Der Rachefeldzug – Beer tapping

WG-Küche: 18.00 Uhr

Die Silvesterparty, von der ich euch erzählen möchte, fing eigentlich an wie jede unserer WG-Partys. Wir verbrachten den Vormittag damit, große Mengen an Pfandflaschen für schlechte Zeiten in den Keller zu schaffen, riesige Berge von alten Pizzaschachteln ins Altpapier zu befördern und dem Kater, als Vorbereitung beziehungsweise vorzeitige Wiedergutmachung für das, was in den nächsten Stunden kommen würde, eine halbe Dose Thunfisch hinzustellen. Da wir bis zum Eintreffen der ersten Gäste noch etwas Zeit hatten, googelte ich an meinem Rechner vorsorglich die Paragraphen des BGB und StGB bezüglich Ruhestörung und Erregung öffentlichen Ärgernisses, als ich an einer meiner Zimmerwände einen dumpfen Schlag vernahm. Dem Schlag folgten Flüche, Drohungen, Beleidigungen und die Kündigung einer Freundschaft. Wären Vorkommnisse solcher Art in der Kölner Straße 13a in den letzten drei Jahren nicht an der Tagesordnung gewesen, wäre ich vielleicht beunruhigt aufgestanden, um nach dem Rechten zu sehen. Wenige Minuten später hörte ich aber schon wieder die vertrauten, freundschaftlichen Sticheleien und Vorwürfe einer typischen FIFA-Partie. Mattes, einer unserer Nachbarn, war offenbar schon eingetroffen und hatte meinen Mitbewohner Tom zu einer weiteren Partie in ihrem gefühlt nie endenden Kampf auf dem virtuellen Rasen herausgefordert. Ich glaube, in den frühen Stunden dieses Silvesterabends führte Mattes die ewige Tabelle mit 174 Siegen an und war damit fast uneinholbar geworden. Viel wichtiger als der Tabellenplatz war daher das Einzelergebnis der letzten Woche, denn hier lag Mattes mit acht Siegen nur sehr knapp, um genau zu sein nur einen Sieg, hinter Tom.

Begonnen hatte diese Auseinandersetzung vor fast genau drei Jahren, kurz nachdem Mattes mit seiner englischen Bulldogge Wilhelm in die große Wohnung über uns eingezogen war. Als der riesige, gutmütige Hund eines Tages in unserer Küche gestanden und den Kater in Angst und Schrecken versetzt hatte, kam Mattes hinterhergestolpert – und ist seitdem eigentlich nie wieder gegangen.

Genau wie sein Hund ist auch Mattes gebürtiger Brite, der aber nach einer kurzen Jugend im Land von Sperrstunde und Tea time im Ruhrpott sozialisiert wurde. Seine britischen Wurzeln erkennt man im Grunde nur noch an ein paar Marotten, die er einfach nicht losgeworden ist oder vielleicht auch gar nicht loswerden wollte. Neben seiner glühenden, fast fanatischen Verehrung einiger britischer Fußballclubs und der Queen sind die auffälligsten sein Trinkverhalten und die Vorliebe für kleines, staubtrockenes Gebäck.

Mattes’ Trinkverhalten lässt sich am besten als das eines Binärtrinkers beschreiben und erinnert stark an die längst vergangenen Tage, in denen man, kurz bevor die Glocke in der Kneipe die letzte Runde einläutete, noch alles, was auch nur im Entferntesten nach Alkohol aussah, in sich hineinschüttete. Auch, wenn die Sperrstunde schon lange abgeschafft worden ist, schafft es Mattes trotzdem, auf jeder Party nur zwei diskrete Zustände einzunehmen: Er ist stocknüchtern, bis irgendwann vollkommen unvermittelt seine innere Glocke zur letzten Runde läutet und er von einem auf den anderen Moment so betrunken wirkt, dass er selbst David Hasselhoff und Harald Juhnke harte Konkurrenz macht. Auch, wenn ihn jeder von uns nach so einer Party schon eine Etage nach oben in seine Wohnung, oder sogar den weiten Weg nach Hause schleppen musste, weil ihn kein Taxi mehr mitnehmen wollte, war ihm selten jemand besonders lange böse. Grund hierfür ist eine andere seiner seltsamen Angewohnheiten, die jeder in unserem Haus zu schätzen weiß. Mattes selbst nennt diese Angewohnheit »Backen mit Hass«. Hinter dieser leicht brachial wirkenden Bezeichnung verbirgt sich nichts anderes als die Tatsache, dass Mattes seit frühester Kindheit an Schlafstörungen leidet und seine Nächte allzu oft schlechtgelaunt mit den Wiederholungen nachmittäglicher Koch- und Backshows verbrachte. Folge dieser vielen, fast schlaflosen schlechtgelaunten Nächte ist, dass Mattes seine Back- und Konditorkünste zu einer Perfektion getrieben hat, die keiner von einem über und über tätowierten englischen Buchhalter erwarten würde. Hatte Mattes mal wieder seine innere Sperrstunde überschritten, trug ihn jeder von uns gern heim, wussten wir doch, dass am nächsten Tag eine kleine Auswahl an Törtchen vor unserer Wohnungstür liegen würde. Zwar wird Engländern gerade beim Essen schlechter Geschmack nachgesagt, aber in den Jahren nach meiner WG-Zeit habe ich nie wieder auch nur vergleichbares Gebäck verköstigen dürfen.

Ein kurzes grummeliges »’tschuldigung, mir is der Controller aus der Hand gerutscht« bestätigte meinen ersten Verdacht, dass es sich bei dem dumpfen Geräusch aus der Küche um einen unserer PS3-Controller gehandelt haben musste, der mit voller Wucht gegen die Wand geschlagen worden war. Tom kannte ich zu dieser Zeit schon mein halbes Leben lang und wusste, dass den bärtigen, glatzköpfigen Religionslehrer eigentlich nichts so leicht aus der Fassung bringen konnte, es sei denn, es handelte sich um eine Partie FIFA gegen Mattes – da konnte schon mal so ein Controller quer durch die Küche fliegen.


Möchten Sie gerne weiterlesen? Dann laden Sie jetzt das E-Book.