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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74091-815-6
Es war ein herrlicher, sonniger Mittag, ganz so wie in einem Bilderbuch, mit einem klarblauen Himmel, auf dem weiße Schäfchenwolken tanzten.
Das Mittagessen war gekocht.
Inge Auerbach saß auf ihrer Terrasse in einem schönen, dazu erstaunlich bequemen Korbsessel und wartete nur noch darauf, dass ihre Jüngste, Pamela, die jeder nur Bambi nannte, aus der Schule kam.
Es war still geworden im Landhaus am Sternsee.
Inge fragte sich immer wieder, wo die Zeit eigentlich geblieben war.
In der Erinnerung sah sie sich mit ihrer Familie in dieses wunderschöne Haus einziehen, das ihr Ehemann, der bekannte Professor Werner Auerbach, überraschend für sie gekauft hatte.
Anfangs waren sie wirklich nicht alle von dieser Idee begeistert gewesen. Doch dann hatten sie alle, trotz mancher Höhen und Tiefen, ihr Glück gefunden.
Ricky, die kein Mensch Henrike nannte, obwohl sie eigentlich so hieß, war mit ihrem Fabian glücklich geworden. Vier Kinder hatten sie mittlerweile und aus ihr eine glückliche Großmutter gemacht.
Ihr Ältester, Jörg, war praktischerweise mit Fabians Schwester Stella verheiratet. Ob es bei diesem glücklichen Paar bei zwei Kindern bleiben würde, war noch nicht abzusehen.
Hannes, der es mit der Schule nie so genau genommen und jahrelang Achterbahnnoten nach Hause gebracht hatte, sehr zum Entsetzen seines klugen Vaters, hatte zum Schluss den Dreh bekommen und ein besseres Abitur gemacht als seine Geschwister.
Mit einer Eins-Komma-Null standen ihm alle Türen offen.
Er war noch jung, hatte keine Eile, wollte sich auch noch nicht festlegen, zumal er auch die Möglichkeit hatte, mit Stipendium in New York an der Columbia zu studieren.
Im Augenblick war er mit Freunden als Backpacker unterwegs, um sich den Wind ein wenig um die Ohren wehen zu lassen.
Inge hatte auch jetzt noch ein mulmiges Gefühl, wenn sie daran dachte, dass er sich in Ländern aufhielt, in denen er nicht einmal mit Englisch weiterkam.
Werner hatte seinen Sohn bestärkt, hatte sogar ordentlich seine Reisekasse aufgebessert, die Hannes sich zuvor als Regalauffüller in einem Supermarkt mühsam verdient hatte.
Hinterher war herausgekommen, dass es auch ein Traum ihres Ehemannes gewesen war, unbeschwert nach dem Abitur durch die Welt zu reisen, was seine Eltern leider erfolgreich zu verhindern gewusst hatten.
Ricky hatte, obwohl sie sehr klug war, überhaupt keine beruflichen Ambitionen gehabt, sondern nach dem Abitur direkt ihren Lehrer, Dr. Fabian Rückert geheiratet, der mittlerweile der angesehene Direktor eines großen Gymnasiums war.
Jörg hatte bei der Auswahl seiner Freundinnen immer daneben gegriffen, und sie waren heilfroh gewesen, als er sich in Stella verliebt hatte. Eine bessere Schwiegertochter konnte Inge sich nicht wünschen. Umgekehrt war es allerdings ebenso. Sie und Werner hatten als Eltern alles für ihre Kinder getan, sie hatten immer zuerst an sie gedacht und ihnen all die Liebe geschenkt, die ein Kind brauchte, um sich zu einem selbstbewussten Menschen zu entwickeln. Und sie hatten sie gefördert, wo sie nur konnten.
Und als Schwiegereltern hatten sie die Partner ihrer Kinder mit offenen Armen aufgenommen.
Und sie taten etwas sehr Kluges, um Konflikte von vornherein zu vermeiden, sie hatten sich von Anfang an herausgehalten.
Ach ja, sie und ihr Werner, sie waren schon ein gutes Team. Vor die Wahl gestellt, würde sie sich sofort wieder für ihren Mann entscheiden.
Sie liebte ihn noch immer wie am ersten Tag, und seiner Liebe konnte sie sich auch sicher sein.
Natürlich war es auch bei ihnen nicht immer nur eitel Sonnenschein gewesen.
Manchmal hatte es sogar ganz ordentlich gekracht. Nur langanhaltende Kräche hatte es nie gegeben, sie hatten sich direkt wieder versöhnt. Und vor allem hatten sie, bei allem Zorn, ihre Kräche niemals vor ihren Kindern ausgetragen.
Leider hatten sie in ihrem Umfeld, auch unter ihren Freunden, einige Trennungen erlebt, die teilweise unterhalb der Gürtellinie verlaufen waren. Und sie hätten es nie für möglich gehalten, dass man sich um eine angeschlagene Vase erbittert streiten konnte.
Inge griff nach ihrer Kaffeetasse, trank genüsslich einen Schluck, ehe sie sich wieder zurücklehnte.
Sie war heute ganz schön sentimental. Vielleicht lag das an dem schönen Wetter. Da sah man die Welt mit ganz anderen Augen.
Ihre Augen sahen jetzt auf jeden Fall, dass überall Unkraut wucherte, und dass sie unbedingt den Gärtner bestellen musste, damit er die vom Sturm niedergerissenen Bäume entfernte.
So schön ein großer Garten auch war. Es gab stets eine Menge zu tun. Mit ihrem Professor konnte sie nicht rechnen, der hatte, was die praktischen Dinge des Lebens anging, zwei linke Hände.
Bambi war ihr eine sehr große Hilfe. Sie liebte die Gartenarbeit und war mit Feuereifer dabei. Sie war überhaupt ein richtiger Sonnenschein.
Dieses Kind war ihnen vom Himmel geschickt worden. Und so traurig es auch war, dass Bambi als Einjährige ihre leiblichen Eltern durch einen tragischen Autounfall verloren hatte. Sie hatten es nie bereut, dieses entzückende Kind spontan bei sich aufgenommen und adoptiert zu haben.
Die Adoption …
Inge Auerbach bekam ein ganz schlechtes Gewissen, wenn sie daran dachte, dass Bambi noch immer nicht wusste, dass sie kein leibliches Kind der Auerbachs war. Für sie und Werner war Bambi ein Kind ihres Herzens, das sie nicht weniger liebten als ihre anderen Kinder. Im Gegenteil, manchmal sogar ein wenig mehr, weil die Kleine ein ganz außergewöhnliches Mädchen war.
Inge seufzte bekümmert.
Sie hatten es Bambi immer sagen wollen. Auch ihre eigenen Kinder hatten darauf gedrängt, weil sie der Meinung waren, dass Bambi ein Recht darauf hatte, alles über ihre Herkunft zu erfahren.
Für Jörg, Ricky und Hannes hatte es nie ein Problem gegeben, keine Eifersüchteleien.
Bambi war vom ersten Augenblick an ihre kleine, vor allem ihre über alles geliebte Schwester gewesen.
Inge trank noch etwas von ihrem Kaffee, seufzte erneut. Werner und sie hatten den Zeitpunkt verpasst!
Je älter Bambi wurde, und je selbstverständlicher sie als eine Auerbach-Tochter auftrat, umso schwieriger wurde es. Inge und Werner, der ganze Hörsäle von Studenten in seinen Bann ziehen konnte, dem international bekannte Wissenschaftler begeistert applaudierten, brachten es nicht übers Herz, ihrem Kind, und das war Bambi für sie, die Wahrheit zu sagen.
Auch wenn sie wussten, dass es falsch war, steckten sie weiterhin den Kopf in den Sand, verschoben es auf später.
Ein solches Verhalten passte weder zu Inge, noch zu Werner.
Sie waren offene, aufrichtige Menschen.
Was war da nur schief gelaufen?
Anfangs waren sie der Meinung gewesen, Bambi sei noch zu klein, um mit der Wahrheit konfrontiert zu werden.
Ach, es war müßig, sich jetzt all die Versäumnisse in Erinnerung zu rufen und die Gründe, weswegen sie es nicht getan hatten.
Sie waren zu feige gewesen, genau das war der Punkt.
Inge Auerbach blickte auf ihre Armbanduhr, die Werner ihr zum fünfundzwanzigsten Hochzeitstag geschenkt hatte und die sie über alles liebte.
Wo blieb Bambi eigentlich? Sie hätte längst zu Hause sein müssen, weil sie nicht zu den Kindern gehörte, die herumtrödelten, sondern immer gleich nach der Schule zu ihren Eltern wollte.
Ihr war doch wohl nichts passiert?
Diesen Gedanken verwarf Inge so schnell, wie er ihr gekommen war.
Im Sonnenwinkel kannte jeder jeden.
Wäre etwas passiert, dann hätte man es ihr längst zugetragen, und man hätte sich um Bambi gekümmert.
Hier zu leben war ein Privileg!
Im Sonnenwinkel, der aus den Orten Erlenried und Hohenborn bestand, lag die Kriminalrate bei Null.
Hier gab es sie noch, die heile Welt.
Zumindest, was das Außen betraf. Dass innerhalb der einzelnen Familien nicht immer eitel Sonnenschein herrschte, war normal. Die Menschen waren verschieden, auch hier im Sonnenwinkel. Doch eines hatten sie schon gemeinsam. Sie liebten ein Leben fernab der Turbulenz der Großstädte.
Also gut, Sorgen machen musste sie sich keine.
Doch wo blieb Bambi?
Professor Werner Auerbach kam in diesem Augenblick auf die Terrasse hinaus.
Er war ein hochgewachsener Mann, schlank, mit einem schmalen Gesicht, zu dem die randlose Brille ganz hervorragend passte. Er gehörte zu den Männern, die mit zunehmendem Alter immer attraktiver wurden und bei denen graue Schläfen interessant aussahen.
Er lief auf seine Frau zu, beugte sich über sie, drückte ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn, ehe er sich erkundigte: »Bleibt bei uns heute die Küche kalt? Ich habe Hunger.«
Sie drehte sich zu ihm um, lächelte ihn an.
»Wir müssen nur noch auf Bambi warten. Das Essen ist fertig.«
Werner Auerbach setzte sich.
»Nun gut, das kann ja nicht mehr so lange dauern, ich hatte schon die Befürchtung, du wolltest wegen des schönen Wetters heute streiken und uns mit einem Butterbrot abspeisen.«
»Was auch kein Drama wäre«, bemerkte Inge leichthin. »In vielen Ländern werden mittags nur ein Salat oder ein Sandwich gegessen, und die Hauptmahlzeit wird am Abend eingenommen.«
Er lächelte sie an, und ihr wurde ganz warm ums Herz. »Mein Liebes, vielleicht erinnerst du dich daran, dass wir in einigen dieser Länder gemeinsam gelebt haben und ich mit diesen Gepflogenheiten durchaus vertraut bin? Seit wir hier im Sonnenwinkel leben, weiß ich die deutsche Gemütlichkeit zu schätzen.«
Nun blickte auch er auf seine Uhr. »Unsere Bambi ist wirklich überfällig. Ich denke, ich fahre ihr ein Stück entgegen. Vielleicht hat sie den Bus verpasst.«
*
Professor Auerbach wollte gerade aufstehen und sein Vorhaben in die Tat umsetzen, als Bambi auf die Terrasse gestürmt kam.
Sie war ein entzückender Teenager und sah mit ihren braunen Locken und den großen grauen Augen ausgesprochen hübsch aus.
Schon jetzt umstrichen die Knaben ihres Alters das Haus, doch noch war Bambi an Jungen nicht interessiert.
Ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit schmiss sie ihre Schultasche in eine Ecke, ließ sich ebenfalls in einen Sessel fallen und rief: »Bitte sagt mir, dass das nicht wahr ist.«
Ihre Stimme war laut, ihre Augen blitzten.
Es musste schon etwas sehr Gravierendes geschehen sein, das Bambi so aufregte.
Inge nahm es gelassen. Sie lächelte ihre Tochter liebevoll an.
»Um dir eine Antwort geben zu können, solltest du dich ein wenig präziser ausdrücken, mein Kind.«
Das tat Bambi zunächst einmal nicht, denn pfeilschnell kam aus einer hinteren Ecke des Gartens Jonny, Bambis schon ziemlich in die Jahre gekommener Collie, hervorgeschossen, um sein Frauchen zu begrüßen.
Bambi und Jonny waren ein Herz und eine Seele, seit Fabian ihr den Hund als Welpen geschenkt hatte.
Für sein Alter war er noch gut dabei, doch auch ein Hundeleben dauerte nicht ewig, und Inge hatte jetzt schon Angst, wenn sie daran dachte, dass Jonny eines Tages nicht mehr da sein würde.
Doch augenblicklich mussten sie sich darum noch keine Gedanken machen.
Die Begrüßung war herzlich, Bambi umarmte ihren Jonny und streichelte ihn hingebungsvoll, und der war außer sich vor Freude.
Der Professor unterbrach diese Idylle, indem er aufstand und sagte: »So, dann können wir jetzt endlich essen.«
Er ging voraus in die Küche, nicht ohne vorher seiner Tochter gesagt zu haben: »Und wasch dir die Hände.«
Bambi lachte, sie schien ihren Ärger vergessen zu haben. »Aber Papi, das musst du mir doch nicht sagen, das weiß ich.«
Sie erhob sich, ging ebenfalls ins Haus, Jonny trottete neben ihr her, die Schultasche blieb auf der Terrasse liegen.
Inge nahm sie mit hinein.
Wenig später saßen sie an dem großen blank gescheuerten Küchentisch.
Die Auerbachs besaßen ein Esszimmer mit wunderschönen Biedermeiermöbeln, die Inge von einer Tante geerbt hatte.
Doch diesen Raum benutzten sie nur selten, sie liebten ihre Küche und deren Gemütlichkeit. Und Inge liebte große blanke Tische. Außerdem war es praktisch, da hatte sie nur kurze Wege vom Herd zum Tisch.
Heute Mittag gab es einen Gemüseeintopf, den Werner Auerbach besonders liebte. Er war zu vielen offiziellen Essen eingeladen, die jeweils aus mehreren Gängen bestanden. Früher war es noch häufiger der Fall gewesen. Er schätzte die bürgerliche Küche, ganz besonders die Kochkünste seiner Frau, die es mit so manchem Sternekoch aufnehmen könnte. Seine Inge war einfach großartig, und das in jeder Hinsicht. Und attraktiv war sie außerdem. Er hatte sich sofort in sie verliebt. Sie war seine Mrs Right, seine Mrs Perfect. Und obwohl er viele Gelegenheiten gehabt hatte und die noch immer da waren …
Er hatte einer anderen Frau nicht einmal einen Blick zugeworfen.
Er füllte seinen Teller ein zweites Mal, weil der Eintopf einfach zu köstlich war, dann wandte er sich an seine Tochter, der es auch schmeckte.
»Sag mal, mein Kind, du kamst mit einer Weltuntergangsstimmung nach Hause, warst außer dir … Was hat dich denn so aufgeregt? Was kann nicht wahr sein?«
Weil Jonny sie so hingebungsvoll begrüßt hatte und weil sie auch ziemlich hungrig gewesen war, hatte sie es vorübergehend verdrängt.
Doch nun war es wieder da. Bambi ließ ihren Löffel fallen, dann sagte sie: »Nun, dass Dr. Riedel mit seiner Familie hier wegziehen soll, angeblich nach Amerika.«
Inge begann zu lachen.
»Da musst du dich verhört haben, Kleines. Ehe er sich hier niedergelassen hatte, war Dr. Riedel in Amerika, das stimmt schon. Doch er arbeitet nun schon so viele Jahre als Arzt im Sonnenwinkel, er wird von seinen Patienten geliebt und gebraucht. Wenn man sich eine solche Existenz aufgebaut hat, dann gibt man das nicht wieder auf. Die Riedels sind glücklich hier, und wir sind es auch.«
Das hörte sich zwar sehr beruhigend an, was ihre Mutter da gesagt hatte, doch Bambi konnte sich damit nicht zufriedengeben.
»Mami, die Frau Hollenbrink hat es zu einer anderen Frau gesagt, die ich nicht kannte. Und die muss es doch wissen. Sie ist schließlich die Sprechstundenhilfe von Herrn Dr. Riedel und arbeitet seit vielen Jahren für ihn. Und Frau Hollenbrink hat ganz schön traurig geklungen.«
Bambi war ein sehr fantasievolles Kind, sie interpretierte sehr schnell Dinge in etwas hinein. Nicht nur das, manchmal ging die Fantasie auch mit ihrer Kleinen durch, und sie hatte Bambi deswegen schon mehrfach aufgefordert, Märchenbücher zu schreiben.
»Du kannst dich dennoch verhört haben, Bambi«, sagte Inge, weil sie sich auch einfach nicht vorstellen konnte, dass Dr. Riedel vom Sonnenwinkel wegziehen könnte. Die Riedels gehörten einfach dazu.