Fjodr Michailowitsch Dostojewski
Erniedrigte und Beleidigte
Impressum
Covergestaltung: nexx verlag gmbh, 2014
ISBN/EAN: 9783958705845
Rechtschreibung und Schreibweise des Originaltextes wurden behutsam angepasst.
www.nexx-verlag.de
Im vorigen Jahre, am Abend des zweiundzwanzigsten März, erlebte ich etwas sehr Seltsames. Ich war den ganzen Tag über in der Stadt umhergelaufen, um mir eine Wohnung zu suchen. Meine bisherige Wohnung war sehr feucht, und ich begann schon damals hässlich zu husten. Ich hatte bereits im Herbst umziehen wollen, aber die Sache hatte sich dann bis zum Frühling hingezögert. Den ganzen Tag über hatte ich nichts mir Zusagendes finden können. Erstens wollte ich eine eigene Wohnung haben, nicht eine in Aftermiete; und zweitens wollte ich mich zwar nötigenfalls mit einem einzigen Zimmer begnügen, dieses sollte aber unbedingt groß sein, selbstverständlich gleichzeitig auch möglichst billig. Ich hatte die Beobachtung gemacht, dass in einem engen Zimmer sich sogar die Gedanken beengt fühlen. Ich für meine Person habe, wenn ich meine künftigen Novellen durchdachte, es immer geliebt, im Zimmer auf und ab zu gehen. Beiläufig bemerkt: Das vorherige Durchdenken meiner literarischen Produktionen und die Überlegung, wie ich sie niederschreiben wollte, machte mir von jeher mehr Vergnügen als das wirkliche Niederschreiben, und das rührte wirklich nicht etwa von Trägheit her. Woher es eigentlich kam, vermag ich nicht zu sagen.
Schon am Morgen hatte ich mich nicht wohlgefühlt, und gegen Abend wurde mir sogar recht schlecht; es bildete sich eine Art Fieber heraus. Zudem war ich den ganzen Tag auf den Beinen gewesen und müde geworden. Am Abend, unmittelbar vor Eintritt der Dämmerung, ging ich gerade den Wosnessenskiprospekt entlang. Ich liebe die Märzsonne in Petersburg, besonders den Sonnenuntergang; selbstverständlich muss es ein klarer, kalter Abend sein. Die ganze Straße glänzt auf einmal, von hellem Licht übergossen. Alle Häuser fangen plötzlich an zu leuchten. Ihre grauen, gelblichen, schmutziggrünen Farben verlieren für einen Augenblick all ihr Düsteres, Unfreundliches; es ist, als werde es in der Seele hell, als schrecke man zusammen oder als stoße einen jemand mit dem Ellbogen an. Und der neue Anblick erweckt neue Gedanken ... Es ist erstaunlich, welch eine Wirkung ein einziger Sonnenstrahl in der Seele eines Menschen hervorzubringen vermag!
Aber das Licht der Sonne war erloschen; die Kälte nahm zu und kniff einem in die Nase; die Dunkelheit wurde stärker; in den Schaufenstern und Läden blitzten die Gasflammen auf. Als ich der Müllerschen Konditorei gegenüber war, blieb ich plötzlich wie angenagelt stehen und sah nach der anderen Seite der Straße hinüber, als ob ich ahnte, dass ich da alsbald etwas Ungewöhnliches erleben würde, und gerade in diesem Moment erblickte ich dort einen alten Mann mit einem Hund. Ich erinnere mich noch ganz genau, dass sich mir das Herz infolge einer unangenehmen Empfindung krampfhaft zusammenzog, ohne dass ich mir selbst hätte darüber klar werden können, was das für eine Empfindung war.
Ich neige nicht zum Mystizismus, und an Ahnungen und Wahrsagerei glaube ich so gut wie gar nicht, obwohl mir, wie vielleicht allen Menschen, im Leben einige ziemlich unerklärliche Begebnisse vorgekommen sind. So zum Beispiel gleich dieser alte Mann: Woher hatte ich bei meiner damaligen Begegnung mit ihm sofort das Gefühl, dass ich gleich an diesem Abend etwas recht Ungewöhnliches erleben würde? Übrigens war ich krank, und krankhafte Gefühle sind fast immer trügerisch.
Der Alte näherte sich der Konditorei mit langsamem, müdem Gang; er setzte ein Bein vor das andere, als ob er sie nicht biegen könne, als ob es Stöcke wären; seine Haltung war gebeugt, und er stieß leicht mit dem Stock auf die Trottoirplatten. In meinem ganzen Leben bin ich keiner so seltsamen, wunderlichen Gestalt begegnet. Auch früher schon, vor dieser Begegnung, hatte er jedes Mal, wenn ich mit ihm bei Müller zusammentraf, eine peinliche Empfindung bei mir erweckt. Sein hoher Wuchs, sein gebeugter Rücken, sein totenbleiches, achtzigjähriges Gesicht, sein alter, in den Nähten aufgerissener Mantel, der verbeulte, wohl zwanzig Jahre alte Zylinderhut, der seinen kahlen Kopf bedeckte, auf welchem nur ganz im Nacken ein Büschel nicht mehr grauer, sondern gelblichweißer Haare übrig war, alle seine Bewegungen, die gewissermaßen unbewusst, wie durch einen leblosen Mechanismus zu erfolgen schienen: Alles dies machte unwillkürlich einen starken Eindruck auf jeden, der ihm zum ersten Male begegnete. In der Tat, es war ein seltsamer Anblick, dieser völlig abgelebte Greis, so ganz allein, ohne jeden Begleiter, um so mehr, da er einem Irrsinnigen glich, der seinen Aufsehern davongelaufen war. Es überraschte mich auch seine außerordentliche Magerkeit: Es war, als hätte er fast gar kein Fleisch mehr auf dem Leib, als wäre über die Knochen einfach nur die Haut gespannt. Seine großen, trüben, in blauen Ringen liegenden Augen blickten immer gerade vor sich hin, nie zur Seite, und sahen überhaupt nie etwas; davon bin ich überzeugt. Wenn er einen auch ansah, so ging er doch auf den Betreffenden gerade los, wie wenn er leeren Raum vor sich hätte. Das habe ich mehrmals beobachtet. Zu Müller zu kommen hatte er erst vor Kurzem angefangen, und immer mit seinem Hund. Keiner der Besucher der Konditorei wusste, woher er kam; keiner hatte Lust, mit ihm zu reden, und er selbst knüpfte mit keinem von ihnen ein Gespräch an.
›Warum schleppt er sich nur zu Müller, und was hat er da zu suchen?‹ dachte ich, während ich auf der anderen Seite der Straße stand und mich von seinem Anblick nicht losreißen konnte. Eine Art von Ärger, die Folge meiner Krankheit und Müdigkeit, stieg in mir auf. ›Woran mag er nur denken?‹ fuhr ich in meinem Selbstgespräch fort; ›was mag er im Kopf haben? Ob er wohl überhaupt noch an etwas denkt? Sein Gesicht ist dermaßen tot, dass es gar keinen Ausdruck mehr aufweist. Und woher hat er diesen garstigen Hund, der ihm so ähnlich ist und nicht von ihm weicht, als ob er mit ihm ein untrennbares Ganzes bildet?‹
Dieser unglückliche Hund war, wie es schien, ebenfalls achtzig Jahre alt; ja, so musste es jedenfalls sein. Erstens war er dem Ansehen nach so alt, wie Hunde es sonst nie werden, und zweitens, woher kam mir nur gleich beim ersten Mal, als ich ihn erblickte, der Gedanke, dieser Hund könne nicht von derselben Art sein wie alle Hunde; er sei ein ungewöhnlicher Hund; es stecke in ihm jedenfalls etwas Gespenstiges, Zauberisches; er sei vielleicht eine Art von Mephistopheles in Hundegestalt und sein Schicksal sei durch irgendwelche geheimnisvollen, unsichtbaren Bande mit dem Schicksal seines Herrn verknüpft? Wenn man ihn ansah, konnte man gut und gern glauben, dass es wohl schon zwanzig Jahre her war, seit er zum letzten Mal gefressen hatte. Er war mager wie ein Skelett oder (welcher Ausdruck ist stärker?) wie sein Herr. Die Haare waren ihm fast vollständig ausgefallen, auch am Schwanz, der wie ein Stock herunterhing und den er immer fest zwischen die Beine kniff. Den langohrigen Kopf ließ er mürrisch hängen. In meinem ganzen Leben habe ich keinen Hund von so abstoßendem Äußerem zu sehen bekommen. Wenn die beiden auf der Straße gingen, der Herr voran, der Hund hinter ihm, so berührte die Nase des Letzteren den Rockschoß des Vorangehenden, als ob sie daran festgeklebt sei. Und der Gang der beiden und ihr ganzes Aussehen sagte beinahe mit jedem Schritt: ›Oh Gott, wie alt sind wir, wie alt!‹
Ich erinnere mich auch, dass mir einmal der Gedanke kam, der Alte und sein Hund seien auf irgendeine Weise aus einer von Gavarni illustrierten Ausgabe von ›Hoffmanns Erzählungen‹ entwischt und gingen nun in der Welt als wandelnde Anzeigen dieses Buches umher. Ich ging über die Straße hinüber und trat hinter dem Alten in die Konditorei.
In der Konditorei benahm sich der Alte sehr seltsam, und der hinter seinem Ladentisch stehende Herr Müller fing in der letzten Zeit schon an, beim Eintritt des ungebetenen Gastes ein unzufriedenes Gesicht zu machen. Erstens bestellte der sonderbare Gast nie etwas. Er ging jedes Mal geradenwegs in die Ecke beim Ofen und setzte sich dort auf einen Stuhl. War aber sein Platz am Ofen besetzt, so blieb er vor dem Herrn, der seinen Platz innehatte, ein Weilchen in gedankenloser Verwunderung stehen und ging dann ganz verstört nach einer anderen Ecke am Fenster. Dort wählte er sich einen Stuhl aus, ließ sich langsam darauf nieder, nahm den Hut ab, legte ihn neben sich auf den Fußboden, den Stock daneben, lehnte sich in den Stuhl zurück und verharrte so drei oder vier Stunden lang, ohne sich zu bewegen. Nie nahm er eine Zeitung in die Hand, nie sagte er ein Wort oder gab einen Laut von sich; er saß nur da und sah mit weit geöffneten Augen vor sich hin, aber mit einem so trüben, leblosen Blick, dass man hätte darauf wetten mögen, er sehe und höre nichts von seiner ganzen Umgebung. Sein Hund aber drehte sich zwei- oder dreimal auf einem Fleck herum, legte sich dann grämlich zu seinen Füßen hin, steckte seine Schnauze zwischen die Stiefel seines Herrn, stieß einen tiefen Seufzer aus, streckte sich seiner ganzen Länge nach auf dem Fußboden aus und blieb gleichfalls den ganzen Abend über, ohne sich zu rühren, wie tot liegen. Es schien, als hätten diese beiden Wesen den ganzen Tag über tot da gelegen und seien nun bei Sonnenuntergang plötzlich lebendig geworden, einzig und allein um in die Müllersche Konditorei zu gehen und dadurch eine geheimnisvolle, niemandem bekannte Pflicht zu erfüllen. Nachdem der Alte drei, vier Stunden lang da gesessen hatte, stand er endlich auf, nahm seinen Hut und ging fort, doch wohl in seine irgendwo gelegene Wohnung. Auch der Hund erhob sich und folgte seinem Herrn, wieder mit eingeklemmtem Schwanz und herunterhängendem Kopf in dem früheren langsamen Gang. Die Besucher der Konditorei vermieden schließlich jeden Verkehr mit dem Alten und setzten sich nicht einmal in seine Nähe, wie wenn er ihnen Widerwillen einflöße. Er seinerseits bemerkte nichts davon.
Die Besucher dieser Konditorei sind größtenteils Deutsche. Sie kommen hier vom ganzen Wosnessenskiprospekt zusammen, lauter Handwerksmeister verschiedener Berufsarten: Schlosser, Bäcker, Färber, Hutmacher, Sattler, sämtlich patriarchalische Leute im deutschen Sinn dieses Wortes. Bei Müller herrschte überhaupt ein patriarchalischer Ton. Oft trat der Wirt zu den ihm bekannten Gästen und setzte sich zu ihnen an den Tisch, wobei dann gewaltige Mengen Punsch getrunken wurden. Die kleinen Kinder des Wirtes und seine Hunde gesellten sich ebenfalls manchmal zu den Gästen und wurden von diesen geliebkost. Alle waren miteinander bekannt und hatten einander gern. Und während die Gäste sich in die Lektüre der deutschen Zeitungen vertieften, ertönte in der anstoßenden Wohnung des Wirtes die Melodie des »Lieben Augustin«, auf einem klapprigen Klavier von der ältesten Tochter des Wirtes gespielt, einem blondlockigen deutschen Mädchen, das die größte Ähnlichkeit mit einem weißen Mäuschen hatte. Dieser Walzer wurde von den Gästen mit Vergnügen aufgenommen. Ich ging zu Müller immer in den ersten Tagen des Monats, um die russischen Monatsschriften, die er hielt, zu lesen. Als ich in die Konditorei trat, sah ich, dass der Alte bereits am Fenster saß und der Hund wie gewöhnlich ausgestreckt zu seinen Füßen lag. Schweigend setzte ich mich in eine Ecke und legte mir in Gedanken die Frage vor: »Warum bin ich hierhergekommen, wo ich doch absolut nichts zu tun habe? Ich bin krank und täte am besten, mich schnell nach Hause zu begeben und mich ins Bett zu legen. Bin ich wirklich nur hier, um diesen alten Mann anzusehen?« Ein Gefühl des Ärgers ergriff mich. »Was geht er mich eigentlich an?« dachte ich in Erinnerung an die sonderbare peinliche Empfindung, mit der ich ihn schon auf der Straße angesehen hatte. »Und was gehen mich alle diese langweiligen Deutschen an? Wozu diese sentimentale Stimmung? Wozu diese wohlfeile Aufregung über allerlei Unwichtiges, die ich in der letzten Zeit an mir bemerke und die mich an einer vernünftigen Lebensführung hindert und mir den klaren Blick für das Leben nimmt? Hat mir das doch schon ein scharfsinniger Rezensent aufgemutzt, als er meine letzte Novelle missbilligend kritisierte.‹ Trotz dieser Gedanken und Selbstvorwürfe blieb ich jedoch auf meinem Platz sitzen; meine Krankheit aber steigerte sich immer mehr und mehr, und ich empfand schließlich eine wahre Scheu davor, das warme Zimmer zu verlassen. Ich nahm die ›Frankfurter Zeitung‹ zur Hand, las darin zwei Zeilen und schlief ein. Die Deutschen störten mich nicht. Sie lasen, rauchten und teilten einander nur selten, alle halbe Stunde einmal, kurz und halblaut irgendeine Neuigkeit aus Deutschland mit oder auch einen Witz oder eine geistreiche Bemerkung des berühmten deutschen Witzboldes Saphir, worauf sie sich, dann mit verdoppeltem nationalem Stolz von Neuem in ihre Lektüre vertieften.
Nachdem ich etwa eine halbe Stunde geschlummert hatte, kam ich infolge eines heftigen Fieberschauers wieder zu Bewusstsein. Es war entschieden nötig, dass ich mich nach Hause begab. Aber in diesem Augenblick hielt eine stumme Szene, die sich im Zimmer abspielte, mich noch einmal zurück. Ich habe bereits gesagt, dass der Alte, sobald er sich auf seinen Stuhl niedergelassen hatte, seinen Blick sogleich starr irgendwohin zu richten und dann den ganzen Abend über nicht mehr auf einen anderen Gegenstand zu lenken pflegte. Auch mir war es einige Male begegnet, das Ziel dieses gedankenlosen, nichts unterscheidenden Blickes zu werden; es war das eine unangenehme, ja geradezu unerträgliche Empfindung, und ich wechselte gewöhnlich so schnell wie möglich den Platz. In diesem Augenblick war ein anderer das Opfer des Alten geworden: ein sehr kleiner, rundlicher, außerordentlich sauberer Deutscher mit einem steif gestärkten Stehkragen und mit einem ungewöhnlich roten Gesicht, ein von auswärts gekommener Gast, ein Kaufmann aus Riga namens Adam Iwanowitsch Schulz, wie ich später erfuhr; er war mit Müller eng befreundet, kannte aber den Alten und viele der übrigen Gäste noch nicht. Er las mit Genuss den ›Dorfbarbier‹ und trank seinen Punsch dazu; da bemerkte er auf einmal, als er den Kopf in die Höhe hob, dass der unbewegliche Blick des Alten auf ihm ruhte. Das befremdete ihn. Adam Iwanowitsch war ein sehr empfindlicher, reizbarer Mensch, wie überhaupt alle Deutschen besseren Standes. Es schien ihm seltsam und beleidigend, dass ihn jemand so starr und ungeniert fixierte. Aber seinen Unwillen unterdrückend, wandte er seine Augen von dem taktlosen Gast ab, murmelte etwas vor sich hin und verbarg sich schweigend hinter seiner Zeitung. Indessen konnte er sich doch nicht bezwingen und spähte ein paar Minuten darauf argwöhnisch hinter der Zeitung hervor: derselbe starre Blick, dasselbe, gedankenlose Fixieren. Auch diesmal schwieg Adam Iwanowitsch noch. Aber als derselbe Vorgang sich zum dritten Mal wiederholte, fuhr er auf und hielt es für seine Pflicht, seine Würde zu wahren und nicht angesichts eines anständigen Publikums die schöne Stadt Riga beleidigen zu lassen, als deren Repräsentanten er sich wahrscheinlich betrachtete. Mit einer Gebärde der Ungeduld warf er die Zeitung auf den Tisch und klopfte energisch mit dem Stock auf, an dem sie befestigt war; von dem Gefühl der eigenen Würde entflammt und dunkelrot im Gesicht von dem genossenen Punsch und von der Ehrenkränkung, richtete er nun seinerseits seine kleinen funkelnden Augen auf den lästigen alten Mann. Es schien, als ob sie beide, der Deutsche und sein Gegner, einander durch die magnetische Kraft ihrer Blicke überwältigen wollten und nun abwarteten, wer zuerst in Verlegenheit geraten und die Augen niederschlagen werde. Das Klopfen mit dem Stock und Adam Iwanowitschs ungewöhnliche Körperhaltung erregten die Aufmerksamkeit aller Gäste. Alle ließen sofort von ihrer Beschäftigung ab und beobachteten mit ernster, stummer Neugier die beiden Gegner. Die Szene gestaltete sich sehr komisch. Aber der Magnetismus der herausfordernden Blicke des geröteten Adam Iwanowitsch blieb ganz wirkungslos. Ohne sich um irgendetwas zu kümmern, fuhr der Alte fort, den wütenden Herrn Schulz gerade anzusehen; als wäre er auf dem Mond und nicht auf der Erde, bemerkte er offenbar gar nicht, dass er der Gegenstand der allgemeinen Neugier geworden war. Schließlich verlor Adam Iwanowitsch die Geduld und brach los.
»Warum fixieren Sie mich denn in dieser Weise?«, schrie er auf Deutsch mit scharfer, durchdringender Stimme und mit drohender Miene.
Aber sein Gegner schwieg weiter, als hätte er die Frage nicht verstanden und überhaupt nicht gehört. Adam Iwanowitsch entschloss sich, russisch zu reden. »Ich frage Sie, warum Sie mich so fixieren?«, schrie er mit verdoppeltem Zorn in mangelhaftem Russisch. »Ich bin bei Hofe bekannt, was Sie von sich nicht werden sagen können!«, fügte er hinzu, indem er vom Stuhl aufsprang.
Aber der Alte rührte sich noch immer nicht. Unter den Deutschen erhob sich ein unwilliges Gemurmel. Durch den Lärm herbeigerufen, trat Müller selbst ins Zimmer. Als er erfahren hatte, worum es sich handelte, glaubte er, der Alte sei taub und beugte sich ganz nahe zu seinem Ohr hinab.
»Herr Schulz bittet Sie, ihn nicht so scharf anzusehen«, sagte er möglichst laut auf Russisch und betrachtete den seltsamen Gast aufmerksam.
Der Alte blickte Müller mechanisch an, und auf einmal zeigten sich in seinem bis dahin regungslosen Gesicht Anzeichen einer ängstlichen Gedankenarbeit, einer unruhigen Erregung. Er geriet in hastige Bewegung, räusperte sich, bückte sich nach seinem Hut und ergriff ihn eilig mitsamt dem Stock; mit einem kläglichen Lächeln, dem demütigen Lächeln eines armen Teufels, der von dem irrtümlich eingenommenen Platz vertrieben wird, schickte er sich an, das Zimmer zu verlassen. In dieser ergebenen, unterwürfigen Eile des armen, gebrechlichen Greises lag soviel Mitleiderweckendes, soviel Herzergreifendes, dass das ganze Publikum, und Adam Iwanowitsch voran, sofort seine Anschauung über die Sache änderte. Es war klar, dass der Alte niemanden beleidigen konnte, ja sich sogar selbst jeden Augenblick bewusst war, dass man ihn wie einen Bettler fortjagen könne.
Müller war ein gutherziger, mitleidiger Mensch.
»Nein, nein«, sagte er und klopfte dem Alten ermutigend auf die Schulter, »bleiben Sie nur sitzen! Aber Herr Schulz hat Sie sehr gebeten, ihn nicht so scharf anzusehen. Er ist bei Hofe bekannt.«
Aber der alte Mann begriff auch dies nicht; er hastete noch mehr als vorher, beugte sich nieder, um sein Taschentuch aufzuheben, ein altes, zerrissenes, blaues Taschentuch, das ihm aus dem Hut herausgefallen war, und rief seinen Hund, der, ohne sich zu regen, auf dem Fußboden lag und, mit der Schnauze zwischen den beiden Vorderpfoten, anscheinend fest schlief.
»Asorka, Asorka!«, rief er mit zitternder, greisenhafter Stimme; »Asorka!«
Asorka rührte sich nicht.
»Asorka, Asorka!«, sagte der Alte noch einmal traurig und berührte den Hund mit dem Stock; aber das Tier verharrte in seiner bisherigen Haltung. Der Stock entsank den Händen des alten Mannes. Er bückte sich, ließ sich auf beide Knie nieder und hob mit beiden Händen Asorkas Schnauze in die Höhe. Der arme Asorka! Er war tot! Er war, ohne einen Laut von sich zu geben, zu den Füßen seines Herrn gestorben, vielleicht an Altersschwäche, vielleicht aber war er auch verhungert. Der Alte blickte ihn ein Weilchen an, wie wenn er völlig bestürzt wäre und nicht begriffe, dass Asorka schon gestorben war; dann beugte er sich still zu seinem bisherigen Diener und Freund herab und drückte sein blasses Gesicht an dessen tote Schnauze. So verging eine Minute unter allseitigem Stillschweigen. Wir alle waren gerührt. Endlich erhob sich der arme Mensch. Er war sehr blass und zitterte wie in einem heftigen Fieberanfall.
»Man kann ihn ausstopfen«, sagte der mitleidige Herr Müller in dem Wunsch, den Alten irgendwie zu trösten. »Fjodor Karlowitsch Krüger versteht das ausgezeichnet; er ist ein Meister in dieser Kunst«, versicherte Müller, hob den Stock vom Boden auf und reichte ihn dem Alten. »Ja, ich stopfe ausgezeichnet aus«, fiel Herr Krüger selbst bescheiden ein, indem er in die vordere Reihe trat.
Dies war ein langer, hagerer, tugendhafter Deutscher mit rotem, buschigem Haar und mit einer Brille auf der gebogenen Nase.
»Fjodor Karlowitsch Krüger besitzt ein großes Talent im Ausstopfen«, fügte Müller hinzu, der sich in seine schöne Idee zu verlieben begann.
»Ja, ich besitze ein großes Talent im Ausstopfen«, bestätigte Herr Krüger von Neuem, »und ich werde Ihnen Ihren Pudel umsonst ausstopfen«, fügte er in einem Anfall hochherziger Selbstverleugnung hinzu.
»Nein, ich werde Ihnen das Ausstopfen bezahlen!«, rief Adam Iwanowitsch Schulz ordentlich grimmig und errötete aus zwiefachem Grunde: sowohl wegen seiner eigenen Großmut, als auch weil er sich schuldloserweise für die Ursache des ganzen Unglücks hielt.
Der Alte hörte das alles mit an, verstand aber offenbar nichts davon und zitterte wie vorher am ganzen Leib.
»Warten Sie! Trinken Sie ein Gläschen guten Kognak!«, rief Müller, als er sah, dass der rätselhafte Gast dem Ausgang zustrebte.
Der Kognak wurde gebracht. Der Alte nahm mechanisch das Gläschen; aber seine Hand zitterte, und bevor er es an die Lippen brachte, verschüttete er die Hälfte und stellte es, ohne einen Tropfen getrunken zu haben, wieder auf das Tablett. Darauf lächelte er in einer sonderbaren, gar nicht zur Situation passenden Art und verließ mit beschleunigten, ungleichmäßigen Schritten die Konditorei; den Hund ließ er auf seinem Platz liegen. Alle standen, erstaunt; Ausrufe der Verwunderung wurden laut.
»Schwerenot, was ist das für eine Geschichte?«, sagten die Deutschen, einander mit großen Augen anblickend. Ich aber eilte dem Alten nach. Wenn man sich von der Konditorei nach rechts wendet, so biegt nach einigen Schritten eine schmale, dunkle, von gewaltig großen Häusern eingefasste Gasse ab. Eine Art von Ahnung sagte mir, dass der Alte sich gewiss dahin gewandt habe. Hier war das zweite Haus rechter Hand im Bau begriffen und ganz mit Gerüststangen umgeben. Der Bauzaun reichte beinahe bis in die Mitte der Gasse; am Zaun entlang war ein hölzerner Steig für Fußgänger angelegt. In einem dunklen Winkel, der von dem Zaun und dem Hause gebildet wurde, fand ich den Alten. Er saß auf der Stufe des hölzernen Trottoirs, hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und hielt seinen Kopf in beiden Händen. Ich setzte mich neben ihn.
»Hören Sie«, sagte ich und wusste nicht recht, wie ich anfangen sollte, »grämen Sie sich nicht um Ihren Asorka! Kommen Sie, ich werde Sie zu Ihrer Wohnung bringen. Beruhigen Sie sich! Ich werde gleich eine Droschke holen. Wo wohnen Sie denn?«
Der Alte gab keine Antwort. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Passanten waren nicht da. Auf einmal fasste er mich bei der Hand. »Mir ist so beklommen!«, sagte er mit heiserer, kaum hörbarer Stimme; »so beklommen!«
»Kommen Sie zu Ihrer Wohnung!«, rief ich, indem ich mich aufrichtete und auch ihn mit Gewalt aufzurichten suchte. »Da sollen Sie Tee trinken und sich ins Bett legen ... Ich werde sofort eine Droschke holen. Ich werde einen Arzt rufen; ich bin mit einem bekannt.«
Ich erinnere mich nicht mehr, was ich sonst noch zu ihm sagte. Er wollte sich erheben; aber nachdem er sich ein klein wenig aufgerichtet hatte, fiel er wieder auf die Erde zurück und begann erneut mit derselben heiseren, erstickten Stimme etwas zu murmeln. Ich beugte mich noch näher zu ihm herab und horchte.
»Auf der Wassili-Insel«, flüsterte der Alte, »in der Sechsten Linie ... in der Sech-sten Li-nie ...«
Er verstummte.
»Wohnen Sie auf der Wassili-Insel? Aber dann sind Sie falsch gegangen; Sie mussten sich nach links wenden, nicht nach rechts. Ich will Sie gleich hinbringen ...«
Der Alte rührte sich nicht. Ich fasste ihn an der Hand; die Hand fiel wie tot herab. Ich sah ihm ins Gesicht und berührte es – er war bereits tot. Mir war, als ob mir das alles nur träumte.
Dieses Begebnis hatte für mich eine längere mühevolle Tätigkeit zur Folge, während der mein Fieber ganz von selbst verging. Es gelang mir, die Wohnung des alten Mannes ausfindig zu machen. Er wohnte jedoch nicht auf der Wassili-Insel, sondern wenige Schritte von der Stelle, wo er gestorben war, in dem Hause eines Herrn Klugen dicht unter dem Dach im fünften Stockwerk in einer eigenen Wohnung, die aus einem kleinen Vorzimmer und einem großen, sehr niedrigen Zimmer mit drei ganz schmalen Fenstern bestand. Er hatte äußerst ärmlich gewohnt. Das Mobiliar bestand nur aus einem Tisch, zwei Stühlen und einem uralten, steinharten Sofa, aus dem überall die Bastpolsterung hervor sah; und auch diese Möbelstücke gehörten, wie sich herausstellte, dem Wirt. Der Ofen schien seit langer Zeit nicht geheizt zu sein; auch Kerzen fanden sich nicht. Ich glaube jetzt allen Ernstes, dass der Alte zu Müller einzig und allein in der Absicht ging, bei Licht zu sitzen und sich zu wärmen. Auf dem Tisch stand ein leerer irdener Krug; daneben lag eine alte, harte Brotrinde. An Geld fand sich auch nicht eine Kopeke vor. Nicht einmal Wäsche zum Wechseln war vorhanden, in der er hätte beerdigt werden können; jemand gab zu diesem Zweck ein Hemd von sich her. Es war klar, dass er nicht in dieser Weise, so völlig allein, hatte leben können; gewiss hatte ihn jemand, wenn auch nur selten, besucht. Im Tischkasten fand sich sein Pass. Der Verstorbene war Ausländer gewesen, aber russischer Untertan, Jeremija Smith, Maschinenbauer, achtundsiebzig Jahre alt. Auf dem Tisch lagen zwei Bücher: eine kurz gefasste Geografie und ein russisches Neues Testament, in welchem einzelne Stellen am Rand mit Bleistift angestrichen oder mit Nagelkrellen bezeichnet waren. Diese Bücher erwarb ich für mich. Man befragte die anderen Mieter und den Hauswirt, aber sie wussten fast nichts über ihn zu sagen. Mieter gab es in diesem Haus eine große Menge, fast lauter Handwerker und deutsche Zimmervermieterinnen, welche Zimmer mit Beköstigung und Bedienung abließen. Der Verwalter des Hauses, ein Adliger, wusste ebenfalls nur sehr wenig von seinem früheren Mieter zu sagen, außer dass die Wohnung sechs Rubel monatlich kostete, dass der Verstorbene sie vier Monate lang innegehabt, aber für die beiden letzten Monate keine Kopeke bezahlt hatte, sodass er eigentlich schon hätte hinausgesetzt werden sollen. Man fragte, ob nicht manchmal jemand zu ihm gekommen sei. Aber niemand konnte darüber befriedigende Auskunft geben. »Das Haus ist groß«, hieß es; »was gehen in einer solchen Arche Noah nicht alles für Leute ein und aus? Wie soll man die alle im Kopf behalten?« Der Hausknecht, der in diesem Haus schon fünf Jahre diente und wahrscheinlich wenigstens etwas, wenn auch noch so wenig, hätte mitteilen können, war vor zwei Wochen zu Besuch in seine Heimat gereist und hatte als Vertreter seinen Neffen da gelassen, einen jungen Burschen, der bisher kaum die Hälfte der Mieter von Gesicht kennengelernt hatte. Ich weiß nicht mehr genau, welches damals das Endresultat all dieser Nachforschungen war; aber schließlich wurde der alte Mann begraben. In diesen Tagen ging ich, unter anderen Laufereien und Bemühungen, auch einmal nach der Wassili-Insel zur Sechsten Linie, und erst als ich hingekommen war, lachte ich über mich selbst: was konnte ich in der Sechsten Linie sehen außer eine Reihe gewöhnlicher Häuser? ›Aber warum‹, dachte ich, ›hat der Alte im Sterben von der Sechsten Linie und von der Wassili-Insel gesprochen? Hat er nur fantasiert?‹
Ich besah mir Smiths leergewordene Wohnung, und sie gefiel mir. Ich mietete sie für mich. Die Hauptsache war mir das große Zimmer, obwohl es so niedrig war, dass es mir in der ersten Zeit immer so vorkam, als würde ich mit dem Kopf die Decke streifen. Übrigens gewöhnte ich mich bald daran. Für sechs Rubel monatlich war auch nichts Besseres zu bekommen. Was mich lockte, war, dass ich die Wohnung direkt vom Hauswirt mietete; ich musste mich nur noch um eine Bedienung bemühen, da ich ganz ohne Bedienung denn doch nicht hausen konnte. Der Hausknecht versprach, für die erste Zeit wenigstens einmal täglich zu mir zu kommen und mir die allernotwendigsten Dienste zu leisten. ›Wer weiß‹, dachte ich, ›vielleicht erkundigt sich auch jemand nach dem alten Mann!‹ Indessen waren bei meinem Einzug schon fünf Tage seit seinem Tod vergangen, und es war noch niemand gekommen.
Zu jener Zeit, nämlich vor einem Jahr, war ich noch Mitarbeiter an mehreren Journalen, schrieb Artikel für dieselben und glaubte bestimmt, es werde mir einmal gelingen, etwas Großes, Schönes zu schreiben. Ich war damals mit einem großen Roman beschäftigt; aber das Ende vom Lied ist gewesen, dass ich jetzt im Krankenhaus bin und voraussichtlich bald sterben werde. Wenn ich aber bald sterben werde, was hat es dann für einen Zweck, möchte man sagen, diese Erinnerungen aufzuzeichnen?
Unwillkürlich und ununterbrochen denke ich an dieses ganze schwere, letzte Jahr meines Lebens. Ich will jetzt alles niederschreiben, und wenn ich mir nicht diese Beschäftigung geschaffen hätte, so würde ich, wie mir scheint, vor Langerweile sterben. All diese vergangenen Empfindungen regen mich manchmal in schmerzhafter, geradezu qualvoller Weise auf. Unter der Feder nehmen sie einen ruhigeren, ordentlicheren Charakter an; sie gleichen dann weniger einem Fieberwahn, einem beängstigenden Traum. So scheint es mir wenigstens. Schon allein die mechanische Tätigkeit des Schreibens übt eine gute Wirkung aus: sie hat etwas Beruhigendes, Abkühlendes, macht bei mir wieder die früheren schriftstellerischen Gewohnheiten lebendig und verwandelt meine Erinnerungen und krankhaften Träumereien in aktive Handlung ... Ja, das war ein guter Einfall von mir. Außerdem ergibt sich dadurch auch eine Erbschaft für den Krankenwärter; wenigstens kann er, wenn er zum Winter die Doppelfenster einsetzt, mit meinen Memoiren die Ritzen verkleben.
Aber ich habe meine Erzählung, ich weiß nicht warum, in der Mitte begonnen. Wenn ich denn einmal alles niederschreiben will, so muss ich vom Anfang an beginnen. Nun, fangen wir also an! Übrigens wird meine Selbstbiografie nicht lang sein.
Ich bin nicht hier geboren, sondern weit von hier, im Gouvernement S. Es ist anzunehmen, dass meine Eltern gute Menschen waren; aber sie ließen mich, als ich noch ein Kind war, als Waise zurück, und ich wuchs im Hause eines kleinen Gutsbesitzers, Nikolai Sergejewitsch Ichmenew, auf, der mich aus Mitleid aufgenommen hatte. Er hatte nur eine Tochter, die Natascha hieß und drei Jahre jünger war als ich. Wir wuchsen zusammen auf wie Bruder und Schwester. Oh du meine schöne Kindheit! Wie dumm ist es, im Alter von fünfundzwanzig Jahren sich mit schmerzlichem Bedauern nach dir zurückzusehnen und, dem Tode nah, nur deiner mit Entzücken und Dankbarkeit zu gedenken! Damals hatten wir eine so helle Sonne über uns am Himmel, eine Sonne, so ganz unähnlich der Petersburger Sonne, und unsere kleinen Herzen schlugen so munter und fröhlich. Damals waren Felder und Wälder um uns herum und nicht ein Haufen von toten Steinen wie jetzt. Wie wundervoll war der Garten und Park in Wassiljewskoje, wo Nikolai Sergejewitsch Verwalter war; in diesem Garten ging ich mit Natascha spazieren, und hinter dem Garten war ein großer, feuchter Wald, in dem wir Kinder uns beide einmal verirrten ... Oh du goldene, schöne Zeit! Das Leben tat sich zum ersten Mal vor uns auf, geheimnisvoll und lockend, und es war so süß, es kennenzulernen. Damals hatten wir noch die Vorstellung, dass hinter jedem Strauch, hinter jedem Baum ein für uns geheimnisvolles, unsichtbares Wesen lebe; die Märchenwelt floss mit der wirklichen zusammen, und wenn manchmal in den tiefen Tälern sich der Abendnebel verdichtete und sich in grauen, gewundenen Streifen an das Gebüsch hängte, das an den steinernen Rippen unserer großen Schlucht wuchs, dann blickten Natascha und ich, uns an den Händen haltend, mit ängstlicher Neugier von dem oberen Rand in die Tiefe und erwarteten jeden Augenblick, dass jemand vom Boden der Schlucht aus dem Nebel zu uns heraufsteigen oder uns anrufen werde und dass die Märchen der Kinderfrau sich als richtige echte Wahrheit erweisen würden. In späteren Jahren, lange nachher, erinnerte ich einst zufällig Natascha daran, wie man uns damals einmal die ›Kinderlektüre‹ in die Hände gegeben hatte und wir sofort in den Garten zum Teich gelaufen waren, wo unter einem alten, dicht belaubten Ahornbaum unsere grüne Lieblingsbank stand, uns dort hingesetzt und ›Alfons und Dalinda‹, ein Zaubermärchen, zu lesen begonnen hatten. Noch heute kann ich an diese Erzählung nicht ohne eine sonderbare Erregung des Herzens zurückdenken, und als ich vor einem Jahr Natascha an die beiden ersten Zeilen erinnerte: »Alfons, der Held meiner Erzählung, wurde in Portugal geboren; Don Ramir, sein Vater« usw., da fing ich beinahe an zu weinen. Das sah gewiss schrecklich dumm aus, und dies war wahrscheinlich der Grund, weshalb Natascha damals so seltsam über mein Entzücken lächelte. Übrigens bezwang sie sich sofort (darauf besinne ich mich) und begann nun, um mir eine Freude zu machen, selbst von der alten Zeit zu reden. Ein Wort gab das andere, und zuletzt wurde auch sie ganz weich. Es war ein herrlicher Abend; wir holten all die alten Erinnerungen hervor, auch wie ich nach der Gouvernementsstadt geschickt wurde, um dort ein Alumnat zu besuchen (oh Gott, wie hatte sie damals geweint!), auch wie wir uns zum letzten Male trennten, als ich für immer von Wassiljewskoje Abschied nahm. Ich hatte damals die Schule schon durchgemacht und ging nach Petersburg, um mich zum Eintritt in die Universität vorzubereiten. Ich war damals siebzehn Jahre alt und sie fünfzehn. Natascha sagte, ich sei damals ein lang aufgeschossener, ungeschickter Bursche gewesen und man habe mich gar nicht ansehen können, ohne zu lachen. In der Abschiedsstunde führte ich sie beiseite, um ihr etwas furchtbar Wichtiges zu sagen; aber meine Zunge wurde auf einmal unbeweglich und stumm. Natascha hatte noch in der Erinnerung, dass ich mich in gewaltiger Aufregung befand. Natürlich kam unser Gespräch nicht in Gang. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und sie hätte mich vielleicht gar nicht verstanden. Ich fing nur bitterlich an zu weinen und reiste ab, ohne etwas gesagt zu haben. Wir sahen uns erst sehr lange Zeit nachher wieder, in Petersburg. Das war vor zwei Jahren. Der alte Ichmenew war hierher gefahren, um seinen Prozess zu betreiben, und ich hatte soeben meine schriftstellerische Laufbahn begonnen.
Nikolai Sergejewitsch Ichmenew stammte aus einer guten, aber schon lange verarmten Familie. Indessen hatten ihm seine Eltern doch noch ein hübsches Besitztum mit hundertundfünfzig Seelen hinterlassen. Als er zwanzig Jahre alt war, trat er bei den Husaren ein. Alles ging gut; aber in seinem sechsten Dienstjahr passierte es ihm an einem unglücklichen Abend, dass er sein ganzes Vermögen verspielte. Er konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Am folgenden Abend erschien er von Neuem am Kartentisch und setzte auf eine Karte sein Pferd, das letzte Besitzstück, das ihm geblieben war. Die Karte gewann, und so auch die zweite und dritte, und nach Verlauf einer halben Stunde hatte er etwas von seinen Besitzungen zurückgewonnen, das Dörfchen Ichmenewka, in welchem bei der letzten Revision fünfzig Seelen gezählt worden waren. Er hörte auf zu spielen und reichte gleich am andern Tag sein Abschiedsgesuch ein. Hundert Seelen waren unwiederbringlich verloren. Zwei Monate darauf erhielt er seinen Abschied als Leutnant und begab sich auf sein Dorf. Von seinem Spielverlust redete er in seinem späteren Leben niemals, und trotz seiner notorischen Gutherzigkeit hätte er sich doch unfehlbar mit jedem verfeindet, der sich erlaubt hätte, zu ihm davon zu sprechen. Auf dem Dorf beschäftigte er sich fleißig mit der Wirtschaft und heiratete im Alter von fünfunddreißig Jahren ein armes Edelfräulein, Anna Andrejewna Schumilowa, die gar keine Mitgift bekam, aber ihre Bildung in einer vornehmen Pension der Gouvernementsstadt bei der Emigrantin Mont Revéche erhalten hatte, worauf Anna Andrejewna ihr ganzes Leben lang stolz war, obgleich nie jemand erraten konnte, worin diese Bildung eigentlich bestand. Nikolai Sergejewitsch war ein ausgezeichneter Landwirt geworden. Die benachbarten Gutsbesitzer lernten von ihm auf wirtschaftlichem Gebiet. So vergingen mehrere Jahre, als plötzlich auf dem Nachbargut, dem Dorf Wassiljewskoje, in welchem neunhundert Seelen gezählt worden waren, der Besitzer, Fürst Pjotr Alexandrowitsch Walkowski, aus Petersburg eintraf. Seine Ankunft erregte in der ganzen Gegend sehr starkes Aufsehen. Der Fürst war, wenn er auch die erste Jugend bereits hinter sich hatte, doch noch ein junger Mann, besaß einen hohen Dienstrang, bedeutende Konnexionen, ein schönes Äußeres, ein beträchtliches Vermögen und war, um dies zuletzt zu erwähnen, Witwer, was ihn den Frauen und Mädchen des ganzen Kreises besonders interessant machte. Man erzählte von der glänzenden Aufnahme, die er in der Gouvernementsstadt bei dem Gouverneur gefunden hatte, mit dem er entfernt verwandt war; es wurde hinzugefügt, alle Damen des Gouvernements seien ›von seiner Liebenswürdigkeit ganz bezaubert‹ usw. usw. Kurz, es war dies einer der glänzendsten Repräsentanten der höchsten Petersburger Gesellschaft, die nur selten in der Provinz erscheinen und, wenn sie dort erscheinen, außerordentliche Sensation machen. Der Fürst war indessen keineswegs liebenswürdig, namentlich nicht denjenigen gegenüber, die er nicht notwendig brauchte und die nach seiner Ansicht unter ihm standen, selbst wenn der Abstand nur gering war. Mit seinen Gutsnachbarn sich bekannt zu machen, hielt er nicht für erforderlich und machte sich dadurch gleich von vornherein eine Menge Feinde. Daher wunderten sich alle außerordentlich, als es ihm auf einmal einfiel, bei Nikolai Sergejewitsch einen Besuch zu machen. Allerdings war Nikolai Sergejewitsch einer seiner nächsten Nachbarn. In dem Ichmenewschen Hause machte der Fürst starken Eindruck. Er bezauberte sogleich die beiden Ehegatten; besonders war Anna Andrejewna von ihm entzückt. Bald darauf verkehrte er mit ihnen schon völlig intim, kam jeden Tag zu ihnen herübergefahren, lud sie zu sich ein, machte Witze, erzählte Anekdoten, spielte auf ihrem schlechten Klavier und sang dazu Lieder. Ichmenews konnten sich nicht genug darüber wundern, wie die Leute von einem so prächtigen, liebenswürdigen Menschen sagen konnten, er sei ein stolzer, hochmütiger, trockener Egoist; denn als solchen verschrien ihn alle Nachbarn einhellig. Man musste glauben, Nikolai Sergejewitsch habe als ein schlichter, offenherziger, uneigennütziger, vornehm denkender Mensch dem Fürsten tatsächlich gefallen. Indessen klärte sich bald alles auf. Der Fürst war nach Wassiljewskoje gekommen, um seinen Verwalter wegzujagen, einen unmoralischen Deutschen, der ein großes Selbstgefühl besaß, sich Agronom nannte, mit grauen, Achtung heischenden Haaren, einer Brille und einer Hakennase ausgestattet war, aber trotz all dieser Vorzüge in einer scham- und maßlosen Weise gestohlen und überdies mehrere Bauern zu Tode gequält hatte. Dieser Iwan Karlowitsch war endlich auf frischer Tat ertappt und überführt worden; er redete zwar viel von deutscher Ehrlichkeit, wurde aber trotz alledem weggejagt, und sogar in ziemlich schimpflicher Weise. Der Fürst brauchte einen Verwalter, und seine Wahl fiel auf Nikolai Sergejewitsch, einen vortrefflichen Landwirt und durchaus ehrenhaften Menschen, worüber nicht der geringste Zweifel bestehen konnte. Es scheint, dass der Fürst sehr wünschte, Nikolai Sergejewitsch möchte sich ihm selbst als Verwalter anbieten; aber das geschah nicht, und so machte ihm denn eines schönen Tages der Fürst dieses Anerbieten, und zwar in Form einer sehr freundschaftlichen, höflichen Bitte. Ichmenew lehnte es zunächst ab; aber auf Anna Andrejewna übte das bedeutende Gehalt eine verführerische Wirkung aus, und die verdoppelte Liebenswürdigkeit des Bittenden zerstreute alle noch übrigen Bedenken. Der Fürst erreichte seinen Zweck. Man muss annehmen, dass er ein großer Menschenkenner war. In der kurzen Zeit seiner Bekanntschaft mit Ichmenew hatte er vollständig erkannt, mit wem er es zu tun hatte, und eingesehen, dass er Ichmenew durch freundschaftliches, herzliches Benehmen bezaubern und sein Herz gewinnen müsse und dass ohne dieses Mittel Geld nicht viel vermöge. Er aber brauchte gerade einen solchen Verwalter, dem er blind und für immer vertrauen konnte, damit er, wie er das tatsächlich beabsichtigte, nie wieder nach Wassiljewskoje zu kommen brauche. Der bezaubernde Eindruck, den er bei Ichmenew hervorrief, war so stark, dass dieser aufrichtig an die Freundschaft des Fürsten glaubte. Nikolai Sergejewitsch war einer jener gutherzigen, naivromantischen Menschen, die bei uns in Russland, was man auch von ihnen sagen mag, eine so prächtige Menschenklasse bilden und die, wenn sie einmal (manchmal Gott weiß warum) jemanden lieb gewinnen, sich ihm mit ganzer Seele hingeben, sodass ihre Anhänglichkeit mitunter geradezu komisch wird.
Viele Jahre waren vergangen. Das Gut des Fürsten war zu hoher Blüte gelangt. Die Beziehungen zwischen dem Besitzer von Wassiljewskoje und seinem Verwalter erfuhren weder von der einen noch von der andern Seite auch nur die geringste Trübung und beschränkten sich auf einen trockenen geschäftlichen Briefwechsel. Der Fürst mischte sich in keiner Weise in Nikolai Sergejewitschs Anordnungen ein, erteilte ihm aber mitunter Ratschläge, die einen vortrefflichen praktischen Blick und gute Sachkenntnis bekundeten und diesen dadurch in Erstaunen versetzten. Offenbar war der Fürst nicht nur der Verschwendung abgeneigt, sondern er verstand sich auch darauf, etwas hinzuzuerwerben. Etwa fünf Jahre nach seinem Besuch in Wassiljewskoje schickte er seinem Verwalter Nikolai Sergejewitsch eine Vollmacht zum Ankauf eines anderen vorzüglichen Gutes mit vierhundert Seelen, das in demselben Gouvernement gelegen war. Nikolai Sergejewitsch war entzückt; die Erfolge des Fürsten, die Gerüchte von seiner glücklichen Karriere und seinem Avancement machten ihm soviel Freude, als ob es sich um seinen eigenen Bruder handele. Aber sein Entzücken stieg auf den höchsten Grad, als der Fürst ihm tatsächlich in einem Fall ein ganz außerordentliches Vertrauen erwies. Das ging folgendermaßen zu ... Aber hier finde ich es nötig, einige Einzelheiten aus dem Leben dieses Fürsten Walkowski anzuführen, der eine der wichtigsten Personen meiner Erzählung ist.
Ich habe schon früher erwähnt, dass er Witwer war. Geheiratet hatte er schon als ganz junger Mensch, und zwar war es eine Geldheirat gewesen. Von seinen Eltern, die sich in Moskau vollständig ruiniert hatten, hatte er so gut wie nichts geerbt. Wassiljewskoje war mit enormen Hypotheken belastet. Dem zweiundzwanzigjährigen Fürsten, der damals genötigt war, in Moskau in irgendeinem Büro eine Stelle zu verwalten, war auch nicht eine Kopeke geblieben, und er trat in das Leben als »der verarmte Sprössling eines altadligen Geschlechts«. Seine Verheiratung mit der überreifen Tochter eines Kaufmanns und Branntweinpächters rettete ihn. Der Branntweinpächter betrog ihn allerdings bei der Mitgift; aber der Fürst konnte doch mit dem Geld seiner Frau sein Stammgut von der Hypothekenlast befreien und sich auf die Beine helfen. Die Kaufmannstochter, die er zur Frau bekommen hatte, konnte kaum schreiben und nicht zwei vernünftige Worte reden, war hässlich und besaß nur eine wichtige, gute Eigenschaft: Sie war gutmütig und fügsam. Diese gute Eigenschaft nutzte der Fürst in hohem Maße aus; nach dem ersten Jahr der Ehe ließ er seine Frau, die ihm um diese Zeit einen Sohn geboren hatte, in den Händen ihres Vaters, des Branntweinpächters, in Moskau und siedelte selbst nach dem Gouvernement P. über, wo er sich durch die Protektion eines hochgestellten Petersburger Verwandten eine ziemlich ansehnliche Stellung im Staatsdienste verschafft hatte. Er dürstete nach Avancement, nach Auszeichnungen, nach einer glänzenden Karriere, und da er sich sagte, dass er mit seiner Frau weder in Petersburg noch in Moskau leben könne, so entschloss er sich, in Erwartung von etwas Besserem, seine Karriere in der Provinz zu beginnen. Es hieß, er habe schon im ersten Jahr seines Zusammenlebens mit seiner Frau diese durch die grobe Manier, in der er sie behandelt habe, beinahe zu Tode gequält. Über dieses Gerücht geriet Nikolai Sergejewitsch immer in Empörung, und er trat mit Wärme für den Fürsten ein, indem er beteuerte, der Fürst sei eines unedlen Benehmens unfähig. Aber nach sieben Jahren starb die Fürstin endlich, und der Witwer zog nun sogleich wieder nach Petersburg. Dort machte er sogar einigen Eindruck. Noch jung, von schönem Äußeren, vermögend und mit vielen glänzenden Eigenschaften, darunter mit Witz, mit Geschmack und mit einem unerschöpflichen Humor begabt, benahm er sich nicht, als ob er sein Glück machen wolle und Protektion suche, sondern als stehe er schon fest auf eigenen Füßen. Man erzählte, er habe wirklich etwas Bezauberndes, Kraftvolles, Siegreiches an sich gehabt. Den Frauen gefiel er außerordentlich, und eine Liaison mit einer schönen Dame aus den höchsten Gesellschaftskreisen verhalf ihm zu einer skandalösen Berühmtheit. Trotz der ihm angeborenen Sparsamkeit, die sogar an Geiz streifte, streute er mit dem Geld, ohne dasselbe zu bedauern, um sich, verlor im Kartenspiel an solche Herren, bei denen das zweckmäßig war, und verzog selbst bei großen Verlusten keine Miene. Aber nicht um Vergnügen zu suchen, war er nach Petersburg gekommen: Er wollte seine Karriere definitiv in Gang bringen und sicherstellen. Und das erreichte er. Graf Nainski, sein hochgestellter Verwandter, der ihm keine Beachtung geschenkt hätte, wenn er als gewöhnlicher Bittsteller aufgetreten wäre, ließ sich durch seine Erfolge in der Gesellschaft imponieren, hielt es für möglich und passend, ihm seine besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden, und erwies ihm sogar die Ehre, seinen siebenjährigen Sohn zur Erziehung in sein Haus zu nehmen. In diese Zeit fiel auch die Fahrt des Fürsten nach Wassiljewskoje und seine Bekanntschaft mit Ichmenews. Endlich erhielt er durch Vermittlung des Grafen eine angesehene Stellung bei einer der bedeutendsten Gesandtschaften und begab sich ins Ausland. Weiterhin wurden die Gerüchte über ihn etwas unklar: Man sprach von einem unangenehmen Erlebnis, das er im Ausland gehabt habe; aber niemand vermochte anzugeben, worin dieses bestanden habe. Man wusste nur, dass er vierhundert Seelen hinzugekauft habe, was ich schon erwähnte. Erst viele Jahre später kehrte er in hoher dienstlicher Stellung aus dem Ausland zurück und erhielt sofort in Petersburg ein sehr bedeutendes Amt. Nach Ichmenewka gelangten Gerüchte, er werde eine zweite Ehe eingehen und dadurch mit einem sehr vornehmen, reichen, mächtigen Geschlecht verwandt werden. »Er wird noch einmal einer der höchsten Würdenträger werden!«, sagte Nikolai Sergejewitsch, sich vor Vergnügen die Hände reibend. Ich war damals in Petersburg auf der Universität und erinnere mich, dass Ichmenew express an mich schrieb und mich bat, Erkundigungen darüber einzuziehen, ob die Gerüchte über die Wiederverheiratung zutreffend seien. Er schrieb auch an den Fürsten und bat ihn, mir seine Protektion zukommen zu lassen; aber der Fürst ließ diesen Brief unbeantwortet. Ich wusste nur, dass sein Sohn, der zuerst bei dem Grafen und dann auf einem Lyzeum erzogen worden war, damals den Universitätskursus im Alter von neunzehn Jahren beendet hatte. Ich schrieb dies sogleich an Ichmenews und auch, dass der Fürst seinen Sohn sehr liebe, ihn verwöhne und schon jetzt Pläne über seine Zukunft entwerfe. Alles dies hatte ich von Kommilitonen erfahren, die mit dem jungen Fürsten bekannt waren. In dieser Zeit erhielt Nikolai Sergejewitsch eines Tages von dem Fürsten einen Brief, der ihn in das größte Erstaunen versetzte.