TIMO DAUM arbeitet als Hochschullehrer in den Bereichen Online, Medien und digitale Ökonomie. Er ist studierter Physiker und verfügt über zwei Jahrzehnte Berufserfahrung in der IT-Branche. Er veranstaltet Vorträge und Seminare zur Thematik des Digitalen Kapitalismus. Sein Buch Das Kapital sind wir. Zur Kritik der digitalen Ökonomie (2017) wurde mit dem Preis »Das politische Buch 2018« der Friedrich-Ebert-Stiftung ausgezeichnet. 2019 erschien Die Künstliche Intelligenz des Kapitals. Timo Daum lebt in Leipzig.
DAS LEBEN ALS
PROJEKT
Edition Nautilus GmbH
Schützenstraße 49 a · D - 22761 Hamburg
www.edition-nautilus.de
Alle Rechte vorbehalten · © Edition Nautilus 2020
Originalveröffentlichung · Erstausgabe Oktober 2020
Illustrationen im Innenteil: Susann Massute
Autorenporträt Seite 2: Fabian Grimm
Umschlaggestaltung: Maja Bechert, Hamburg
www.majabechert.de
ePub ISBN 978-3-96054-243-8
Die schöne neue Welt der Agilität
Alle wollen agil werden · Es lebe das Projekt! · Zum Inhalt
Die agile Revolution. Vom Wasserfallmodell zum distributed Scrum
Das Agile Manifest · Der agile Produktionsalltag · Kritik am agilen Fließband · Von Störungen und Erschöpfungen
Die große Code-Industrie. Einblick in den Maschinenraum der Algorithmenfabriken
Fork it on GitHub! · Die agile Fabrik · General intellects bei der Arbeit
Das Kapital dressiert, der Arbeiter pariert
Das Babbage-Prinzip und die feinen Unterschiede · Die Wissenschaft von der Ausbeutung · Algorithmische Gorillas
Vom Fließband zur Agilität: Drei Revolutionen in der Automobilindustrie
Lean Production · Agilität in der Autobranche · Auch Volkswagen will agil werden
Wir sind ja nicht zum Spaß hier
Das Ethos des Projekts · Der Umgang mit Kritik · Arbeit, Spiel und Ernst · Hackerkritik · Sprints und Marathons für Hacker und Maker · Rekuperation
Wo ist bloß der Chef geblieben?
Das kybernetische Unternehmen · Der alte und der neue Chef · Der algorithmische Boss · Vermessung des Selbst · Messen und Herrschen
Free solo: Arbeitskraftunternehmer von der Dampfmaschinenzeit bis heute
»We’re only human (capital) after all« · »Want to be your own boss? Start today!« · Sklaverei 4.0 · Mit dem BGE den nächsten Sprint schaffen
Das Kapital macht agil, bei Arbeit, Sport und Spiel
Velocity & control · Agilität in Zeiten von Corona · Das agile Selbst · Agiler Kapitalismus
Anmerkungen
Glossar
Auswahlbibliografie
Zu diesem Buch
Dank
Nachwort von Phoebe V. Moore
Die Welt, in der wir leben, ist zunehmend unbeständig, unberechenbar, komplex und vieldeutig geworden, nichts ist mehr sicher, alles im Fluss, Unvorhergesehenes wird zur Norm und Unruhe chronisch. Die VUCA-Welt – nach den englischen Anfangsbuchstaben von volatility (Volatilität), uncertainty (Unsicherheit), complexity (Komplexität), ambiguity (Mehrdeutigkeit) – ein düsteres, gar bedrohliches Szenario? Nicht für diejenigen, die auf sie vorbereitet sind, die voller Elan durchs Leben gehen, neue Herausforderungen enthusiastisch begrüßen, bedrohliche Unsicherheiten als challenge betrachten, komplexe Situationen handlen und mit der Mehrdeutigkeit sozialer Beziehungen dealen können. Kein Problem also für die Regsamen und Wendigen, Unruhigen und Vitalen, mit einem Wort: für die Agilen.
Das Wort »agil« kommt aus dem Lateinischen, es ist schon rund zweitausend Jahre alt, hat aber derzeit Hochkonjunktur: Im Managementkontext, bei Start-ups, in der digitalen Arbeitswelt, aber auch in der Lebenshilfe- und Ratgeberliteratur, überall lautet die Antwort auf die Herausforderungen der VUCA-Welt: Agilität. Als Beispiele für ihre Verwendung führt der Duden an: »ein agiler Geschäftsmann« und »Sie ist trotz ihres Alters körperlich und geistig noch sehr agil«. Beide Beispiele sind klug gewählt, decken sie doch die ganze Spannbreite von Agilität ab, von der Businesswelt bis ins hohe Alter lautet die Parole: Sei beweglich und flexibel, bleib nicht stehen, sondern erfinde dich stets neu und investiere in dich selbst! Schon Kinder müssen performant sein und Kompetenz beweisen, und für Senioren gibt es erst recht keine Atempause: Ruhestand war gestern, heute muss immer etwas unternommen werden.
Die Karriere des kleinen Wörtchens »agil« begann so richtig Anfang des Jahres 2001, als das Manifest für Agile Softwareentwicklung das Licht der Welt erblickte.1 Geschrieben hatten es 17 amerikanische Softwareexperten – allesamt Männer, was angesichts des marginalen Frauenanteils in der Branche auch nicht weiter verwunderlich ist. Die Evangelisten der neuen Managementreligion – leidenschaftliche Programmierer und Projektleute – hatten die Nase gestrichen voll von den üblichen Methoden, die ihnen das Leben schwermachten. Das alte Wasserfallmodell folgte einem strikten Plan, was oft immensen Steuerungsaufwand, ausufernde Dokumentationen und unflexible Abläufe mit sich brachte. Damit wollten sie ein für alle Mal aufräumen, sie wollten Schluss machen mit strikter Arbeitsteilung, klar abgegrenzten Projektphasen und einer Kultur von Befehl und Gehorsam. In vier Leitsätzen und zwölf Prinzipien (siehe Seite 32) hielten sie fest, wie von nun an gearbeitet werden sollte. Sie schrieben: »Wir erschließen bessere Wege, Software zu entwickeln, indem wir es selbst tun und anderen dabei helfen. Durch diese Tätigkeit haben wir diese Werte zu schätzen gelernt: Individuen und Interaktionen mehr als Prozesse und Werkzeuge / Funktionierende Software mehr als umfassende Dokumentation / Zusammenarbeit mit dem Kundenmehr als Vertragsverhandlung / Reagieren auf Veränderungmehr als das Befolgen eines Plans.«2
Die agilen Prinzipien und Werte stießen bei den Entwicklern und Programmiererinnen auf breiten Zuspruch, versprechen sie doch eine humanere Arbeitskultur, die auf Teamarbeit, Eigenverantwortung und flache Hierarchien setzt. Selbstbestimmte Teams planen ihre Aufgaben und arbeiten sie auch eigenverantwortlich ab, alle Teammitglieder sind am Entwicklungsprozess beteiligt, alle denken und entscheiden mit. Ihnen wird hohe Flexibilität und Selbststeuerung abverlangt, Empowerment und Gruppenautonomie sind Trumpf. Sie sollen kompetent agieren, ständig miteinander kommunizieren und jederzeit für Kundenwünsche und neue Anforderungen offen sein. In kurzen Iterationen von wenigen Wochen werden funktionierende Zwischenergebnisse produziert, die ihrerseits Ausgangspunkt eines neuerlichen Entwicklungszyklus darstellen. So entstehen funktionsfähige Softwareprototypen in einem auf Dauer gestellten kreativen Prozess wie am Fließband – ganz anders als früher: Hier stand oft erst ganz am Ende eines langen Entwicklungsprozesses ein fertiges Produkt.
Zu den kürzeren Projektzyklen gesellen sich neue Rollen – so wird etwa bei Scrum, der gebräuchlichsten agilen Methode, der klassische Projektmanager abgelöst durch den Product Owner, der die Kundenperspektive ins Projekt hineinträgt; der Scrum Master hingegen ist eher Coach als klassischer Vorgesetzter. Sympathisch am Agilen Manifest war auch, dass seine Prinzipien keine Erfindung von Akademikerinnen oder Unternehmensberatern waren, seine Autoren waren allesamt Leute aus der Praxis. Ihr Manifest war von Sachverstand und Produzentenstolz geprägt, garniert mit einer gehörigen Portion common sense.
Mit flachen Hierarchien und neuen Rollen geht auch eine radikale Transparenz einher: Das Team ist immer auf dem Laufenden, was jeder Projektbeteiligte gerade macht, ist für alle ersichtlich. Methoden der Vermessung und Kontrolle finden sich auch in der neuen Welt der kleinen Teams mit ihrer kleinteiligen Aufgabenerfassung und regen Projektkommunikation; Aktivitätsfeeds generieren einen ständigen Strom an Leistungsdaten. Keine äußere Instanz überwacht dabei die Arbeitsfortschritte, das besorgt das Team selbst: Sein Ziel ist es, die eigene Durchschnittsgeschwindigkeit, die velocity, zu steigern.
Seit die agilen Revolutionäre ihr Agiles Manifest schrieben, sind bald zwanzig Jahre vergangen, seine Ideen entwickelten sich zum dominierenden Paradigma in der Branche. Im Nachgang entstanden dann die eigentlichen agilen Methoden oder Frameworks, spezifische Ansätze und Umsetzungsanleitungen. Diese finden mittlerweile breite Verwendung quer durch die Branche, werden an Hochschulen gelehrt und von Agilitätsberatern propagiert. Die Art und Weise, wie Software entwickelt wird, IT-Projekte gemanagt, Arbeitsabläufe organisiert und Teams gesteuert werden, hat sich seitdem von Grund auf geändert.
In der Softwarebranche ist die neue Arbeitsorganisation inzwischen Standard. Die Attraktivität agiler Methoden geht aber weit darüber hinaus: Wenn das Ergebnis von Projekten nicht von vorneherein absehbar ist oder wenn Entwicklungsprozesse einen hohen Kreativitätsanteil aufweisen, sind agile Methoden erste Wahl. Überall da, wo Projekte gestemmt, neue Produkte und Dienste entwickelt werden sollen, schnell delivered und released werden muss, sind agile Methoden zu finden. Wo sie Einzug halten, bringen sie neue Rollen, digitalisierte Workflows und eine gehörige Portion Selbststeuerung mit.
Bei Zalando, der erfolgreichsten Neugründung der Start-up-Schmiede Rocket Internet, werden sie gar zur Managementphilosophie erhoben. Seit 2015 implementierte der Onlinehändler eine neue Unternehmensarchitektur mit dem klangvollen Namen Radical Agility, in der Technologie und Unternehmenskultur miteinander verbunden werden sollen. Weil Anwendungen in kleinen Teams entwickelt würden, die sich immer wieder untereinander abstimmen und Entscheidungen selbst treffen könnten, erklärt Eric Bowman, Technologiemanager bei Zalando, sei die Entwicklungsgeschwindigkeit enorm gestiegen, und das Warten auf Managemententscheidungen könne entfallen. » Radical Agility fördert maßgeblich die Flexibilität und Kreativität unserer Mitarbeiter und ist damit wichtiger Treiber für Zalandos Innovationskraft, Resilienz und Wachstum.«3
Auch die Automobilindustrie setzt große Hoffnungen in die agilen Methoden, steht ihr doch eine doppelte Transformation ins Haus: Zum einen steigt die Bedeutung der IT innerhalb der Unternehmen, der Softwareanteil an den Fahrzeugen nimmt zu. Zum anderen versucht sie gleichzeitig, dem Vorbild der Digitalkonzerne nachzueifern und selbst zu digitalen Serviceanbietern zu werden. So bei Daimler in Stuttgart: Agile Methoden, flexible Teams und kurze Releasezyklen sollen für hohe Veränderungsgeschwindigkeit sorgen. Der süddeutsche Premium-hersteller drückt seit 2015 gehörig aufs Tempo. Der Name der neuen Strategie: twice as fast.
Selbst konservative Großunternehmen wie die Allianz werden »ausgesprochen leger«, berichtet das Wirtschaftsmagazin brand eins süffisant, bei dem Versicherungskonzern werden ganze Abteilungen aufgelöst und organisieren sich neu in Form von Projekten. Mitarbeiter können sich für einhundert Tage aus dem Berufsalltag ausklinken und sich in den Agile Training Centers des Versicherungskonzerns – abseits der Bürosilos, in denen die »normalen Angestellten« sitzen – auf agil trimmen lassen, in interdisziplinären Teams arbeiten, dazu- und umlernen. Ziel sei das »vollständig digitale Unternehmen«, das »gewachsene Strukturen hinter sich lässt und die Trennlinie zwischen IT-Strategen und IT-Nutzern ausradiert«, formuliert Vorstandsvorsitzender Oliver Bäte.4 Als mindestens ebenso konservativ wie die Assekuranz gilt die Pharmabranche, doch auch hier machen agile Revolutionäre von sich reden: Um agiler und effizienter zu werden, rief unlängst der Chef des Schweizer Arzneimittelkonzerns Novartis, Vasant Narasimhan, zum konzernweiten » unbossing« auf.
Selbst Großunternehmen gründen heute eigene Start-ups oder bringen entsprechende Teams an den Start, die wie solche funktionieren. Eine Inhouse-Start-up-Kultur wird gefördert, organisatorisch wird auf Projekte umgestellt, um immer schneller auf Marktanforderungen reagieren zu können. Beim Elektrokonzern Bosch versuchen seit 2015 hausinterne Disruption Discovery Teams, neue Geschäftsideen und Produkte zu entwickeln. Wenn Agilität selbst bei Großunternehmen und in konservativen Branchen Einzug hält, dann ist »nichts Geringeres als das Konzept des fordistisch-bürokratischen Industrieunternehmens, das als Leitkonzept die Entwicklung der Wirtschaft seit mehr als 100 Jahren geprägt hat«, in Frage gestellt. So bringt der Arbeitssoziologe Andreas Boes die Entwicklung zum agilen Unternehmen auf den Punkt.5 Die Autoren einer wissenschaftlichen Untersuchung zum Agilitätsmanagement kommen gar zu dem Schluss, Agilität sei »das Managementparadigma für Organisationen im 21. Jahrhundert«.6
Auch die hierarchische Organisation par excellence, der strikte Befehlsketten, steile Hierarchien und langwierige Prozesse in der DNS liegen, hat sich Agilität auf die Fahnen geschrieben: Die Bundeswehr wird immer mehr zum IT-Dienstleister; informatische Kriegsführung, ferngesteuerte Drohneneinsätze und selbstlernende Systeme gewinnen an Bedeutung. Das Weißbuch des Bundesministeriums der Verteidigung aus dem Jahr 2016 mahnt: »Die Bundeswehr muss als agile Organisation in der Lage sein, flexibel und adaptionsfähig auf neue oder veränderte Anforderungen zu reagieren. Nur so meistert sie die Herausforderungen der kontinuierlichen Modernisierung und steigert auf diese Weise ihre Resilienz und Robustheit.«7
Auch vor der Wissenschaft machen agile Methoden nicht halt, gerade in unübersichtlichen Projekten mit ungewissem Ausgang können sie punkten. Wie sich Räume auf Kreativprozesse und Arbeitsproduktivität auswirken, war Untersuchungsgegenstand des interdisziplinären Forschungsprojekts Experimental Zone. Das Team experimentierte dabei mit einem neuartigen Forschungsdesign zwischen Soziologie und Gestaltung, das sie als »experimentelle Feldforschung« bezeichnete. Nach zähem Beginn probierten die Wissenschaftlerinnen schließlich Scrum aus, experimentierten mit den vorgefundenen Rollen und adaptierten es schließlich für ihre Situation. Über ihre Erfahrungen mit dem agilen Management ihres Forschungsprojekts schreiben sie, die Methode ermögliche dem Team, »alle Entscheidungen gemeinsam und interdisziplinär zu treffen, ohne auf die Stärken der fachspezifischen Hintergründe in seiner täglichen Arbeit verzichten zu müssen«.8 Die Gründer der agilen Bewegung wären stolz auf sie gewesen, ist doch die Anpassung vermeintlich in Stein gemeißelter Regeln eine ausgesprochen agile Tugend.
Im Umfeld der Agilität tummeln sich viele weitere, mehr oder weniger ähnliche Managementmethoden. Für jede Situation ist etwas dabei: Seit Mitte der 2000er Jahre gewann Design Thinking an Popularität, eine Kreativitätsmethode, bei der kleine interdisziplinäre Teams auf neue (Geschäfts-)Ideen kommen sollen. Vorbild sind dabei Problemlösungsansätze aus dem Design, die auf sämtliche Lebensbereiche übertragen werden. Eine Variante stellt der Design Sprint dar, hier werden unter Zeitdruck existierende Produkte und Anwendungen weiterentwickelt, Lean Startup hingegen kommt dann zum Einsatz, wenn an einer bereits gereiften Idee gefeilt werden soll, und Business Model Canvas bietet sich an, wenn die Überlebensfähigkeit von Geschäftsideen geprüft werden soll. Auch unfreiwillig komische wie die Holacracy (etwa: ganzheitliche Herrschaft), bei der Hierarchie durch autonome symbiotische Teams abgelöst werden soll, oder die Ambidexterity (Beidhändigkeit), bei der mit Altem und Neuem gleichzeitig erfolgreich jongliert werden soll, stehen bereit.9 Eine ganze Armada an Coaches, Managementgurus und Unternehmensflüsterern wartet im lukrativen editorischen Bermudadreieck zwischen Coaching, Management und Lebensberatung mit einer Fülle an Angeboten auf, oft nach dem Schema: Firma X oder Person Y machte jahrelang Z, bis sie eines Tages W entdeckte und seitdem schneller, profitabler, glücklicher oder schlanker geworden ist. Solcherlei Literatur ist Legion, und die Grenze zu Scharlatanerie fließend.
Die Gewerkschaften verlegen sich derweil aufs Co-Management: So untersucht etwa das Verbundprojekt Gute agile Projektarbeit, »wie agile Teams bei der Selbstorganisation unterstützt« werden können.10 Ver.di-Vorstand Christoph Schmitz bilanziert auf einer Tagung am 30. Januar 2020: Trotz insgesamt stark gestiegener Arbeitsbelastung in der IT-Branche – zwei Drittel der Beschäftigten seien chronisch überlastet – stünden die agil Arbeitenden geringfügig besser da, weil sie ihre knappen Zeitressourcen wenigstens selbst einteilen könnten.
Von linker Seite wird den neuen Methoden mit Wohlwollen begegnet, sie werden gar in einem Atemzug genannt mit Technologien und Praktiken wie Open Source, offenen Standards und Bürgerpartizipation. So sieht der Aktionsplan für die digitale Stadt Barcelona »die Einführung von nutzerfreundlichen digitalen Diensten mithilfe von agilen Methoden« vor, auf dass die Verwaltung insgesamt »agiler und experimentierfreudiger« werde.11 Der Agilitätsberater Mishkin Berteig fragt sich gar, ob diese »nicht kompetitiven, kollaborativen« Methoden emanzipatorisches Potenzial in sich tragen und »organisationsübergreifend als ›Ersatz‹ für den Kapitalismus« dienen könnten.12 Doch die Kapitalseite geht da bestimmt nicht mit, sie hat ein etwas anderes Verständnis von Agilität. Was etwa Audi-Chef Bram Schot damit meint, wenn er seine Firma »agiler machen« möchte, erklärt die Frankfurter Allgemeine Zeitung ihren Leserinnen und Lesern Ende 2019 folgendermaßen: Gemeint sei »auf Rendite trimmen« (Schot selbst musste inzwischen nach kurzer Amtszeit seinen Hut nehmen).13
Noch bevor das Agile Manifest verfasst wurde, hatten gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts die Wirtschaftswissenschaftlerin Ève Chiapello und der Soziologe Luc Boltanski den Einzug einer neuen Managementkultur diagnostiziert – und nachfolgend eine Veränderung der damit einhergehenden Werte, Lebensentwürfe und Vorstellungen. Was früher die Fabrik war, so konstatieren sie, sei heute das Projekt. Nur konsequent, wenn Unternehmen heute empfohlen wird, sich gleich selbst als Projekt oder Reihe an Projekten neu zu erfinden. Was etwa in der Filmbranche Tradition hat – Teams treffen temporär zusammen für ein Projekt und gehen danach wieder auseinander –, wird quer durch alle Branchen adaptiert. Dabei werden die Arbeitsgruppen bzw. -teams je nach Priorität und Bedarf neu zusammengesetzt. Das führt dazu, dass jeder an der aktuellen Leistung im Projekt gemessen wird.
Im Zuge der Projektorientierung werden Selbstoptimierung, lebenslanges Lernen, unternehmerische Validierung der eigenen Arbeitskraft und Biografie für jeden Einzelnen zu ständigen Begleitern. Agilität wird in allen Lebenslagen gefordert, Managementmethoden dringen ins Privatleben vor und zwingen uns auch da in Rollen hinein, die dem Projektmanagement entstammen. Das eigene Selbst wird zum Humankapital und muss auch dementsprechend betriebswirtschaftlich optimiert werden. Wir werden so zu Product Ownern unserer eigenen Unternehmung, bringen die Kundenperspektive ins Projekt unseres Lebens hinein und exerzieren Projektmanagement an uns selbst. Zudem sind wir dazu aufgerufen, uns zu vermessen, Diät zu halten, ins Fitnessstudio zu gehen – kein Aspekt des Lebens entgeht der Optimierung. Die viel zitierte Vermessung des Selbst wird Alltagspraxis: Wie viele Schritte bin ich heute gegangen?, fragen wir uns. Wie kommen wir voran mit dem großen Projekt unseres Lebens, läuft alles nach Plan? Wie sieht unsere Kompetenz aus, kommunizieren wir genug?
Die emotionale Seite der Agilität darf auch nicht fehlen, mit der – wen wundert’s – ein eher weibliches Publikum angesprochen wird: »Lösen Sie sich, begrüßen Sie Veränderung und prosperieren Sie in Arbeit und Leben!«, ruft die Autorin des Bestsellers Emotionale Agilität, Susan David, aus und proklamiert agile Methoden für das Selbstmanagement.14 Die Resilienz, also die Fähigkeit des Einzelnen, Krisen durch Mobilisierung persönlicher und sozialer Ressourcen zu bewältigen, ist auch schon genannt worden. Für den Soziologen Ulrich Bröckling ist Resilienz, also »die Fähigkeit eines Systems, sich selbst zu organisieren, zu lernen und sich anzupassen«, eine Haupttugend unserer Zeit.15 Komplettiert wird das Bild noch durch die Achtsamkeit, einem populären Ratgeber zufolge »die höchste Form des Selbstmanagements«.16
Vor über einhundert Jahren machten schon einmal Methoden von Tracking und Kontrolle in der Arbeitswelt Furore – damals ging es allerdings noch ums Herumtragen von Roheisen in den Stahlfabriken von Bethlehem Steel, nicht um das Bearbeiten kognitiver Mikro-Aufgaben, sogenannter Tickets, im Kontext von agilen Arbeitsabläufen. Frederick W. Taylor revolutionierte mit seinem Scientific Management die industrielle Arbeitswelt.17 Er hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Arbeitsabläufe minutiös zu analysieren, zu rationalisieren und maximal zu beschleunigen – mit der Stoppuhr als berühmt-berüchtigtem Symbol. Diese Zurichtung, Taktung, Vermessung und Beschleunigung war immer auch Mittel zur Beherrschung und Kontrolle der Belegschaften. Auch der Erfinder des wissenschaftlichen Managements von Arbeitsabläufen versprach seinen Auftraggebern damals eine Erhöhung der Geschwindigkeit – twice as fast war damals schon Thema.
Der mit Stoppuhr und Klemmbrett bewaffnete, überwachende und kleinteilig managende Vorgesetzte ist in agilen Arbeitswelten verschwunden – und niemand weint ihm eine Träne nach. Aber wohin ist er verschwunden, ist er vielleicht nur unsichtbar geworden bzw. ins Innere verlagert? Exerzieren die Teams etwa das wissenschaftliche Management nun quasi an sich selbst? In der schönen neuen Welt der selbststeuernden Teams, in denen Information ungehindert zirkulieren kann, die keinen Chef mehr benötigen, erlebt gleichzeitig die Kybernetik eine Renaissance. Deren Ideal von selbststeuernden Systemen findet Widerhall in der agilen Welt, die nicht nur metaphorisch Starrheit, Gehorsam, Kommiss überwindet, und in der das Management nur noch höchst indirekt, von weitem, zuschaut.
Hierarchie ist zunehmend out, und das hat auch etwas mit dem Gegenstand zu tun: Geht es um die Produktion von Programmcode, user experiences und digitalen Anwendungen, also um das kontinuierliche Ausliefern eines breiten Stroms an intellektuellen Arbeitsergebnissen, verliert sie ihren Sinn. Die Überwachung der Herstellung exakter Kopien des Immergleichen tritt in den Hintergrund zugunsten der (Selbst-)Organisation kollektiver Kreativprozesse. Mit den agilen Methoden bekommt das Management ein Werkzeug an die Hand, das für die Ausbeutung kognitiver Arbeit wie geschaffen ist. Agilität reiht sich so in die lange Geschichte der Beherrschung und Akzeleration der Arbeit durch das Kapital ein, auch die Parole des Managements hat sich kaum geändert und lässt sich auf die zeitlose Formel bringen: velocity & control.
Aldous Huxley entwarf in seinem Roman Brave New Worldaus dem Jahr 1932 eine Welt allseitig zufriedener Konsumenten, die von den World Controllers mithilfe von Gentechnik, Gehirnwäsche, Sex und Drogen ruhiggestellt werden – ein Klassiker dystopischer Weltentwürfe. Es scheint kaum vorstellbar, sich auf diese »Neue Welt« positiv beziehen zu können – der Agilitätsberater Aaron Dignan jedoch schafft es. In seinem Brave New Work betitelten Buch – und das ist nicht ironisch gemeint – glorifiziert er die schöne neue Arbeitswelt, mit ihrem kontinuierlichen Wandel, mit ihrer »selbstverwalteten technologischen Evolution« und ihrem »Training von Belastbarkeit und Anpassungsfähigkeit«. In Dignans mutiger neuer Welt ist kein Platz mehr für klassische Budgets, sie ist partizipatorisch gestaltet, Arbeitsteams funktionieren ganz ohne Manager, und Angestellte bestimmen ihre Aufgaben selbst und legen sogar ihre eigenen Gehälter fest.18
Würden diese Prinzipien umgesetzt, stelle sich – ganz ohne Soma, die seligmachende Droge aus Huxleys Vorlage – Glück und Erfüllung des Einzelnen in der »neuen Arbeit« ein. »Wir müssen einfach nur das Betriebssystem tauschen«, dann sind bald auch »Philanthropie und Business […] nicht mehr orthogonal«. Wer angesichts solcher nach New Age klingenden Heilsversprechen vermutet, dass auch Grundeinkommen und Blockchain zu Dignans Welt gehören, hat richtig geraten: Ein »universelles Grundeinkommen« soll ermöglichen, »unsere Grundbedürfnisse zu befriedigen und uns gleichzeitig ermutigen, unsere Gaben zu nutzen und zu teilen – durch Unternehmertum, Dienst und Gemeinschaft.«19
So sieht es also aus, das Szenario eines agilen Kapitalismus, in dem Kapital und Arbeit, Entrepreneurship und Charity miteinander versöhnt sind und Profite mit der schönen neuen Welt der agilen Projekte koexistieren. So sieht sie aus, die Zukunftsvision eines agilen Kapitalismus, in dem die Individuen zu agilen Entrepreneuren ihrer eigenen kognitiven Fähigkeiten werden, die sie behutsam zu pflegen und agil auf den Markt zu tragen haben.
Im ersten Kapitel »Die agile Revolution« geht es zunächst um die Neuerfindung des Projektmanagements vor bald zwanzig Jahren, als die agilen Revolutionäre das alte Wasserfallmodell hinter sich ließen und ihre agilen Methoden einen Siegeszug um die Welt antraten. Selbst zu Coronazeiten halten sie passende Antworten parat, um auch unter Lockdown-Bedingungen agile Softwareproduktion durch resiliente Coder-Subjekte gewährleisten zu können.
Im zweiten Kapitel »Die große Code-Industrie« geht es um die Millionen Programmiererinnen und Programmierer und ihren Arbeitsalltag, die Produktion maschinenverständlicher Programmcodes. Sie sind längst Teil einer Maschinerie geworden, die den Digitalen Kapitalismus am Laufen hält.
Das dritte Kapitel »Das Kapital dressiert, der Arbeiter pariert« unternimmt einen Ausflug in die Geschichte des Managements, der Königsdisziplin des Kapitals, wenn es um velocity & control geht. Seit Adam Smiths Lob der Arbeitsteilung und Frederick Taylors Wissenschaft von der Ausbeutung hat sich viel verändert, die grundlegenden Ziele sind jedoch die gleichen geblieben.
Im vierten Kapitel »Vom Fließband zur Agilität« geht es um gleich drei Revolutionen in der Automobilindustrie. Nach der ersten, die mit der Einführung des Fließbands begann, und der zweiten, die mit dem Lean Production Paradigma datiert ist, steht derzeit eine dritte an. Agilität hält Einzug in einer Industrie, die sich mit ihrer Hilfe zum Softwaredienstleister transformieren möchte.
In Kapitel fünf »Wir sind ja nicht zum Spaß hier« geht es um die Erfindung des Projekts, eine Frischzellenkur, die sich das Kapital, verschiedene Kritiken einverleibend, verpasst hat, und die dazu führt, dass Spielelemente in der Arbeitswelt Einzug halten, während gleichzeitig die Freizeit immer mehr der Arbeit ähnelt – vornehmlich der Arbeit des Subjekts an sich selbst.
»Wo ist bloß der Chef geblieben?« ist die zentrale Fragestellung im sechsten Kapitel, wird doch innere Führung und kybernetische Steuerung in der agilen Organisation hochgehalten, die von dieser alten Rolle, die aus der Mottenkiste des bürokratischen Betriebskapitalismus stammt, nichts mehr wissen will. Ganz verschwunden ist die Rolle des Chefs jedoch nicht, das sei an dieser Stelle verraten.
Das siebte Kapitel »Free solo« widmet sich dem historischen Subjektivitätstreck zur Freiheit in der Unfreiheit, der in der Sklaverei seinen Anfang nahm, historisch beim doppelt freien Lohnarbeiter kurz Halt machte, um heute wieder Fahrt aufzunehmen in Richtung noch freierer Arbeitskraftunternehmerinnen und Solo-Selbstständige.
Das Schlusskapitel »Das Kapital macht agil, bei Arbeit, Sport und Spiel« zieht das Fazit: Was bei den agilen Methoden seinen Anfang nahm, die Herausbildung einer Arbeits- und Projektorganisation, getragen von resilienten Selbstoptimierern, geschmiert durch kybernetische Gruppensteuerung, führt zu einem agilen Kapitalismus, der selbst einen Atomkrieg oder eine Pandemie zu überleben imstande ist.
Am 2. April 1917 forderte Woodrow Wilson, damals Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, den Kongress auf, der deutschen Reichsregierung den Krieg zu erklären; vier Tage später traten die USA in den Ersten Weltkrieg ein. Die Achsenmächte ließen sich durch diese Nachricht zunächst nicht aus der Ruhe bringen – lagen die USA doch geografisch weit entfernt vom europäischen Kriegsschauplatz, auch ihre militärische Stärke schätzte der Generalstab gering ein. Die erste große Herausforderung für die US-Armee war denn auch eine logistische: Es galt, innerhalb kurzer Zeit Millionen Soldaten und Seeleute zu mobilisieren und mitsamt ihrer Ausrüstung auf eine lange Reise zu schicken; auf dem beschwerlichen Weg von Newport News in Virginia bis nach Frankreich mussten knapp 7.000 Kilometer mit Bahn und Schiff zurückgelegt werden. Mit der gigantischen Aufgabe, für die es keinerlei Blaupausen gab – Erfahrungen aus dem über ein halbes Jahrhundert zurückliegenden Amerikanischen Bürgerkrieg waren angesichts der seither veränderten Kriegstechnik unbrauchbar –, wurde das United States Army Ordinance Corps betraut, die Versorgungsabteilung der US-Armee unter General William Crozier.
Der oberste Nachschuboffizier der USA beauftragte einen jungen Maschinenbauingenieur namens Henry Gantt, auf den er bei Inspektionen von Rüstungsbetrieben aufmerksam geworden war, mit der Planung des gigantischen Projekts. Gantt hatte in diesen Unternehmen erfolgreich eine neue Organisationsmethode implementiert, die für umfangreiche Bereitstellungsprojekte wie geschaffen war. Sie beruhte wesentlich auf einem Diagramm zur Visualisierung von Projektabläufen, das er wenige Jahre zuvor erfunden hatte. Diese zweidimensionalen Ablaufschemata für unterschiedliche Teilprozesse erwiesen sich als ungemein effektiv, etwa um Abhängigkeiten von Projektphasen voneinander abbilden zu können, z. B. wenn eine Aktivität erst begonnen werden kann, sobald eine andere beendet ist.
Bereits drei Monate nach Kriegseintritt betraten die ersten amerikanischen Truppen französischen Boden. Im weiteren Verlauf des Krieges organisierte Crozier den Transport von über einer Million Soldaten, die Pioniere der US-Armee bauten im Laufe des Krieges 82 neue Schiffsanlegestellen und verlegten über 100.000 Kilometer Telefon- und Telegrafenkabel auf dem alten Kontinent.1 Der Kriegseintritt der USA war schließlich doch kriegsentscheidend geworden – nicht zuletzt aufgrund der beeindruckenden logistischen Leistungen der Nachschubabteilung der US-Armee und der erfolgreichen Planungsmethoden Gantts. Nach der Kapitulation der Achsenmächte eroberten Henry Gantts Diagramme auch die zivile Welt. Eines der berühmtesten Projekte, das mit Gantts Diagrammen realisiert wurde, war der 221 Meter hohe Hoover-Staudamm, der nach nur vier Jahren Bauzeit 1935 eingeweiht werden konnte.2 Die charakteristischen Ablaufpläne Gantts finden bis heute Verwendung und wurden immer wieder aktualisiert und verfeinert. Die Vordenker der Wirtschaftsinformatik Kenneth und Jane Laudon definieren ein Projekt als »geplante Abfolge miteinander verbundener Aktivitäten zur Erreichung eines bestimmten Unternehmensziels«. Im klassischen Projektmanagement werden Projekte als lineare Abfolge von Projektschritten abgearbeitet, die allesamt auf detaillierten Vorgaben beruhen – das zugrunde liegende Modell heißt Wasserfall, und Gantts Diagramme sind seine allgemein verbreitete Visualisierung. Diese Vorgehensweise erfordert allerdings detaillierte Planung, was oft zu einem hohen Aufwand bei der Festlegung der Erfordernisse führt. Es setzt weiterhin klar getrennte Aufgabenbereiche voraus; Zuständigkeiten, Rollen und Projektphasen sind im Vorhinein klar definiert. Das hohe Maß an Arbeitsteilung produziert eine Vielzahl kritischer Abhängigkeiten und erhöht den Steuerungsaufwand zusätzlich. Zur Steuerung des Projektablaufs ist daher intensives kleinteiliges Management nötig, was wiederum mit streng hierarchischen Organisationsstrukturen am besten funktioniert – die Entstehungsgeschichte im militärischen Kontext lässt grüßen.