Wir schreiben das Jahr 1924. Der bekannte Mäzen und Musikexperte Christoph Wagenrad hat sich in ein junges Mädchen verliebt, das seiner verstorbenen Frau, einer berühmten Pianistin, ähnlich sieht. Gisela Liebwies soll nun ebenfalls zum Star aufgebaut werden – wofür ihr leider jegliches Talent fehlt. Durch Drohungen und Erpressungen Wagenrads schafft sie aber nicht nur die Aufnahme ans Konservatorium, sondern wird bei der abschließenden Musikdarbietung sogar die Hauptrolle singen. Aus Angst vor der größten Blamage seines Lebens gibt der Leiter der Musikschule eine Oper in Auftrag, bei der die Hauptdarstellerin beinahe ohne Stimme auskommt: Die Gräfin der Stille. Dass diese Komposition nicht von August Gussendorff stammt, der sich dafür feiern lässt, sondern in Wahrheit aus der Feder seiner Frau Ida, muss ja auch niemand erfahren. Eine wunderbar bösartige Geschichte über falschen Glanz, Eitelkeit und die Gier nach Ruhm – und wahre Schönheit, die mit all dem nichts zu tun hat.
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Liebwies
Roman
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Später würde die Geschichte anders erzählt werden.
Man würde sagen, Gisela Liebwies wäre schon immer eine strahlende Persönlichkeit mit außergewöhnlicher Stimme gewesen, die ihr Dorf wie ein Stern erleuchtet und an deren Zukunft als berühmte Sängerin niemand je gezweifelt hatte.
Man würde sagen, Ida Gussendorff wäre die wenig bedeutende Ehefrau eines genialen Dichters und Komponisten gewesen, deren einzige wirklich bemerkenswerte Tat es war, von den Nationalsozialisten verhaftet zu werden.
Es ist aber nun mal die seltsame Eigenschaft der Zeit, Geschehenes in schwammige Erinnerung und schließlich in Lügen zu verwandeln.
Die wahre Geschichte beginnt nämlich nicht mit der zauberhaften Gisela und auch nicht mit der langweiligen Ida. Die Geschichte beginnt mit einem alten Lehrer namens Walther Köck, der im großen Krieg nicht nur den letzten Batzen Patriotismus, sondern auch die linke Hälfte seiner Nase verloren hatte, alles und jeden hasste und in das kleine Dorf Liebwies kam, um dort an der Volksschule zu unterrichten. Das war ein katastrophaler Abstieg für einen, der einst an einem privaten Bubengymnasium in der Großstadt Musik unterrichtet hatte, und es wäre auch für weniger feine Herrschaften ein katastrophaler Abstieg gewesen.
Welcher Teufel Köck geritten hatte, als er sich ausgerechnet nach Liebwies und somit zu Gisela verirrte, muss derselbe Teufel gewesen sein, der auch die Zügel in seinen Klauen gehalten hatte, als Köck sich als Freiwilliger zum Armeedienst meldete. Er hatte niemals zuvor patriotische Gefühle gehegt, aber als der Krieg nun einmal da war, hatte er gerufen: »Unsere Zeit erfordert Enthusiasmus und Einigkeit zu unserer Errettung!«
Damit könnte er recht gehabt haben oder auch nicht, in jedem Fall konnte er die Zeit trotz seinem tapfer durchgestandenen Kriegsdienst nicht vor Veränderungen bewahren.
Köck war aus dem Krieg heimgekehrt, als er schon als hoffnungslos verschollen gegolten hatte. Seine Ankunft war eine unangenehme Überraschung für alle Beteiligten: Seine Frau hatte sich bereits um Ersatz gekümmert (einen jungen Offizier, dessen Nase unverschämt ganz geblieben war).
Köcks Vorgesetzter, der Direktor des Bubengymnasiums, befand sich in der peinlichen Situation, umständlich erklären zu müssen, dass das Fach Musikerziehung ebenso wie der dazugehörige Lehrerposten gestrichen worden war. »Der finanzielle Engpass und Ihr angeblicher Tod haben sich da wunderbar getroffen, nun, nicht gar so wunderbar, da Sie ja noch leben …«
Köck fühlte sich verraten. Die ganze Welt schien sich lustig zu machen über ihn, der, humpelnd und schwer durch ein einziges Nasenloch atmend, einen Orden verdient hätte. Nicht, dass er gar keine Orden erhalten hätte. Er hatte schon das eine oder andere Stück Metall angesteckt bekommen, jedoch nichts Besonderes, nur diese Auszeichnungen, die quasi zur Grundausrüstung eines Wehrdieners gehörten.
Aber er sehnte sich auch nicht nach militärischen Orden. Es waren göttliche Orden, die er verdient hätte.
Im Krieg hatte er sich eine Gerechtigkeit ausgemalt, die dem vielgeprüften Helden, also ihm selbst, am Ende der Geschichte widerfahren müsste. Und dieses Ende der Geschichte hatte er sich genau dort vorgestellt, wo er nach harten Jahren des Kampfes, der Angst und der Gefangenschaft endlich in seiner geliebten Heimatstadt aus dem dreckigen Zug stiege, seine geliebte Frau sich in seine Arme würfe und er seine geliebte Stelle am Gymnasium wiederaufnähme.
Und da das alles nicht geschehen war, wünschte er sich wenigstens, dass das Kaiserreich wieder ausgerufen würde. Nicht, weil er etwa Monarchist gewesen wäre. Er war im Grunde politisches Ödland. Was man nicht in Triolen und Sechzehntel zerlegen oder wenigstens küssen konnte, interessierte ihn herzlich wenig. Aber als er nun plötzlich wieder in seiner Stadt, in den ihm bekannten Straßen wandelte, traf ihn die ganze Wucht der Sinnlosigkeit. Sein Leben im Allgemeinen und die Kriegsjahre im Speziellen schienen ihm plötzlich wie feuerfeste Zündhölzer oder staubtrockenes Wasser, und er hatte eine ganze Liste solcher Vergleiche in seinem Kopf, die ihm sagten, dass er nicht getan hatte und niemals tun könnte, wozu er geschaffen war, weil sein gesamtes Leben samt der ganzen Welt eine Fehlkonstruktion darstellte.
Verstört irrte er durch die Straßen, und er war nicht der einzige. Alle schienen etwas oder jemanden zu suchen, alle waren verkrüppelt, auch die, die nicht auf dem Schlachtfeld gewesen waren, auch die Kinder, auch die Frauen.
»Und dafür«, sagte er sich, »habe ich mein Leben geopfert!« Er übertrieb natürlich, denn er war lebendiger als so mancher, und vielleicht hätte er trotz seines ramponierten Gesichts wieder eine Frau kennengelernt (der Witwenmarkt war groß wie nie), hätte vielleicht an einer noch viel besseren Schule Arbeit gefunden und sich an einem Flügel sitzend die Tage um die musikalischen Ohren geschlagen.
Aber das konnte er nicht. Er konnte es nicht, weil er nicht wollte. Er wollte im nationalen Selbstmitleid schwelgen. Wie man damals, nur wenige Jahre zuvor, gemeinschaftlich den Patriotismus beschworen und besungen hatte, so hasste man nun gemeinschaftlich die Trübsal von Staat, die geblieben war. Köck ging in seiner Trauer auf. Jede Nacht betrank er sich in einem anderen Lokal, jede Nacht erzählte er einem anderen Publikum seine Geschichte. Er, der als farbloser Professor mit ausgeprägter Liebe zum Detail seine Schüler regelmäßig in den Tiefschlaf getrieben hatte, erkannte nun ein neues Talent in sich: das schamlose Fabulieren über Grausamkeiten. Er schmückte seine Erzählungen zwar nie aus, er ließ aber auch nie etwas aus.
Die meisten anderen Veteranen kamen irgendwann an den Punkt ihrer Erzählung, an dem sie stockten, manchmal gar nicht mehr sprachen, in sich selbst zusammenfielen und dort die Dinge in ihrer Wahrhaftigkeit vorfanden, wie sie gewesen waren, als sie sich in einer Welt ohne Worte befanden.
Aber an diesen Punkt kam Köck nie. Jeder Blutschwall und jede von Giftgas verätzte Lunge fand bei ihm die dazugehörige Formulierung. Dadurch war er ausgesprochen unterhaltsam und hatte immer viele Zuhörer, aber auch das befriedigte ihn nicht wirklich. Jede seiner Reden beendete er mit den Worten: »Und wofür? Für einen Scheißdreck!«
Dass er ohne Probleme so lebhaft von seinen Erlebnissen sprechen konnte, lag daran, dass sie ihn eigentlich nicht wirklich berührten. Und das wusste er auch. In seinem Innersten berührte ihn gar nichts wirklich, das Leid nicht und auch nicht die Freude.
Wenn er in besonders depressiven Nächten allein in seinem schmalen Pensionsbett lag, kam ihm das schmerzlich zu Bewusstsein. Ja, sagte er sich dann, ich habe mich noch dazu mein ganzes Leben lang selbst angelogen. Die wunderschönen Sätze, die er sich zurechtgelegt hatte, Unsere Zeit erfordert Enthusiasmus, und so weiter und so fort, das alles hatte er gesagt, um sich Empfindungen anzudichten. Im Grunde hatte er nicht mehr hinter seinen Rippen als einen kleinen, schon immer und seit dem Krieg erst recht verwundeten Stolz. »Sonst nichts«, murmelte er mit Tränen in den Augen und wusste im selben Moment, dass selbst diese nicht mehr als ein Wasserlassen seines Stolzes bedeuteten.
Natürlich war er nicht glücklich über seine halbe Nase, den verlorenen Krieg, die verlorene Frau. Er hatte selbstverständlich keine Freudentänze aufgeführt, wenn seine Kameraden neben ihm wie Säcke zu Boden gefallen waren, aber es hatte ihn in Wahrheit nicht mehr berührt als etwa ein verstimmtes Klavier, und auch das berührte ihn nicht besonders. Denn obwohl er sich ständig einzureden versuchte, dass die Töne seine Welt wären und er eben nur in dieser besonders sensibel und gefühlvoll, konnte er sich für eine meisterhaft komponierte Opernarie nicht mehr begeistern, als es etwa seine Frau auch getan hatte (»Wie die das nur immer schaffen, so hoch und laut zu singen!«), und die vielen schiefen Töne im Schulbubenchor schmerzten zwar in seinen Ohren, nicht aber in seinem Herzen.
Er hatte die Sentimentalität des ganzen Staates in sich aufgesaugt, um auch einmal etwas zu empfinden. Zuerst die gute Siegesstimmung, nun die stumpfe Enttäuschung.
Es war eine fürchterliche Nacht, die Köck in einem Gastzimmer einer heruntergekommenen Wirtschaft wach lag. Ihm gingen all diese Gedanken wieder einmal durch den betrunkenen Kopf, aber diesmal schlief er nicht einfach ein. Diesmal sprang er aus seinem Bett, schaute in den schmutzigen Spiegel und sagte laut und deutlich, ohne zu lallen: »Ich werde etwas ändern!« Er sagte »etwas«, weil es leichter von den Lippen ging als »mich«, und manchmal, fand er, reichte es ja auch, »etwas« zu ändern. Dann schlief er ein.
Den nächsten Tag verbrachte Köck damit, die verschiedensten Wirtshäuser der Stadt abzuwandern und ausstehende Zechen zu begleichen. Er war zu stolz gewesen, seine Frau um das Geld zu bitten, das ihm eigentlich zustand. Den Großteil seiner Besitztümer hatte er nicht aus dem Haus geholt. Das Haus selbst, welches laut Grundbuch ebenfalls ihm gehörte, hatte er in Gedanken auch schon der Untreuen vermacht. So verfügte er im Moment über nicht mehr Geld, als er in seiner Hosentasche stecken hatte. Das reichte für ein paar Wirtshaus-Rechnungen (die meisten erließen ihm das eine oder andere und gaben großzügig Prozente, denn die neue Währung fühlte sich für die alten Wirtsleute an wie Spielgeld, und sie vertrauten nicht darauf, dass die zerknüllten Scheine auch am nächsten Tag noch den Wert von Schnaps und Bier besitzen würden). Danach kaufte sich Köck ein Zugticket »hinaus aufs Land«. Mehr konnte er der Dame, die hinter dem Schalter die kleinen bunten Papiertickets aus einem großen Katalog heraussuchte, auch nicht sagen. Sie drückte ihm lächelnd einen blauen Fahrschein in die Hand und verlangte dafür alles Kleingeld, was Köck noch geblieben war. »Karlsberg«, sagte sie. Köck nickte.
Draußen lehnte ein junger Bursche dösend an einer Säule. An anderen Tagen versuchte er wohl, sich durch das Hin-und-her-Tragen von Gepäck ein wenig Geld dazuzuverdienen, aber an diesem Dienstagnachmittag war kaum etwas los. Als Köck ihn anstupste und nach dem richtigen Bahnsteig fragte, blinzelte der Junge, als wäre er eben geweckt worden.
»Karlsberg«, sagte er mit verschlafener Stimme, »ist aber ein ungewöhnliches Reiseziel, wenn Sie erlauben.«
»Mich erwartet dort kein Urlaub, sondern ein neues Leben!«, antwortete Köck etwas harsch, als müsste man ihm diesen Umstand auf den ersten Blick ansehen.
»Dann wollen Sie also dort bleiben, in Karlsberg?«
»Oder in der Nähe, ja.«
»Oder in der Nähe … sind ja nur die Berge dort, gnädiger Herr, ist ja sonst nichts in Karlsberg. Wissen Sie, ich stamme von dort, und mir fällt kein gescheiter Grund ein, in die Karlsberger Umgebung auszuwandern.«
Köcks Zug würde erst in einer Stunde ankommen, und zwar an dem Bahnsteig, an dem sie bereits standen. Der Bursche hatte sich den ganzen Tag gelangweilt. Und nun, da er schon einmal wach war, bot er Köck eine Zigarette und einen Lehnplatz an seiner Säule an und begann von seiner Jugend auf dem Land zu erzählen. Köck musste bald erkennen, dass der Junge keine besonders aufregende Kindheit gehabt hatte, und jeder umgefallene Karren und jede Kalbsgeburt einen Höhepunkt seiner Erzählung darstellte, auf die Köck dann auch gebührend zu reagieren hatte. Dabei hörte er nicht einmal mit einem Ohr wirklich zu und konzentrierte sich mehr auf die riesige Bahnhofsuhr, deren langer Zeiger sich behäbig Minute um Minute weiterschleppte, während der kleine dicke Stundenzeiger starr auf seinem Platz stand und nichts zu unternehmen schien, um Köcks neues Leben ein wenig näher zu rücken.
In irgendeiner langweiligen Anekdote fiel auch das Wort »Liebwies«. Dabei handelte es sich, soweit Köck mitbekam, um ein verstecktes Dorf in der Nähe von Karlsberg, das der Bursche, warum auch immer, für besonders erbärmlich hielt. »Ja, und stellen Sie sich das vor: Im letzten Sommer starb also der Lehrer der Liebwieser Volksschule, ein alter Mann. Nicht, dass es eine Überraschung gewesen wäre. Aber seitdem steht die Schule dort einfach leer. Von den Bauern schert sich keiner, und von oben schert sich auch keiner, weil was interessiert die Stadtmenschen ein Dorf in den Bergen, oder besser gesagt zwischen den Bergen, ein kaum erreichbares Tal. Nicht, dass da eine einzige Straße hinführt oder ein Gehweg. Dass ich in dieser Gegend geboren bin, dafür kann ich nichts, gnädiger Herr, aber dass Sie dort freiwillig hingehen … Aber freilich, die Bergwelt ist sehr erhaben, nicht, dass Sie mich falsch verstehen.«
Als hätte der Zug nur auf dieses Stichwort gewartet, fuhr er plötzlich, fünfzehn Minuten zu früh, laut pfeifend in den Bahnhof ein. Köck verabschiedete sich hastig von dem Jungen, der ihm in der Hoffnung auf Trinkgeld noch einige Schritte folgte, und sprang in den Wagen, als würde der Zug nur wenige Sekunden im Bahnhof halten und außerdem der letzte Zug der Welt sein, der nach Karlsberg fuhr.
Ganz offensichtlich war es ja nur eine Verkettung von Zufällen: die Dame, die ihm ausgerechnet eine Karte nach Karlsberg verkauft hatte, der Junge, der aus der Gegend von Karlsberg stammte und außerdem in seinem Redeschwall eine frei gewordene Stelle im Dorf Liebwies erwähnt hatte, der Zug, der, um dieses Angebot zu unterstreichen, genau da gepfiffen hatte … eine Verkettung von Zufällen, die mit Köck nur insofern zu tun hatten, als dass er hineingestolpert war. Aber trotzdem witterte Köck nun endlich die Belohnung, nach der er schon so lange gesucht hatte. Obwohl er weder gott- noch schicksalsgläubig war, konnte diese Menge an Zufällen nicht bedeutungslos sein. Während der Zug geräuschvoll aus dem Bahnhof rollte, wusste Köck es schon: Er würde der neue Volksschullehrer von Liebwies werden.
Im Jahre 1924 herrschte in Liebwies noch ein früheres Jahrhundert. Das Dorf bestand aus einigen Bauernbetrieben, die rund um die kleine, prachtlose St.-Anna-Kirche verteilt waren. Die Felder wurden ohne landwirtschaftliche Maschinen bestellt. Bei Festen wurde der Kaiser besungen. Dessen Tod, der nun immerhin auch schon acht Jahre her war, war noch nicht bis in das Tal der Liebwieser vorgedrungen. Dass inzwischen ein potentieller Kaiser erschossen und ein neuer schon wieder vertrieben worden war, hätten sie auch dann nicht geglaubt, wenn man es ihnen gesagt hätte.
In den offiziellen Papieren existierte Liebwies überhaupt nicht. Kein Register erfasste das Dörfchen. Dieser Umstand war weder in dem alterskranken Kaiserreich noch in der Republik voller Kinderkrankheiten ein Nachteil gewesen: Kein Mann hatte das Dorf zum Kriegsdienst verlassen müssen. So war ihnen nicht nur viel Leid erspart geblieben, die Liebwieser waren auch nie gezwungen gewesen, die Welt jenseits der Bergwände zu erkunden.
Köcks Reise nach Liebwies barg einige Schwierigkeiten. Zum einen war Karlsberg nicht das einzige Kuhdorf, in dem der Zug stehen blieb, sodass er eher durch das Land stotterte, als dass er wirklich fuhr. Immer wieder wurde Köck durch das Ruckeln und Pfeifen aus seinen Gedanken gerissen.
Bei jedem Halt strömte ein Schwall Passagiere hinaus und ein Schwall neuer Passagiere herein. Köck fühlte sich, als führe er durch eine Passagierfabrik, in der altes Material zu neuem verarbeitet würde. Allerdings veränderte sich die Optik seiner Mitreisenden: So waren am Anfang seiner Fahrt noch schüchterne Damen, blasse Studenten und verschreckte Veteranen Köcks Begleiter, am Ende teilte er sich den Bahnwaggon schon mit breitschultrigen Bauersfrauen, deren niemals stillsitzenden Kindern, einigen älteren Männern und ein paar Hühnern.
Das war allerdings nichts, was Köck als störend empfunden hätte. Im Gegenteil, er fühlte sich, als würde er mit echten Indianern um ein Lagerfeuer tanzen oder sich auf dem Zigeunerjahrmarkt die Hand lesen lassen: Er war ganz erfüllt von Folklore. Und da dies ja kein einstudiertes Schauspiel war, war er nun ganz überzeugt, dass er nur hier auf dem Land zu ehrlichen Empfindungen kommen könnte.
Als er aber nach Stunden der Zugfahrt plötzlich inmitten von Wiesen und Wäldern neben einem Schild mit der Aufschrift Karlsberg aussteigen musste, war er dann doch etwas verunsichert. Unter Karlsberg hatte er sich zumindest ein kleines Dorf vorgestellt. Der Bahnsteig lag aber mitten in der Natur. Nicht einmal in der Ferne konnte er ein einziges Haus erkennen. Köck besaß keine Karte und hatte so nichts als die vage Beschreibung des Gepäckjungen, um Liebwies zu finden.
An derselben Station war glücklicherweise auch ein kleiner, zerfurchter Bauer ausgestiegen, den Köck nun nach dem Weg fragte. Dieser zeigte etwas unbestimmt dorthin, wo sich die Kalkberge über die Wälder erhoben, und marschierte dann zügig in die entgegengesetzte Richtung davon.
So also folgten Tage der Wanderung. Die Nächte verbrachte Köck meistens auf Höfen oder Hütten, wo er Brot mit Milch und Käse serviert bekam und die Gastgeber nach dem Weg fragen konnte. Allerdings hatten auch diese oft noch nie etwas von Liebwies gehört. Andere konnten immerhin vage Wegbeschreibungen geben, und einer zeichnete Köck schließlich einen Plan auf sein Stofftaschentuch, an dem er sich orientieren konnte.
Es hätten Tage der Selbstfindung sein können. Einsam von Hütte zu Hütte wandern, mit nichts als den Kleidern am Leib, die eigene Existenz spüren in der unberührten Natur, jedoch: Köck half es nichts. Im Gegenteil: Es kränkte ihn sogar ein bisschen, dass er diesen Erfahrungen nichts abgewann, dass sein Geist sich nicht öffnete, oder was auch immer er sich von der Bergwelt erhofft hatte.
Er war erleichtert, als er nach einiger Zeit die St.-Anna-Kirche erreichte, die ihm der ortskundige Hüttenbesitzer als Kennzeichen für Liebwies aufgezeichnet hatte. Sie war mehr eine Kapelle, in die man an hohen Festtagen aber die gesamte Dorfgemeinschaft hineinquetschen konnte. Außerdem gab es eine für die Winzigkeit der Kirche geradezu imposante Orgel.
Er war sofort freundlich vom Dorfpfarrer in dessen Haus aufgenommen worden, das gleichzeitig auch ein landwirtschaftlicher Kleinbetrieb war. So besaß der Geistliche neben einem Haufen Hühner auch eine Handvoll Ziegen, um sich das geistliche Einkommen aufzubessern. Allerdings war der Pfarrer nicht mehr jung, seine Köchin noch älter, und jeder, der ihnen einen Weg in den Hühner- oder Ziegenstall ersparen konnte, ein willkommener Gast. Dann meldete sich Köck wie vom Pfarrer empfohlen bei einem Herrn, der als eine Art Bürgermeister angesehen wurde, weil er leidlich lesen und schreiben konnte. Diesem erklärte Köck nun, für keinen anderen Lohn als ein Hemd zum Wechseln und die Erlaubnis, beim Pfarrer wohnen bleiben zu dürfen, an der kleinen Volksschule unterrichten zu wollen.
Dieser Bürgermeister war ein Schweinebauer, der unter seinem Bett die Tauf-, Heirats- und Sterberegister von Liebwies hortete. Er war nicht wenig überrascht über Köcks Anliegen. Man hatte den Tod des alten Lehrers in das Sterbebüchlein eingetragen und es dann wieder zum Verstauben unter das Bett gesteckt. Man war überzeugt davon gewesen, dass der Kaiser samt seinen Beamten wichtigere Angelegenheiten zu erledigen hatte, als einen Lehrer nach Liebwies zu schicken, und angesichts der Tatsache, dass jener Kaiser im Exil verstorben war, war das ja auch nicht ganz falsch. Außerdem hielt der Bürgermeister Schulen im Allgemeinen für überbewertet. Zwar erleichterten ihm selbst seine Schreib- und Lesekenntnisse das Führen der Registers enorm, aber es musste ja auch nicht jeder das Amt des Bürgermeisters bekleiden. Da nun aber ein Lehrer da war und nichts anderes verlangte, als unterrichten zu dürfen, wollte er dann auch nicht so sein. Allerdings wies er darauf hin, dass gerade jetzt im Frühherbst viele Schüler auf den elterlichen Höfen zu arbeiten hatten. Köck antwortete mit fröhlichem Schulterzucken.
Im Dorf war man ratlos, was man von dem Neuankömmling halten sollte. Eine bunte Kuh hätte nicht verwunderlicher sein können als ein Tourist in Liebwies. Noch dazu ein Halbnasiger, was zu wilden Spekulationen im Wirtshaus führte. Die phantasievollste war vielleicht jene, dass der Neue ein krankhaft Neugieriger sei, dem man zur Strafe die Nase abschlagen sollte, so wie man Dieben die Hände abhackt. Der betrunkene Henker hätte aber doppelt gesehen und nur die Hälfte erwischt.
Es gab auch weniger unterhaltsame Theorien, etwa, dass der Neue irgendeinen Unfall gehabt hätte oder an einer nasenzersetzenden Krankheit litt. Auf den Gedanken, dass jenseits der Berge bis vor wenigen Jahren noch der grausamste und größte Krieg der Weltgeschichte geherrscht hatte, kam aber niemand.
Köck, zu dessen neuen Lebensvorsätzen es auch gehörte, kein Wirtshaus mehr zu besuchen, bekam von diesem Gerede nichts mit. Er hatte Besseres zu tun, immerhin wollte er seine Bestimmung im Unterrichten finden.
Die Volksschule stand als Denkmal mariatheresianischen Wohlwollens direkt neben der St.-Anna-Kirche und strahlte fast jugendliches Flair aus. Die Fassade war weiß wie die der Kirche, während die anderen Häuser in Liebwies ungestrichene Holzbauten waren; das Dach aus echten Ziegeln, wohingegen die anderen Häuser nur mit Stroh oder Holzbrettern bedeckt waren. Ging man durch die hölzerne Eingangstür hinein, so stand man mitten im einzigen Klassenzimmer. Wegen der winzigen Fenster war es dort immer dunkel, und viele der einst sehr feinen Möbelstücke hatten die Jahre nicht gut überstanden: Hier und da fehlten Tisch- oder Stuhlbeine und waren durch beliebige Bretter ersetzt worden, manchmal nicht einmal das. Die Tafel hatte einen Sprung in der Mitte, und der Fußboden war schmutzig. Nichts von dem ordentlichen äußerlichen Eindruck war im Inneren zu finden.
Seit dem Jahr, in dem ein Gesandter der Kaiserin sich mit dem Auftrag, Schulen in die entlegensten Gegenden des Reiches zu bringen, nach Liebwies verirrt hatte, hatte es keinerlei Renovierung gegeben (wenn man von dem provisorischen Erneuern der verheizten Tisch- und Stuhlbeine absah). Auch der kleine Kamin stammte aus einer Zeit, als Liebwies noch nicht vergessen gewesen war. Er hatte die verheizten Möbelteile in eine dünne Rußschicht verwandelt, die sich über den gesamten Fußboden, alle Wände, Tische und Stühle zog.
Köck musste husten, als er dieses Klassenzimmer zum ersten Mal betrat. Es roch, als hätte seit Jahren niemand ein Fenster oder die Tür geöffnet. Die Luft schien bis zur völligen Erschöpfung zirkuliert zu haben und hing nun müde von der Decke. Nicht einmal ein Spinnennetz war zu finden, so verödet war das Klassenzimmer.
Köck zweifelte an seiner Entscheidung. Er hatte sich das Landleben nicht leicht, aber lebhaft vorgestellt. Er wollte gesunde, runde Menschen in bunten Tüchern, wie er sie im Zug gesehen hatte. Dieses Klassenzimmer war völlig abgestorben. Man könnte meinen, dachte Köck, der ganze Krieg, der dieses Dorf nicht einmal angehaucht hat, habe in diesem Schulzimmer stattgefunden.
Sein erster Impuls war es, in der Tür umzudrehen und sich mit geborgtem Geld auf den Weg zurück in die Stadt zu machen. Dort könnte er wieder unehrliche Monologe über seine traurige Vergangenheit halten, vielleicht sogar ein Buch schreiben, eine Autobiografie vollgestopft mit Blut und Gewalt, ein Verkaufsschlager …
Er blieb. Die Tür ließ er hinter sich geöffnet, damit etwas frische Luft und Licht in das Zimmer fallen konnte, und trat ein paar Schritte weiter in den grausigen Raum.
Dann erschrak er. In diesem toten Zimmer, in dem er nicht einmal eine Kakerlake vermutet hätte, saß ein junges Mädchen und schlief, mit dem Kopf auf der Tischplatte ruhend. Im fahlen Licht konnte er nicht sehr viel mehr erkennen als das krause, dunkle Haar und dass das Mädchen eindeutig zu alt war für die Volksschule. Vielleicht ist sie die Hausmeisterin, dachte Köck und zündete die schon fast niedergebrannte Kerze an, die auf dem Lehrerpult stand. Da der Raum nicht groß war, erhellte er sich abrupt, und das Mädchen erwachte mit einem grellen Schrei.
»Ich habe nicht geschlafen!«, rief sie und wischte dabei das Buch, das ihr als Kissen gedient hatte, vom Tisch. Sofort bückte sie sich danach, griff aber einige Male daneben, ohne es in die Finger zu bekommen.
Für ein Mädchen ihres Alters war sie ungewöhnlich hässlich, fand sogar Köck, den an Frauen eigentlich immer eher der praktische Wert interessiert hatte. Aber er war es doch gewohnt, dass gesunde junge Mädchen ganz von selbst einen gewissen Reiz hatten, auch wenn sie vielleicht nicht den gängigen Idealen entsprachen. Dieses Mädchen allerdings entbehrte jeder Attraktivität: Es war ungewöhnlich groß und breitschultrig, hatte ein flaches, breites Gesicht mit winzigen Augen und wildes Haar, welches in zwei ungleich große Zöpfe geflochten war. Seine Bewegungen waren behäbig, irgendwie behutsam, und führten trotzdem nie zum Ziel.
Als das Mädchen endlich das Buch erwischt und wieder auf dem Tisch platziert hatte, sagte es: »Ich heiße Karoline.«
»Walther Köck«, sagte Köck. Karoline blickte haarscharf an ihm vorbei, während sie lächelte und ihre kurzen, schiefen Zähne zeigte.
»Ich bin der neue Lehrer«, fügte er hinzu.
»Schön …«, murmelte Karoline und nickte. Es ärgerte Köck, dass er ihren Blick nicht treffen konnte, egal, wie sehr er sich auch bemühte.
»Für eine Volksschülerin bist du etwas alt, nicht wahr?«
»Ja …« Sie lächelte und nickte weiter.
»Wie alt bist du, wenn ich fragen darf?«
»Neunzehn«, antwortete Karoline. Köck setzte sich auf das Lehrerpult, welches unter seinem Gewicht gefährlich knirschte.
»Dann bist du … die Hausmeisterin?«, fragte er.
Karoline lachte. »Nein, nein, ich putze hier nur!«
Köck blickte sich noch einmal in dem verrußten Zimmer um und seufzte. Die St. Anna hatte schon halb neun geschlagen, und kein weiterer Schüler war in Sicht. Das überraschte Köck nicht wirklich. Nur war er nun in der unangenehmen Situation, sich mit Karoline unterhalten zu müssen, wozu er wenig Lust hatte. Er spürte, dass er die göttliche Belohnung heute nicht mehr erhalten würde, dass er sie wohl nie erhalten würde, dass er immer sinnlos mit dem Strom schwimmen würde, der ihn eines Tages wie jeden anderen auch in einen Sarg schwemmen würde. Er hatte Lust auf Selbstmitleid und musste stattdessen mit einem dummen Bauerntrampel Konversation betreiben.
»Dann putzt du hier also … und du schläfst auch hier?«, fragte Köck, um irgendetwas zu fragen. Karoline lachte wieder und schüttelte den Kopf: »Ich habe doch nicht geschlafen, ich habe gelesen!« Sie zeigte mit ihrem rechten Zeigefinger ein paar Zentimeter an dem Buch vorbei.
»Mit dem Kopf auf dem Tisch hast du gelesen?«
»Ich bin doch so fürchterlich kurzsichtig!« Und wie um es zu beweisen, fegte sie zum zweiten Mal ihr Buch von dem Tisch bei dem Versuch, es in die Hand zu nehmen, um es Köck von vorne zu zeigen. Sie bückte sich wieder umständlich, diesmal aber war Köck schneller.
»Ich habe das Buch aufgehoben«, sagte er etwas verstört, als Karoline den Boden weiter danach abtastete. Während Karoline sich wieder aufrappelte, durchblätterte Köck das Buch. Es handelte sich um eine französische Bibel, der schon einige Seiten fehlten. Wohl noch aus Napoleons Zeiten, dachte Köck, wobei er sich allerdings nicht vorstellen konnte, was Napoleons Männer nach Liebwies getrieben haben sollte.
»Êtes-vous intéressé par la religion?«, fragte Köck. Karoline hatte sich wieder aufgerichtet und nickte, schien aber keine Ahnung zu haben, wovon Köck gerade sprach.
»Parlez-vous français?«, fragte Köck. Endlich hörte Karoline auf zu nicken, und ihr Lächeln wich einem etwas besorgten Ausdruck. Sie zog ihre buschigen Augenbrauen zusammen, sodass sie zu einem einzigen dicken Strich über ihren Augen wurden und sie noch hässlicher machten. Schließlich schüttelte sie ihren Kopf und sagte: »Es tut mir sehr leid, mein Herr, aber ich bin kein gebildeter Mensch.«
Köck nickte freundlich, konnte sich aber ein etwas bissiges »Aber doch liest du eine französische Bibel« nicht verkneifen. Karoline lachte wieder und rief: »Ich sehe so furchtbar schlecht, dass es mir nicht einmal aufgefallen ist.«
Köck langweilte sich langsam. Es hatte noch nicht neun geschlagen, und trotzdem war er seine Arbeit schon leid. Wie hatte er sich denn das Unterrichten in einer Dorfschule vorgestellt? Natürlich wurden hier nicht Spreu und Weizen getrennt wie an dem feinen Gymnasium, und war es nicht das, was ihn fasziniert hatte? Die kleinen, aber gar so natürlichen Geister hätte er doch so gern mit Wissenschaft füllen wollen, aber Karoline war nicht kleingeistig, sondern gar nicht geistig.
»Warum haben sie mir keine sehenden Kinder geschickt?«, entfuhr es Köck, und noch mehr ärgerte es ihn, dass Karoline wieder lachte.
»Die müssen natürlich arbeiten, was glauben Sie denn, warum nur ich hier bin?« Köck konnte sich das Mädchen tatsächlich schlecht an einer Dreschmaschine vorstellen (dass kein einziger Liebwieser auch nur von einer Dreschmaschine gehört hatte, wusste er da noch nicht. Abgesehen davon hätte Karoline auch mit einer Sense in den Händen eine gefährliche Figur abgegeben). Er seufzte laut, Karoline setzte sich wieder auf ihren Kinderstuhl und griff nach dem Buch, um es, mit der Nase das Papier berührend, »weiterzulesen«. Wie sie so dasaß und sich selbst vormachte, sie würde in aller Ruhe ein Buch lesen, wie jeder andere auch von Zeit zu Zeit ein Buch las, und ab und zu sogar laut auflachte über einen Witz, den sie nicht gelesen haben konnte, fühlte sich Köck schmerzhaft an sich selbst erinnert. Als sie letztendlich sogar umblätterte und ihr gespanntes Gesicht zwischen diesen neuen Seiten versenkte, stand er vom Lehrerpult auf und rief verzweifelt: »Irgendetwas musst doch sogar du können!«
Karoline senkte ihre Bibel, um wieder haarscharf an Köck vorbeizublicken, und murmelte: »Ja, singen kann ich ganz gut.«
»Ganz gut …« Köck zog etwas missgünstig eine Augenbraue hoch und einen Mundwinkel hinunter, und hätte er die Möglichkeit dazu gehabt, hätte er auch die Nase gerümpft.
Früher, an dem Bubengymnasium, war »ganz gut singen können« oft das schlagende Argument, mit dem sich faule Knaben die Versetzung erschummeln wollten. Die Schüler, die sich ihre akademische Zukunft vor allem ersingen, erringen und erbeten wollten (also durch gute und geschenkte Noten in Musik, Leibesübungen und Religionserziehung), hatte Köck nie gemocht und auch selten aufsteigen lassen. Nicht, weil er Musik tatsächlich für ein so wichtiges Fach gehalten hätte, sondern ganz grundsätzlich.
Allerdings wollte Köck ihr nicht weiterhin bei dem sinnlosen Versuch, eine französische Bibel zu studieren, zusehen. Also sagte er: »Ich würde dich sehr gerne singen hören, Karoline!«
»Wirklich?« Diesmal trafen sich ihrer und Köcks Blick zufällig. Obwohl ihre Augen so winzig waren, sahen sie nun aus wie runde Kinderaugen am Weihnachtstag.
»Ja, ja, wirklich! Sing nur!«
Karoline stand auf, langsam und vorsichtig, um nur ja das Buch nicht wieder auf den Boden zu werfen, und holte tief Luft.
Was nun passierte, würde Köck in seinem Leben nicht mehr vergessen. Schon mit dem ersten Laut, den Karoline von sich gab, war die Welt eine andere. Ihr Gesang war das Klarste und Wahrste, das Köck jemals mit seinen Sinnen erfasst hatte. Es war nicht Musik, es war eine ganze Herrlichkeit, die sich ihm offenbarte.
Das Lied war ein ländliches Jagdlied, das Köck noch nie gehört hatte und das für sich allein wohl auch keine meisterhafte Komposition darstellte, aber Karoline füllte die Höhen mit heißem Vibrieren, die Tiefen mit kühlem Hauch. Köck fragte sich nichts, er dachte nicht, er fühlte.
Im Kehrvers schlug das Lied von Dur in Moll um. Köck hätte es nicht für möglich gehalten, aber Karolines Stimme klang im wehmütigen Refrain noch sanfter und gleichzeitig noch voller, und plötzlich befand er sich wieder im Schützengraben. Der kalte Wind brannte an seinen Wangen, die über seinen Kopf hinweg gefeuerten Geschosse knallten in schrillem Stakkato, in der Ferne explodierte etwas, und dann, als Karoline zur zweiten Strophe ansetzte, ging mit einem dumpfem Laut ein Kamerad zu Boden, ein Freund, ja, ein Freund, und Köck stiegen die Tränen in die Augen. Karoline kam wieder zu dem traurigen Kehrvers, und diesmal sah Köck seine Frau vor sich, als junges Mädchen im weißen Hochzeitskleid, und er liebte sie, liebte sie unsagbar, dann sah er seine Großmutter, die warmen Apfelstrudel vor sein Kindergesicht stellte, das Totenbett seines Vaters, die graue kalte Hand in der seinen. Der letzte Schultag vor den Ferien.
Und dann verstummte Karoline. Köck erwachte aus dem Rausch, in dem er sich befunden hatte, und fand sich selbst schwitzend und mit verheulten Augen wieder, aber glücklich. Kurz besann er sich, dachte daran, wie peinlich die Situation gewesen sein hätte können, hätte Karoline ihn gesehen.
So also fühlte sich seine Belohnung an.
Er hatte wahre Gefühle, und der Gedanke, je wieder in einem Wirtshaus über Kriegseindrücke zu plaudern, wie andere über Liebschaften tratschten, schien ihm völlig absurd. Er atmete schwer, und als er begann, den Raum um sich herum wieder wahrzunehmen, schien die Sonne zur offenen Tür herein, und alles war golden, auch Karolines Gesicht. Ihr Gesicht war nicht nur hübscher, sondern schön.
»Nun … das Lied ist aus«, sagte sie etwas unsicher. Fast schuldbewusst setzte sie sich wieder auf den zu niedrigen Stuhl.
»Wo hast du so singen gelernt?«, fragte Köck, als er wieder einigermaßen in die Welt der Sprache zurückgefunden hatte.
»Ach, das lernt man einfach so …«, murmelte Karoline.
»Ich habe noch nichts einfach so gelernt, Karoline, nicht in dieser« – die deutsche Sprache hatte eigentlich kein Wort für eine solche Stimme – »Qualität.« Sie hob ihren Kopf wieder und lächelte breit. Selbst ihre schiefen Zähne waren jetzt schön.
»Danke«, sagte sie, und Köck musste beinahe lachen. Sie bedankte sich bei ihm, nach dem, was sie doch für ihn getan hatte. Jetzt schlug es neun. Gerade eben hatte Köck noch gerätselt, wie die Zeit so langsam verstreichen konnte, und jetzt wunderte er sich darüber: Er hatte Tage und Monate und Jahre erlebt, während der Minutenzeiger nur einmal gemütlich im Kreis gewandert war. Aber der Glockenschlag brachte ihn auch auf eine andere Idee.
»Mach doch fünf Minuten Pause«, sagte er zu Karoline, »und hinterher treffen wir uns in der Kirche, bei der Orgel, in Ordnung?« Karoline lächelte und nickte.
Als das Jahr älter wurde, fanden sich immer mehr Schüler in der Schule ein. Es waren Kinder, Jugendliche, aber auch Erwachsene. Ein einziges Haus zu heizen war kostengünstiger, als das ganze Dorf in Betrieb zu halten, und da die Tage kälter und die Arbeit fruchtloser wurde, drängten sie ins Klassenzimmer und opferten dem Kamin einige Stuhlbeine, um das Feuer am Lodern zu halten.
Köck nutzte diese Tage, um Lese- und Schreibunterricht abzuhalten, auch wenn er es ungern tat, denn lieber hätte er nichts als Gesang unterrichtet. Obwohl sich der erste Eindruck, den er nach Karolines Jägerlied gehabt hatte, nicht mehr in dieser magischen Wucht wiederholte, war er immer noch fasziniert von ihrem Talent. Und es passierte nicht selten, dass ihm die Tränen kamen, während er das junge Mädchen an der Kirchenorgel begleitete, und oft verspielte er sich dann oder kam ins Stocken, was eine heftige Wut in ihm auslöste. Er zerstörte mit seiner Stümperhaftigkeit nicht weniger als ein Stück Paradies. Noch mehr hasste er es, wenn Karoline sich dann verwirrt umsah und murmelnd entschuldigte, da sie vermutete, sie selbst hätte einen Fehler gemacht. Trotz dieser Zwischenfälle waren die Musikstunden mit Karoline die schönsten Stunden in Köcks Leben. Er schrieb seiner Frau einen Brief, in dem er neben der Scheidung auch ein paar Notenbücher aus seinem Haus einforderte. Die Notenbücher erreichten ihn einen Monat später zusammen mit einem notariell beglaubigten Scheidungsantrag. So konnte er Karoline immer neue Lieder zeigen, und sie war von jedem einzelnen begeistert.
Wenn Köck die anstrengenden Lese- und Schreibstunden hinter sich gebracht und einige Worte über das Zeitgeschehen und die politische Lage Europas (welche die Bevölkerung von Liebwies stets mit ungläubigem Kopfschütteln zur Kenntnis nahm) verloren hatte, veranstaltete er gerne ein kleines Konzert. Da den meisten Liebwiesern die Kirche zu kalt war, um häufiger als einmal in der Woche darin zu hocken, fanden diese Konzerte ohne Orgelbegleitung im Klassenzimmer statt. Köck musste sich eingestehen, dass kein Liebwieser in eine derartige Verzückung geriet wie er selbst, aber sie waren doch ausnahmslos begeistert, einige bezeichneten Karoline als »Engel«, und alle waren sich einig, dass diesem Mädchen eine Karriere von Weltklasse bevorstehen würde, wäre es nicht abgeschieden von ebenjener Welt geboren worden.
»Man müsste sie eben einmal in der Stadt vorführen«, sagte der Ortsvorsteher häufig.
Der Pfarrer hatte eine andere Idee: Köck sollte doch die Weihnachtsmesse musikalisch gestalten, und zwar mit Karoline als Solistin. Dass das Mädchen halbblind und aus genau diesem Grunde stets vom gesellschaftlichen Dorfleben ausgeschlossen gewesen war, kümmerte niemanden mehr. Auch Köck störte es nicht. Er versuchte sie trotzdem das Notenlesen zu lehren, und jeder kleine Erfolg, den sie mit ihrer Nase ins Notenbuch gedrückt erringen konnte, freute sein Herz aufrichtig.
Für den besagten Weihnachtsgottesdienst stellte er außerdem auch noch einen kleinen Chor aus Dorfmädchen zusammen, der Karolines Gesang als dünner Klangteppich untermalen sollte. Und hier trat nun das erste Mal die später so berühmte Sängerin Gisela vor Publikum auf: als blasses, blondes Mädchen, das die dünne Überstimme zum vollen Gesang ihrer älteren Schwester produzierte. Bei der Weihnachtsmesse mag sie keinem Einzigen aufgefallen sein. Nach dem Gottesdienst feierte man Karoline, und Gisela stand bei ihrer Schwester eingehakt und lachte am heitersten von allen.
Der Weihnachtsgottesdienst war aber nicht nur für Karoline, sondern auch für Köck ein großer Erfolg. Er kümmerte sich nicht weiter um die vielen Hände, die ihm anerkennend auf die Schulter klopften, oder den tosenden Applaus, der erschallte, als er nach Beendigung der Messe vor die Kirche trat, wo trotz Eiseskälte noch immer das ganze Dorf versammelt stand, um seine Begeisterung über Köcks Orgelspiel kundzutun. Unter ihnen stand auch Karoline und klatschte heiter mit, als hätte sie selbst überhaupt nichts zu der Musik beigetragen. Köcks Gesicht war rot und heiß, als er sich den Weg durch die Masse bahnte, aber nicht aus Freude über die Komplimente, und schon gar nicht aus Scham. Ihm war etwas eingefallen. Während er an der Orgel gesessen und »Oh du fröhliche« gespielt hatte, und Karolines klare Stimme durch die winzige Kirche gehallt hatte, als wäre diese ein Dom, traf ihn ganz plötzlich eine Idee, genauso wie damals, als er beschlossen hatte, nach Liebwies zu gehen. Diesmal aber war es keine Verkettung von Zufällen, sondern einfach eine Idee, die ihm ganz von selbst gekommen war, vielleicht sogar durch die Palette seiner neuerworbenen Emotionen erzeugt. Ihm kam es so vor, als hätte Karoline selbst ihn darauf gebracht, als hätte sie laut und deutlich gesungen: »Wagenrad, Wagenrad.«
Christoph Wagenrad war ein alter Freund Köcks. Er hatte mit Köck zusammen in der Stadt Musik studiert, es aber viel weiter gebracht. Dabei hatte er nicht einmal eine Stelle an einem Gymnasium, geschweige denn an einer Hochschule oder an einem Konservatorium. Im Grunde war er arbeitslos. Und doch war der Name Wagenrad in der Stadt und eigentlich auch im ganzen Land bekannt.
Das lag einerseits daran, dass Wagenrad schon als Sohn berühmter Eltern auf die Welt gekommen war; beide hatten an der Hofoper gesungen. Andererseits hatte er klug geheiratet. Seine Frau war die weltberühmte ungarische Pianistin Ilona Kiss gewesen. Ihre Vermählung war durch alle europäischen Klatschspalten gewandert und hatte den Namen Wagenrad noch berühmter gemacht. Um die Zeit der Hochzeit herum hatte Köck den Kontakt zu seinem ehemaligem Studienkollegen abgebrochen. Köck hatte nie ein Problem mit Konkurrenz gehabt, jedoch sehr wohl mit Menschen, die etwas bekamen, was seiner Meinung nach ihm selbst viel eher zugestanden hätte. Die bildhübsche Ilona Kiss war so ein Fall, und als er bemerkte, dass die Ehe allem Anschein nach auch noch harmonisch verlief und Wagenrad selbst plötzlich als größter Musikexperte gehandelt wurde, obwohl Köck an der Universität immer die besseren Noten gehabt hatte, ließ er die Freundschaft unauffällig ausklingen, ohne dass Wagenrad es wohl jemals bemerkt hatte.
Aber der Erfolg des Ehepaars Wagenrad wurde Köck von den Zeitungen ständig unter die damals noch vollständige Nase gerieben, und vor allem deren Großzügigkeit. Ilona Wagenrad hatte selbst jedes Jahr ein bis zwei jugendliche Musiker ausgesucht, deren Ausbildung am Konservatorium sie bezahlten. Zu zweit organisierten sie Jugendkonzerte in den wichtigsten Sälen und hatten schon viele Namen groß gemacht, die Köck dann zerknirscht in seinen Musikstunden erwähnen hatte müssen.
Kurz nach Kriegsende (Köck hatte es natürlich erst viel später gelesen) machte eine letzte Meldung das Ehepaar Wagenrad betreffend die Runde: »Die gefeierte Pianistin und passionierte Förderin der Jugend, Ilona Wagenrad, geb. Kiss, hat nach langer, schwerer Krankheit das Zeitliche gesegnet.« Sie war an viel zu spät erkanntem Brustkrebs gestorben. Köck hatte, als er davon erfuhr, kein Kondolenzschreiben verfasst.
Während dem Weihnachtsgottesdienst aber war ihm sein früherer Kollege Christoph Wagenrad eingefallen. Er hatte wieder die Zeitungsartikel vor Augen gehabt und ohne jede Wut oder Eifersucht nun auch an die schöne Ilona gedacht und an Christoph mit dem ruhigen, besonnenen Lächeln.
Die Frau ist nun leider tot, aber den Mann müsste man dazu bringen, sich Karoline doch wenigstens einmal anzuhören!, hatte Köck sich gesagt und war sich dabei völlig sicher gewesen, dass Wagenrad von dem Mädchen ebenso beeindruckt sein würde wie er selbst. Wenn er nur hoffentlich immer noch begeisterter Mäzen ist und diese Leidenschaft nicht mit seiner Frau im Grab liegt … Wie immer, wenn Karoline sang, hatten sich seine Gedanken verworren und in ein und demselben Moment geklärt.
Als er jetzt aber aus der Kirche schritt, war er noch ganz eingenommen von seinen Gedanken und konnte nicht einmal ruhig mit dem Pfarrer und dessen Köchin beim Weihnachtsschmaus sitzen. Mit irgendeiner Ausrede entschuldigte er sich und rannte hinauf in sein Zimmer, um einen Brief an Christoph Wagenrad zu verfassen. Den ersten Entwurf verwarf er wieder. Mit keinem Wort hatte er Ilonas Ableben bedauert, und wenigstens das gehörte sich ja doch. Den zweiten Brief begann er mit: »Mein lieber Christoph, ich wünsche herzliches Beileid«, und kam dann sofort und ohne jede Umschweife auf Karoline zu sprechen. »Ich kenne ein singendes Wunderkind«, schrieb er, und: »noch nie dagewesen!«, und: »Am 1. Mai gedenke ich ein Kirchenkonzert in der St.-Anna-Kirche in Liebwies zu geben, und da wird sie die Arien und Lieder der größten Meister solistisch darbieten, und Du wirst aus dem Staunen nicht mehr hinauskommen, mein Freund!«
Köck war nie ein großer Literat gewesen, und er wusste, dass sein Text mehr den Charakter einer billigen Reklame denn eines Briefes an einen alten Bekannten hatte. Trotzdem lächelte er selbstzufrieden, als er den Umschlag zugeklebt und zu Händen Wagenrads an das städtische Konservatorium adressiert hatte. Zwar wusste Köck nicht, ob Wagenrad sich noch häufiger dort aufhielt, aber man musste ihn doch in jedem Fall noch kennen, und so würde der Brief ihn schon auf irgendeine Art und Weise finden.
Den Termin des Konzertes hatte Köck ganz willkürlich festgelegt, die ganze Idee zu einem weiteren Kirchenkonzert war ihm überhaupt erst während des Schreibens gekommen. Schließlich war das die einzige Möglichkeit, Wagenrad von Karolines Talent zu überzeugen. Ganz am Ende hatte Köck noch eine Wegbeschreibung nach Liebwies angehängt, es war ja nicht anzunehmen, dass Wagenrad dieses Dörfchen kannte, geschweige denn den Weg dorthin.
Nach den Weihnachtsfeiertagen machte Köck sich mit dem Brief auf den Weg. Aufgeregt wie ein Schulbub am Wandertag ließ er sich morgens von der Pfarrersköchin Brot und Wurst in seine Tasche packen und ging los, sobald die Sonne aufgegangen war. In seinem Eifer hatte er vergessen, den Unterricht abzusagen. So saß an diesem Morgen ein buntes Häufchen Liebwieser in der alten Schule und wartete. Allerdings warteten sie nicht allzu hart, denn im Grunde fanden sie das Lesen etwas zu mühsam, um Sinn zu machen.
Weil er diesmal keine Umwege machte, erreichte Köck das Karlsberger Postamt schon am übernächsten Tag vor Mittag, früher als es ihm die Liebwieser prophezeit hatten. Mit heißem, hochrotem Kopf kaufte er eine Briefmarke bei dem Postfräulein, das dem Bahnhofsfräulein unglaublich ähnlich sah. Überhaupt sehen so Fräuleins sich immer ähnlich, dachte Köck. Und vielleicht war es ja Karolines wahre Schönheit, eben nicht so auszusehen wie jede beliebige Dame, bei der er irgendetwas kaufte. Er konnte Karoline auch nicht vergessen, während er die Briefmarke leckte. Noch nie hatte er mit so viel Liebe eine Briefmarke geleckt. Es waren wunderliche Gedanken, die ihm da kamen, Gedanken, die er nicht mehr gehabt hatte, seit er ein Jüngling gewesen war, und vielleicht noch in der ersten Zeit mit seiner Frau. Aber wenn er es sich recht überlegte, war es damals doch ganz anders. Er war schließlich ein anderer Mensch gewesen, und erst Karoline hatte ihn aus diesem grauen Leben erweckt, und nun wusste er mit den vielen, neuen Farben noch nicht recht umzugehen. Das war seine zweite Pubertät.
Die Zukunft wird es weisen, sagte er sich, während er den Brief in das Postkästchen gleiten ließ. Würde Wagenrad Karoline in das Konservatorium aufnehmen, so würde Köck sie als Schülerin verlieren, und der Gedanke quälte ihn. Und bald ärgerte er sich auch darüber, Wagenrad in dieses gottverdammte Dorf eingeladen zu haben. Warum hatte er nicht angeboten, Karoline in die Stadt zu bringen? In einem richtigen Konzertsaal musste ihre Stimme ja noch besser zur Geltung kommen, und außerdem würde Wagenrad nach der langen Anreise ohnehin missgestimmt sein. Wenn er denn überhaupt kommen würde! Ganz kurz überkam Köck sogar eine gewisse Freude darüber, dass Karoline niemals aus dem Dorf geholt werden würde, aber im nächsten Moment schämte er sich für seinen Egoismus.
Als er wieder in Liebwies ankam, war er sich sicher, Karolines Karriere nicht einen Zentimeter weitergebracht zu haben, und fühlte sich sogar, als hätte er sie vollständig zerstört. Jedes Mal, wenn er Karoline sah, spürte er einen Stich im Herzen, und er war direkt froh, dass sie sich niemals in die Augen schauen konnten.