1871: Auf dem Sterbebett nahm Fergus’ Frau ihm das Versprechen ab, auf sich und die Kinder aufzupassen. Der kleine Sohn und die neugeborene Tochter sollten trotz ihres Todes nicht auf mütterliche Liebe und Fürsorge verzichten müssen. Ein Silberstreif des Glücks erscheint für die vom Schicksal gebeutelte Familie, als sich Cara Payton als Amme vorstellt. Fergus möchte mit ihr an seiner Seite und den Kindern ein neues Leben beginnen. Und das ausgerechnet in Australien, wohin Fergus’ lange verschollener Bruder Bram ausgewandert ist. Doch können die beiden Brüder ihre Differenzen überwinden? Und wird Fergus’ neue Familie diesen Problemen standhalten oder zerbricht sie an dieser Belastungsprobe?
ANNA JACOBS hat bereits über siebzig Bücher verfasst. Sie wurde in Lancashire geboren und wanderte 1970 nach Australien aus. Sie hat zwei erwachsene Töchter und wohnt mit Ihrem Mann in einem Haus am Meer.
TÖCHTER DES
HORIZONTS
Silberstreif
des Glücks
Aus dem amerikanischen Englisch
von Diana Beate Hellmann
beHEARTBEAT
Digitale Originalausgabe
»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Titel der Originalausgabe »Trader’s Reward«
Copyright © 2014 by Anna Jacobs
Deutsche Erstausgabe
Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Monika Hofko
Projektmanagement: Esther Madaler
Covergestaltung: Kirstin Osenau unter Verwendung von Motiven © shutterstock/iktash und © iStock.com/coloroftime
eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-2882-0
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Wieder einmal geht mein Dank an die Abteilung für Kunst und Kulturerbe des Southampton City Council und die Archivarin Joanne Smith für ihre Hilfe bei den Namen und den Abfahrtszeiten der Schiffe, die in den 1870er-Jahren von Southampton ausgelaufen sind. Ich weiß das sehr zu schätzen. Wenn ich kann, benutze ich gern historisch korrekte Schiffsnamen und Fahrpläne.
Und natürlich bedanke ich mich wieder einmal bei meinem nautischen Guru Eric Hare, dessen Beistand bei dieser Serie von unschätzbarem Wert war. Ich habe viel zu viel von seiner kostbaren Zeit in Anspruch genommen und bin unendlich dankbar für die Lehrstunden, die er mir zum Thema Segel- und Dampfschiffe erteilt hat.
Manchmal lassen sich Informationen nicht nachprüfen, sodass man über das, was passiert ist, Vermutungen anstellen muss, die von den Fakten ausgehen. Meine Vermutungen sind hoffentlich nicht allzu weit hergeholt. Mögliche Fehler habe natürlich ich gemacht, nicht Eric.
November 1871 – Swindon, England
Fergus Deagan stand in der Küche und starrte den Arzt entsetzt an. »Aber Sie müssen doch irgendetwas tun können!«
»Es tut mir sehr leid, Mr Deagan, aber ich kann die Blutung nicht stillen. Wir Ärzte sind machtlos gegen die Prüfungen einer Niederkunft. Aber Ihnen bleibt wenigstens noch die Zeit, von Ihrer Frau Abschied zu nehmen.« Er zog seine Taschenuhr hervor, blickte prüfend darauf und ging in die Diele. »Leider muss ich jetzt zu einem anderen Patienten. Es gibt nichts, was ich noch für Sie tun könnte.«
Er verließ das kleine Reihenhaus, eilte die Straße hinunter, und jeder Schritt war für Fergus wie ein Schlag ins Gesicht und dröhnte in seinem schmerzenden Schädel.
Die Nacht war grauenvoll gewesen, als seine Frau sich damit quälte, das Kind zur Welt zu bringen, und jetzt das. Eine Zeit lang konnte er sich nicht bewegen, sondern stand einfach nur da, an den Türpfosten gelehnt, und starrte auf die Straße. Dann bemerkte er, dass eine Nachbarin von ihrer Haustür zu ihm herübersah, und er schüttelte den Kopf, um ihr zu bedeuten, dass es nicht gut stand. Leise schloss er die Tür. Dann ging er die Treppe hinauf, niedergedrückt von Kummer. Und von Schuldgefühlen.
Als er das Schlafzimmer betrat, drückte ihm die Hebamme ein sich windendes Bündel in die Arme.
»Trösten Sie sich mit -«
»Das tröstet mich nicht!«, fiel Fergus ihr leise ins Wort und blickte voller Abscheu auf dieses wimmernde Stückchen Mensch in seinen Armen. Er gab ihr das Kind zurück, ohne zu fragen, ob es ein Junge war oder ein Mädchen. Was kümmerte ihn das jetzt noch?
»Ich will mit meiner Frau allein sein.«
Als die Hebamme keine Anstalten machte zu gehen, schob er sie hinaus auf den Flur. »Ich will nicht, dass die Jungen heraufgebracht werden, um sich zu verabschieden. Sie sollen ihre Mutter so in Erinnerung behalten, wie sie im Leben war. Außerdem hat sie sich von ihnen verabschiedet, als die Wehen eingesetzt haben.«
Nur für den Fall, hatte Eileen mit einem schwachen Lächeln zu ihm gesagt. Als hätte sie gewusst, dass sie es nicht überleben würde. Als würde sie sich schon von ihnen entfernen in eine andere Welt.
Er schloss die Schlafzimmertür, kniete sich neben ihr Bett auf den Boden und nahm ihre Hand. Sie war so blass und kraftlos, dass er einen Moment lang dachte, sie habe nicht mehr auf ihn gewartet, um ihm Lebewohl zu sagen, dann sah er den Puls an ihrem Hals flattern.
Sie öffnete die Augen und blickte ihn an.
»Der Doktor irrt sich«, sagte er mit einer Stimme, aus der seine ganze Verzweiflung sprach. »Wir werden dich gut pflegen und dafür sorgen, dass du wieder gesund wirst.«
»Bin zu müde. Bin schon so lange müde.« Sie flüsterte die Worte und schaffte es nur mühsam, die Hand zu heben und ihm über das dichte schwarze Haar zu streichen.
Er drückte ihre Hand ganz fest und wünschte, er könnte ihr die Hälfte seiner Kraft geben.
Als Eileen wieder anfing zu sprechen, war ihre Stimme noch schwächer. »Es … ist … ein … Mädchen, Fergus. Ich wollte doch … so gern … eine Tochter.«
Fast vor jedem Wort musste sie Atem holen, als hätte sie nicht mehr die Kraft, einen vollständigen Satz herauszubringen. »Wenn alles … vorbei ist … geh zu … deinem Bruder. Bring … die Kinder … zu Bram. Nimm auch … meine Eltern … mit. Hier … in England … hält euch jetzt … nichts mehr.«
Das hatte sie in den letzten Wochen immer wieder gesagt, als sie sich durch das Haus geschleppt und auf die Niederkunft gewartet hatte, nur noch Haut und Knochen, bis auf den fast obszön dicken Bauch. Die schwere körperliche Arbeit im Haus musste sie in dieser Zeit ihrer Mutter überlassen.
In diesen Wochen hatte er sich selbst verflucht. Wegen Eileens angeschlagener Gesundheit hatten sie vor einiger Zeit beschlossen, keine weiteren Kinder mehr zu bekommen, und er hatte sich damit abgefunden, keinen ehelichen Verkehr zu haben, weil er sie nicht umbringen wollte. Es schien ihr auch besser zu gehen, ohne die Last, wieder schwanger zu werden.
Doch sie wollte unbedingt eine Tochter, und sie konnte an nichts anderes mehr denken, hatte ihn immer wieder angefleht, ihr noch ein letztes Kind zu schenken.
Die Schuldgefühle legten sich um ihn wie eiserne Fesseln. Warum hatte er zugestimmt? Er hätte es besser wissen müssen.
»Versprich mir, dass du … zu deinem Bruder … fährst, Fergus. Mr Kieran Largan … hat in seinem Brief … geschrieben, dass die … anderen Deagans … alle aus Irland weg sind … und zu Bram nach … Australien gefahren sind. Er wird dir … das Geld … für die … Überfahrt schicken. Das weiß ich.«
Dennoch zögerte Fergus. Er wollte niemandem verpflichtet sein, schon gar nicht seinem verdammten ältesten Bruder.
»Versprich es mir.« Eine Träne lief ihr über die Wange. »Bitte, Fergus. Dann … kann ich … in Frieden … gehen.«
Er konnte ihr diesen letzten Wunsch nicht abschlagen, darum zwang er sich zu sagen: »Also gut. Ich verspreche es dir.«
»Und du musst … mir auch versprechen, dass du … wieder … heiratest. Schon bald.«
Er konnte nicht fassen, dass sie das sagte.
»Fergus?«
»Daran kann ich jetzt noch nicht denken. Wenn ich es überhaupt je kann.«
»Bitte. Unsere Kinder … brauchen weiterhin … die Liebe einer … Mutter … vor allem … das Baby.«
»Ja, ich werde irgendwann wieder heiraten, wenn ich jemanden finde.«
Schweigen trat ein, und er wusste nicht, was er noch sagen sollte, um sie zu beruhigen.
Doch Eileen war schon immer hartnäckig gewesen, wenn sie etwas wollte. »Nein. Versprich mir … dass du … noch innerhalb … des Trauerjahres … wieder heiraten wirst.«
Wie sollte er so etwas versprechen?
»Fergus? Bitte.«
Er konnte den nahenden Tod in ihrem Gesicht sehen, aber er war nicht imstande, ihr irgendetwas abzuschlagen. »Also gut. Ich werde innerhalb des Trauerjahres wieder heiraten.«
»Versprich es mir.«
»Ich verspreche es dir.«
Als sie weitersprach, war ihre Stimme so schwach, dass er sich ganz dicht über sie beugen musste, um überhaupt etwas zu verstehen. »Du wirst … unsere Tochter … Niamh nennen. Wie wir es … vereinbart haben.«
»Ja.«
»Und achte darauf, dass sie … es nicht falsch … schreiben.«
Darauf hatte sie sehr großen Wert gelegt. Ihr Lieblingsname für ein Mädchen kam aus dem Irischen und wurde zwar »Niev« ausgesprochen, aber völlig anders geschrieben: Niamh. Seltsam, dass sie jetzt darauf pochte. Hätte sie nicht eigentlich beten sollen? Doch was wusste er schon davon, was man tat, wenn man auf dem Sterbebett lag?
»Fergus?«
»Ich sorge dafür, dass die Leute wissen, wie er geschrieben wird.«
Seufzend schloss sie die Augen. »Das ist … gut. So ein … hübscher … Name.«
Ein paar Minuten später hauchte sie: »So … müde, mein … Liebling, so … müde.«
Das waren Eileens letzte Worte, kurz darauf tat sie ihren letzten Atemzug. Fergus war ein starker Mann. Trotzdem übermannte ihn die Trauer, und er brach laut schluchzend über ihrem toten Körper zusammen. So ein kurzes Leben, und er glaubte nicht, dass er sie glücklich gemacht hatte. Nicht wirklich.
So fand ihn seine Schwiegermutter vor, als sie heraufkam, weil sie seinen Schmerz im Haus widerhallen hörte.
Er sagte ihr nicht, dass sein Kummer ebenso von der Trauer kam wie auch von Schuldgefühlen. Genauso wenig wie er ihr gesagt hatte, dass aus seiner Liebe für Eileen erst Zuneigung und dann nur noch Gewohnheit geworden war. So schien es in den meisten Ehen zu sein, wie er bemerkt hatte.
Dabei hatte er sich mehr erhofft, als sie einander begegnet waren. Sie war so lebendig und so hübsch gewesen. Er hätte nicht gedacht, dass er sein Leben mit einer Frau verbringen würde, die jedes Wort von ihm nachplapperte, die ihm in allem zustimmte und bei der sich alles um die Familie und ihr Heim drehte. Oh, sie hatte ihm schon zugehört, wenn er von der großen Welt dort draußen erzählte, über die er in den Zeitungen las, aber sie hatte sich nicht wirklich dafür interessiert. Das hatte er gespürt.
Eileen hatte zwar ihre Fehler gehabt, trotzdem hatte sie es nicht verdient, so jung zu sterben.
Er hätte ihrem Wunsch, noch ein Kind zu bekommen, nicht nachgeben dürfen.
Fergus’ Söhne waren müde nach der traurigen und unruhigen Nacht. Ihre Großmutter machte ihnen Frühstück und brachte sie dann in die gute Stube, die sie normalerweise nur am Sonntag betraten. Ihr Vater war bei ihrer Mutter geblieben.
»Bleibt schön hier und seid brav, ihr zwei.« Sie gab beiden Jungen einen Kuss auf die Stirn.
Nachdem sie hinaufgegangen war, kuschelten sie sich in den Sessel ihres Vaters. Mit zehn und sechs Jahren wussten sie schon, dass etwas Schlimmes vor sich ging, denn sie hatten schon dreimal erlebt, dass ihre Mutter krank geworden war, nachdem sie ein Baby verloren hatte, das zu schwach war, um zu überleben.
Als ihre Großmutter später wieder zu ihnen kam, um ihnen zu sagen, dass ihre Mutter im Sterben lag, konnten sie sie nur benommen anstarren. Sie schluchzte bei jedem Wort, sodass sich der kleine Mal noch fester an seinen großen Bruder klammerte.
Als sie in die Küche im hinteren Teil des Hauses ging, hörten sie plötzlich, dass ihr Vater, der immer noch oben war, zu schluchzen begann, und das erschütterte sie so, dass auch sie anfingen zu weinen und sich eng aneinanderschmiegten.
Doch anders als sonst kam ihre Großmutter nicht, um sie zu trösten. Stattdessen rannte sie nach oben und schrie: »Nein! Nein! Noch nicht.«
Sie warteten, doch die schrecklichen Laute der Trauer ihres Vaters hörten nicht auf, und wie ein Echo hallte das Schluchzen ihrer Großmutter.
»Mom muss tot sein«, flüsterte Sean.
»Und was wird dann aus uns?«, erwiderte Mal ebenso leise und wischte sich mit dem Hemdärmel die Tränen weg.
»Ich weiß es nicht«, gab Sean zu. Doch dann erinnerte er sich an das Versprechen, das er seiner Mutter hatte geben müssen, bevor das Baby angefangen hatte, sich in die Welt zu kämpfen. »Aber ich werde immer auf dich aufpassen, weil ich dein großer Bruder bin.«
»Und ich werde auf dich aufpassen.«
»Dazu bist du noch zu klein.«
»Bin ich nicht.«
»Bist du doch.«
Ihr Großvater kam ins Zimmer. Dicke Tränen liefen ihm über die Wangen, und sie beendeten ihr halbherziges Gezänk. Er streckte die Arme nach ihnen aus, und sie warfen sich an seine Brust und ließen sich lange von ihm drücken, weil sie die körperliche Geborgenheit seines kräftigen alten Körpers brauchten.
Ihr Großvater weinte trotzdem weiter und hörte erst auf, als die Hebamme ins Wohnzimmer kam, das Neugeborene auf dem Arm.
»Ich brauche Ihre Hilfe, Mr Grady.«
Er stand auf, nestelte sein Taschentuch aus der Hosentasche und putzte sich die Nase. »Was kann ich tun, Mrs Sealey?«
»Ich mache gerade etwas Wasser heiß, damit ich Ihre Tochter waschen kann, bevor ich sie aufbahre. Wenn ich so weit bin, müssten Sie mich bitte nach oben begleiten und mir helfen, Ihre Frau und Ihren Schwiegersohn aus dem Schlafzimmer zu schaffen. Bringen Sie die beiden hier herunter, damit sie Ihre Enkel trösten.«
Er nickte und schaute auf das Bündel auf ihrem Arm. »Ist es ein Junge oder ein Mädchen?«
»Ein Mädchen. Allerdings sehr klein.«
»Eileen wollte ein Mädchen.« Er legte einen Arm um Sean und einen um Mal und versuchte, seine beiden Enkel durch den Raum zu schieben. »Ihr habt eine Schwester, Jungs, ein Schwesterchen. Kommt, seht sie euch an.«
Sean wand sich aus seinem Arm. »Nein. Ich hasse sie! Sie hat unsere Mom umgebracht.«
Entsetzt starrte Patrick seinen älteren Enkel an. »Das hat sie nicht.«
»Wenn das Baby nicht gewesen wäre, würde Mom noch leben. Ich habe gehört, wie Dad das gesagt hat.«
»Eure Mom hat sich so sehr eine Tochter gewünscht. Sie wollte unbedingt noch ein Kind. Das Baby hat nicht darum gebeten, geboren zu werden.«
»Na ja, ich will jedenfalls keine Schwester. Ich will meine Mom wiederhaben.«
»Sean, mein Junge, so etwas darfst du nicht sagen. Es war der Wille des Herrn, dass deine Mutter jetzt im Himmel ist.«
Der Junge schob das Kinn vor und erklärte in der ihm eigenen starrköpfigen Art: »Wir brauchen Mom hier unten mehr, als Gott sie da oben braucht. Er ist ja nicht allein im Himmel, er hat da noch ganz viele andere Leute.«
Patrick und Mrs Sealey wechselten einen erschrockenen Blick, doch nichts, was sie sagten, konnte die Jungen umzustimmen.
»Würden Sie das Baby halten, während ich alles andere vorbereite, Mr Grady?«
»Ja natürlich.« Er streckte die Arme vor.
Die beiden Jungen wichen noch weiter zurück und blitzten ihre neue Schwester finster an.
Patrick blickte auf seine Enkeltochter hinunter. Das Baby war so leicht, und trotzdem schaute sie ihm ins Gesicht, als könnte sie ihn bereits sehen, als wollte sie ihm sagen, dass sie ihn jetzt brauchte, weil sie keine Mutter mehr hatte, die sich um sie kümmerte. Es war, als würde sie um seine Liebe bitten. Sein Herz krampfte sich zusammen, als er ihre winzigen Händchen sah und den dunklen Haarflaum auf ihrem Köpfchen, das in seiner Armbeuge ruhte.
Er wusste, welchen Namen seine Tochter ihr hatte geben wollen, also sprach er ihn laut aus. »Willkommen in unserer Familie, Niamh.« Er drehte sich zu seinen Enkeln um. »Ach, jetzt kommt schon, ihr zwei, und seht sie euch wenigstens an.«
Doch die beiden schüttelten immer noch mit finserer Miene den Kopf, deshalb hielt er es für das Beste, sie im Moment nicht weiter zu drängen, und begleitete die Hebamme in die Küche.
Er war zutiefst traurig, aber er war auch fest entschlossen, nicht wieder in Tränen auszubrechen. Es musste so einiges erledigt werden, und einer in der Familie musste einen klaren Kopf behalten.
Als Fergus aufhörte zu weinen, bemerkte er, dass seine Schwiegermutter ihn umarmte und dass ihre Wangen ebenfalls nass waren.
Sie ließ ihn los und wischte sich mit dem Schürzenzipfel über die Augen. »Hat Eileen am Ende noch irgendetwas gesagt, Fergus?«
»Ja. Sie hat gesagt, ich soll zu Bram nach Australien gehen.« Er sah ihren entsetzten Gesichtsausdruck und drückte sie kurz an sich. »Und ich soll dich und Pa mitnehmen. Ich würde nie etwas tun, wodurch ihr die Jungen verliert, das weißt du. Ihr habt euch in den letzten zwei Jahren genauso viel um die beiden gekümmert wie Eileen.«
»Ach, du bist uns ein guter Sohn, Fergus.«
»Ich wünschte, ich wäre wirklich euer Sohn, Ma, und nicht nur euer Schwiegersohn. Meine Eltern waren nicht so liebevoll wie du und Pa, nein, die waren überhaupt nicht liebevoll.« Was mit ein Grund war, dass er Irland verlassen hatte, um in England zu arbeiten. Das war der einzige Ausweg für ihn gewesen. Sonst hätte er seinem ständig betrunkenen Vater bei jedem Streit ins Gesicht geschlagen.
In einer Hinsicht jedoch war er dem Beispiel seines Vaters gefolgt. Die Deagans hatten immer viele Kinder und laugten ihre Frauen damit aus. Er hatte gedacht, er würde es besser machen. Doch es war schwer, sich gegen die eigene Frau zu wehren, wenn sie sich im Bett an einen schmiegte und um ein weiteres Kind bettelte.
Die Stimme seiner Schwiegermutter holte ihn wieder in die Wirklichkeit zurück.
»Kosten die Schiffspassagen nach Australien nicht sehr viel Geld?«
»Ich nehme es an.« Hätte er es Eileen nicht versprochen, hätte er keinen einzigen Gedanken daran verschwendet.
»Wie sollen wir denn das Geld dafür aufbringen, Fergus?«
»Erinnerst du dich noch an den Brief, den ich Bram Anfang des Jahres geschrieben habe? In dem ich ihm mitgeteilt habe, wo ich wohne, weil ich fand, es wäre an der Zeit, wieder Kontakt mit meiner Familie aufzunehmen?«
Sie nickte. Er hatte ihr den Brief vorgelesen, bevor er ihn abgeschickt hatte. »Und Mr Kieran aus dem Großen Haus hat dir auf diesen Brief geantwortet und geschrieben, dein Bruder lebt nicht mehr in Irland. Ich erinnere mich.«
»Mr Kieran hat damals geschrieben, dass er meinen Brief an meinen Bruder weitergeleitet hat und dass der jetzt in Australien lebt. Dass Bram ihn darum gebeten hat, falls ich mich irgendwann melden würde. Und er hat geschrieben, dass Bram dort sehr gut gestellt ist. Er ist Kaufmann.«
Sie runzelte die Stirn. »Ich habe nie so recht verstanden, was ein Kaufmann eigentlich macht.«
»Ich schätze, er kauft Sachen und verkauft sie dann wieder. Aber es muss anders sein als bei einem Ladenbesitzer, sonst würden sie sie ja Ladenbesitzer nennen. Unser Bram war schon immer ein kluges Kerlchen. Wir haben nur alle nicht viel Bildung mitbekommen, weil Dad uns nicht in die Schule geschickt, sondern uns zu Hause behalten hat, damit wir ihm bei der Feldarbeit helfen.«
»Trotzdem bist du in deinem Beruf vorangekommen.«
Er zuckte mit den Achseln. »Ich kann gut mit Maschinen umgehen, aber nicht mit Worten, auch heute noch nicht. Bram konnte sich immer viel besser ausdrücken als ich.«
»Du solltest dich freuen, dass es deinem Bruder finanziell so gut geht.«
»Ich freue mich ja. Irgendwie. Aber ich will dich nicht anlügen, Ma. Ich bin neidisch auf ihn. Und ich werde den Gedanken nicht los, dass ich, wenn ich mehr Geld hätte, so wie er, vielleicht bessere Hilfe für Eileen hätte finden können. Dieser Arzt ist nicht bei ihr geblieben, er ist einfach gegangen und hat sie verbluten lassen.« Ihm kamen wieder die Tränen, und er wischte sich mit dem Ärmel seiner Jacke über die Augen.
»Mach dir keine Vorwürfe, mein Junge. Unsere Eileen ist nie sehr robust gewesen. Sie war genau wie ich und hatte Probleme, ein Kind auszutragen. Aber sie konnte sich hinterher nie richtig erholen, weil sie immer gleich wieder in anderen Umständen war, und ich bin nur zweimal schwanger geworden, mit ihr und mit einem Jungen, der ein paar Wochen nach der Geburt gestorben ist.« Alana seufzte. »Ich hätte gern noch mehr Kinder gehabt. Wir haben Eileen ein bisschen verhätschelt, das weiß ich.«
»Nun, wenigstens habt ihr zwei großartige Enkel.«
»Drei Enkel jetzt.«
»Ach ja. Das Baby habe ich ganz vergessen.« Er legte seiner Schwiegermutter den Arm um die Schultern und drückte sie noch einmal an sich, bevor er weitererzählte, wobei er Mühe hatte, einen ruhigen Ton zu bewahren.
»Bram hat offenbar veranlasst, dass Mr Kieran jedem Familienmitglied, das nach Australien auswandern will, das Geld für die Schiffspassage vorstreckt. Er hat geschrieben, das sei Brams Traum – dass alle, die von der Familie noch übrig sind, bei ihm in Australien leben.«
»Das ist nett von deinem Bruder.«
»Ja, schon. Aber mir behagt der Gedanke nicht, ihn um Hilfe zu bitten. Der Gedanke, ihm verpflichtet zu sein, geht mir gegen den Strich, Ma.«
»Aber er ist doch dein Bruder. Und er tut das aus freien Stücken. Eine Familie sollte zusammenhalten. Und außerdem hast du es Eileen versprochen. Das war ihr letzter Wunsch. Ein Versprechen, das man einem Menschen auf dem Sterbebett gibt, darf man niemals brechen.« Als er nichts erwiderte, fügte sie in sanftem Ton hinzu: »Außerdem finde ich, es ist eine gute Idee.«
Fassungslos sah er sie an. »Wirklich? Würde es euch nichts ausmachen, eure Heimat zu verlassen und mit mir auf die weite Reise nach Australien zu gehen? Ich dachte, Pa und du würdet versuchen, mich zum Bleiben zu bewegen.«
»Mit den Kindern und dir würde ich überallhin gehen, sogar in die Hölle und zurück, wenn es sein muss, und das gilt auch für meinen Patrick. Du hast gesagt, die einfachen Leute hätten in den Kolonien manchmal ein besseres Leben, also wird es sicher nicht allzu schlimm werden.«
Sie konnte zwar weder lesen noch schreiben, aber sie hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Das war ihm schon öfter aufgefallen. »Nur, woher wissen wir, dass das die beste Entscheidung ist? Ich muss an die Kinder denken.«
»Mein lieber Fergus, in diesem Leben kann man nichts sicher wissen.«
Daraufhin verfielen sie eine Weile in Schweigen. Sie fasste sich als Erste wieder. »Da wir gerade von den Kindern sprechen … ich hoffe, die Hebamme kennt jemanden, der das Baby stillen kann. Und du hast noch gar nicht gefragt, wie es der Kleinen geht.«
»Nein. Habe ich nicht. Wie geht es ihr denn?«
»Sie sieht gesund aus, aber sie ist winzig. Ohne eine Amme, die sie stillt, wird sie nicht lange leben.«
Das Baby kümmerte ihn nicht, doch er wollte sie nicht aufregen. »Wenigstens hat Eileen noch erfahren, dass sich ihr Wunsch nach einer Tochter erfüllt hat.« Zu seiner Überraschung wurde ihm bei diesem Gedanken etwas leichter ums Herz.
»Ja. Und du wirst die Kleine Niamh nennen?«
»Ja.« Ehrlich gesagt kümmerte es ihn nicht, wie sie das Baby nannten.
»Du brauchst noch einen zweiten Namen, den einer Heiligen.«
»Nein, Ma. Ich glaube nicht mehr an diesen religiösen Kram. Ein liebender Gott hätte den Jungs und mir Eileen nicht genommen.«
»Ach, Fergus, sag so etwas nicht. Ich weiß, dass du erschüttert bist, aber du darfst Gottes Ratschluss nicht in Zweifel ziehen. Er muss einen Grund gehabt haben, warum er mir meine Tochter genommen hat.«
Er zuckte mit den Achseln.
Sie seufzte und blinzelte die Tränen weg und zog die Nase hoch, dann sagte sie: »Aber wirst du denn nach Australien auswandern, wie es Eileens Wunsch war, wenn dein Bruder uns hilft?«
»Ich denke schon. Aber nur, wenn Bram für uns alle bezahlt. Ich lasse euch beide um keinen Preis allein hier zurück.«
»Danke, mein Junge.«
»Ach, dank mir noch nicht. Wahrscheinlich wird er sich weigern. Es ist sehr viel Geld. Außerdem wird es eine ganze Weile dauern, bis wir erfahren, wie er sich entschieden hat. Ich schätze, Mr Kieran muss ihm einen Brief schreiben, und es dauert Monate, bis der in Australien ankommt. Wir haben also bis zu unserer Abreise noch mindestens ein Jahr Zeit, wenn nicht länger.«
»Ach so. Und wie willst du das mit dem Baby und den Jungen jetzt machen? Wer soll sich um sie kümmern?«
Mit leerem Blick starrte er sie an. »So weit habe ich noch nicht vorausgeplant.«
»Nun, dann tu das jetzt. Das Leben geht weiter, ob wir glücklich sind oder traurig, und Kinder können sich nicht um sich selbst kümmern.«
»Ich muss trotzdem weiter arbeiten gehen und unseren Lebensunterhalt verdienen. Was meinst du, Ma? Könntest du uns wieder helfen? Ich weiß nicht, was wir die letzten zwei Monate ohne dich gemacht hätten.«
»Natürlich helfe ich euch. Aber ich denke, es wäre einfacher, wenn Patrick und ich dauerhaft hier einziehen würden. Dann kann ich mich leichter um euch alle kümmern. Es ist zu anstrengend für eine Frau in meinem Alter, zwei Haushalte zu führen. Und außerdem können wir damit Miete sparen. Mit zwei Männern im Haus, die beide Geld verdienen, müssten wir eigentlich jede Woche etwas für unsere Reise nach Australien auf die Seite legen können.«
»Das ist eine gute Idee.« Auch wenn es ihr an Bildung mangelte, dachte er, war seine Schwiegermutter trotzdem viel intelligenter, als ihre Tochter gewesen war. Und auch klüger als ihr Mann.
»Patrick und ich könnten in die Wohnstube ziehen. Die Möbel dort kannst du verkaufen, oder ich verkaufe sie für dich. Das Geld kannst du zurücklegen, damit du etwas hast, wenn wir in Australien sind. Unsere Möbel verkaufe ich auch.« Sie sah, wie sich Erleichterung um ihn legte wie ein wärmender Umhang, und auch sie fühlte sich auf einmal besser, weil sie eine neue Aufgabe in ihrem Leben gefunden hatte.
»Ich danke dir, Ma. Du bist die gütigste Frau, die mir je begegnet ist. Würdest du … für mich mit der Hebamme sprechen? Dass sie jemanden suchen muss, der das Baby stillt, meine ich. Vielleicht könnte Niamh bei euch bleiben, bis ihr hier einzieht. Wenn ich ehrlich sein soll, kann ich das Baby jetzt noch nicht um mich haben.«
Wieder sah Ma ihn mit sorgenvoller Miene an, nickte aber.
Alana seufzte. Was Fergus gerade gesagt hatte, bestärkte sie in ihrem Entschluss, schnell hier einzuziehen. Wenn die Beerdigung vorbei war, würde sie nicht mehr zulassen, dass er seinem eigenen Kind aus dem Weg ging.
Sie wappnete sich und ging zu der regungslos auf dem Bett liegenden Gestalt und küsste ihre Tochter ein letztes Mal auf die Stirn. Dann neigte sie den Kopf und sprach ein Gebet.
Danach trat sie zurück, stellte sich neben ihn und sagte: »In diesem Leben sehe ich Eileen nicht noch einmal an, mein Junge. Ich will sie so in Erinnerung behalten. Sie hat ihren Frieden gefunden.«
In dem Moment kam die Hebamme zur Tür herein. »Soll ich sie für Sie aufbahren, Mr Deagan? Ich müsste Ihnen dafür zwei Schillinge in Rechnung stellen, aber -«
Mit gequälter Miene schaute Fergus auf das Bett, brachte ein »Ja!« hervor und eilte aus dem Zimmer.
Seine Schwiegermutter blieb, um mit der Hebamme zu sprechen.
»Er nimmt es sehr schwer«, sagte Mrs Sealey.
»Wie wir alle. Was meinen Sie? Könnten Sie uns eine Amme besorgen?«
»Sie haben Glück. Ich kenne genau die richtige Frau. Falls sie es übernehmen will. Sie hat gerade ihr eigenes Baby verloren.«
»Das arme Ding.«
Cara Payton saß in ihrem kleinen, karg möblierten Zimmer im Logierhaus und war so verzweifelt, dass sie nicht einmal weinen konnte. Wie sollte sie jetzt nur weiterleben, da ihr Baby gestorben war? Wollte sie es überhaupt versuchen? Sie hatte sich an die Vorstellung gewöhnt, dass sie ein Kind erwartete, und der Gedanke, dass sie nach der Geburt des Babys nicht mehr allein sein würde, war ihr ein Trost gewesen.
Doch das arme kleine Wesen hatte überhaupt nie geatmet. Es war ein Mädchen gewesen. Sie hatte sich ein Mädchen gewünscht.
Als jemand an die Tür klopfte, konnte sie sich nicht dazu aufraffen, aufzustehen und zu öffnen. Geht weg, dachte sie. Lasst mich trauern.
Die Tür wurde geöffnet, und Mrs Sealey steckte den Kopf ins Zimmer. »Ach, Sie sind ja da, Cara. Ich dachte, Sie wären vielleicht weggegangen. Haben Sie mich nicht klopfen hören?«
Sie zuckte die Achseln.
Die Hebamme kam herein, schritt auf sie zu und schaute ihr prüfend ins Gesicht, dann schnalzte sie missbilligend mit der Zunge. »Mein liebes Kind, Sie haben sich ja heute weder gewaschen noch frisch angezogen. Sie lassen sich gehen.«
»Wen soll es schon kümmern, was ich tue?«
»Tun Sie es für sich selbst, das sage ich immer.« Mrs Sealey machte sich daran, etwas Wasser aus dem Eimer zu schöpfen, den sie am Abend zuvor selbst gefüllt hatte. »Hier. Sie machen sich jetzt ein bisschen frisch, während wir reden.«
Cara ließ Mrs Sealey gewähren und drehte sich hin und her wie ein Kind, das von seiner Mutter gewaschen wurde.
»So. Jetzt sind Sie wieder sauber. Fühlen Sie sich da nicht gleich besser?«
»Eigentlich nicht.«
»Nun, das hier wird Sie auf andere Gedanken bringen. Ich brauche Ihre Hilfe, meine Liebe. Heute Morgen ist eine junge Frau bei der Geburt ihres Kindes gestorben, aber ihr Baby lebt, und wir brauchen eine Amme für das Kleine.«
Cara horchte auf. Bestürzt starrte sie die Hebamme an. »Sie meinen doch nicht, dass ich das machen soll?«
»Natürlich meine ich das. Denn wenn Sie es nicht machen, wird dieses Baby sterben. Sie sind die einzige Frau weit und breit, die körperlich in der richtigen Verfassung ist und Milch übrig hat.«
»Nein. Das kann ich nicht. Nicht für eine Fremde.«
»Doch, das können Sie. Ein Nein lasse ich nicht gelten. Hinterher können Sie machen, was Ihnen beliebt. Wenn Sie feige genug sind, können sie sich sogar umbringen. Oh ja. Ich kann erraten, was Sie denken. Aber dieses Baby hat eine Chance verdient. Und ich weiß, dass Sie nicht so selbstsüchtig sind, das winzige Mädchen einfach sterben zu lassen, wenn Sie die Kleine retten können.«
Auf einmal war es still im Raum. Aus der Ferne drangen Stimmen zu ihnen, aber in diesem Raum waren nur die leisen Atemzüge der beiden Frauen zu hören. Mrs Sealey wartete einen Moment, dann legte sie Cara die Hand auf den Arm und wiederholte noch einmal, was sie gerade gesagt hatte, dieses Mal in einem sanfteren Ton. »Sie können einem Menschen das Leben retten, Cara. Wollen Sie sich da einfach abwenden und ein Baby sterben lassen?«
»Haben Sie gerade gesagt, es ist ein Mädchen?«
»Ja. Sie haben sie Niamh genannt.«
»Ich … ich weiß doch gar nicht genau, was eine Amme tut.«
»Sie stillt das Baby.« Sie zeigte auf Caras pralle Brüste. »Sie haben eine Menge Milch. Die Kleine saugt und wird kräftiger davon. Aber sie werden sie nicht nur füttern, sondern sie auch sonst versorgen, ihr die Windeln wechseln, sie sauber halten, ihre Sachen waschen.«
Wieder war es eine Weile still im Raum, dann konnte Cara sich nicht länger weigern, weil ihr der Gedanke, ein kleines Baby könnte sterben, wenn sie ihm nicht half, nicht mehr aus dem Kopf ging. »Ich könnte es ja einmal versuchen. Wenn Sie mir zeigen, was ich machen muss.«
»Gutes Kind. Wir gehen jetzt zu der Familie. Das Baby muss sofort gestillt werden.«
Panik schwang in Caras Stimme mit. »Ich will das Haus nicht verlassen und erst recht zu niemandem gehen! Sagen Sie den Leuten, sie sollen das Baby herbringen.«
»Es ist besser, wenn Sie zu ihnen gehen. Das Baby ist so winzig, dass Sie es mehrmals täglich stillen müssen. Außerdem ist das hier ein Drecksloch. Sie haben Ihr Zimmer zwar sauber gehalten, aber ich habe überall Küchenschaben herumkrabbeln sehen.«
Cara schüttelte sich.
»Außerdem … haben Sie mir nicht erzählt, Sie könnten nach der Geburt nur noch zwei Monate von dem Geld leben, das Sie noch haben?«
»Mein Vater hat mir nicht geglaubt, dass dieser Mann sich an mir vergangen hat, weil er ein Freund von ihm ist und -«, ihre Stimme wurde verächtlich, »und ein Pfeiler der Kirche. Als Vater mich aus dem Haus geworfen hat, hat er mir etwas Geld mitgegeben und gemeint, das sollte reichen bis zur Geburt, und er hat gesagt -« Sie hielt einen Moment inne und schluckte, um ihre Stimme wieder in den Griff zu bekommen. »Er hat gesagt, danach bin ich auf mich allein gestellt. Ich bin befleckt und könnte nie mehr unbefleckt sein, deswegen dürfte ich nie wieder in die Nähe der Familie kommen, oder er würde mich in die Irrenanstalt sperren lassen.«
Mitleid half ihr nicht weiter. Dieses arme Mädchen musste dazu gedrängt werden, sonst würde sie nur Trübsal blasen. »Wer sollte denn in die Nähe von so einem herzlosen Menschen kommen wollen? Aber der Rest Ihrer Familie ist nicht so wie er. Schließlich war es Ihre Tante, die Sie zu mir geschickt hat, und hat sie Ihnen nicht auch noch etwas Geld gegeben?«
»Sie hat mir so viel gegeben, wie sie konnte, aber mein Onkel ist ihr gegenüber nicht sehr großzügig. Er hat nicht zugelassen, dass sie mich bei sich aufnimmt, weil er genauso denkt wie mein Vater.«
»Nun, es bringt nichts, in Selbstmitleid zu verfallen. Man kann es nicht mehr ungeschehen machen. Reden wir also über Ihre neue Stellung. Diese Leute werden Ihnen einen kleinen Lohn bezahlen und Sie außerdem bei sich wohnen lassen und verköstigen. So kommen Sie länger mit dem Geld aus, das Sie noch haben. Wenn es um Geld geht, hilft jeder Farthing, glauben Sie mir.«
»Das habe ich auch schon festgestellt.«
»Ich nehme an, dass Sie sich das Zimmer mit den älteren Kindern werden teilen müssen, aber es sind nur zwei, und es sind gut erzogene kleine Jungen. Wir können den Raum mit einer Decke abtrennen, damit Sie in Ihrem Teil ungestört sind. Oder … nein. Vielleicht können die Jungen ja auch bei ihrem Vater schlafen. Ja, das wäre besser. Das werde ich ihm vorschlagen. Die Jungen werden ihm ein Trost sein, und er wird ihnen ein Trost sein.«
»Es wäre mir lieber, wenn man das Baby zu mir bringen würde«, sagte Cara noch einmal.
Mrs Sealey verschränkte die Arme vor der Brust und sah sie mit strenger Miene an. »Sie können es sich nicht leisten, stolz zu sein. Reißen Sie sich zusammen, Kind! Ich biete Ihnen Hilfe an, und Sie sitzen da wie ein alter Lappen. Sie können sich nicht ewig in diesem Zimmer verstecken.«
»Ich weiß nicht, warum Sie sich überhaupt mit mir abgeben. Schließlich bin ich nichts weiter als ein gefallenes Mädchen.«
»Nein, das stimmt nicht. Ich kenne Ihre Tante, und Sie habe ich kennengelernt. Wir glauben Ihnen beiden, dass es sich so zugetragen hat, wie Sie sagen. Aber Sie müssen sich ein neues Leben aufbauen. Und das schaffen Sie auch, das weiß ich.«
Cara schluckte schwer und fühlte sich immer noch wie erschlagen.
»Nun kommen Sie schon. Jetzt ziehen wir Sie erst einmal ordentlich an, und dann gehen wir zu der Familie. Deagan heißen die Leute. Da draußen sind Tausende, denen es schlechter geht als Ihnen. Zum Beispiel die Mutter dieses Babys. Sie ist tot, mit gerade mal dreißig Jahren. Aber Sie leben noch.«
Also ließ Cara sich von Mrs Sealey, die so nett zu ihr war, in ein sauberes Kleid helfen und verließ zum ersten Mal seit der Geburt vor zwei Tagen das Haus.
Die Sonne schien hell, und Cara blinzelte, weil das Licht sie blendete. »Na los, Beeilung. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«
Cara setzte sich in Bewegung. Immer einen Fuß vor den anderen, dachte sie erschöpft. Denn so ging man. Auch wenn es einem egal war, wann und wo man ankam.
Die trauernde Familie lebte in einer Siedlung aus Reihenhäusern, die größer waren als das, in dem Cara die letzten paar Monate gewohnt hatte, und diese Häuser hier waren auch alle in einem viel besseren Zustand. Mrs Sealey hatte ihr erzählt, dass Mr Deagan der Gehilfe eines Ingenieurs der Swindon Railway Works war, und dieses Haus hier bewies, dass er sehr gut gestellt war.
Sie hatte in den letzten Monaten nur eine winzige Dachkammer bewohnt, mit einem Außenklo im Gemeinschaftshof und mit einem Wasserhahn neben der Hintertür. Mr Deagan hatte ein ganzes Haus für seine Familie, und jedes Reihenhaus hatte hinten einen eigenen Garten.
Sie atmete tief durch und folgte der Hebamme ins Haus.
»Ich bringe Ihnen eine Amme, Mrs Grady. Das ist Cara Payton. Ihr Baby ist vor zwei Tagen tot zur Welt gekommen. Sie ist verwitwet. Sie hat jede Menge Milch, also kann sie die kleine Niamh stillen, aber sie braucht noch eine Unterkunft. Und Lohn müssen Sie ihr natürlich auch zahlen.«
Alana Grady betrachtete die junge Frau prüfend. Die war zwar blass und wirkte erschöpft, sah ansonsten aber ziemlich gesund aus. Dass sie traurig aussah, war kein Wunder, da sie ihr eigenes Baby verloren hatte. »Was ist mit Ihrem Mann passiert, meine Liebe?«
»Ein Unfall bei Bahnarbeiten«, setzte Mrs Sealey an.
»Ich werde diese Leute nicht belügen«, fiel Cara ihr ins Wort und sah Mrs Grady herausfordernd an. »Ich bin vor Monaten in der Dämmerung auf dem Heimweg vom Einkaufen von einem Mann überfallen und vergewaltigt worden. Ich habe mich zu sehr geschämt, als dass ich es irgendjemandem erzählt hätte. Und dann … habe ich festgestellt, dass ich ein Kind bekomme. Ich wusste gar nicht, was mit mir vorging. Meine Mutter musste es mir erklären. Mein Vater hat mich aus dem Haus geworfen und gesagt, ich bin jetzt ein gefallenes Mädchen und dass er mich oder meinen Bastard nicht unter seinem Dach dulden würde.«
Alana sah Mrs Sealey an und wusste nicht, was sie sagen sollte.
Die Hebamme trat neben Cara und legte den Arm um das Mädchen. Die war erst zweiundzwanzig Jahre alt und so unerfahren, dass sie ihr vorkam wie ein Kind. »Ich kenne Caras Tante. Sie und ich glauben dem Mädchen, dass sie überfallen und vergewaltigt wurde, also haben wir ihr geholfen, so gut wir konnten. Da das Baby tot ist und ihr das Geld ausgeht, muss Cara jetzt ihren Lebensunterhalt verdienen.«
Aus der Zimmerecke ertönte ein wimmernder Aufschrei, und alle drehten sich um und schauten auf das sich windende Bündel.
Das Baby hörte nicht mehr auf zu weinen, und Cara ging langsam durch den Raum wie eine Schlafwandlerin.
Mrs Sealey packte Alana am Arm, die ebenfalls nach dem Kind hatte sehen wollen, schüttelte den Kopf und formte mit dem Mund die Worte: »Lassen Sie sie.«
Cara blickte hinunter in die Schublade, aus der sie eine behelfsmäßige Wiege gemacht hatten. Das Baby war winzig, noch kleiner, als ihr totes Töchterchen gewesen war. Traurig und verloren sah das Kleine aus, wie es so dalag und nach Nahrung schrie. Die Verzweiflung des Kindes berührte sie so, wie sie seit der Vergewaltigung vor Monaten nichts mehr berührt hatte – das heißt, außer dem Tod ihres Babys.
Instinktiv beugte sie sich vor und nahm den Säugling auf den Arm, um ihn zu trösten. »Ist ja gut. Ist ja gut.« Als sie die Kleine an sich drückte, hörte die auf zu weinen und blickte sie an und blinzelte, als würde das Licht, das durch das Küchenfenster hereinfiel, ihr in den kleinen Augen wehtun.
Auch ihr selbst taten von der Helligkeit die Augen weh, die vom Weinen gerötet und verquollen waren.
Sie drehte sich um und sah die beiden älteren Frauen an. »Wenn ich diesem Baby das Leben retten kann, dann werde ich es tun. Dann hat etwas Böses am Ende doch noch etwas Gutes.«
Sie wiegte das Baby sanft auf dem Arm, eine instinktive Handlung, die das kleine Mädchen zu beruhigen schien.
Die Hebamme nickte. »Gut. Dann schauen wir mal, ob wir sie dazu bringen können zu trinken. Kommen Sie, ich helfe Ihnen, Ihr Mieder aufzuknöpfen.«
Cara drehte sich um und errötete. »Hier? Aber was ist, wenn jemand hereinkommt?«
Das Erröten gab den Ausschlag bei Alana. Plötzlich glaubte auch sie die Geschichte, die das Mädchen erzählt hatte. »Wir gehen in die Stube. Und ich passe auf, dass uns niemand stört.«
»Und ich zeige Ihnen, was Sie machen müssen«, sagte Mrs Sealey in dem ihr eigenen forschen Ton.
Ihren Körper vor einem wildfremden Menschen zu entblößen war eine weitere Demütigung für Cara. Doch als das Baby anfing, gierig an ihrer Brust zu ziehen, und die Milch zu fließen begann, da flossen bei ihr die Tränen. Doch diesmal waren es hoffnungsvolle Tränen, heilsame Tränen.
Sie sah die Hebamme an. »Kann ich ihr wirklich das Leben retten?«
»Bei so einem kleinen Baby weiß man das nie so genau, meine Liebe, aber Sie können ihr eine Chance geben, wahrscheinlich die einzige Chance, die sie je bekommt.« Und dieses Kind kann auch dich retten, dachte Mrs Sealey, sprach es aber nicht aus.
Bis Fergus die Beerdigung seiner Frau in die Wege geleitet hatte und wieder nach Hause kam, hatten die beiden älteren Frauen alles miteinander geregelt.
Cara würde bis zur Beerdigung mit dem Baby im Haus der Gradys wohnen, danach würden die Jungen ins Schlafzimmer ihres Vaters und die Gradys würden in Fergus’ Haus ziehen, in die Wohnstube im Erdgeschoss, und Cara und dem Baby das Zimmer hinter der Küche überlassen.
Mr Deagan wurde der Amme vorgestellt, doch er sah Cara kaum an. Er machte auch keine Anstalten, sich das Baby anzuschauen, sodass die beiden älteren Frauen einen besorgten Blick wechselten.
Cara fragte sich, ob Mr Deagan etwas gegen das Kind hatte, weil seine Frau bei der Geburt gestorben war. Wenn es so war, tat ihr das arme Wurm leid. Doch es ging sie nichts an, was er tat. Sie war nur wegen des Babys hier.
Sie wandte sich wieder Niamh zu. Schon jetzt fühlte es sich richtig an, die Kleine auf dem Arm zu halten. Sie kam sich vor wie eine Frau, die gerade aus einem Albtraum erwachte. Und das Beste daran war, sie war jetzt nicht mehr allein.
Vielleicht würde sie sich wieder sauber fühlen, wenn sie das Kind rettete, würde neue Hoffnung daraus schöpfen, sodass sie sich danach ein anständiges Leben aufbauen könnte.
Aber ihren Vater wollte sie nie wiedersehen. Nie mehr, solange sie lebte. Ihre Mutter hatte nicht einmal versucht, ihm die Stirn zu bieten, und weder ihr Bruder noch ihre Schwester hatten Verbindung mit ihr aufgenommen, obwohl sie nur eine Meile entfernt wohnten.
Sie würde ein Kind nie so behandeln, wie ihre Familie sie behandelt hatte.
Die Paytons waren nicht die achtbaren, rechtschaffenen Christen, für die die Leute sie hielten. Sie waren Frömmler, Pharisäer, die jedem erzählten, was für gute Menschen sie waren, die sich aber nicht einmal um die eigene Tochter kümmerten, wenn die unverschuldet in Schwierigkeiten geriet.
Jedes Mal wenn sie daran dachte, fühlte Cara sich hin und her gerissen. Zwischen Trauer und Wut.
In der ersten Nacht, in der Cara die Verantwortung für Niamh trug, war sie öfter wach, als dass sie schlief. Sie döste zwar immer wieder ein, schrak aber jedes Mal nach kurzer Zeit wieder hoch, und dann horchte sie, ob sie das leise Schnaufen des Babys hören konnte, und ihr Herz hämmerte wild, denn sie hatte schreckliche Angst, es könnte etwas passieren.
Mrs Sealey hatte ihr ein paar Ratschläge gegeben, was sie tun musste, ihr im Vertrauen aber noch einmal erklärt, dass ein so winziges Baby einfach sterben könne, ohne dass man einen Grund dafür fände, und dass Cara sich in so einem Fall nicht die Schuld dafür geben dürfe.
Mrs Grady war eine sehr liebe Frau. Mit Tränen in den Augen hatte sie sich bei Cara für deren Hilfe bedankt und ihr das Zimmer hinter ihrem eigenen Schlafzimmer bequem hergerichtet. »Ich habe eine Lampe ganz niedrig eingestellt und angelassen, damit Sie immer ein bisschen Licht haben. Aber wenn Sie sonst noch irgendetwas brauchen, rufen Sie mich bitte einfach. Hier muss Ihnen alles ziemlich fremd sein.«
Als Niamh aufwachte und zu wimmern begann, was es wohl Zeit, sie zu stillen. Die Kleine saugte eine Weile, dann schlief sie zwischen zwei Atemzügen einfach ein. Cara blickte hinunter auf das Baby und bewunderte die Vollkommenheit der winzigen, seesternartigen Händchen und die zarte Haut des Säuglings.
Als sie ein Räuspern vernahm, drehte sie sich um und sah, dass Mrs Grady in der Tür stand, ein Tuch über das Nachthemd geschlungen.
»Ich habe gehört, dass sie wach geworden ist, darum wollte ich fragen, ob Sie vielleicht irgendetwas brauchen, aber Sie beide haben so zufrieden ausgesehen, dass ich gewartet habe, bis Sie fertig waren. Das braucht sie jetzt am meisten, etwas Nahrhaftes im Bauch und sehr viel Liebe.«
Und da man in der Nacht immer eher bereit war, einem anderen Menschen ein Geheimnis anzuvertrauen, flüsterte Cara: »Ich habe Angst, dass ich etwas falsch mache. Ich habe keine Erfahrung damit, ein Baby zu versorgen.«
»Sie machen es so gut Sie können, das sehe ich schon. Mehr kann man nicht tun, mein Kind.«
Sie schwieg, und im Schein der flackernden Kerze sah Cara eine Träne auf der Wange der älteren Frau schimmern.
»Mrs Grady, ich muss ihr jetzt die Windel wechseln und mir die Hände waschen. Ich kann das auch unten in der Küche tun. Sie brauchen Ihren Schlaf.«
»Ich gehe mit Ihnen nach unten. Ich kann nicht schlafen. Meine Eileen liegt nur wenige Straßen weiter in einem Sarg – wie soll ich da schlafen?« Sie fing an zu schluchzen.
Ohne nachzudenken, ging Cara zu ihr und legte den Arm um sie. »Schsch, schsch. Sie haben doch Ihre Enkel, also ist Ihnen wenigstens etwas von Ihrer Tochter geblieben. Trösten Sie sich damit.« Cara hatte keine Familie mehr, niemanden, der sie tröstete, doch das behielt sie für sich. Aber daraus, wie Mrs Grady sie ansah und sie dann krampfhaft umarmte, entnahm Cara, dass die ältere Frau verstehen konnte, was in ihr vorging.
»Warum helfen Sie mir nicht, das Baby zu wickeln?«
Mrs Gradys Miene hellte sich ganz leicht auf. »Ja. Das würde ich gern tun.«
Gemeinsam wechselten sie die nasse Windel und weichten sie in einem Eimer ein, dann trug Cara die kleine Niamh wieder nach oben in ihr Bettchen. Sie ging nicht davon aus, dass sie noch einmal einschlafen würde, schaffte es aber immerhin, noch zwei, drei Stunden leicht zu dösen.
Als sie aufwachte, wurde es draußen gerade hell. Sie hörte, dass Niamh unruhig war, und beugte sich aus dem Bett, um nach der Kleinen zu sehen, die das Gesichtchen von einer Seite auf die andere drehte, weil sie offenbar wieder gefüttert werden wollte.
Sie spürte, wie eine Woge der Erleichterung sie durchflutete. Sie hatten ihre erste Nacht zusammen überstanden. Und dass Niamh Hunger hatte, war bestimmt ein gutes Zeichen.
Auch dieses Mal wachte Mrs Grady auf und kam zu ihnen. Sie plauderten nicht miteinander. Sie waren einfach zu traurig, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Aber sie waren nicht allein, sie hatten einander, und beide waren dankbar für den stummen Trost, den das schenkte.
Irgendwann fragte Mrs Grady: »Wie wollten Sie Ihr Baby denn nennen?«
»Hannah Grace.«
»Das ist ein hübscher Name.«
»Mrs Sealey hat sie weggebracht. Der Vikar hat gesagt, man kann sie nicht auf geweihtem Boden bestatten, weil sie nie geatmet hätte.« Cara brach in Tränen aus. »Ich weiß nicht, wo sie ist.«
Mrs Grady schlang die Arme um sie. »Männer können manchmal sehr grausam sein. Wir werden Mrs Sealey fragen. Sie wird wissen, wo man Ihr Baby begraben hat.«
»Sie sind sehr gütig.«
»Sie auch, weil Sie das hier für uns tun. Sie reden wie eine gebildete junge Frau, die ein besseres Leben gewöhnt war.«
»Das kann schon sein. Es hat mir nur nichts gebracht.«
***
Der nächste Tag verging nur langsam, doch am Nachmittag lebte das Baby immer noch und sah auch etwas rosiger aus, wie die beiden Frauen übereinstimmend befanden.
Cara stillte den Säugling noch einmal und fragte dann, ob sie die Kleine wohl für etwa eine Stunde bei ihrer Großmutter lassen dürfe. »Ich muss meine Sachen packen und aus meiner Unterkunft ausziehen, weil meine Vermieterin sonst für eine weitere Woche Miete haben will.«
»Bei wem wohnen Sie denn?«
»Bei Mrs Thomason in der South Street.«
»Ach, bei der! Die ist dafür berüchtigt, dass sie ihre Logiergäste übers Ohr haut.«
»Ich war eine gute Mieterin und habe jede Woche pünktlich gezahlt. Bei mir wird alles reibungslos ablaufen, da bin ich ganz sicher.«
Als sie zu ihrer Unterkunft kam, teilte Cara ihrer Vermieterin mit, dass sie auszog.
»Ich habe gehört, Sie sind Amme bei dem irischen Baby.« Mit säuerlicher Miene sah Mrs Thomason sie an. »Ich muss Ihr Zimmer kontrollieren, um sicherzugehen, dass nichts beschädigt ist.«
Cara fühlte sich vor den Kopf gestoßen. »Natürlich habe ich nichts kaputt gemacht.«
Als sie in Caras Zimmer waren, sah sich die Vermieterin mit zu Schlitzen verengten Augen um, dann zeigte sie auf etwas. »Sie haben den Tisch da beschädigt. Sehen Sie? Diesen riesigen Kratzer müssen Sie mir bezahlen.«
Cara war empört über diese unverfrorene Lüge. »Der Tisch war schon ziemlich zerkratzt, als ich hier eingezogen bin, und ich habe hier nichts kaputt gemacht. Und außerdem ist dieses Zimmer jetzt viel sauberer als bei meinem Einzug. Sie sollten sich freuen, wie gut ich darauf geachtet habe.«
»Ich muss Ihr Gepäck hierbehalten, bis Sie mir den Schaden an dem Tisch bezahlt haben. Nein, ich mache Ihnen einen anderen Vorschlag. Sie geben mir Ihr blaues Kleid, und wir sind quitt.«
»Ganz sicher nicht!«
»Dann müssen Sie und Ihr Gepäck eben so lange hierbleiben, bis Sie zur Vernunft gekommen sind. Ich werde meinen Mann bitten, dafür zu sorgen, dass Sie nicht weglaufen.«
Cara wurde ganz bang ums Herz. Mr Thomason war ein Rohling und ziemlich oft betrunken, egal, um welche Tageszeit. Würde er sie schlagen, wenn sie versuchte, das Haus zu verlassen, wie er seine Frau manchmal schlug?
Es klopfte an die Haustür.