr Haar offen auf die Schultern fallen.
Als sie in den Parkplatz bog, betete sie, dass ihre Töchter nicht die Letzten waren, die abgeholt wurden. Sie hatten wegen des Todes ihres Vaters schon genug Verlustängste und verdienten endlich ein normales, glückliches Leben.
Als sie an ihren vierzehnjährigen Sohn Peter dachte, schnürte sich ihr der Hals zu. Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, sich Gedanken um ihn zu machen. Erst mal waren die Mädchen dran.
Sie parkte den Wagen und lief ins Klassenzimmer. Gracie und Claire saßen an einem Tisch und legten gerade ein Puzzle mit einem kleinen Mädchen mit Gipsbein, das sie bei der Einführungsveranstaltung kennengelernt hatten. Wie hieß es noch mal … Anna, oder?
„Darf Anna mit uns nach Hause kommen? Ihre Mom ist noch nicht da“, fragte Claire, die zwölf Minuten älter war und eindeutig den Ton angab bei den Zwillingen.
„Ich bezweifle, dass die Schule Kinder einfach so mit jemandem nach Hause gehen lässt“, antwortete Laurel diplomatisch.
„Man daf nicht mit Femden mitgehen“, schaltete Gracie sich ein.
„Wir sind aber keine Fremden“, korrigierte ihre Schwester sie. „Wir haben schon zusammen gespielt.“ Mit dem Mittelfinger schob sie ihre rosa Brille hoch.
„Ich kann mich noch erinnern. Du auch, Annie?“
„Sie heißt Anna.“
Die Zwillinge waren nicht geplant gewesen. Laurel war ein Jahr nach Alans Leukämieerkrankung schwanger geworden – fast zehn Jahre nach Peters Geburt.
Als Alan dann ein Jahr nach der Geburt der Mädchen einen Rückfall bekommen hatte, waren sie alle so davon absorbiert gewesen, dass Gracies chronische Mittelohrentzündung zu spät erkannt worden war. Die Flüssigkeit in ihrem Innenohr hatte ihr Gehör so stark beeinträchtigt, dass sie langsamer sprechen lernte als ihre Schwester. Inzwischen hatte sie zwar Röhrchen im Trommelfell, die ihr Gehör verbesserten, aber trotzdem sprach sie Wörter oft falsch aus, worauf Claire sie nur allzu gern hinwies.
„Ach, da bist du, Anna“, hörten sie eine atemlose Stimme mit unverkennbar irischem Akzent hinter sich. „Tut mir leid, dass ich so spät komme.“
„Macht nichts, Mom. Ich spiele gerade mit meinen Freundinnen.“
Die Frau richtete die Aufmerksamkeit auf Laurel. „Ich glaube, wir haben uns schon am Einführungsabend kennengelernt, oder? Ich bin Keela. Wir hatten in letzter Sekunde noch einen Notfallpatienten in der Praxis, deshalb bin ich so spät dran.“
Laurel lächelte. Sie wohnte zwar erst seit einer Woche in der Stadt, hatte aber bereits auf dem Wochenmarkt von der Physiotherapiepraxis und von Daniels nicht lange zurückliegender Hochzeit mit einer Irin gehört. In einer Kleinstadt wie Sandpiper Beach sprachen sich solche Dinge eben schnell herum.
„Ich bin auch gerade erst angekommen. Ehrlich gesagt sieht es nicht so aus, als hätten die Mädchen uns schmerzlich vermisst.“
„Gut möglich.“
„Die drei können sich ja irgendwann mal nachmittags verabreden“, schlug Laurel vor.
„Das wäre toll. Vielleicht an einem Samstag?“
Die beiden Frauen tauschten Telefonnummern aus, bevor sie gingen.
Als Mark am späten Nachmittag mit seiner Werkzeugkiste zu Laurels B&B ging, um ihr Türschloss zu reparieren, war er mit dem Streichen der Dachrandverkleidung fertig und hatte sogar schon mit dem Pavillon angefangen, den seine Mutter unbedingt für Hochzeitspaare und deren Gäste im Garten haben wollte. Einer der Vorteile, wenn man in einem Hotel aufwuchs, war, dass man handwerklich sehr geschickt und vielseitig wurde.
Laurel war im Vorgarten, als er die Straße überquerte. Zwei kleine Mädchen in gestreiften Leggings und dunkelblauen Oberteilen saßen auf den Verandastufen. Laurel wirkte etwas gestresst, denn sie stritt sich gerade mit einem schlaksigen Jungen mit strubbligen Haaren, der noch nicht ganz in seine Nase hineingewachsen war. Er trug eine Cargohose und ein altes, ausgeblichenes Bart-Simpson-T-Shirt.
Mark spielte schon mit dem Gedanken, sich wieder umzudrehen, aber der hitzige Wortwechsel zwischen Mutter und Sohn bewog ihn, weiterzugehen. Vielleicht konnte er Laurel ja auch bei diesem Problem behilflich sein.
„Peter, ich habe im Moment einfach zu viel um die Ohren!“
„Ich bin es leid, die beiden Nervensägen überall mit hinzuschleppen!“, kiekste der Junge, der anscheinend gerade im Stimmbruch war.
„Wir sind keine Nervensägen!“, rief die Kleine mit der Brille empört.
„Ich bitte dich ja nur, auf die Mädchen aufzupassen, solange ich Besorgungen mache. Ist das denn zu viel verlangt?“
„Ich habe keine Lust, ständig den Babysitter zu spielen!“
Die beiden blonden Mädchen sahen aus wie eineiige Zwillinge, allerdings trug das eine eine Brille und das andere war etwas kleiner, so konnte man sie unterscheiden.
„Singst du mit uns?“, fragte die mit der Brille.
„Bitte!“, bat die andere.
Ohne die Antwort ihres Bruders abzuwarten, stimmten sie ein Lied an, dessen Inhalt sie mit den Händen nachzeichneten. Laurel und Peter fuhren fort, sich zu streiten.
„Du weißt doch, dass ich dann doppelt so lange brauche!“
„Mir doch egal!“
Mark verlangsamte seine Schritte. Was sollte er jetzt tun? Einfach weitergehen und so tun, als habe er nichts von ihrem Streit mitgekriegt? Nein, das würde man ihm nicht abnehmen.
„Okay, dann bitte ich dich nicht mehr, sondern verlange von dir, hier zu bleiben!“
„Ich brauche auch mal etwas Zeit für mich allein!“ Peter schlug sich mit einer Faust gegen die Brust. „Du bist doch diejenige, die immer sagt, sich soll mich in der Stadt umsehen und andere Leute meines Alters kennenlernen!“
Mark blieb drei Meter vom Gartentor entfernt stehen. Wenn jemand das Bedürfnis nachvollziehen konnte, allein zu sein, dann er. Er zog sich praktisch nur noch zurück, seitdem er nach Hause zurückgekehrt war.
Laurel blieb hart. „Ich brauche aber deine Hilfe!“
„Ich gehe jetzt!“
Mark konnte sich gut vorstellen, wie hart es für einen Jungen sein musste, keinen Vater mehr zu haben, wenn man ihn am dringendsten brauchte, aber es passte ihm nicht, dass er hier seine Wut an seiner Mutter ausließ. Also beschloss er, sich doch einzumischen und Laurel den Rücken zu stärken. „Ist der Zeitpunkt gerade ungünstig?“
„Ach, Mark.“ Laurel sah ihn halb verunsichert, halb frustriert an. Ihre Wangen waren gerötet und ihre Augen dunkel.
Als Peter sich unauffällig Richtung Gartentor entfernte, lächelte Mark ihm freundlich zu. „Hallo, ich bin Mark. Schön, dich kennenzulernen.“
Die einzige Reaktion des Jungen war ein vernichtender Blick. Seine Wut war nicht zu übersehen. Und zwar nicht nur auf Mark oder seine Mutter, sondern auf das Leben im Allgemeinen.
Die Mädchen sangen immer noch. Ihre Art, mit Stress umzugehen?
Peter funkelte die beiden genervt an, bevor er Mark und seiner Mutter den Stinkefinger zeigte und Richtung Strand davonlief.
„Peter!“, rief Laurel aufgebracht hinter ihm her.
Mark spielte mit dem Gedanken, Peter hinterherzulaufen und ihm gründlich den Marsch zu blasen, unterdrückte diesen Impuls jedoch, da es ihm nicht zustand.
Man musste schon sehr mutig oder verzweifelt sein, um einen Wildfremden in Gegenwart seiner Mutter zu beleidigen, das musste er Peter lassen. Laurel war wirklich nicht zu beneiden. Zumal Pensionsgäste in der Regel keine familiären Auseinandersetzungen mit anhören wollten.
Laurel rief wieder nach Peter, der keinerlei Anstalten machte, stehen zu bleiben oder sich umzudrehen. Verzweifelt raufte sie sich die Haare. Offensichtlich wusste sie nicht, ob sie die Verfolgung aufnehmen oder ihn ziehen lassen sollte.
Die Mädchen hatten inzwischen aufgehört zu singen und lehnten sich an Laurels Beine. Sie rieb ihnen die Schultern, was eine sichtlich entspannende Wirkung hatte. Dann brachte sie sie zurück zur Veranda.
„Willkommen in meiner Welt“, sagte sie niedergeschlagen zu Mark.
Zehn Minuten später probierte Mark den Schlüssel aus, den Laurel ihm für die störrische Haustür gegeben hatte. Um ihn nicht zu stören, durften sich die Kleinen eine Kindersendung im Fernsehen ansehen, während Laurel ihnen einen Snack in der Küche zubereitete.
Mark sprühte Graphitpulver in das Schlüsselloch, schob den Schlüssel ein paarmal ins Schloss und wieder heraus, bevor er ihn zu drehen versuchte. Es klappte sofort.
In diesem Augenblick betrat Laurel mit einem Teller Kekse die Veranda, setzte sich in den ersten der auf der vorderen Veranda aufgereihten Schaukelstühle und streckte die schlanken Beine aus. Sie hielt Mark den Teller hin. „Was halten Sie von einem Tauschhandel?“, fragte sie schelmisch.
„Arbeit gegen Schokoladenkekse? Genau mein Ding.“ Er griff nach einem Keks und schob ihn sich in den Mund. Er zerschmolz förmlich auf der Zunge. „Und ich komme sogar noch besser dabei weg.“
Sie lachte, was ihn freute. Und was für ein Lachen sie hatte – es hellte ihr ganzes Gesicht auf.
Unvermittelt wurde sie ernst. „Er trauert noch, wissen Sie?“ Sie sah Mark an, als sei es ihr sehr wichtig, dass er verstand, warum ihr Sohn vorhin so unhöflich gewesen war.
„Ich habe mir schon so etwas gedacht. Jemand wie Sie würde so ein Verhalten sonst bestimmt nicht durchgehen lassen.“
Sie lehnte den Kopf gegen die Rückenlehne des Schaukelstuhls und knabberte an einem Keks. „Er gibt mir für alles die Schuld. Manchmal glaube ich, sogar für den Krebs seines Vaters.“
„Soweit ich mich erinnere, ist es auch so schon schwierig genug, ein Teenager zu sein. Wenn man dann auch noch einen Elternteil verliert, ist es doppelt so hart.“
„Er war erst zwölf, als Alan starb, aber schon lange vorher drehte sich in unserer Familie alles um Alans Krankheit. Peter hat eine Menge verpasst, das für andere Kinder selbstverständlich war. Wie schlimm muss das alles für ihn gewesen sein, wenn es mich schon fast umgebracht hat?“
Mark war irgendwie gerührt, dass sie sich ihm gegenüber so schnell öffnete. Er verspürte den Wunsch, ihr etwas zurückzugeben, aber er war etwas außer Übung. „Wie alt ist er jetzt – vierzehn?“
Sie nickte, ohne Mark anzusehen. Wieder biss sie nachdenklich in ihren Keks. „Wahrscheinlich weiß er einfach nicht, wie er wieder aus seinem Tief rauskommen soll. Vielleicht braucht er einen kleinen Anstoß oder so.“
Das Thema war Mark unangenehm. Er könnte nämlich das Gleiche über sich selbst sagen.
„Wir haben es schon mit einer Therapie versucht. Eine Weile ging er zu einer Teenager-Trauergruppe, aber dann wollte er plötzlich nicht mehr, und ich konnte mich nicht überwinden, ihn zu zwingen.“
Er nickte verständnisvoll. „Wahrscheinlich hat er Angst vor seinen Gefühlen. Er hat so lange so gelitten, dass er so etwas nie wieder durchmachen will.“
Sie seufzte. „Ich weiß nicht.“ Wieder sah sie Mark an – diesmal so intensiv, dass sie dabei an etwas rührte, das tief in ihm vergraben war. Spürte sie seinen Schmerz? „Sie hätten bestimmt nicht damit gerechnet, in meine familiären Probleme mit reingezogen zu werden, als sie mir angeboten haben, das Türschloss zu reparieren, oder?“
Er zwang sich zu einem Lächeln, weil sie gerade ein freundliches Gesicht gebrauchen konnte. Um seine plötzlich aufsteigenden Emotionen zu verdrängen, konzentrierte er sich auf ihr schulterlanges Haar. „Ist schon okay. In jeder Familie gibt es Probleme.“
Skeptisch hob sie die Augenbrauen, doch dann sah sie plötzlich ganz schuldbewusst aus. „Sorry, ich weiß selbst nicht, warum ich Ihnen einfach so meine Lebensgeschichte erzähle.“
„Keine Sorge. Reden Sie gern weiter, wenn Ihnen danach zumute ist.“
Wieder folgte ein intensiver Blickwechsel, nach dem Laurel anscheinend zu dem Schluss kam, dass sie sich für heute genug geöffnet hatte, denn sie lehnte sich zurück und biss wieder von ihrem Keks ab. Was aus irgendeinem verrückten Grund total sexy aussah.
Mark beschloss, das Thema zu wechseln. Er wollte nämlich nicht, dass sie ihm womöglich noch Fragen zu seiner eigenen Vergangenheit stellte. „Wenn Sie mir noch einen Keks geben, überprüfe ich gern noch die Schlösser an den Gästezimmertüren.“
Ihr Lächeln wirkte fast erleichtert, als sie ihm den Teller hinhielt. „Einverstanden.“
Als Mark kurz darauf die Treppe hochstieg, fiel ihm auf, dass sich im Obergeschoss nur Gästezimmer mit ihren Bädern befanden. Laurel und die Kinder mussten im hinteren Teil des Hauses im Erdgeschoss wohnen.
Wie aus dem Nichts fragte er sich, wie sie wohl aussah, wenn sie nicht ganz so gestresst war wie jetzt, beschloss jedoch, diesen Gedanken nicht weiterzuspinnen. Wozu auch? Laurel hatte zu viel um die Ohren für eine Beziehung, und das Letzte, was er gebrauchen konnte, war eine Frau mit Kindern.
Nachdem er sämtliche Türen überprüft hatte, nahm er seine Werkzeugkiste und ging nach unten in die Küche, wo Laurel gerade Äpfel und Möhren schnitt. Für einen Moment blieb er in der Tür stehen und genoss den Anblick. „So, ich bin fertig.“ Er stellte eine kleine Flasche Graphit auf die Kücheninsel. „Sollten Sie wieder Probleme mit den Schlössern bekommen, nehmen Sie das hier.“
Laurel hörte auf zu schneiden und hob den Blick zu ihm. „Vielen Dank!“
In diesem Augenblick stürmten die Zwillinge in die Küche. Anscheinend war die Fernsehsendung vorbei „Wir haben Hunger!“, verkündete Claire, die Wortführerin der beiden.
„Ja, mein Magen murrt“, ergänzte Gracie.
Laurel warf beiden je ein Stück Möhre und Apfel zu. Überraschenderweise akzeptierten sie das Angebot und zogen sich zufrieden kauend in den Garten zurück.
„Sie wundern sich wahrscheinlich über Gracies Art zu sprechen, oder?“, fragte sie.
„Na ja, sie hat eine interessante Art, die Dinge auszusprechen.“
Laurel stützte seufzend Ellenbogen und Unterarme auf die Kücheninsel – eine Körperhaltung, die viel zu reizvoll war für seinen Geschmack. „Nach Alans Erkrankung war ich so mit ihm und seinen Bedürfnissen beschäftigt, dass ich gar nicht gemerkt habe, dass Gracie Wasser in den Ohren hatte. Ich dachte, sie ist einfach noch klein und redet deshalb so. Erst nach Alans Tod ging ich mit den beiden zum Kinderarzt. Gracie brauchte Röhrchen, und Claire versagte beim Sehtest. Ich hatte von beidem überhaupt nichts mitgekriegt.“ Sie wirkte total schuldbewusst.
„Sie hatten nun mal eine Menge um die Ohren. Das Wichtigste ist doch, dass es nichts Lebensbedrohendes war und Sie sich um das Problem gekümmert haben.“ Er trat einen Schritt dichter an die Kücheninsel heran. „Vielleicht sollten Sie aufhören, so hart zu sich selbst zu sein.“
Sie blinzelte überrascht. „Finden Sie?“, fragte sie überrascht. „Vielleicht sollte ich Sie als Coach anheuern. Sie machen das wirklich gut.“
„Ha! Zuerst müssten Sie mir einen besorgen.“
„Ach ja?“, fragte sie überrascht. „Was ist Ihnen denn so widerfahren?“
Ihr neugieriger Blick brachte ihn etwas aus dem Konzept. „Zehn Jahre bei der Armee. Einsätze im Irak und in Afghanistan. Mehr muss ich wohl nicht sagen, oder?“
Für einen Moment wirkte sie ganz erschrocken, doch dann wandelte sich ihr Gesichtsausdruck, und sie sah ihn voller Verständnis und Mitgefühl an. Mark hatte plötzlich das seltsame Gefühl, dass sie für einen Augenblick verwandte Seelen waren – zwei Menschen, die harte Zeiten durchgemacht und sich immer noch nicht ganz davon erholt hatten.
Er hatte einen Weg gefunden, mit seinem Schmerz umzugehen. Jeden Nachmittag nahm er sein Surfbrett und ging zum Strand, um Wellen zu reiten. Was früher einmal seine große Leidenschaft gewesen war, war inzwischen eine Art Trost für ihn – wirksamer als Tabletten oder kaltes Bier.
Seltsam, wie die Dinge sich änderten. Er nahm an, dass sein Bedürfnis, zumindest einmal am Tag ganz für sich zu sein – allein mit dem Meer und der Natur – eine Menge mit seiner Posttraumatischen Belastungsstörung zu tun hatte. Abgesehen vom Geschrei der Möwen war es da draußen erstaunlich ruhig – der perfekte Ort, um abzuschalten. Aber was auch immer der Grund war – surfen war ihm immer noch wichtig, und er brauchte es.
Vor allem heute hatte er es bitter nötig.
Als Laurel begann, die Kücheninsel mit einem Schwamm abzuwischen, beschloss Mark zu gehen, doch irgendetwas hielt ihn noch zurück. Es war, als würde sein Körper nicht auf seinen Verstand hören wollen, der ihm riet, sich nicht in ihr Leben hineinziehen zu lassen. „Rufen Sie einfach an, wenn Sie etwas brauchen, okay?“ Jetzt machte auch noch sein Mund, was er wollte! Als Marks Blick auf einen Notizblock mit Kugelschreiber fiel, kritzelte er seine Handynummer darauf und ging.
„Das wird Ihnen bestimmt noch leidtun!“, rief sie halb im Scherz hinter ihm her.
Ehrlich gesagt bereute er es jetzt schon. Warum sollte er das Leben eines anderen Menschen in Ordnung zu bringen versuchen, wenn er sein eigenes noch nicht auf die Reihe kriegte? Den Frust konnte er sich sparen!
Trotzdem ertappte er sich dabei, wie ein Idiot zu grinsen, als er auf die Veranda hinaustrat. Und das nur, weil er zum ersten Mal seit seiner Entlassung aus der Armee einer Frau seine Telefonnummer gegeben hatte!
Eine halbe Stunde später ging Mark mit seinem Surfbrett unterm Arm zum Strand. Als mittlerer Bruder hatte er sich schon früh gegen die Rolle des Vermittlers entschieden und war stattdessen Surfer geworden, was sich absolut bezahlt gemacht hatte. In Sachen Beliebtheit, Mädchen und Respekt. Auf der Highschool hatte er sogar eine Surf-AG gegründet und bei Wettbewerben ein paar Preise gewonnen.
Der Wind hatte aufgefrischt, sodass sich das Meer in der Ferne bereits zu Wellen auftürmte. Der Anblick brachte Mark zum Lächeln. Im Wasser tummelten sich die üblichen Verdächtigen in Neoprenanzügen, die meisten nur halb so alt wie er. Wahrscheinlich waren sie schon seit heute Morgen hier.
Auf halbem Weg zum Strand kam er an einer Gruppe laut pöbelnder Halbwüchsiger vorbei. Bei näherem Hinsehen handelte es sich um fünf Jungs mit hippen Skater-T-Shirts, die jemanden ärgerten, der viel kleiner war als sie.
Mark erkannte das strubblige hellbraune Haar, die Nase und das Bart-Simpson-T-Shirt des Opfers sofort wieder – Peter. Er hatte den Blick starr auf seine Flip-Flops gesenkt und schien sich äußerst unwohl zu fühlen, ließ sich jedoch von den Arschlöchern mobben. Aber was blieb ihm auch anderes übrig? Es waren fünf gegen einen.
Mark legte sein Brett hin und ging auf die Gruppe Jugendlicher zu. „Hey, Peter, ich habe schon nach dir gesucht! Es wird Zeit für deine Surfstunde.“
Peter hob den Kopf und sah ihn verblüfft an. Auch die anderen Jungs wirkten überrascht.
Mark ging weiter, als sei alles in bester Ordnung, suchte jedoch Blickkontakt mit dem Anführer, um ihm zu signalisieren, dass er genau wusste, was los war und jetzt Schluss damit war.
Einer der Vorteile – oder auch Nachteile, je nachdem, in welcher Stimmung Mark gerade war –, Sandpiper Beachs Surf-Champion zu sein, war, dass er stadtbekannt war. Sein Foto mitsamt Trophäe und gebleichtem Haar hing immer noch in der Highschool. Diese Loser oder Möchtegern-Halbstarken hier wussten daher, wer er war, so wie sie ihn anstarrten. Oder zumindest, wer er mal gewesen war.
„Wir albern nur ein bisschen mit dem Neuen herum.“
„Wir wussten nicht, dass er Sie kennt.“ Der Größte schubste Peter in Marks Richtung.
„Ich bin Peters Surflehrer. Er ist ein Naturtalent. Wir sehen uns.“
Mark ging mit Peter zurück zu seinem Surfbrett. Hoffentlich wussten die Typen jetzt, dass er sie im Auge behalten würde. So viel zu seinem Vorsatz, sich nicht in Laurel Prescotts Leben hineinziehen zu lassen.
„Erzählst du mir, was da gerade los war?“, forderte er den Jungen auf, als sie außer Hörweite der anderen waren.
„Ich saß gerade am Strand und las ein Buch, als sie plötzlich auftauchten und anfingen, mich zu ärgern. Arschlöcher!“
„Idioten gibt es eben überall.“
„Nein, für sie bin ich ein Nerd, weil ich anders bin als sie. Dünn, zu große Nase.“ Seine Wut war so deutlich spürbar, dass die Luft in seiner Gegenwart dicker zu sein schien.
Seit seinem Gespräch mit Laurel wusste Mark, dass Peter noch immer um seinen Vater trauerte, was ihn zur leichten Beute machte. Aus irgendeinem Grund hatten Arschlöcher ein gutes Gespür für Verletzlichkeit. „Hey, hast du dir die Typen mal angesehen und ihnen zugehört? Die haben gut reden! Sie haben dich wahrscheinlich nur geärgert, weil du der Neue bist und noch keine Freunde hast, die sich für dich stark machen. Aber das wird sich schon bald ändern.“
„Nicht, wenn ich ständig auf meine vierjährigen Schwestern aufpassen muss. Das ist nicht gerade cool.“
Ach, deshalb hatte er sich vorhin so heftig mit Laurel gestritten. Ob sie wusste, was dahintersteckte?
„Stimmt, aber Mädchen finden das bestimmt total süß.“
Peter verzog das Gesicht, als hätte Mark gerade etwas unglaublich Dämliches gesagt.
„Warum trägst du eigentlich das Bart-Shirt? Ist der wieder in Mode?“
Peter senkte den Blick zu seiner Brust. „Es hat meinem Dad gehört.“
Mark wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Der Junge vermisste seinen Vater offensichtlich immer noch sehr.
Schweigend gingen sie weiter, den Blick auf die Wellen gerichtet.
„Also, nachdem ich dich zu meinem Schüler erklärt habe, sollten wir vielleicht Ernst machen“, sagte Mark irgendwann. „Zieh den Bart Simpson aus. Trägst du Shorts unter deiner Cargohose?“
Peter nickte.