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Zum Geleit

Zwei der Autoren dieses Buches sind Hundetrainer: Ute Heberer und Normen Mrozinski haben sich auf das Aggressionsverhalten von Hunden spezialisiert, und Ute Heberer leitet zudem ein Tierheim mit dem Schwerpunkt der Gruppenhaltung. Die dritte Autorin, Dr. Nora Brede, kommt aus der Evolutionsbiologie und arbeitet in der von ihr mitbegründeten und mitgeführten Ausbildungsstätte für Hundetrainer KynoLogisch.

Durch die Zusammenarbeit dieser Autoren entstand eine höchst gelungene Synthese von theoretischem Wissen und fein verstandener praktischer Erfahrung und damit eines der ausgewogensten Werke über das Aggressionsverhalten von Hunden. Praxisbezogenes muss keineswegs Schwächen haben, wenn es – wie hier – auf den theoretischen Dreh- und Angelpunkt bezogen, trefflich analysiert und dargestellt wird. Die Kooperation aus Theorie und Praxis überzeugt, sie ist schlicht wunderbar gelungen.

Es war das Jahr 2000, nach dem schrecklichen Beißvorfall in Hamburg, als Aggression zur Gefährlichkeit mutierte und der Hund zur »Bestie« wurde. Gefahrhundeverordnungen wurden in blindem Aktionismus erlassen und Hunderassen in gefährliche und ungefährliche separiert.

Seitdem wurden etliche Gesetze nachgebessert, Aggression wurde und wird jedoch immer wieder mit Gefährlichkeit gleichgesetzt, was natürlich unsinnig und faktisch nicht haltbar ist. Gefährliche (respektive aggressive) und ungefährliche Rassen gibt es gleichfalls nicht als biologische Kategorie, auch wenn die – je nach Bundesland variierenden (!) – Rasselisten in unschöner Uneinigkeit anderes verkünden.

Das vorliegende Buch setzt sich überaus kenntnisreich mit dem aggressivem Verhalten auseinander, legt den Fokus etwa auf kommunikative Möglichkeiten und soziales Verhalten des Hundes sowie die jeweilige Einschätzung des Menschen. Denn Aggression ist ein soziales Regulativ, das etwa im Zuge eines Konfliktes auftritt, eine Kommunikation, die zugeordnet und beantwortet werden muss. Es gilt, »Einzelelemente in ihrer Gesamtheit zu erkennen und die Mischmotivation als Handlungsspielraum wahrzunehmen«, so der kluge Hinweis auf Grautöne. Rassebesonderheiten, die zu diesbezüglichen Fehleinschätzungen führen können, werden benannt.

Sowohl in der Konfrontation mit dem Menschen als auch mit Art-genossen dient das aggressive Ausdrucksverhalten in den meisten Fällen der Vermeidung und der – unblutigen – Lösung von Konflikten. Damit Ritualisiertes in diesem Kontext funktionieren kann, ist es zwingend erforderlich, dass Hunde über entsprechend weitreichende Lernerfahrungen im Umgang mit Artgenossen und Menschen verfügen.

Panik und Gleichmacherei sind ein schlechtes Duo, wenn es um die Prophylaxe von durch Hunde verursachte Beißzwischenfälle geht. Wichtig ist immer die individuelle Genese des Geschehens, will man Beißzwischenfälle verstehen und zukünftig wirkungsvoll verhindern.

»Gefährlichen Hunden« liegen also höchst unterschiedliche Genesen zugrunde, sowohl die frühe Verhaltensontogenese, in der gerade auch der Umgang mit Sozialpartnern in Konfliktsituationen oder bei Rivalitäten »prägend« gelernt wird (werden muss!) als auch das zum Zeitpunkt eines Übergriffs bestehende soziale Umfeld des Tieres mit allen Besonderheiten seiner Einbindung in dieses.

Zum entscheidend wichtigen Lernen in der Sozialisierungsphase eines Hundes sei gesagt:

Den grundsätzlichen Schlüssel zur aggressiven Kommunikation zwischen Hunden und Menschen liefert für mich das Antwortverhalten des Menschen auf soziale Exploration des Hundes: Der Welpe zwickt – und der Mensch antwortet nonverbal mit »Nein«. So lernt der Kleine über das regulierende Sich-Einbringen des Menschen. Gibt es dafür keine Möglichkeiten, wird sein Weg schwieriger werden.

Das Zusammenleben mit Menschen und deren Einflussmöglichkeiten auf das soziale Verhalten des Hundes sind ein ganz entscheidender Faktor zur Kennzeichnung seiner sozialen Möglichkeiten, seiner Verträglichkeit und Eingepasstheit in das Zusammenleben mit Menschen allgemein.

Es geht also um die Erziehung von Hunden, darum, dass Hunde von vornherein die Regeln des sozialen Miteinanders lernen und ganz klar wissen, dass sie in ein soziales System eingebunden sind, das ihnen Freiheit durch Grenzsetzung gibt. Dazu gefiel mir sehr: »Dominanz gibt es in einer Beziehung da, wo sie ein Hund anwendet und ein anderer sie akzeptiert. Dominanz ist im übertragenen Sinne das ›Bitte‹, das wir an die Essensbestellung anhängen. Es ist die Forderung nach dem Aufräumen des Zimmers, bevor es Taschengeld gibt«. Diese Sicht kommt der Dominanz sehr feinfühlig sehr nah, so finde ich.

Brandgefährlich bleibt das »unabsichtliche Aggressionstraining respektive Beutefangtraining«.

Die Verwechslung von Jagdverhalten und Aggression ist ein alter Irrtum, auf den Konrad Lorenz bereits in den 1960er-Jahren verwies. Jagdverhalten hat nichts mit Aggressivität zu tun, kein Hund hat dem Hasen oder Reh gegenüber aggressive Motive, an beiden Verhaltensbereichen sind unterschiedliche neuronale Schaltkreise beteiligt.

Der Vollständigkeit halber sei hier hinzugefügt: Doch, Jagdterrier »vergessen« sich mitunter.

Gefährlich wird es, wenn sich Sequenzen beider Bereiche lernbedingt verbinden, wenn also letztendlich aus Aggressionsverhalten ein jagdliches Motiv wird. Denn für dieses ist die Endhandlung das Töten der Beute.

Auf all diese Bereiche und noch weit mehr gehen die Autoren des vorliegenden Buches ein. Schließlich werden Fallbeispiele aus dem Alltag von Tierheimen und Hundetrainern vorgestellt, so individuell, wie es der Hund mit seiner Geschichte und seinen Erfahrungen ist und – mit großer Vorsicht wie Umsicht – einige Vorgehensweisen beim Training.

Die Berichte verdeutlichen, wie wenig normiert und einfach Aggressionsverhalten zu kategorisieren ist und beeindrucken durch einen grundlegend soliden Kenntnis- wie Erfahrungsschatz, gepaart mit großer Feinfühligkeit und Liebe zum Hund.

Ein rundum geglücktes Buch zu einem immer wieder verkannten Verhaltensbereich. In diesem Sinne, danke für das schöne Buch!

Dr. Dorit Urd Feddersen-Petersen
Ethologin
Fachtierärztin für Verhalten und Tierschutz
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

KAPITEL 1

Wer hat Angst
vor dem bösen Hund?

Dass Hunde ihre Zähne zur Lösung von Konflikten einsetzen, ist nicht neu. Trotzdem reagieren viele Hundehalter schockiert, wenn ihr geliebter Vierbeiner einen Artgenossen oder – noch schlimmer – einen Menschen beißt. Wie konnte das passieren? Ist mein Hund gefährlich? Was passiert jetzt mit ihm und was muss ich tun? Sorge und Verunsicherung sind die Folge, und das nicht ohne Grund. Gerade wenn Hunde Menschen beißen, müssen wir als Hundehalter mit erheblichen Konsequenzen rechnen: Wird der Vorfall zur Anzeige gebracht, drohen uns Auflagen, die der Gesetzgeber vorsieht, um die Umwelt vor dem »gefährlichen« Hund zu schützen. Ein Sachkundenachweis und der Wesenstest sind dabei vielleicht – und je nach Hund – sogar noch die Hürden, die sich der Halter zu nehmen zutraut. Eine erhöhte Hundesteuer, die für gefährliche Hunde je nach Bundesland angesetzt wird, kann sich empfindlich auf den Kontostand auswirken, und in schwierigen Fällen wird ein dauerhafter Leinen- und Maulkorbzwang für den Hund auferlegt. Letztlich und im ungünstigsten Fall droht allerdings etwas, wovor sich die meisten Hundehalter fürchten: Die Wegnahme oder Einschläferung des geliebten Tieres.

Der Umgang mit dem Thema »aggressiver Hund« und die Reaktionen auf ein solches Verhalten haben sich in den letzten zwei Jahrzehnten massiv gewandelt. Wenn wir als kleine Kinder auf dem Land den Hofhund des Bauern von nebenan geärgert haben und dieser uns als Quittung in die Finger gebissen hatte, durften wir uns bei unseren Eltern eine ordentliche Standpauke darüber abholen, dass man fremde Hunde nicht anfasst und vor allem nicht ärgert. Spätestens als im Jahr 2000 ein tödlicher Beißvorfall mit einem Kind die Gesellschaft erschütterte, wurde – von Medien ordentlich befeuert – kaum noch sachlich diskutiert, sondern in blindem Aktionismus eine Reihe von Gesetzen und Verordnungen erlassen, die die Bevölkerung vor der vermeintlichen »Bestie Hund«, wie eine große deutsche Boulevardzeitung titelte, schützen sollten. Was dabei herauskam, ist hinlänglich bekannt. Hunde, die bis dato ein Leben als ganz normaler Familienhund geführt hatten, galten fortan als gefährlich, weil sie auf einer – je nach Bundesland variierenden – Rasseliste standen.

Es ist schon verrückt: Wären Sie beispielsweise wohnhaft in Bad Camberg in Hessen und würden sich einen Dogo Argentino kaufen, dann gälte dieser als gefährlich – mit allen Konsequenzen. Verlegen Sie indes Ihren Wohnort in das zwanzig Kilometer entfernte Bundesland Rheinland-Pfalz, dann würde der Hund vom Gesetzgeber als harmlos angesehen werden, denn er steht dort nicht auf der Rasseliste. Dass es sich bei der Rasse Dogo Argentino um einen Jagdhund und nicht um einen sogenannten »Kampfhund« handelt, ist dabei unerheblich. Der Mastino Napoletano findet sich auch auf verschiedenen Rasselisten, mit dem Hinweis darauf, dass diese Rasse für Hundekämpfe verwendet wurde – im alten Rom vor ca. 2 000 Jahren wohlgemerkt. Der Mastino von heute hat praktisch nichts mehr mit seinen Vorfahren gemein und ist körperlich kaum mehr in der Lage, gegen wen oder was auch immer zu kämpfen. Eindrücklich lässt sich der Wandel dieser Rasse verfolgen, wenn man historische Abbildungen, wie Mosaiken aus der römischen Zeit, mit den heutigen Gewinnern von Rasseschauen vergleicht. Vor dem Gesetz spielt diese Tatsache in der Bewertung allerdings keine Rolle. Recherchiert man weiter, dann stellt man auch fest, dass es kein wissenschaftlich haltbares Gutachten gibt, das eine Einteilung in gefährliche und ungefährliche Rassen zulassen würde.

Das sind nur einige Argumentationsansätze, die die Fragwürdigkeit unserer Hundegesetze verdeutlichen. Die noch fragwürdigere Art und Weise, wie das »Wesen« des Hundes dann tatsächlich getestet wird, haben wir noch nicht einmal angesprochen. Unbestritten ist allerdings, dass es Rassen gibt, die ein gewisses Potenzial haben, als »gefährlich« auffällig zu werden. Unter ihnen finden sich vermeintliche Familienhunde, Vertreter von als ungefährlich eingestuften Hunderassen, die es in sich haben und die wegen der Merkmale, die einst durch Zuchtauslese in dieser Rasse gefördert wurden, Artgenossen und Menschen zumindest potenziell ernsthaft verletzen würden.

Der überwiegende Teil der Hunde, die mit Beißvorfall vorstellig werden, sind Familienhunde – so leben Hunde nun einmal in unserer heutigen Gesellschaft. Wie eingangs schon erwähnt, ist es nichts Neues, dass Hunde beißen, und es ist für diejenigen, die sich beruflich mit Hunden beschäftigen, in etwa so überraschend wie die Tatsache, dass Politiker ihre Wahlversprechen häufig nicht einhalten. Was sich jedoch unserem Empfinden nach massiv geändert hat, ist unser Umgang mit Aggression. Das hängt sicher auch damit zusammen, welche Rolle unsere Hunde heute in unserem Leben einnehmen. Der Hund ist sprichwörtlich der beste Freund des Menschen – viel mehr noch: Für viele Menschen ist er ein Sozialpartner und subjektiv empfunden ein echtes Familienmitglied. Schließen wir den Kreis zu der Thematik, um die es hier geht, dann wird deutlich, wie eminent wichtig die Frage ist: Wer möchte schon einen »Gewalttäter« in seinem innersten Kreis haben?

Aggressives Verhalten begegnet uns eigentlich immer und überall, sei es, weil wir selbst einen aggressiven Fahrstil pflegen, die Spieler unseres Lieblingsfußballvereins aggressiv in die Zweikämpfe gehen oder weil der Gewerkschafter aggressive Verhandlungen führt, damit wir mehr Gehalt bekommen. Dass auch wir Menschen aggressiv sind, scheint vollkommen normal, wenn man diese Beispiele als das nimmt, was sie objektiv betrachtet sind: Aggression. Denn die Aggressivität – die Biologie beschreibt damit die innere Bereitschaft des Organismus, sich aggressiv zu verhalten – ist bei uns allen vorhanden. Und jeder von uns, der mal kurz vor einem wichtigen Termin im Stau stand oder auf die verspätete Bahn wartete, kennt das Gefühl, wenn die innere Bereitschaft ansteigt, dem Erstbesten, der sich unseres Erachtens fehlverhält, mal so richtig ordentlich »die Meinung zu geigen«. Die Frage ist, ob unser Verhalten dann angemessen ist oder nicht. Wenn wir am Steuer schimpfen und fluchen, um unserem Ärger Luft zu machen, ist das völlig in Ordnung (außer die Fenster sind geöffnet oder das Abteil voll besetzt). Steigen wir jedoch wutentbrannt aus dem Auto und treten unserem Nebenmann eine Beule in die Fahrertür oder gar an das Schienbein, so wäre das ein inadäquates Verhalten. Ob wir aber angemessen reagieren oder nicht, hängt von vielen Faktoren ab. Einer der wichtigsten ist, dass wir erst einmal lernen müssen, was im Rahmen des Akzeptierten liegt und was nicht. Der Mensch lernt das gewöhnlich in der Familie, im Kindergarten und während der Schulzeit – und wir sind uns sicher, jeder von uns hat sich hier und da einmal ausprobiert und einmal über die Stränge geschlagen.

Dasselbe gilt im Grunde auch für unsere Hunde, und gleichzeitig liegt da häufig die Ursache des Problems. Viele Hunde haben mit acht oder neun Wochen die letzte Chance, sich in Sachen aggressiver Kommunikation zu probieren – mit ihrer Mutter und ihren Wurfgeschwistern. In vielen Welpengruppen, die die neuen Halter dann besuchen, wird Aggressionsverhalten sofort unterbunden. Die Folge ist, dass jungen Hunden mitunter elementare Lernerfahrungen vorenthalten werden, auch wenn das nicht absichtlich geschieht. Wenn dann im Lauf der Entwicklung die Hormone mit dem geliebten Vierbeiner durchgehen und es – aus seiner Sicht – plötzlich gute Gründe gibt, die Zähne einzusetzen, sind das Erstaunen und der Schreck bei den Besitzern groß.

In diesem Buch möchten wir dem Thema »Aggressionsverhalten beim Hund« den Schrecken nehmen und es als das darstellen, was es erst einmal ist: ein angeborenes, evolutionsstabiles, weil überlebensnotwendiges und deswegen völlig normales Verhalten. Warum und weshalb es zu schlimmen Vorfällen kommen kann, wo die Ursachen und Auslöser für das Verhalten liegen und wie man damit gegebenenfalls umgehen oder es bestenfalls verhindern kann – dafür möchten wir in diesem Buch Ansätze liefern und aus unserer praktischen Arbeit berichten. Denn ein Hund, der knurrt, ist nicht gefährlich. Er kommuniziert. Diese schöne Formulierung stammt von der hochgeschätzten Verhaltenswissenschaftlerin Dr. Dorit Feddersen-Petersen. Unsere Hunde brauchen nicht nur die Möglichkeit zu kommunizieren, sie sollten auch das Recht haben, sich wie Hunde verhalten zu dürfen. Sie haben uns jede Menge mitzuteilen, und wenn es uns gelingt, ihre Botschaften zu verstehen, dann können wir nicht nur viel Leid bei Mensch und Hund verhindern, sondern unser Leben mit Hunden auch um wertvolle Aspekte bereichern.

In diesem Sinne wünschen wir Ihnen viel Freude mit diesem Buch.

Aggression ist Normalverhalten

Ethologisch, also verhaltenswissenschaftlich betrachtet, gehört Aggression zu einem Komplex von Verhaltensweisen, die in ihrer Gesamtheit als agonistisches Verhalten bezeichnet werden (siehe Exkurs »Ethologie«). Besonders ausgeprägt findet man jede Form agonistischen Verhaltens bei höheren Lebewesen, die in Sozialverbänden leben, weil sie ein unerlässlicher Teil der Kommunikation ist. Die Agonistik umfasst zwei sehr gegensätzlich wirkende Verhaltensweisen, nämlich das Offensiv- oder Angriffsverhalten und das Defensiv- oder Abwehrverhalten: nach vorn im Fall eines Angriffs und nach hinten, wenn ein Hund auf Abwehr geht oder sogar flüchtet. Ausgelöst wird es meist durch eine Störung eines Artgenossen oder eben eines Menschen – Ziel ist es immer, die eigenen Interessen durchzusetzen. Das eigene Interesse kann dabei eine ganz unterschiedliche Motivation haben: Einen Rivalen zu vertreiben, den beliebten Liegeplatz zu behalten, der Krallenschere zu entgehen oder eben sein Leben vor einer (vermeintlichen) Gefahr zu retten. Über das Ausmaß agonistischen Verhaltens in seiner natürlichen Form sollte man sich immer bewusst sein, denn nur dann kann man das Erlebte aus diesem Bereich – und damit auch das aggressive Verhalten – im rechten Licht betrachten. Feddersen-Petersen (2001) formulierte es folgendermaßen:

Aggression ist ein unverzichtbarer Bestandteil des Sozialverbandes, ein Regulativ für das Zusammenleben, für das ausgewogene Zusammenarbeiten und Streiten um Ressourcen, Requisiten und Randbedingungen (Futter, Platz, Bindungspartner) in hierarchisch strukturierten Verbänden, Rudeln oder Gruppen.

Bevor wir uns im Folgenden mit den verschiedenen Formen der Aggression beschäftigen, so wie sie von der Ethologie beschrieben und erforscht wurden, setzen wir uns noch mit einem weiteren, oft missverständlich verwendeten Begriff auseinander, der Aggressivität. Der Begriff der Aggressivität beschreibt die innere Bereitschaft eines Lebewesens, sich aggressiv zu verhalten, und ist bei allen von uns mehr oder weniger stark ausgeprägt. Mehr noch, Gattermann (2006) formulierte die Aggressivität als ein Maß, das im Dienst einer Reihe verschiedener Funktionskreise (siehe hierzu den Exkurs zum Thema »Funktionskreise«) steht.

Was geht in unserem Kopf vor?

Dass wir bereit sind, uns aggressiv zu verhalten, hat die Natur klug eingerichtet. Denn weil sich aggressive Verhaltensweisen im Lauf der Evolution als nützlich herausgestellt haben, existieren sie heute noch. Im Umkehrschluss kann man auch sagen: Weil es heute bei allen höheren Lebewesen immer noch Aggression gibt, muss sie einen Sinn haben. Man spricht in so einem Fall von einer sogenannten evolutionsstabilen (oder evolutionär stabilen) Strategie, abgekürzt ESS (engl. »evolutionary stable strategy«). Was eine evolutionsstabile Strategie auszeichnet, ist, dass sie, sofern sie von einem genügend großen Anteil einer Population angewandt wird, durch keine neu auftretende Strategie mit Hilfe von natürlicher Selektion ersetzt werden kann. Evolutionär stabile Strategien können (müssen aber nicht) sich dann ändern, wenn sich die Umwelt verändert und eine neue Strategie erfolgreicher ist. Das ist im Fall aggressiven Verhaltens offensichtlich nie passiert, wenn man den Menschen und die gesellschaftlichen Normen einiger westlicher Kulturen einmal außen vor lässt. Genau wie beim Hund dient die Aggression auch bei uns Menschen erst einmal der Sicherung und Verteidigung unserer Ressourcen, der Eroberung und Verteidigung unseres Territoriums und schließlich der Lösung von Konflikten oder gar der Rettung des eigenen Lebens. In unseren Kulturkreisen werden wir aber in den allermeisten Fällen höchstens zu verbaler Aggression greifen und sie damit durch Worte kommunizieren – ein tatsächlicher physischer Angriff ist per Gesetz verboten und verursacht empfindliche Konsequenzen. Heutzutage kann sogar schon ein aggressiv unterlegtes Handzeichen (wie zum Beispiel einem anderen Autofahrer einen Vogel oder Schlimmeres zu zeigen) rechtliche Konsequenzen haben. Aggression ist verpönt, weil Gewalt zu Recht verboten ist (siehe Exkurs »Aggression und Gewalt«).

Doch was passiert da eigentlich in unserem Körper, wenn wir Aggression empfinden? Wenn wir uns ärgern oder wütend sind, geht so eine Empfindung immer mit ähnlichen physiologischen Symptomen einher. Die Reaktion unseres Körpers – und im Übrigen auch jedes anderen Säugetierkörpers – wird durch sogenannte Neurotransmitter, die Botenstoffe der Nervenzellen, und Hormone, die wiederum auch Neurotransmitter sein können, aber eigentlich die Botenstoffe der Gewebe und Organe sind, reguliert. Es gibt eine ganze Reihe dieser Botenstoffe, die in verschiedener Weise und Zusammensetzung gewährleisten, dass wir auf eine Situation angemessen reagieren. Kommt es zum Ernstfall, also einer akuten Bedrohungssituation, dann stößt unser Körper zunächst einmal Adrenalin aus dem Nebennierenmark aus. Viele von uns kennen sicher den »Adrenalinkick« aus der Achterbahn oder aus dem Horrorfilm im Kino. Das Hormon Adrenalin versetzt unseren Körper in Alarmbereitschaft und bereitet uns optimal darauf vor, zu kämpfen oder – der Klügere gibt nach – zu flüchten. Während der Körper in einen Erregungszustand mit verbesserter Wahrnehmungsfähigkeit gerät, stellt er gleichzeitig zusätzliche Energie bereit, um unsere Reaktion zu verbessern. Durch eine Veränderung des Zusammenspiels von Noradrenalin und Serotonin wird Einfluss auf die Aktivitäten des Stammhirns und des Großhirns genommen. Dadurch werden auf der einen Seite unsere Pupillen erweitert, damit wir besser sehen können, weil nun mehr Licht unsere Netzhaut erreicht, unser Herzschlag und unsere Atmung beschleunigt, damit die Muskulatur mit mehr Sauerstoff versorgt werden kann, und die Muskelaktivität selbst wird gesteigert, damit wir schneller reagieren. Auf der anderen Seite werden in dieser Situation belastende Körperfunktionen wie zum Beispiel unsere Verdauung eingeschränkt. Schließlich konnten es unsere Vorfahren kaum gebrauchen, im Angesicht eines Säbelzahntigers erst mal zu stoffwechseln. Mit »fight or flight«, also den Reaktionen Kampf oder Flucht, hat Walter Cannon, ein Pionier der Stressforschung, diese Reaktionen bereits 1915 beschrieben (siehe auch Exkurs »Kleine Hormonlehre«).

Diese Form von Stress, der wir in einer akuten Situation ausgesetzt sind, nennt man auch aktiven oder positiven Stress beziehungsweise Eustress. Ein Säbelzahntiger klingt zwar nicht nach positivem Stress, aber die Reaktion unseres Körpers ist es sehr wohl – immerhin dient sie unserem Überleben. Eustress erhöht die Bereitschaft des Körpers zu maximaler Leistungsfähigkeit, ohne ihm zu schaden. Die Funktionsfähigkeit wird optimal gesteigert. Eustress kann unserem Körper darüber hinaus ein Glücksgefühl verschaffen, fast wie in einen »positiven Rausch« versetzen. Auch hierfür ist ein Hormon (beziehungsweise ein Neurotransmitter) zuständig, nämlich Dopamin, das Glückshormon. Sportler kennen das – mitunter süchtig machende – Wohlgefühl, wenn der Körper auf voller Leistung »arbeitet«. Etwa zehn Minuten nach der Adrenalinausschüttung folgt dann das in der Nebennierenrinde gebildete Cortisol, das den Körper vor einer Überbelastung durch Adrenalin schützt und für eine anhaltende Wachsamkeit auf einem etwas geringeren Energielevel sorgt. In Wettkämpfen kann man immer wieder Sportler beobachten, die es schaffen, in dieser besonderen Situation ihre Jahresbestleistung zu überbieten oder einen Rekord zu brechen – dabei haben die ausgeschütteten Hormone einen beträchtlichen Anteil an der erbrachten außergewöhnlichen Leistung, die sich dann aber eben nicht immer wieder abrufen lässt, weil der Körper auf einen Sonderfall reagiert hat. Aktiver Stress ist eine situationsabhängig positive Reaktion des Körpers und schadet nicht, weil sie nur zeitbegrenzt abrufbar ist.

Erst wenn wir einem Stressor dauerhaft ausgesetzt sind oder keine lösungsorientierte Strategie haben, mit dem Stressor umzugehen, wird es für unseren Körper und damit für unsere Gesundheit unangenehm. Der Cortisolspiegel bleibt neben dem Ungleichgewicht anderer Botenstoffe hoch und doch gibt es keine Aktivitäten, um den Spiegel wieder zu senken. Aus der ursprünglich akuten Reaktionsbereitschaft wird eine andauernde Stressbelastung, die dann als passiver oder negativer Stress beziehungsweise Distress bezeichnet wird. Die Folgen von Distress sind uns hinreichend bekannt, es entsteht eine hormonelle Überlastung des Organismus mit gesundheitlichen Folgen. Es kommt zu körperlichen und psychischen Problemen. Studien ordnen heute ganz unterschiedliche Symptome den Folgen von Distress zu: Konzentrationsstörungen, Bluthochdruck, Tinnitus, neurologische Ausfälle, Migräne, ja sogar Impotenz und das inzwischen allseits bekannte Burnout-Syndrom, eine depressive Erkrankung. Nicht alles lässt sich eins zu eins auf Hunde übertragen – aber die Formen des Stresses, Eustress und Disstress, existieren auch bei ihnen.

Beide Formen des Stresses kommen vor und sind für den Körper ein natürliches Mittel, um sich angemessen zu verhalten. Nicht mehr und nicht weniger. Eustress kann dabei ein Auslöser für aggressives Verhalten sein, ebenso aber – und dann, wie wir später erläutern werden, in Form von Verhaltensstörungen – auch Distress.

Aggression versus Gewalt

Ob wir aggressiv agieren beziehungsweise reagieren, hängt maßgeblich mit unserem Entwicklungsstand, unserer Sozialisation, unseren Lernerfahrungen hinsichtlich möglicher Taktiken im Umgang mit Bedrohungsszenarien und schließlich ein Stück weit mit unserer Genetik zusammen. Kleine Kinder müssen lernen, ihr Selbstbild auf andere zu projizieren, also in der Lage sein zu erkennen, dass es dem Gegenüber wehtut, wenn man ihm einen Bauklotz an den Kopf wirft. Diese Fähigkeit bezeichnet man als Empathie. Abhängig vom Forschungszweig und der Differenzierung verschiedener frühkindlicher Mechanismen rund um die Empathie geht man davon aus, dass die Veranlagung dazu angeboren ist, sich aber eine Erkenntnis dazu erst ausbildet, wenn Kleinstkinder sich selbst in einem Spiegel wahrnehmen können und damit ein Selbstbildnis haben, das sie vergleichend mit dem Gegenüber heranziehen können. Während diese Entwicklung mit circa zwei Jahren beginnt, verliert der Mensch in den folgenden Jahren diesen angeborenen Mechanismus und ersetzt ihn durch die sogenannte kognitive Empathie. Bis in die Pubertät »erforscht« der junge Mensch nun seine Grenzen und die der anderen. Auch deshalb ist es unabdingbar, dass kleine Kinder sich niemals unbeaufsichtigt mit Hunden oder anderen Haustieren vergnügen dürfen, weil die Fähigkeit, die (Schmerz-)Grenze des Hundes zu erkennen, entwicklungsbedingt entweder noch gar nicht vorhanden ist oder zumindest so wenig ausgereift ist, dass ein für das Kind sicherer Umgang noch nicht möglich ist.

Ist der Begriff der Empathie schon ein vielverwendeter und noch häufiger diskutierter, dann ist das Ausmaß an Emotion, das mit dem Begriff »Gewalt« verbunden wird, mitunter kaum überschaubar. Das ist insofern problematisch, als »Gewalt«, »Gefahr« und »Aggression« oftmals unbedarft in einen Topf geworfen werden. Von den Medien angeheizt und sorglos eingesetzt und von unkritischen und hetzenden Stimmen weitergereicht, wird so schnell jeder aggressive Hund gefährlich und gleicht einem Gewalttäter – oder eben der mordenden Bestie. Berichte, gespickt mit raffiniert in Szene gesetzten Hunden, schüren Ängste und sprechen so jene Emotionen bei den Lesern und Zuhörern an, die für das meiste Feedback sorgen. Ein altbekannter medialer Kniff, der besonders in den letzten Jahrzehnten und im Kampf der Druckpresse gegen das Internet exzessiv angewandt wird.

Wer sich mit Definitionen beschäftigt, der wird bald feststellen, dass besonders der Begriff »Gewalt« keine allgemeingültige hat. Ganz anders als der biologisch genau beschriebene und nicht erst 1963 durch Konrad Lorenz erforschte Begriff der Aggression, stellt »Gewalt« ein mächtiges, aber auch diffuses Wort dar. Aber warum beschäftigen wir uns in diesem Abschnitt überhaupt mit so einem großen Begriff? Das Bemerkenswerte an natürlicher Aggression ist, dass sie in unserer Gesellschaft aufgrund unserer moralischen Grundsätze emotional praktisch immer als Gewalt empfunden wird. Wo ein Hund, bedingt durch die Situation, auf sein ganz normales Verhaltensrepertoire aus den agonistischen Formen zurückgreift, empfinden wir Gewalt. Gewalt im Sinne einer Machteinwirkung, die uns oder einem anderen gegen seinen Willen widerfahren ist und gegebenenfalls sogar entgegen unserer eigenen moralischen Vorstellung war. Es ist nämlich eine Sache, ob der Hund nach dem Mann schnappt, der ihm gerade absichtlich auf die Rute getreten ist, aber eine ganz andere, wenn er nach dem Kind schnappt, das gerade mit seinem Ball spielt. Gewalt ist oft ein Thema, wenn es darum geht, Hunde zu erziehen – von Gewalt spricht man in der Hundeerziehung dann, wenn der Hund einerseits keine Chance hat, aus der Reaktion des Halters etwas zu lernen, und andererseits eine Reaktion erfolgt, die über das Maß hinaus wirksam ist und in keiner Relation zu der Aktion des Hundes steht. Menschen können Hunden Gewalt antun, und in der heutigen Zeit wird der Hund als Geschöpf so viel wertvoller wahrgenommen, dass sogar im Tierschutzgesetz verankert ist, was man darf und was nicht. Wenn ein Hund sich aber aggressiv verhält, dann tut er das abseits unserer menschlichen moralischen Vorgaben. Auch wenn er in unserer Gesellschaft lebt, folgen seine Reaktionen auf direkterem Weg den Regeln der Natur. Und was bleibt ihm auch anderes? Er kann nicht darüber reden und sich nicht darüber beschweren, wenn er etwas als ungerecht empfindet. Ein Hund, der seinen Platz auf der Couch bis auf die Zähne verteidigt, führt letztlich ein Gespräch über seine Rechte und Grenzen. Wir jedoch stehen fassungslos vor dem geliebten besten Freund des Menschen und sehen eine Situation, die uns vollkommen ohne Relation und deswegen gewalttätig erscheint.

Wenn wir uns mit aggressiven Hunden beschäftigen, so ist es also zuerst elementar, sich bewusst zu machen, dass wir es mit einem Tier zu tun haben, das sein ihm eigenes Verhaltensrepertoire nutzt, um eine Situation in seinem Sinne zu lösen.

Aggression versus Gefährlichkeit

Im Juni 2000 kam es in Hamburg zu einem folgenschweren Vorfall, bei dem ein sechsjähriger Junge von zwei Hunden getötet wurde. Im Zuge dieses schlimmen Ereignisses wurden in kürzester Zeit eine Reihe von Gesetzen und Verordnungen erlassen, um zu verhindern, dass sich ein solches Drama wiederholt. Dr. Dorit Feddersen-Petersen wurde in dem damaligen Fall von dem Gericht damit beauftragt, ein Gutachten zu diesem tragischen Vorfall zu erstellen. Die Rekonstruktion des Vorfalls ergab, dass »während des Ballspielens (der Kinder) auf dem Pausenhof einer Schule zwei unangeleinte Hunde zwischen den Kindern erschienen und begannen, dem Ball nachzujagen. Plötzlich und ohne erkennbare Ursache oder Provokation griffen die beiden American Staffordshire Terrier einen sechsjährigen Jungen an. Herbeigelaufene Helfer konnten die Hunde nicht von dem Jungen ablenken, sodass diese den Sechsjährigen über mehrere Minuten lang attackierten, bis schließlich die Polizei eintraf und die Hunde erschoss. Der Junge verstarb kurze Zeit später am Unfallort. (…)«

Laut einer Studie im Magazin »Rechtsmedizin« verhielt es sich so, dass »die Hunde vor der Tat regelmäßig auf dem Gelände des späteren Tatorts dahingehend trainiert wurden, sich in Ästen oder ›gejagten‹ Bällen festzubeißen. Dieses trainierte ›Beutefangverhalten am Ball‹ endete fatal, als sie eines Tages den Zaun zu den Fußball spielenden Kindern überwanden, einen kleinen Jungen verfolgten, attackierten und töteten. In der Hauptverhandlung führte einer der angeklagten Besitzer der Hunde aus, die Hunde haben nichts Böses ›tun wollen‹, sie hätten ›wohl den Kopf des Jungen mit einem Ball verwechselt‹.« Weiter heißt es in dem Fachartikel: »Diese schlichte Aussage kommt der Wirklichkeit fatal nah: Der Kennreiz Ball war da, die schreienden, laufenden Kinder, Aufgeregtheit – und der Junge wurde das Opfer, keine Beuteattrappe, sondern ein Kind, das attackiert und getötet wurde, so wie ständig am Ball trainiert worden war.«

So richtig und wichtig es war, dass der Staat sich dem Schutz der schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft angenommen hat, so kopflos und faktenfern wurde in den kommenden Monaten und Jahren gehandelt. Bis heute gibt es keine stichhaltige Studie mit einer ausreichend großen Datenmenge und statistisch notwendigen Signifikanzen, anhand derer man eine Einteilung der in unseren Breiten gehaltenen Hunde und Rassen vornehmen könnte. Die immer wieder gezeigten Biss-Statistiken (siehe Exkurs »Kampfhunde«) scheinen sich zumindest nicht zu eignen. In kopflosem Aktionismus wurden Rasselisten erstellt, Definitionen für »gefährliche Hunde« formuliert und für Mensch und Hund gravierende finanzielle oder gar lebensbedrohliche Strafen ersonnen. Jetzt, mehr als eine Dekade nach dem Vorfall, beginnen Bundesländer zaghaft, die Rasselisten wieder abzuschaffen. Bis heute hat es dennoch kein Bundesland geschafft, eine Studie zu veranlassen, die eine bessere Vorgehensweise zum Schutz vor tatsächlich gefährlichen Hunden ermöglichen würde. Die Schweiz setzt seit 1999 auf die allgemeine Aufklärung der Halter und verpflichtet speziell ausgebildete Hundetrainer dazu, im Rahmen eines Sachkundenachweises wenigstens einen Blick auf die gehaltenen Hunde zu werfen.

Insbesondere in der Diskussion um sogenannte Kampfhunde und die damit verbundenen Restriktionen wird Aggression dennoch heute immer wieder mit Gefährlichkeit gleichgesetzt. Diese Vereinfachung ist nicht nur fachlich falsch, sondern auch nicht hilfreich, wenn es darum geht, die Bevölkerung vor gefährlichen Hunden zu schützen. Gefährliche Rassen gibt es zumindest nicht, auch wenn es sicher Rassen gibt, die aufgrund der bei ihrer Zucht betonten Eigenschaften mehr Potenzial haben als andere. Heute ist die Welt der Hundehalter immer noch massiv beeinflusst von dem damaligen Drama – und das ist gut so. Es ist wichtig, dass wir uns darüber bewusst sind, was für ein Tier wir da an unserer Seite führen, welchen Einfluss die immer dichtere Besiedlung hat und welchen die Entfernung von der Natur und dem Tier bei vielen Menschen. Wir haben eine große Verantwortung – aber wir halten auch keine wilde Bestie, sondern ein Tier, das vor über 25 000 Jahren zum Haustier wurde. Und zum besten Freund des Menschen.

Kein Hund wird gefährlich geboren

»Verhaltensbiologisch ist die ›gefährliche Rasse‹ nicht zu benennen, es ist naturwissenschaftlich so unsinnig wie unbewiesen, einer Hunderasse à priori, also ohne Berücksichtigung der feindifferenzierten Verzahnung von genetisch bedingten Handlungsbereitschaften und den obligatorischen Lernvorgängen, eine gesteigerte ›Gefährlichkeit‹ zuzuschreiben.« Dr. Dorit Feddersen-Petersen (2001)

Ob ein Hund im Lauf seiner Entwicklung gefährlich für seine Umwelt wird, hängt von mehreren Faktoren ab. Zunächst einmal spielt die genetische Veranlagung eine Rolle für das spätere Verhalten des Tieres (siehe auch Exkurs »Epigenetische Faktoren«). Einige Hunderassen neigen aufgrund ihrer ursprünglichen Verwendung und den damit verbundenen Zuchtzielen dazu, bestimmtes Problemverhalten wie ein übersteigertes Beutefangverhalten oder »Mannschärfe« an den Tag zu legen. Diese Merkmale wurden vor vielen Jahrhunderten durch den Menschen gezielt herausgezüchtet, damit der Hund eine Arbeit verrichten konnte. Nur die wenigsten Hunde wurden – wie das heute der Fall ist – aus Luxusgründen gehalten. Sie sollten bei der Jagd helfen, den Hof schützen oder die Herde hüten. Der Weimaraner als Vollgebrauchshund wurde beispielsweise nicht nur bei der Jagd eingesetzt, sondern hatte zudem die Aufgabe, die Jagdgesellschaft auf dem Weg zurück zum Anwesen vor Räubern zu schützen. So liefen die Hunde neben der Kutsche her und zeigten Bösewichten sehr deutlich, dass ein Überfall mit sehr schmerzhaften Konsequenzen verbunden sein würde. Diese Mannschärfe war also erwünscht und wurde dementsprechend züchterisch gefördert. Auch wenn die jagdlichen Fähigkeiten des Weimaraners heute immer noch geschätzt werden, die Mannschärfe braucht man heute streng genommen nicht mehr. In unserer modernen Gesellschaft kann sie sogar nachteilig sein. Erst in jüngster Zeit ändern gewisse Zuchtverbände ihre Zuchtzulassungsprüfungen dahingehend, dass ein Hund dieser Rasse nicht mehr Tendenzen zur Mannschärfe zeigen muss, sondern lassen auch solche Hunde zu, die nicht schreckhaft sind, sich aber Fremden gegenüber neutral verhalten.

Herdenschutzhunde sind ein weiteres Beispiel für einen Rassetyp (denn viele Länder und Regionen haben solche Hunde für ihre immer sehr ähnlichen Zwecke gezüchtet), der abseits großer, unbewohnter Ebenen oder menschenleerer Berghänge ein Potenzial dazu hat, gefährlich zu werden. Herdenschutzhunde zeichnen sich durch eine besondere Art der Territorialität aus: Sie bilden sogenannte mobile Territorien.

Der Grund dafür ist einfach: In allen Regionen, in denen Hirten große Herden treiben, damit diese genügend Futter finden, muss der Herdenschutzhund die Umgebung der Herde als sein Territorium ansehen und nicht einen Bauernhof oder eine Weide. Diese Hunde werden oftmals mit dem Vieh (das können Schafe und Ziegen, aber auch Rinder sein) großgezogen und so mit ihnen sozialisiert. Im Folgenden beschützen sie die Herde vor Dieben, Bären und Wölfen – tagein, tagaus –, wo immer sich die Herde gerade befindet. Der freundlich dreinschauende, große weiße »Teddybär« der Rasse Kuvasz kann sich in der Familie mitten in Berlin ebenso verhalten. Und weil er ein mobiles Territorium hat, wird er Besucher nicht gerade freundlich empfangen, dazu neigen, dem Postboten ordentlich den Marsch zu blasen und auch beim sommerlichen Ausflug in die nächste Eisdiele aggressiv reagieren, wenn sich nach einiger Zeit der Kellner nähert. Vierzig bis fünfzig Kilogramm schwere »Teddybären« will man nicht wütend sehen – erst recht nicht mitten in der Stadt in einer Eisdiele mit vielen kleinen und aufgedrehten Kindern.

Diese zwei Beispiele stehen nur exemplarisch für das Potenzial, das manche Rassen mit sich bringen. Nicht jeder Weimaraner ist mannscharf und nicht jeder Kuvasz frisst Postboten. Wer sich aber einen Rassehund (oder eine Mischung daraus) zulegt, der sollte sich ihrer Eigenschaften bewusst sein. Wer das tut, kann eine auftretende Problematik erkennen und dann auch gezielt angehen.

Alles kann, nichts muss

Wir verwenden hier bewusst Begriffe wie »kann« und »neigen dazu«. Denn ob und wie stark ausgeprägt ein Vertreter einer bestimmten Rasse ein Verhalten zeigt, hängt nicht nur damit zusammen, inwieweit dieses Verhalten heute in der Zucht überhaupt noch eine Rolle spielt (siehe das Beispiel des Weimaraners und der veränderten Zuchtzulassungskriterien), sondern vor allem damit, wie die ontogenetische, also die individuelle Entwicklung des Hundes verläuft und welche Lernerfahrungen der Hund im Lauf seines Heranwachsens und -reifens macht. Wenn sich der stolze Welpenkäufer bei der Anschaffung darüber im Klaren ist, was für einen »Typen« er gerade mit nach Hause nimmt, dann hat er auch die Möglichkeit, seinen jungen Hund entsprechend zu fördern und zu erziehen. In der Praxis werden wir immer wieder positiv überrascht, wenn wir Hunde zu Besuch haben, die so gar nicht dem Rasseklischee entsprechen. Tiefenentspannte Malinois, sehr gut verträgliche »Kampfhunde«, gesellige Herdenschutzhunde und auch Labradore, die nicht alles runterschlingen, beweisen, dass es durchaus möglich ist, angeborene Talente und – zumindest aus heutiger Sicht – Schwächen so in die Erziehung zu integrieren, dass Probleme entweder gar nicht erst entstehen oder bewusst und direkt angegangen werden.

Manchmal fällt es schwer, es nachzuvollziehen, aber gerade in unserer Gesellschaft ist es wichtig zu verstehen, dass es mehr Sinn machen kann, nicht die Talente eines Hundes zu fördern, sondern ihm Nachhilfe bei seinen Schwächen zu geben. Wenn unser Kind phantastisch in Mathematik ist, aber eine Fünf in Deutsch hat, dann zitieren wir nicht den Mathe-Nachhilfelehrer herbei. Einem Hund, der ursprünglich für eine bestimmte Aufgabe gezüchtet wurde, mag das eine oder andere Verhalten leichtfallen – einem Australian Shepherd das Hüten, sich viel bewegen, Kläffen und im Notfall das In-die-Hacken-Kneifen. Fraglich ist, ob man diese Eigenschaften wirklich fördern möchte, wenn das alltägliche Auslaufgebiet der kleine Stadtpark ist, in dem es von Joggern und Radfahrern nur so wimmelt. Wäre es nicht sinnvoller und für den Hund nicht auch herausfordernder, etwas zu verbessern, was er nicht so gut beherrscht? Einem Impuls, wie einem vorbeiflitzenden Fahrrad, nicht hinterherzurennen. Den Frust zu ertragen, den spielenden Kindern nicht den Ball wegschnappen zu dürfen. Ruhe zu bewahren, auch wenn der Jogger direkt auf Frauchen zugerannt kommt.

Problematisch wird es, wenn Halter Talente, wie einen Jagdtrieb, aus Unwissenheit fördern und in den Bereich der Unkontrollierbarkeit steigern. Problematisch wird es auch, wenn Halter konflikthafte Tendenzen ignorieren, weil sie sich damit überfordert fühlen oder sie einfach nicht wahrhaben wollen. Und schwierig wird es, wenn Halter am falschen Ende sparen.

Augen auf beim Hundekauf

Gerade mit Blick auf die angeborenen Dispositionen und die individuelle Entwicklung des Welpen kann man sich jede Menge Ärger ersparen, wenn man bei der Suche nach dem Traumhund kritisch ist und sich vorher gut informiert. Natürlich könnte man sich die Frage stellen, wie sinnvoll die Haltung eines Kangals, einer weitereren Herdenschutzhund-Rasse, in einer Zweizimmerwohnung mitten in der Innenstadt ist. Aber machen wir uns nichts vor: Beim Anblick des zuckersüßen Welpen haben wir die Entscheidung längst getroffen und solche Argumente geraten schnell in Vergessenheit. Idealerweise informiert man sich also über die Zuchtstätte, bevor man sich in die Höhle des Löwen begibt und trotz aller möglichen Bedenken auf die Kulleraugen reinfällt. Es hilft aber mitunter auch, wenn man sich bewusst macht, dass auch andere Züchter niedliche Welpen mit Kulleraugen haben. Ein Hund lebt zwischen zehn und fünfzehn Jahre, und er kann in dieser Zeit für viel Freude, aber auch für viel Leid sorgen. Wer sich also nicht sicher ist, wie schwach der eigene Wille beim Anblick eines Welpen ist, sollte gegebenenfalls darüber nachdenken, eine weitere Person mitzunehmen, die dann als Stimme der Vernunft herhalten muss.

Scott und Fuller untersuchten 1965 die Entwicklung von Welpen fünf verschiedener Hunderassen und fanden heraus, dass die Tiere im Zuge ihrer Ontogenese sogenannte sensible Phasen durchlaufen, in denen sie besonders empfänglich für neue Lernerfahrungen sind – man bezeichnet diese kritischen Zeitabschnitte als »Lernfenster«. Insbesondere die als Sozialisierungsphase bezeichnete vierte bis zwölfte Lebenswoche ist für die spätere Entwicklung des Hundes extrem wichtig, allerdings ist der Zeitraum von Rasse zu Rasse unterschiedlich. Feddersen-Petersen fand heraus, dass es Rassen gibt, die sich schneller, und solche, die sich langsamer entwickeln – als Referenz dienten ihr bei ihren Untersuchungen Wölfe (1992). In dieser Zeit, den sensiblen Phasen, sollte der Welpe eine Vielzahl von Erfahrungen und Reizen kennenlernen. Hierzu gehören neue Umgebungen und der Kontakt zu anderen Lebewesen. Die dritte bis achte Lebenswoche stellt laut Scott und Fuller eine »kritische Phase« für die Sozialisation am Menschen dar. Normalerweise ist das die Zeit, die der Welpe beim Züchter verbringt. Hat der Hund in dieser Zeit keine Möglichkeit, diese vielseitigen und immens wichtigen Erfahrungen zu sammeln, kann das zu unerwünschtem Verhalten, Ängsten, hoher Stressanfälligkeit und schließlich auch zu inadäquater Aggression gegen Menschen oder andere Tiere führen. Mit Blick auf die spätere Reaktion auf Stressoren kann der junge Hund insbesondere und nachhaltiger als zu anderen Zeiten in den sensiblen Phasen Strategien entwickeln, wie er mit ungewohnten Reizen umgehen kann. Je vielfältiger diese »Coping-Strategien« (engl. »coping« – bewältigen, Lösungsstrategien) sind, desto geringer ist die Gefahr, dass der Hund unangemessen auf Ungewohntes reagieren könnte. Allerdings muss man sich auch bewusst machen, dass es in unserer Umgebung recht schwer ist, einem Hund äußere Reize zu verwehren. Nicht nur, dass Hunde anders sehen, hören und riechen, als wir es tun – ein Reiz kann alles Mögliche sein und muss nicht daraus bestehen, einen Welpen von morgens bis abends durch Fußgängerzonen und über das Oktoberfest zu schleifen, damit er auch ja genügend erlebt. Ein gesundes und für das kommende Leben realistisches Maß, beschränkt auf zeitbefristete Ereignisse, in denen der junge Hund dennoch zur Ruhe finden kann, sind ein sinnvoller Ansatz – und nicht die Extreme in die eine oder die andere Richtung.