Perle und Stasia sind so sehr eins, dass sie nicht einmal sagen können, wo die eine anfängt und die andere aufhört. In ihrer Kindheit üben sie jeden Tag, gleich viele Schritte zu gehen, gleich viele Wörter zu sprechen, gleich zu lächeln. Als sie im Herbst 1944 aus dem Ghetto in Łódź nach Auschwitz deportiert werden, ziehen sie die Aufmerksamkeit von Josef Mengele auf sich, der eineiige Zwillinge für seine medizinischen Versuche sammelt. Innerhalb von Mengeles »Zoo« erfahren die Schwestern Privilegien, aber auch unvorstellbaren Schrecken. Unterschiedlichen Experimenten ausgesetzt, treiben sie immer weiter voneinander fort – und dann verschwindet Perle spurlos. Als das Lager wenige Wochen später durch die Rote Armee befreit wird, entkommt Stasia nur knapp den Todesmärschen. In den verwüsteten Landschaften Polens macht sie sich mit Feliks, einem weiteren Opfer Mengeles, auf die Suche nach ihrer anderen Hälfte.

 

Hanser E-Book

AFFINITY KONAR

 

MISCHLING

 

Roman

 

Aus dem Englischen von Barbara Schaden

 

 

Carl Hanser Verlag

 

 

Für Philip und für meine Familie

TEIL 1

STASIA

1   
WELT UM WELT

 

Wir wurden geschaffen, einst. Meine Zwillingsschwester Perle und ich. Genauer gesagt, Perle wurde geformt, und ich spaltete mich von ihr ab. Sie prägte sich der Gebärmutter ein, ich kopierte ihre Signatur. Acht Monate lang trieben wir in Fruchtwasserschneefall, zwei rosige Fäustlinge, die am Innenfutter unserer Mutter lagen. Ich konnte mir nichts Großartigeres vorstellen als den Mutterleib, den wir uns teilten, doch als das Gerüst unserer Gehirne stand und unsere Milzen fertig waren, wollte Perle die Welt jenseits von uns sehen. Und daher katapultierte sie sich mit dem Mut des Neugeborenen aus unserer Mutter hinaus.

Obwohl zu früh geboren, war Perle ein Witzbold und schlau obendrein. Ich redete mir ein, es sei nur einer ihrer Tricks; sie würde gleich wieder zurückkommen und mich auslachen. Doch als Perle nicht wiederkam, ging mir die Luft aus. Haben Sie mal zu leben versucht, wenn der beste Teil von Ihnen davontreibt und irgendwo in ungewisser Ferne verweilt? Wenn ja, wissen Sie sicher um die Gefahren dieses Zustands. Nachdem mir die Luft ausgegangen war, zog mein Herz gleich nach, und mein Hirn wurde von einem undenkbaren Fieber erfasst. Als rosiger Fötus hatte ich folgende Erkenntnis: Ohne meine Schwester war ich ein abgetrenntes, unwürdiges Ding, ein liebesunfähiges Wesen.

Also heftete ich mich an ihre Fersen und ließ mich von behandschuhten Arzthänden herausziehen und nach einem Klaps auf den Hintern ans Licht halten. Es sei hier darauf hingewiesen, dass ich während der gesamten Prozedur dieses ungewollten Übergangs kein einziges Mal schrie. Auch dann nicht, als sich unsere Eltern kurzerhand über meinen Wunsch hinwegsetzten, ebenfalls Perle genannt zu werden.

Stattdessen wurde ich Stasia. Und als die lästige Geburtsarbeit hinter uns lag, betraten wir die Welt aus Familie, Klavierspiel und Büchern, der in Schönheit und Staunen vorüberziehenden Tage. Wir waren uns so ähnlich – dauernd ließen wir Murmeln vom Fenster aus auf die Pflastersteine fallen und sahen ihnen mit dem Fernglas nach, wie sie hügelabwärts davonrollten, wollten wissen, wie weit ihr kleines Leben sie trüge.

Auch diese Welt, diese vor Ehrfurcht wimmelnde Welt, endete. So wie die meisten Welten.

Aber ich muss Ihnen auch erzählen, dass wir noch eine andere Welt kannten. Manche meinen, es sei die Welt, die uns am meisten formte. Das würde ich als Irrtum bezeichnen, aber vorläufig lassen Sie mich davon sprechen, wie wir in unserem zwölften Lebensjahr in diese Welt eintraten, indem wir uns ganz hinten in einem Güterwaggon aneinanderdrängten.

Während der Fahrt, die vier Tage und vier Nächte dauerte, schummelten wir uns unter Mamas und Sejdes Anleitung ins Überleben. Unsere Nahrung bestand aus einer Zwiebel, die wir einander hin- und herreichten und deren gelbe Haut wir ableckten. Zur Ablenkung spielten wir das Spiel, das Sejde sich für uns ausgedacht hatte; es hieß Einteilung der Lebewesen. Eine Art Scharade, bei der man ein Lebewesen darstellen musste, und die Mitspieler mussten Spezies, Geschlecht, Familie und so weiter erraten, bis hin zur Pracht eines ganzen Reichs.

Wir mimten unendlich viele Lebewesen in diesem Güterwaggon, vom Bären bis zur Schnecke und zurück – wir müssten unbedingt, sagte Sejde mit seiner vor Durst brüchigen Stimme, das Universum so gut organisieren, wie es uns in unserer allzu menschlichen Beschränktheit möglich sei –, und als der Güterwaggon endlich anhielt, brach ich auch meine Scharade ab. Meiner Erinnerung nach wollte ich Mama eben davon überzeugen, ich sei eine Amöbe. Kann sein, dass ich ein anderes Lebewesen darstellte und die Amöbe nur deshalb in Erinnerung behalten habe, weil ich mich in jenem Moment so winzig fühlte, so durchscheinend und zerbrechlich. Ich weiß es nicht mit Sicherheit.

Als ich mich schon geschlagen geben wollte, wurde die Waggontür aufgeschoben.

Und das eindringende Licht erschreckte uns so sehr, dass uns die Zwiebel hinfiel und über die Rampe hinunterrollte, ein scharf riechender, halbgegessener Mond, der vor den Füßen eines Aufsehers landete. Seine Miene stelle ich mir angewidert vor – ich kann sie mir nur vorstellen, denn ich sah sie nicht. Er hielt sich ein Taschentuch vor die Nase und nieste mehrmals, dann hob er seinen Stiefel über unsere Zwiebel; der Schatten, den er warf, verfinsterte die kleine Kugel. Wir sahen die Zwiebel weinen, während er sie zermalmte, ihre Tränen waren bitterer Brei. Dann trat er noch näher, und wir suchten schleunigst in Sejdes weitem Mantel Deckung. Eigentlich waren wir dafür längst zu groß, doch die Furcht ließ uns schrumpfen, und wir wühlten uns in die Mantelfalten um seinen abgemagerten Körper, sodass unser Großvater zu einer unförmigen, vielbeinigen Gestalt wurde. In seinem Schutz blinzelten wir. Dann hörten wir ein Geräusch – ein Stampfen, ein Poltern – die Aufseherstiefel waren direkt vor uns.

»Was soll denn das für ein Insekt sein?«, fragte er Sejde und klopfte mit seinem Stock an jedes Mädchenbein, das unter dem Mantel hervorschaute. Unsere Knie brannten. Der Aufseher schlug auch auf Sejdes Beine. »Sechs Beine? Eine Spinne?«

Es war klar, dass der Aufseher keine Ahnung von Lebewesen hatte. Er hatte schon zwei Fehler gemacht. Aber Sejde hielt es nicht für nötig, darauf hinzuweisen, dass Spinnen keine Insekten sind und dass sie in Wirklichkeit acht Beine haben. Was er sonst sehr gern tat – in einem spielerischen Singsang pflegte er unsere Irrtümer über Lebewesen zu korrigieren, denn für ihn musste alles seine Ordnung haben. Hier aber, hier war es zu gefährlich, detailliertes Wissen über kriechendes oder als niedrig geltendes Getier zu äußern, sonst wurde man womöglich zu vieler Gemeinsamkeiten mit ihnen bezichtigt. Wir hätten es besser wissen und aus unserem Großvater kein Insekt machen sollen.

»Ich hab dich was gefragt«, wiederholte der Aufseher und versetzte unseren Beinen abermals einen Stockhieb. »Was für eins?«

Auf Deutsch gab Sejde ihm Auskunft: dass er Tadeusz Zamorski heiße. Fünfundsechzig Jahre alt. Polnischer Jude. Dann schwieg er, als wäre damit alles gesagt.

Und wir hätten gern an seiner Stelle weitergemacht, jedes Detail erzählt: dass Sejde mal Professor für Biologie gewesen sei. Dass er jahrzehntelang sein Fach an Universitäten unterrichtet habe, aber auch Experte in vielen anderen Dingen sei. Dass man ihn fragen müsse, wenn man ein Gedicht erklärt haben wollte. Oder wenn man wissen wollte, wie man auf den Händen läuft oder einen Stern findet: Er zeigte es einem. Mit ihm sahen wir mal einen Regenbogen, der in einer einzigen Farbe leuchtete, in Rot, wir sahen ihn einen Berg und ein Meer überspannen, und oft wollte Sejde auf die Erinnerung daran anstoßen. Auf die unerträgliche Schönheit!, sagte er, und seine Augen standen voller Tränen. Er liebte Trinksprüche so sehr, dass er sie wahllos, beinahe zu jeder Gelegenheit ausbrachte. Auf morgendliches Schwimmen! Auf die Linden vor dem Tor! Und in den letzten Jahren war dies sein beliebtester Spruch: Auf den Tag, an dem mein Sohn lebendig und unverändert zurückkehrt!

Aber nichts davon sagten wir dem Aufseher, so sehr wir es uns gewünscht hätten – es blieb uns in der Kehle stecken, und der Zwiebeltod in unmittelbarer Nähe hatte uns die Tränen in die Augen getrieben. Daran war die Zwiebel schuld, sagten wir uns, nichts sonst, und wir wischten die Tränen weg, damit wir durch die Löcher in Sejdes Mantel sehen konnten, was draußen geschah.

Durch diese Löcher sahen wir, wie von Bullaugen eingefasst, fünf Gestalten: drei kleine Jungen, ihre Mutter und einen Mann in weißem Kittel, der einen Stift über einem kleinen Buch gezückt hielt. Die Jungen faszinierten uns – wir hatten nie zuvor Drillinge gesehen. In Łódź hatte es außer uns noch ein weiteres Zwillingspaar gegeben, ebenfalls Mädchen, ein Trio aber war nur etwas aus Büchern. Ihre Zahl beeindruckte uns, allerdings übertrumpften wir sie an Übereinstimmung. Alle drei hatten die gleichen dunklen Locken und Augen, den gleichen schlaksigen Körper, doch ihr Ausdruck war unterschiedlich – einer blinzelte in die Sonne, während die anderen beiden die Stirn runzelten, und ihre Gesichter fielen erst in eins, als der Mann im weißen Kittel in alle drei Handflächen ein Bonbon legte.

Die Mutter der Drillinge war anders als alle anderen Mütter im Güterwaggon – ihre Sorge hatte sie gut verborgen, und sie stand so reglos da wie eine angehaltene Uhr. Eine Hand schwebte wie in nicht enden wollendem Zögern über den Köpfen ihrer Söhne, als habe sie kein Recht mehr darauf, sie zu berühren; eine Auffassung, die der Mann im weißen Kittel nicht teilte.

Er war eine einschüchternde Gestalt, mit blitzblank polierten schwarzen Schuhen und ebenso glänzendem dunklen Haar, und seine Ärmel waren so weit, dass sich der herabhängende Stoff bauschte und flog, wenn er den Arm hob, und unverhältnismäßig viel Himmel verdeckte. Er sah aus wie ein Filmstar und neigte zur Theatralik; Freundlichkeit quoll so augenscheinlich über sein Gesicht, als wollte er die gesamte Umgebung wissen lassen, wie außerordentlich seine guten Absichten waren.

Zwischen der Mutter und dem Mann im weißen Kittel wurden Worte gewechselt. Es schienen umgängliche Worte zu sein, allerdings redete der Mann sehr viel mehr als sie. Wir hätten gern gehört, was gesprochen wurde, aber vermutlich reichte es schon, dass wir sahen, was danach geschah: Die Mutter strich mit den Händen über die dunklen Wolken der drei gleichen Haarschöpfe, dann wandte sie sich ab und überließ ihre Kinder dem Mann im weißen Kittel.

Er sei Arzt, sagte sie, ehe sie mit wankenden Schritten davonging. Bei ihm hätten sie es gut, versicherte sie ihnen, und sie blickte nicht zurück.

Als unsere Mutter dies hörte, stieß sie einen leisen Schrei aus und schnappte nach Luft; dann streckte sie die Hand aus und zupfte den Aufseher am Ärmel. Ihre Kühnheit war ein Schock. Wir waren eine ängstliche Mutter gewohnt, eine, die zitterte, wenn sie beim Metzger etwas verlangte, eine, die sich vor der Putzfrau versteckte. Als flösse Pudding durch ihre Adern, so angstbebend und nachgiebig war sie, und seit Papas Verschwinden war es besonders schlimm geworden. Im Güterwaggon hatte sie sich nur aufrecht halten können, indem sie Mohnblumen an die Holzwände zeichnete. Stempel, Blütenblatt, Staubgefäß – sie zeichnete mit merkwürdiger Konzentration, und sobald sie damit aufhörte, brach sie zusammen. Doch hier auf der Rampe gewann sie auf einmal neue Festigkeit – mit einer Haltung stand sie da, die Ausgehungerte und Erschöpfte eigentlich niemals aufbringen. Hatte die Musik diese Veränderung bewirkt? Mama hatte Musik immer geliebt, und hier wimmelte es von hellen, fröhlichen Tönen, sie drangen bis zu uns herein und lockten uns mit argwohnerregendem Jubel aus dem Güterwaggon. Im Lauf der Zeit lernten wir die Abgründe dieser List ermessen und waren auf der Hut vor festlichen Melodien, auf deren Grund nur Schmerz und Leiden lauerten. Bald wussten wir, dass das Orchester die Aufgabe hatte, alle Ankommenden in die Irre zu führen. Sie waren gezwungen, diese Musiker, mit ihrer Begabung die Ahnungslosen zu umgarnen und ihnen einzureden, sie seien an einen Ort geraten, der nicht ohne Sinn für das Menschliche und Schöne war. Musik – sie ließ die eintreffenden Massen wieder Mut schöpfen, floss neben ihnen her, wenn sie das Tor durchschritten. War das der Grund, weshalb Mama so viel Kühnheit aufbrachte? Ich erfuhr es nie. Aber ich bewunderte sie für ihren Mut.

»Ist es gut hier – wenn man doppelt ist?«, fragte sie den Aufseher.

Er nickte kurz und rief den Arzt, der im Staub kauerte, um auf Augenhöhe mit den Jungen reden zu können. Es sah aus, als unterhielten sich die vier aufs Herzlichste.

»Zwillinge!«, rief ihm der Aufseher zu.

Der Arzt überließ die Drillinge einer Aufseherin und kam herübergeschlendert, und seine glänzenden Stiefel wirbelten den Staub auf. Er war liebenswürdig zu unserer Mutter und nahm ihre Hand, als er sie ansprach.

»Sie haben besondere Kinder?« Seine Augen schienen uns freundlich.

Mama, mit einem Mal gedämpft, trat von einem Fuß auf den anderen. Sie versuchte, ihre Hand seinem Griff zu entwinden, doch er hielt sie fest, und dann fing er auch noch an, sie mit behandschuhten Fingerspitzen zu streicheln, als wäre sie ein verwundetes, aber leicht zu besänftigendes Wesen.

»Nur Zwillinge, keine Drillinge«, entschuldigte sie sich. »Hoffentlich reicht es.«

Das Lachen des Arztes war laut und prächtig und hallte in den Hohlräumen von Sejdes Mantel wider. Wir waren erleichtert, als es verebbte und wir hören konnten, wie Mama unsere Begabungen herunterratterte.

»Sie können ein bisschen Deutsch. Ihr Vater hat es ihnen beigebracht. Im Dezember werden sie dreizehn. Ordentliche Leserinnen, alle beide. Perle liebt Musik – sie ist von rascher Auffassungsgabe, praktisch, sie lernt tanzen. Stasia, meine Stasia« – an dieser Stelle stockte Mama, als sei sie unsicher, wie sie mich einstufen sollte; dann erklärte sie: »Sie hat Phantasie.«

Der Arzt hörte diese Informationen mit Interesse an und rief uns auf die Rampe hinaus.

Wir zögerten. Besser war die stickige Luft unter dem Mantel. Draußen ging ein grauer, angesengter Wind, der uns unser ganzes Elend in Erinnerung rief, und darunter lag Brandgeruch. Gewehre warfen Schatten, und Hunde kläfften und sabberten und knurrten, wie es nur zur Grausamkeit gezüchtete Hunde können. Doch ehe wir noch tiefer zurückweichen konnten, zog der Arzt den Mantelvorhang beiseite. Wir blinzelten ins Sonnenlicht. Eine von uns knurrte. Es könnte Perle gewesen sein. Wahrscheinlich war ich es.

Wie könne es sein, wunderte sich der Arzt, dass diese vollkommenen Gesichtszüge für derart mürrische Mienen vergeudet würden? Er zog uns heraus, zwang uns, uns einmal um die eigene Achse zu drehen, und ließ uns dann zurücktreten, um uns genau studieren zu können.

»Lächeln!«, befahl er.

Warum gehorchten wir diesem Befehl? Unserer Mutter zuliebe, glaube ich. Ihretwegen grinsten wir, sogar als sie sich, helle Panik im Gesicht, an Sejdes Arm klammerte. Zwei Schweißtröpfchen rannen über ihre Stirn. Seit wir in den Güterwaggon gestiegen waren, hatte ich es vermieden, unsere Mutter anzusehen. Stattdessen sah ich die Mohnblumen an, die sie malte; ich konzentrierte mich auf die fragilen Blüten ihrer Gesichter. Doch irgendetwas an ihrer unechten Miene machte mir klar, was aus Mama geworden war: eine hübsche, aber schlaflose Halbwitwe mit verblasster Persönlichkeit. Einst die adretteste Frau, die man sich denken kann, war sie jetzt am Ende; ihr Gesicht war staubverschmiert, und der Spitzenkragen hing ihr schlaff um den Hals. In ihren vor Sorge zerbissenen Mundwinkeln hatten sich trübe Perlen aus Blut gebildet.

»Das sind Mischlinge?«, fragte er. »Dieses flachsblonde Haar!«

Mama zerrte an ihren dunklen Locken, als schämte sie sich ihrer Schönheit, und schüttelte den Kopf.

»Mein Mann – er war blond«, brachte sie heraus. Eine andere Antwort hatte sie nie, wenn sie nach unserer Haarfarbe gefragt wurde, die manchen Betrachter darauf beharren ließ, wir seien gemischtrassig. Als wir heranwuchsen, hörten wir dieses Wort, Mischling, immer öfter; dass es in unserer Gegenwart fiel, hatte Sejde auf die Idee von der Einteilung der Lebewesen gebracht. Kümmert euch nicht um den Nürnberger Rassenwahn, pflegte er zu sagen, ignoriert das Gerede von Mischlingen, Rassenvermischung, Vierteljuden und Sippschaft, diese absurden, abscheulichen Tests, die versuchen, unser Volk bis auf den letzten Blutstropfen, bis hinein in Ehe und Gotteshaus zu spalten. Wenn ihr dieses Wort hört, sagte er, setzt auf die Vielfalt aller Lebewesen. Haltet den Kopf hoch, in Ehrfurcht davor.

Als ich aber vor diesem weißbekittelten Arzt stand, wusste ich, dass Sejdes Rat in nächster Zeit schwer zu befolgen wäre, weil wir an einem Ort waren, der Sejdes Spiele nicht erhörte.

»Gene sind etwas Sonderbares, nicht wahr?«, sagte der Arzt.

Mama versuchte nicht mal, sich auf dieses Gespräch einzulassen.

»Wenn sie mit Ihnen gehen« – und dabei sah sie uns nicht an – »wann werden wir sie wiedersehen?«

»An eurem Sabbat«, versprach der Arzt. Dann wandte er sich uns zu und schwärmte von unseren Einzelheiten – wie schön, dass wir Deutsch sprächen, sagte er, wie schön, dass wir blond seien. Nicht schön fand er, dass wir braune Augen hatten, allerdings könne sich dies, bemerkte er gegenüber dem Bewacher, noch als nützlich erweisen – er beugte sich noch näher, um uns zu inspizieren, streckte sogar eine behandschuhte Hand aus, um meiner Schwester übers Haar zu streichen.

»Du heißt also Perle?« Allzu leicht tauchte seine Hand in ihre Locken, als täte sie seit Jahren nichts anderes.

»Sie heißt nicht Perle«, sagte ich. Ich trat vor, um mich vor meine Schwester zu stellen, doch Mama zog mich fort und sagte zu dem Arzt, ja, ganz recht, er habe das richtige Mädchen benannt.

»Also spielen sie gern Streiche?«, sagte er und lachte. »Verraten Sie mir Ihr Geheimnis – woher wissen Sie, wer wer ist?«

»Perle zappelt nicht«, war alles, was Mama sagte. Ich war froh, dass sie nicht näher auf unsere erkennbaren Unterschiede einging. Perle trug eine blaue Haarspange. Ich eine rote. Perle sprach ruhig. Meine Worte kamen gehetzt heraus, verhaspelten sich hin und wieder, waren durchlöchert von Pausen. Perle war blass wie ein Mehlkloß. Ich hatte Sommersprossen wie ein Pferd. Perle war ganz Mädchen, ich wollte ganz Perle sein, doch so sehr ich mich auch bemühte, ich konnte nur ich sein.

Der Arzt bückte sich, sodass unsere Gesichter auf gleicher Höhe waren.

»Warum lügst du denn?«, fragte er mich. Und wieder lachte er, geradezu anheimelnd.

Wäre ich ehrlich gewesen, hätte ich gesagt, dass Perle meiner Ansicht nach die Schwächere von uns beiden sei und ich sie schützen zu können glaubte, indem ich sie würde. Stattdessen erzählte ich ihm eine Halbwahrheit. »Manchmal vergesse ich, welche ich bin«, sagte ich lahm.

Und von da an erinnere ich mich nicht mehr. An dieser Stelle möchte ich im Geist zurück- und hinuntergehen, vorbei am Rums-Bums von Stiefeln und Koffern, um wenigstens den Hauch eines Abschieds zu finden. Denn wir hätten doch sehen müssen, wie wir unsere Liebsten verloren, wir hätten in der Lage sein müssen, ihnen nachzuschauen, während sie davongingen, hätten den genauen Zeitpunkt unseres Verlusts kennen müssen. Hätten wir nur gesehen, wie ihre Gesichter sich von uns abwandten, das letzte Aufblitzen eines Auges, eine letzte Wangenrundung! Ein sich abwendendes Gesicht – das gönnten sie uns nie. Aber warum durften wir nicht einmal ihre Rücken sehen, um diesen Anblick zu bewahren, nur die sich entfernenden Rücken? Nur den flüchtigen Eindruck von einer Schulter, einem Stück Wollmantel? Den Anblick von Sejdes Hand, die schwer neben ihm herabhing – von Mamas Zopf, der sich im Wind hob!

Und wo unsere Liebsten hätten sein sollen, da hatten wir nur die erste Bekanntschaft mit diesem Mann im weißen Kittel, Josef Mengele, demselben Mengele, der sich während seiner vielen Jahre im Untergrund Helmut Gregor, G. Helmuth, Fritz Ulmann, Fritz Hollman, José Mengele, Peter Hochbichler, Ernst Sebastian Alves, José Aspiazi, Lars Ballstroem, Friedrich Edler von Breitenbach, Fritz Fischer, Karl Geuske, Ludwig Gregor, Stanislaus Prosky, Fausto Rindón, Fausto Rondon, Gregor Schklastro, Heinz Stobert und Dr. Henrique Wollman nennen sollte.

Der Mann, der sein tödliches Wirken unter diesen zahlreichen Namen begraben würde – er sagte, wir sollten ihn Onkel Doktor nennen. Wir mussten ihn so nennen, einmal, dann noch einmal, damit wir uns daran gewöhnten, keine Fehler machten. Bis wir den Namen so oft wiederholt hatten, dass er zufrieden war, war unsere Familie schon verschwunden.

Und als wir die Leere sahen, wo Mama und Sejde gestanden hatten, da fällte mich ein jähes Erkennen, denn ich sah auf einmal, dass diese Welt im Begriff war, eine sehr andere Kategorisierung von Lebewesen zu erfinden. Was für ein Lebewesen aus mir werden sollte, wusste ich damals noch nicht, der Aufseher aber ließ mir keine Zeit, darüber nachzudenken – er packte mich am Arm und zog daran, bis Perle ihm versicherte, sie werde mich stützen, und sie schlang mir den Arm um die Taille, als wir zusammen mit den Drillingen weggebracht wurden, fort von den Gleisen und in den Staub, auf eine kleine Straße, die an der Sauna vorbei zu den Krematorien führte, und als wir in diese neue Ferne hineingingen, während rechts und links von uns der Tod aufragte, sahen wir Leichen auf einem Karren, schwärzlich und übereinandergestapelt, und eine der Leichen – sie streckte die Hand aus, sie suchte nach einem Halt, als wäre da eine unsichtbare Leine in der Luft, die nur die Fast-Toten sehen konnten. Ihr Mund bewegte sich. Wir sahen eine rosarote Zunge schlenkern und kämpfen, aber Worte hatte sie nicht mehr.

Ich wusste, wie wichtig Worte für ein Leben waren. Wenn ich der Leiche einige von meinen gab, dachte ich, ließe sie sich vielleicht ins Leben zurückholen.

War es dumm von mir, so etwas zu denken? Schwachsinnig? Wäre mir der Gedanke auch an einem Ort ohne versengt riechenden Wind und weißgeflügelte Ärzte gekommen?

Das sind berechtigte Fragen. Ich stelle sie mir oft, habe aber nie versucht, Antworten zu finden. Die Antworten gehören mir nicht.

Ich weiß nur eines: Ich starrte die Leiche an, und die einzigen Worte, die ich heraufbeschwören konnte, waren nicht meine eigenen. Sie stammten aus einem Lied, das ich auf einem geschmuggelten Plattenspieler in unserem Ghettokeller gehört hatte. Es hatte mir jedes Mal Trost gespendet, daher versuchte ich es damit.

»Would you like to swing on a star?«, sang ich der Leiche vor.

Kein Laut, keine Regung. Lag es an meiner Piepsstimme? Ich versuchte es noch einmal.

»Carry moonbeams home in a jar«, sang ich.

Es war ein erbärmlicher Versuch, ich weiß, aber ich hatte immer daran geglaubt, dass die Welt in der Lage sei, sich selbst wieder zurechtzurücken, einfach so, mit einer kleinen Freundlichkeit. Und wenn keine Freundlichkeit in Sicht ist, erfindet man sich neue Regeln und Systeme, an die man glauben kann, und in diesem Moment, an diesem Ort, glaubte ich – mag es Dummheit oder Schwachsinn gewesen sein – an die Fähigkeit des menschlichen Körpers, sich mit dem Atem eines Wortes wiederzubeleben. Aber es war klar, dass die Zeilen aus diesem Lied auf keinen Fall die richtigen waren. Keines seiner Worte konnte das Leben in diesem Körper freisetzen oder war stark genug, um ihn zu reparieren. Ich suchte nach einem anderen Wort, einem guten Wort, das ich hergeben konnte – es musste eines geben, ich war mir ganz sicher –, aber der Aufseher ließ mich nicht. Er zerrte mich weg und trieb uns weiter voran, hatte es eilig, uns geduscht und registriert und nummeriert zu sehen, damit unsere Zeit in Mengeles Zoo beginnen konnte.

Auschwitz war errichtet worden, um Juden einzusperren. Birkenau war errichtet worden, um sie mit größerer Effizienz umzubringen. Nur ein paar Kilometer lagen zwischen dem einen und dem anderen Unheil. Wozu dieser Zoo diente, wusste ich nicht – ich konnte mir nur schwören, dass Perle und ich nie in einen Käfig gesperrt würden.

 

__________

 

Die Baracken des Zoos waren einst Pferdeställe gewesen; jetzt waren sie mit unseresgleichen vollgestopft: Zwillinge, Drillinge, Fünflinge. Hunderte und Aberhunderte von unseresgleichen, alle in Betten gepackt, die keine Betten waren, sondern Streichholzschachteln, enge Schächte, in die Körper hineingesteckt wurden, und übereinandergetürmt vom Boden bis zur Decke; und in diesen beklemmenden Gerüsten mussten drei, vier Körper gleichzeitig Platz finden, sodass ein Mädchen kaum wusste, wo es aufhörte und wo die Nachbarin anfing.

Wo immer man hinsah, war ein Duplikat, eine Eineiige. Lauter Mädchen. Traurige Mädchen, Mädchen, die kaum laufen gelernt hatten, Mädchen aus fernen Ländern, andere, die aus unserem Heimatort hätten stammen können. Manche der Mädchen waren still, hockten auf ihren Strohmatratzen wie Vögel auf der Stange und musterten uns. Als wir an ihnen vorbeigingen, sah ich die Auserwählten, diejenigen, die auserkoren waren, auf bestimmte Weise zu leiden, während ihre anderen Hälften unversehrt blieben. Von fast jedem Zwillingspaar hatte das eine ein schlimmes Bein, eine verformte Wirbelsäule, ein verbundenes Auge, eine Wunde, eine Narbe, eine Krücke.

Als Perle und ich in unsere Schlafkoje krochen, wurden wir von den bewegungsfähigen Zwillingen bestürmt. Sie kletterten über die wackeligen Holzgestelle mit ihren Strohmatratzen, begutachteten unsere Ähnlichkeit, fragten uns aus.

Wir seien aus Łódź, sagten wir. Erst ein Haus. Dann ein Keller im Ghetto. Wir hätten einen Großpapa, eine Mutter. Einen Vater hätten wir auch mal gehabt. Und Sejde, unser Großvater, habe einen alten Spaniel gehabt, der sich tot stellen konnte, wenn man nur mit dem Finger auf ihn zeigte, aber dann gleich wieder zum Leben erwachte. Hatten wir schon erwähnt, dass unser Vater Arzt war und anderen so selbstlos half, dass er eines Nachts verschwand? Dass er uns verließ, um sich um ein krankes Kind zu kümmern, und nie zurückkehrte? Ja, er fehlte uns dermaßen, dass wir auch gemeinsam das Gewicht unserer Trauer nicht tragen konnten. Es gebe noch manches, vor dem wir uns fürchteten: Keime, ein trauriges Ende in Büchern, Mama, wenn sie weinte. Es gebe manches, das wir liebten: Klaviere, Judy Garland, Mama, wenn sie weniger weinte. Aber wer waren wir wirklich? Es gab nicht viel zu sagen, außer dass die eine von uns eine gute Tänzerin war und die andere sich bemühte, aber außer neugierig zu sein, nichts wirklich gut konnte. Das war ich.

Zufrieden mit diesen Informationen, gaben die anderen ebenfalls Auskunft, wobei sie einander lautstark das Wort aus dem Mund nahmen.

»Wir kriegen hier mehr Essen«, begann Rachel, die so bleich war, dass man beinahe durch sie hindurchsehen konnte.

»Aber es ist nicht koscher, es frisst einen von innen her auf«, wandte ihre ebenso durchscheinende zweite Hälfte ein.

»Wir behalten unsere Haare«, sagte Scharon und zog demonstrativ an ihrem Zopf.

»Bis wir Läuse kriegen«, ergänzte ihre geschorene Schwester.

»Wir behalten auch unsere Kleidung«, sagte eine der Russinnen.

»Aber sie malen uns Kreuze auf den Rücken«, beendete ihre Doppelgängerin den Satz. Sie drehte sich um, damit ich das mit knallroter Farbe aufgemalte Kreuz sehen konnte, aber das war nicht nötig. Auch zwischen meinen Schulterblättern war ein rotes Kreuz.

Die Stimmen verstummten mit einem Schlag, und die ungebetene Stille legte sich auf uns alle – es war, als hätte sich eine Wolke in den Dachsparren des Zoos eingenistet. Die vielen Duplikate sahen einander fragend an – irgendwas muss doch sein, sagten ihre Mienen, mehr als Essen und Haare und Kleidung. Aus der Koje unter uns meldete sich eine Stimme. Wir reckten den Hals nach der Sprecherin, doch sie und ihr Zwilling lagen ineinander verschlungen an die Ziegelwand gedrückt. Wie sie aussah, erfuhren wir nie, aber ihre Worte prägten sich uns für immer ein.

»Sie sorgen dafür, dass unseren Familien nichts passiert«, sagte die ungesehene Fremde.

Daraufhin nickten alle Mädchen zustimmend, und Perle und ich wurden von einer neuen Woge von Stimmen überschwemmt, denn alle beglückwünschten einander, dass sie aus Familien kamen, die, im Unterschied zu so vielen anderen, intakt bleiben würden.

Das Naheliegende wollte ich nicht fragen. Ich kniff Perle, damit sie für uns fragte.

»Warum sind wir wichtiger als die anderen?« Ihre Stimme schrumpfte gegen Ende der Frage zusammen.

Eine Flut von Antworten brach los, alle hatten mit Aufgabe und Größe, mit Reinheit und Schönheit und Nützlichkeit zu tun. Keine einzige leuchtete uns ein.

Und ehe ich auch nur versuchen konnte, irgendetwas von diesen Ideen zu verstehen, kam die blokowa herein, die Blockführerin, die uns beaufsichtigte. Hinter ihrem gewaltigen Rücken nannten wir diese Person Ochse; sie sah aus wie ein Kleiderschrank mit Toupet und neigte zu Aufstampfen und Nüsternblähen, wenn sie bei einer ihrer leidenschaftlichen Tiraden angetroffen wurde, die unser angeblicher Ungehorsam häufig auslöste. Doch als Perle und ich ihr vorgestellt wurden, war sie nur eine Gestalt, die den Kopf zur Tür hereinstreckte, halb von der Dunkelheit draußen verschluckt und durch unsere Fragen beleidigt.

»Warum heißt das hier Zoo?«, fragte ich. »Wer hat das beschlossen?«

Ochse zuckte die Achseln. »Ist das nicht offensichtlich?«

Nein, sagte ich. Die Zoos, von denen wir mit Sejde gelesen hatten, waren Reservate, in denen die Vielfalt des Lebens gezeigt wurde. Hier ging es nur um den unheilvollen Akt des Sammelns.

»Der Name gefällt Doktor Mengele«, sagte Ochse nur. »Viele Antworten werdet ihr hier nicht finden. Und jetzt schlaft! Schlaf ist was, das ihr haben könnt. Jetzt lasst mir meinen!«

Hätten wir nur schlafen können. Die Dunkelheit war so dunkel, wie ich es noch nie erlebt hatte, und der Geruch heftete sich mir in die Nase. Aus der Koje unter uns kam ein Stöhnen, draußen bellten Hunde, und mein Magen knurrte unaufhörlich. Ich versuchte, mich mit einem unserer Buchstabenspiele abzulenken, doch immer wieder wurde mein Alphabet durch das Geschrei der Wächter draußen übertönt. Ich wollte Perle zum Mitspielen bewegen, doch sie fuhr nur eifrig mit den Fingerspitzen über das Silbernetz, das unsere Ziegelecke verzierte, um meine geflüsterten Fragen besser ignorieren zu können.

»Wärst du lieber eine Uhr, die nur die guten Zeiten misst?«, fragte ich sie. »Oder eine Uhr, die singt?«

»Ich glaube nicht mehr an Musik.«

»Ich auch nicht. Nicht mehr. Aber wärst du lieber eine Uhr …«

»Wieso soll ich überhaupt eine Uhr sein? Habe ich denn keine andere Wahl?«

Ich wollte einwenden, dass wir, als Lebewesen, als menschenartige Personen, die wahrscheinlich noch am Leben waren, uns manchmal selbst als Gegenstände ansehen müssten, um über die Runden zu kommen. Dass wir uns verstecken müssten und erst dann an Reparatur denken könnten, wenn solche Gedanken ungefährlich seien. Stattdessen bedrängte ich sie mit einer weiteren Frage.

»Wärst du lieber der Schlüssel zu einem Ort, der uns rettet, oder die Waffe, die unsere Feinde vernichtet?«

»Ich wäre lieber ein richtiges Mädchen«, sagte Perle dumpf. »Wie früher.«

Ich hätte gern eingewendet, dass Spiele ja eine Hilfe seien, damit sie sich wieder wie ein richtiges Mädchen fühlen könne, aber ich war mir selber nicht ganz sicher, ob das auch stimmte. Seitdem die Nazis uns nummeriert hatten, war das Leben nicht wiederzuerkennen, und in der Dunkelheit waren die Zahlen alles, was ich sehen konnte, und noch schlimmer war, dass man auf keinen Fall so tun konnte, als seien sie irgendwie weniger haltbar oder ernst oder blau. Meine waren verschmiert und undeutlich – ich hatte getreten und gespuckt, sie hatten mich festhalten müssen –, aber eine Nummer war es doch. Perle war auch nummeriert, und ich hasste ihre Zahlen noch mehr als meine, weil sie herausstrichen, dass wir zwei eigenständige Menschen waren, und als eigenständige Menschen kann man auch getrennt werden.

Ich würde uns wieder zurücktätowieren, sagte ich zu Perle, so bald wie möglich, damit wir wieder so wären wie früher, aber sie seufzte nur; es war der für Augenblicke schwesterlicher Frustration typische Seufzer.

»Es reicht mit den Geschichten. Du kannst nicht tätowieren.«

Gut genug, sagte ich. Ich hätte es von einem Seemann gelernt, in Danzig. Ich hätte seinen Bizeps mit einem Anker verziert.

Stimmt, das war eine Lüge. Eigentlich aber nur eine halbe Lüge, denn ich hatte tatsächlich mal bei einer Ankertätowierung zugesehen. Einmal, als wir zur Sommerfrische ans Meer gefahren waren, hatte ich meine Zeit damit zugebracht, ins graue Innere eines Tätowierladens zu spähen, in dem eine Bordüre aus Schiffs- und Schwalbensilhouetten um die Wände lief. Perle hingegen hatte einen Jungen gefunden, mit dem sie neben dem muschelbewachsenen Bug eines Boots Händchen hielt. Während also meine Schwester die Heimlichkeiten von Haut an Haut, Hand in Hand erforschte, schulte ich mich in den Intimitäten von Nadeln und dem Eintauchen einer Spitze, die so dünn war, dass nur ein Traum auf ihr Platz fand.

»Irgendwann mache ich uns wieder gleich«, beharrte ich. »Ich brauche nur eine Nadel und Tinte. Das muss doch irgendwie zu beschaffen sein, schließlich sind wir was Besonderes.«

Perle machte ein finsteres Gesicht und kehrte mir ostentativ den Rücken zu – das hölzerne Brett, auf dem wir lagen, stöhnte knarrend auf –, ihr Ellenbogen stach in die Höhe und mir in die Rippen. Es war ein Versehen – Perle hätte mir niemals absichtlich wehgetan, und sei’s auch nur, weil sie den Schmerz selber spürte. Das war einer der schlimmsten Stacheln dieser Schwesternschaft: Ein Schmerz gehörte nie einer allein. Wir hatten keine andere Wahl – jedes Leiden musste geteilt werden, und mir war klar, dass wir an diesem Ort eine Möglichkeit finden mussten, den Schmerz aufzuteilen, ehe er sich zu vervielfältigen begann.

Während ich darüber nachdachte, hatte ein Mädchen auf der anderen Seite der Baracke ein Licht aufgetrieben, ein kostbares Streichholzheftchen, und fand, dieses seltene Gut wäre am besten dafür verwendet, dem Barackenpublikum Schattenfiguren vorzuführen. Und so kam es, dass wir in den Schlaf hinüberglitten, während Schattengestalten über die Wände huschten, immer in Zweierreihen, eine neben der anderen, als wäre es eine Prozession zu einer unsichtbaren Arche, die sie in Sicherheit brächte.

So viel Welt bevölkerte die Schatten dort! Die Gestalten flatterten und krochen und krabbelten auf die Arche zu. Kein einziges Leben war zu gering. Der Blutegel behauptete sich, der Tausendfüßler bummelte dahin, die Grille zirpte sich vorwärts. Vertreter des Sumpfs, des Gebirges, der Wüste – alle duckten sich und wanden sich und streunten durch den Schatten. Ich klassifizierte sie immer paarweise, und dass ich dies so ordentlich tun konnte, tröstete mich. Doch ihr Weg zog sich hin, die Flammen begannen zu verlöschen, und die Schattengestalten verzerrten sich. Buckel wuchsen auf ihren Rücken, ihre Gliedmaßen trieben auseinander, das Rückgrat löste sich auf. Sie verwandelten sich und wurden monströs. Sie erkannten einander nicht wieder.

Doch solange das Licht lebte, hielten sich auch die Schatten. Und das war doch schon etwas.