SCHEIBE . SCHINDERHANNES
- Auf Brüder, laßt uns lustig leben,
Laßt alle Reichen vor uns beben,
Sie haben Uhren, Geld und Wein,
Wer bricht nicht gern bei ihnen ein?
- Cartheuser mögen fett sich fasten
Und saufend sich zu Tode rasten,
Wir wollen hier bey altem Wein
Nach unsrer Sitte lustig seyn!
- Weg Bangigkeit und eitler Schrecken,
Kein Teufel wird uns hier entdecken,
Den Spürhund der Gerechtigkeit,
Betrügen wir ja allezeit.
- Hoch lasset unsern Hauptmann leben,
Und unsere Mädchen auch daneben,
Er soll mit uns stets glücklich seyn,
Wir wollen ihm ein Vivat schreyn!*
* Will (1806), S.2 f., in einem Theaterstück über Schinderhannes.
– Nichtsnutz, Pferdedieb, Räuberhauptmann ?
– Forschungsbericht Stand Juni 2015 –
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Scheibe, Mark:
Schinderhannes. Nichtsnutz, Pferdedieb, Räuberhauptmann? / Mark Scheibe.
∇ 6. Auflage, Kelkheim, 2015
ISBN 978-3-9813188-7-6
Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen.
© Stiftung Historische Kommission für die Rheinlande 1789-1815, Am Weiherhaag 4b, 65779 Kelkheim. Druck und Bindearbeit: Druckerei Berthold Faber, Mandelbachtal. Printed in Germany.
Das Zeichen SAGE bedeutet, daß der hier aufgeführte Bericht auf einer mündlichen Überlieferung beruht, die nicht in den zeitgenössischen Unterlagen zu finden ist und vermutlich fiktiven Charakter hat. Ihr Wahrheitsgehalt kann heute wahrscheinlich nicht mehr durch historisches Quellenmaterial überprüft werden.
Im Folgenden werden – soweit möglich – nur die Originalquellen aufgeführt. Falls diese nicht bekannt sind, so habe ich die jeweils älteste zur Verfügung stehende Aufzeichnung aufgeführt. Bei der Zitierung der Sagen wurde das Datum der ersten schriftlichen Aufzeichnung genannt.
AN Paris |
= Archives Nationales Paris |
AS |
= Anklageschrift1 |
EU |
= Endurteil (= Jugement définitif)2 |
Fn. |
= Fußnote |
GNANü |
= Germanisches Nationalarchiv Nürnberg |
HHStAW |
= Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden |
HMFFM |
= Historisches Museum Frankfurt |
HStAD |
= Hessisches Staatsarchiv Darmstadt |
HStAM |
= Hessisches Staatsarchiv Marburg |
KU |
= Kompetenzurteil (= Jugement de compétence)3 |
LBI |
= Leo Baeck Institute, New York |
M.w.N. |
= Mit weiteren Nachweisen |
ND |
= Neudruck |
ÖStAW |
= Österreichisches Staatsarchiv Wien |
PA |
= Prozeßakten: die gedruckten Akten des Ermittlungsverfahrens gegen Johannes Bückler und weitere Beschuldigte (Band I-III)4 |
StABH |
= Stadtarchiv Bad Homburg |
StAF |
= Stadtarchiv Frankfurt/M. |
StAKöln |
= Stadtarchiv Köln |
StAKön |
= Stadtarchiv Königstein |
StAMz |
= Stadtarchiv Mainz |
StATr |
= Stadtarchiv Trier |
UBF |
= Universitätsbibliothek Frankfurt/M. |
1 In Band IV der Prozeßakten (PA) abgedruckt.
2 Jugement définitif rendu le 28. Brumaire XII (20.11.1803) de la Republique par le Tribunal criminel spécial, établi à Mayence pour le Department Mont-Tonnerre, contre Jean Bückler, Fils, dit Schinderhannes et complices.
3 Jugement de compétence rendu le 18 Pluviose an XI (07.02.1803) de la République par le Tribunal criminel spécial établi à Mayence pour le Département du Mont-Tonnerre contre Jean Bückler, fils, dit Schinderhannes et ses complices au nombre de soixante-huit.
4 Procédure instruite par le Tribunal criminel spècial établi à Mayence pour le département Mont-Tonnerre, en exécution de la loi du 18 Pluvoise an IX (07.02.1803) contre Jean Bückler, dit Schinderhannes et soixante-sept de ses complices, tous prévenus d’assassinat, ou des vols, ou de complicité de dits crimes.
Vorwort zur 6. Auflage (2015)
Zur Person
Kurzer Abriß zu dieser Forschung
Dank
Lebensdaten des Johannes Bückler, genannt Schinderhannes
Der geschichtliche Hintergrund
Die Rolle der Juden im Kriegsgeschehen
Kriminalität und Strafverfolgung
Verbrecher und Räuberbanden dieser Zeit
Balzar von Flammersfeld
Langer Friedrich
Moselbande
Picart und die Niederländer Bande
Kopfjäger Anton Keil
Quellenlage zur historischen Figur Schinderhannes
Mythos Schinderhannes
Überblick über die Schinderhannes-Sagen
Lebenslauf des Johannes Bückler, genannt Schinderhannes
Das umstrittene Geburtsdatum
Geschwister
Eltern
Kindheit und Jugend
Ein Ausflug von Darmstadt bis an die Dill
Der Räuberhauptmann Johannes durch den Wald
Liebschaft mit Catharina Pfeiffer
Überfälle am laufenden Band und Tarnung als Krämer
Julchen Blasius
Ein Berg von Schuhen
Staudernheim
Schloßborn, Hasenmühle und die Niederländer
Überfall auf die Oberposthalterei zu Würges
Sturm auf das Amtshaus Königstein
Flucht der Räuber und Polizeiaktionen
Polizeiministerkonferenz zu Wetzlar
Freie Passage nach dem Raub am Merxheimer Juden
Das erste Kind mit Julchen
Laufersweiler
Totschlag in Kleinrohrheim
Illingen, Ulmet und die Treberhannes-Hütte: erst die Arbeit dann das Vergnügen
„Wenn doch jetzt ein Gendarm käme“
Die Niederländer unterwegs: „Vivat Schinderhannes“
Baierthal
Sötern: ein Jude von hinten erschossen
Staudernheim
Flucht vom Frankfurter Riedhof
Folter in Merxheim
Södel und die „Residenz“ des Schinderhannes
Letzte Wochen in Freiheit
Überall Schinderhannes: Vermeintliche Überfälle des Räubers in Seitzenhahn und Nieder-Ems
Parade vor Müller Bollenbach
Gnadenersuch, Teil 1
Gnadenersuch, Teil 2
„Frankfurt unterstützt das Diebswesen“
Festnahme, Teil 1
Flucht eines Gefangenen aus Mainz
Festnahme, Teil 2
Festnahme, Teil 3 und 4
Auslieferung nach Mainz
Verhöre in Mainz (und Gnadenersuch, Teil 3)
Eine Befreiungsaktion für Schinderhannes ?
Die Häftlinge für den bevorstehenden Prozeß
Das zweite Kind mit Julchen
Anklage (und Gnadenersuch, Teil 3 – Fortsetzung)
Prozeß
Urteil
Hinrichtung am 21. November 1803
Medizinische Versuche an den Hingerichteten
Der Ort der Hinrichtung
Das angebliche Schinderhannes-Skelett in der Heidelberger Anatomie
Das Schicksal der Guillotine
Was aus den übrigen Beteiligten wurde
Die Verklärung des Schinderhannes kurz nach seinem Tod
Anhang I: Die Täter (mit Tatverdächtigen und Freigesprochenen)
Anhang II: Die Hehler
Anhang III: Die Straftaten Bücklers
Anhang IV: Liste der Verurteilten
Anhang V: Zeitgenössische Lieder und Gedichte über Schinderhannes
Anhang VI: Ortsverzeichnis
Anhang VII: Literaturverzeichnis
Anhang VIII: Bildnachweise
Das ungebrochene Interesse des Publikums an der bekanntesten rheinischen Unterschichtenfigur Johannes Bückler, genannt Schinderhannes, ist heute immer noch dem Spielfilm von 1957 mit Curd Jürgens in der Rolle des fröhlich-kecken Räuberhauptmanns geschuldet.
Mehr und mehr setzt sich aber die Kenntnis durch, daß die tatsächliche Figur alles andere als ein fröhlicher und harmloser Draufgänger war, sondern es sich bei Bückler um einen der brutalsten Serienschwerverbrecher handelte. Das Quellenmaterial dazu ist durch diese Forschungsarbeit in den vergangenen 22 Jahren weitgehend bearbeitet, vor kurzem konnten noch weitere 600 Urteile der französischen Militargerichtsbarkeit in Köln, Koblenz und Mainz sowie die in Paris liegenden Akten der damaligen Geheimpolizei eingesehen werden. Die wichtigsten Erkenntnisse dazu sind in dieser neuen Auflage enthalten. Da aber die Lesbarkeit Vorrang vor der Darstellung aller Quellen hat, habe ich mich bemüht, den Umfang des Buches wieder nicht über 500 Seiten ansteigen zu lassen.
Der berühmt-berüchtigte Johannes Bückler war ein Kind der Französischen Revolution, die unsere Heimat vor 200 Jahren gesellschaftlich auf den Kopf stellte. Heute nahezu unvorstellbar waren die Umwälzungen, als eine neue Macht aus Frankreich mit den Forderungen von Freiheit und Gleichheit die angeblich von Gott eingesetzten deutschen Fürsten auf der westlichen Rheinseite hinwegfegte.
Bücklers Tod durch das Fallbeil am 21. November 1803 in Mainz markiert dabei den Punkt in der Geschichte, an dem Frankreich die ihm sechs Jahre zuvor zugefallenen linksrheinischen deutschen Gebiete unter seine vollständige Kontrolle gebracht hatte und das Heilige Römische Reich Deutscher Nation mit seinem Flickenteppich von Kleinststaaten kurz vor dem Zusammenbruch steht. Über elf Jahre lang Krieg oder Kriegereien, Befreiung oder Besetzung, hatten seitdem in weiten Landstrichen am Rhein ihre Spuren hinterlassen. In dieser Zeit, in der Staat, Polizei und Rechtswesen ihre Legitimität einzubüßen drohten, konnten Vagabunden wie Bückler ihr Auskommen finden und durch ihre Taten sogar die Neugier von Romanschreibern wecken.
Was macht aber heute das Interesse an diesem Menschen aus? Es ist der Mythos eines – folgt man dem Film von 1957 und zahlreichen Romanveröffentlichungen – charismatischen Helden, der die Neugier des Publikums findet, auch wenn er sich bereits zu Lebzeiten von der historischen Figur entfernt hatte. Dieses Interesse erklärt, warum die vorliegende neue Auflage seiner Lebensgeschichte wieder viele Erweiterungen durch bislang unbekannte historische Dokumente und bereits in Vergessenheit geratene Sagen erfahren durfte.
Meine Beschäftigung mit diesem Thema begann mit dem studentischen Filmprojekt „Schinderhannes“ (1993-2000).1 Die fast achtjährige Produktionszeit mit dem Ziel, die tatsächliche historische Person darzustellen, entwickelte sich zu einer etwa 25.000 Seiten umfassenden Quellensammlung, im weiteren Verlauf zu einer juristischen Forschungsarbeit an der Universität Mainz2 und zu einer bis heute andauernden Recherche.3 Man kann dabei die Arbeit an der Rekonstruktion der Lebensgeschichte Bücklers mit einem Puzzle vergleichen, dessen zigtausende verstreute Teile nie vollständig zusammengelegt worden waren. Und oft werden neue Teile dieses Puzzles entdeckt, die man nie vermutet hätte: So meldete sich zum Beispiel eine Nachfahrin Bücklers, deren Vorfahr aus einer Liaison zwischen dem Räuber und einem jüdischen Dienstmädchen hervorgegangen war. Mit ihren Abstammungsdokumenten konnte sogar die Geburtsurkunde dieses Bücklerkindes gefunden werden.4
Ein regionalgeschichtliches Buch in der sechsten Auflage erscheinen zu lassen ist heute sicherlich ungewöhnlich. Gerade auch deshalb, da über Bückler viel geschrieben wurde und auch noch geschrieben wird. Aber erstaunlicherweise wurden seine Lebensgeschichte und sein Täterprofil immer nur aus einzelnen Ausschnitten der historischen Akten zusammengesetzt und dabei viele Quellen übersehen, die zum Beispiel einen Tathergang gänzlich anders beschreiben. Grundlage der vorliegenden Arbeit ist es deshalb, allen historischen Dokumenten nachzugehen, bisher vergessene Quellen wiederzufinden und einzelne Sachverhalte selbst aus Dutzenden weit verstreuter Informationen zusammenzusetzen. Jeder einzelne Nachweis wird in diesem Buch als Fußnote geführt, um deutlich zu machen, daß Ausschmückungen keinen Platz haben und daß immer an den Originalquellen gearbeitet wurde. Für diese Arbeit habe ich in den Gemeinde- und Stadtarchiven zwischen Westerwald im Norden und Schwarzwald im Süden sowie in den Staatsarchiven von Wien, Berlin, Paris, Koblenz, Marburg, Wiesbaden und Darmstadt oder auch vor Ort bei den Nachfahren der Hessen und Hunsrücker in Brasilien recherchiert und darüber hinaus viele interessante Menschen kennengelernt, die mir Familiengeschichten dazu mitteilen konnten. Die Ergebnisse dieser Suche haben zu einem ganz anderen, bisher unbekannten Schinderhannes-Bild geführt. Aber nichtsdestotrotz sieht man vielerorts den Räuber noch immer so, wie er in dem gleichnamigen Spielfilm von 1957 durch Curd Jürgens verkörpert wurde – und zwar als „edlen“ Räuber und harmlosen Halodri. Die Erwartungshaltung vieler Menschen geht also immer noch in die gleiche Richtung und wird durch eine touristische Vermarktung (Schinderhannes-Festspiele, Schinderhannes-Wanderwege etc.) bedient. Zum Unwillen vieler Heimatforscher werden dabei Männer und Frauen übergangen, deren Verdienste für die Heimat eine Würdigung ihres Namens verdient hätten. Das „Spektakel“ zu Bückler macht eine wertungsfreie Arbeit an den zeitgenössischen Papieren schwierig. Man ist versucht, voreilig zu urteilen, ohne vorher alle Quellen zu einem Punkt zusammengetragen zu haben. Fast scheint eine Recherche überflüssig, glaubt man doch, vom Hörensagen alles über ihn zu wissen. Es ist kaum erstaunlich, daß es vor dem Erscheinen dieses Buches keine Forschung gab, in der die historischen Dokumente möglichst vollständig zusammengetragen und ausgewertet wurden. Aber selbst auf die Dokumente des Mainzer Gerichtsverfahren 1802/03 sollte man sich nicht verlassen: Die Richter mußten zum einen aus Zeitdruck ihre Arbeit einschränken, zum andern fehlte es ihnen an der Notwendigkeit, alle Aufzeichnungen auszuwerten – das Gesetz sah bereits für Helfer bei einem mit Waffen ausgeführten Einbruchdiebstahl die Todesstrafe vor. Die Erforschung weiterer Details war also damals schon aus juristischer Hinsicht völlig unwesentlich.
Im vorliegenden Buch war es nicht das Ziel, ein neues Urteil zu fällen, sondern allein mit wissenschaftlicher, wertneutraler Methodik das Aktenmaterial auszuwerten, um ein möglichst vollständiges Bild zu erhalten und Tatsachen von Mythen zu trennen: Dazu gehört es, alle Aussagen zu einem Tathergang gegenüberzustellen und nicht bei einer einzigen Aussage stehenzubleiben. Meist war das eine außerordentlich mühselige Arbeit, aber erst durch sie konnten alle nachweisbaren Straftaten des Räubers zusammengestellt sowie alle Mittäter und Opfer genannt werden, soweit sie aus dem Aktenmaterial hervorgehen. Es genügt dabei auch nicht, nur mit den bekannten Ermittlungsakten zu arbeiten, die unter anderem in Stadtarchiv und Stadtbibliothek Mainz vorliegen: Denn in diesen Dokumenten wusch sich der Räuber die Weste rein – ein Umstand, der bislang niemandem aufgefallen war. Erst durch die Einbeziehung der Ergebnisse der Mainzer Hauptverhandlung von Oktober/November 1803, die Notizen der Richter, der Presse und anderer Augenzeugen entsteht das wohl authentische Bild dieses Menschen. Für das vorliegende Buch sollte diese Arbeit ein erster Teil sein; ein zweiter war die Ausdehnung der Forschung über die Ortsnachweise und Sagen sowohl links als auch rechts des Rheins. Nicht zuletzt hat auch der kurze Forschungsaufenthalt 2007 in der 1824 entstandenen Hunsrücker und Hessen-Darmstädter Kolonie des brasilianischen Bundesstaates Rio Grande do Sul (Brasilien) Einfluß auf diese Arbeit gehabt. Weitab von jeder Beeinflussung aus der alten deutschen Heimat hielt sich unter den Nachfahren der Ausgewanderten der wohl ursprünglichste Schinderhannes-Mythos – der des Pferdediebs, des Nichtsnutzes, des Kinderschrecks. Keiner kannte ihn als Räuberhauptmann oder gar als Robin Hood, der Armen Gutes tat. Es ist kaum erstaunlich, daß sich gerade diese Angaben mit den historischen Quellen decken. Bückler, oder besser gesagt die Figur mit dem bekannten Rufnamen Schinderhannes, erfuhr viele Zuschreibungen, aber tatsächlich war er nur durch eine Kette von Umständen zu einer heute so mythisch verklärten Figur geworden. Im vorliegenden Buch wird darauf noch ausführlich eingegangen.
Bei der Arbeit an diesem Buch habe ich dankenswerterweise viele Anmerkungen, Ergänzungen und Korrekturen erhalten. Aber nicht nur einmal – da bitte ich um Verzeihung – habe ich Bestürzung bei Schinderhannes-„Freunden“ ausgelöst, da sie fest davon überzeugt waren, der Räuber sei ein „Guter“ gewesen. Die von Bückler selbst zugestandenen brutalen Folterszenen entsetzten sie. Obwohl er im Mainzer Gefängnis anderthalb Jahre Zeit gehabt hatte, seine Taten als die eines Wohltäters und Sozialrebellen (sprich eines Robin Hood) zu verkaufen, hat er das nicht getan. Liest man nicht nur die Aussagen Bücklers, sondern auch die der anderen Mitangeklagten, der Opfer und Zeugen, wird schnell deutlich, daß er über seine Beteiligung bei Gewaltdelikten möglichst den Mantel des Schweigens decken wollte. Das war vor dem Hintergrund der drohenden Todesstrafe auch zu erwarten. Die in den vergangenen 200 Jahren nicht beachteten Ergebnisse der Hauptverhandlung bestätigen schließlich das Bild eines rücksichtslosen, menschenverachtenden Verbrechers, der raubte, um unter Seinesgleichen zu gefallen und um sich zumindest gelegentlich einen gehobenen Lebensstil zu leisten.
Schinderhannes wissenschaftlich auf die Spur kommen zu dürfen, dafür danke ich Herrn Prof. Dr. Jan Zopfs, Institut für Strafrecht und Strafprozeßrecht am Fachbereich Rechtswissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Durch ihn wurde meine private Recherche auf neue Füße gestellt. So entstanden u.a. die in dem vorliegenden Buch veröffentlichten Abschnitte zu den nachweisbaren 130 Straftaten des Räubers und der 95 Mittäter. Die bei ihm entstandene Dissertation "Die Strafjustiz in Mainz und Frankfurt/M. 1796-1803 unter besonderer Berücksichtigung des Verfahrens gegen den Serienstraftäter Johannes Bückler, genannt Schinderhannes, 1802/03“ ist 2009 erschienen. Hier konnte ein bisher unbekanntes Bild der Strafjustiz und der Kriminalität dieser Zeit erarbeitet werden, wobei das neue reformierte Strafrecht der Franzosen dem alten deutschen Prozeß am Beispiel Frankfurt/Main gegenübergestellt und neben der Akte Schinderhannes weitere 1.082 Strafakten der beiden Städte ausgewertet werden konnten. Darüber hinaus möchte ich Christian Pohl, Pfarrer in Wallau-Biedenkopf, für die langjährige Unterstützung bei der Vortragsarbeit zu Schinderhannes danken. Ohne ihn hätte es sie und das vorliegende Buch nicht gegeben. Viel Geduld bewies bei allen diesen Aktivitäten meine Frau Christine; dafür ist selbst ein besonderer Dank an sie nicht ausreichend.
Abschließend möchte ich sehr herzlich allen Lesern danken, die Beiträge zu diesem Buch geliefert haben. Die Hinweise zu bisher unbekannten Quellen oder die Korrekturen waren eine große Hilfe. Da das Ziel des vorliegenden Buches die ständige Weiterentwicklung des Themas ist, möchte ich wiederum alle Leser zur Verbesserung einladen.
Fischbach/Taunus, im Juni 2015
Dr. Dr. Mark Scheibe
Stiftung Historische Kommission für die Rheinlande 1789-1815
E-Mail: Scheibe@stiftung-hkr.info
www.forschungsportal-schinderhannes.de
www.stiftung-hkr.info
1 Ein 90minütiger Film über die letzten drei Lebensjahre des Räubers, dargestellt nach den Ermittlungsakten, umgesetzt mit 200 Darstellern; Hauptdarsteller Volker Zill, Regie Daniela Wolf und Mark Scheibe; Uraufführung Oktober 2000 in Königstein/Taunus.
2 Scheibe (2009) : Die Strafjustiz in Mainz und Frankfurt/M. 1796-1803 unter besonderer Berücksichtigung des Verfahrens gegen den Serienstraftäter Johannes Bückler, genannt Schinderhannes, 1802/1803 (Dissertation, 332 Seiten).
3 Siehe auch WWW.FORSCHUNGSPORTAL-SCHINDERHANNES.DE.
4 Auf Bitte der Nachfahrin wird der Geburtsort nicht bekannt gemacht. In Ihrer Familie galt es als Schande, von diesem Verbrecher abzustammen, und auch ihr Vater befürchtete noch berufliche Nachteile, wenn die Verbindung bekannt geworden wäre.
* Herbst 1779: Geburtsort vermutlich Weidenbach oder Miehlen bei Nastätten/Taunus.
∇ Tätigkeit des Vaters: Scharfrichterknecht, Abdecker/Schinder (somit Herkunft aus einer „unehrlichen Familie“), Feldschütz, zuletzt Tagelöhner und Bauer.
∇ Wohnort bis 1783 in Miehlen, Flucht der Familie wegen Leinwanddiebstahls der Mutter, anschließend als „Bettler“ bis nach Ölmütz in Mähren ziehend, dort Anwerbung des Vaters als Soldat.
∇ 1788/1789: Der Vater desertiert, die Familie zieht nach Merzweiler im Hunsrück, Wohnort des Großvaters.
∇ Ende 1795 oder Anfang 1796: Beginn der kriminellen Karriere des Schinderhannes, dreimal Aufnahme und Tätigkeit als Lehrjunge bei Abdeckern. In der Folgezeit sind 40 Vieh- und Pferdediebstähle, ein Einbruch mit mehreren Spießgesellen sowie die Teilnahme und/oder Mittäterschaft an einem vorsätzlichen Totschlag und einem Mord nachweisbar.
∇ Februar bis August 1799: Gefangenschaft im Turm zu Simmern, anschließend Flucht und seitdem häufiger Aufenthalt im Rechtsrheinischen.
∇ November 1799 bis Mai 1802: Schinderhannes begeht über 70 Straftaten, u.a. Erpressungen, Raubüberfälle und Einbrüche bei Juden und Christen, ist Teilnehmer und/oder Mittäter an einem Mord, einem vorsätzlichen Totschlag und einem Raub mit Todesfolge.
∇ 31.05.1802: Festnahme bei Wolfenhausen, Abtransport nach Frankfurt, Auslieferung nach Mainz am 16.06.1802.
∇ 24.10.-16.11.1803: Gerichtsverhandlung vor dem französischen „Spezial-Kriminal-Tribunal“ in Mainz, Urteilsverkündung am 20.11.
+ 21.11.1803: Hinrichtung mit 19 Mittätern am heutigen Mainzer Stadtpark
∇ Gesamtzahl der nachweisbaren Straftaten Bücklers: 130
∇ Täter und Tatverdächtige: 95
Am westlichen Rand Deutschlands, an der Grenze zu Frankreich und am Rhein, begann 1792 eine Zeit der Unsicherheit. Gerade die Kriminalität war eine Folge der kriegerischen Auseinandersetzungen, die diese Gegenden insgesamt 23 Jahre in Atem hielten.5 Ausgangspunkt dazu war die radikale Umgestaltung der politischen Situation in Frankreich durch die Revolution in Paris 1789. Der Umsturz in Frankreich und später der Tod des absolutistischer Selbstverständlichkeit herrschenden Königs Louis XVI. – König von Gottes Gnaden – war aus der Sicht des herrschenden Adels und der meisten Untertanen ein bisher nicht denkbarer Affront gegen den Staat. Daß ein Herrscher von Gott eingesetzt war, schien einem großen Teil des Volkes erklärbar, sahen sie doch die Pracht und Herrlichkeit der Herrschaft und der Kirche, mußten selbst aber für ihr karges Auskommen schwer arbeiten. Die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten 1776, ihre Gründung als Republik und die Gedanken der Aufklärung fanden jedoch bei der gebildeten bürgerlichen Mittelschicht eine rasche Aufnahme. Der Sturz der Monarchie und die sich bald durchsetzenden anarchischen Kräfte verängstigten die bislang herrschende Klasse und die Fürsten der Nachbarstaaten. Der erste Feldzug 1792 deutscher Truppen, angeführt durch den Herzog von Braunschweig, endete für die Angreifer desaströs. Die militärische Schwäche der deutschen Gegner nutzte Frankreich, um den schwachen Wurzeln der jungen Republik einen Halt zu geben:
Am 21. Oktober 1792 eroberte der französische General Custine die Stadt Mainz, den „Zentralort“ des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Sitz des bedeutendsten Kurfürsten. Die Messestadt Frankfurt am Main und die zweitgrößte deutsche Festung in Rheinnähe, Königstein6, von der der Hauptverbindungsweg Frankfurt – Limburg – Köln überwacht wurde, fielen ohne einen Schuß kurz darauf.7
Aber der erste rasch errungene Erfolg der französischen Revolutionstruppen war nur von kurzer Dauer. Bereits sechs Wochen später, am 2. Dezember war Frankfurt zurückerobert. Die Festung Königstein konnte erst nach drei Monaten zurückgewonnen werden, wobei ein großer Teil der Stadt durch den Beschuß der Preußen zerstört worden war. Mainz, das nächste Ziel der deutschen Truppen, mußte bald darauf ein ähnliches Schicksal erleiden: Es wurde ebenfalls durch preußische Bombardierung in Schutt und Asche gelegt. Auffällig ist, daß die preußischen Truppen ohne Rücksicht auf Verluste bei der deutschen Bevölkerung gegen die französische Streitmacht vorgingen.8
Nach dem Kriegsjahr 1792/93 war aber keine Ruhe in die Rheingegenden eingekehrt. Am linken Rheinufer, in der Pfalz, in Rheinhessen, Hunsrück und Eifel wechselte die militärische Herrschaft teilweise im Wochenturnus. Ein Jahr später, 1794, wurde Mainz wiederum von den Franzosen eingeschlossen (siehe Abb. 4), bis die Belagerung am 29. Oktober 1795 aufgegeben werden mußte.9
Das langjährige aufreibende Geplänkel zwischen den Kriegsparteien fand zunächst mit Jahresende 1795 ein Ende, indem ein Waffenstillstand mit zehntägiger Kündigungsfrist ausgehandelt wurde. Die Truppen der Österreicher und ihrer Verbündeten hatten zu diesem Zeitpunkt die Franzosen auf die linksrheinischen Gebiete zurückgeworfen und begannen sich entlang des Rheins und der Lahn zu befestigen. Geführt wurden sie von dem 25jährigen Feldmarschall Erzherzog Karl, dem Bruder des deutschen Kaisers. Fast 100.000 Soldaten der Kaiserlichen standen allein in einer Linie von Kirn bis Bingen. In Taunus und Westerwald standen 23.000 Mann unter dem Kommando des Generalfeldzeugmeisters Prinz Ferdinand von Württemberg. Die Franzosen besaßen mit der Sambre-Maas-Armee 78.000 Mann, die sich auf einer Linie von Düsseldorf über die mittlere Mosel bis hin nach Trier verteilten und von General Jourdan befehligt wurden.
Aber auch wenn zu diesem Zeitpunkt keine größeren militärischen Auseinandersetzungen stattfanden, waren Konflikte mit der Bevölkerung an der Tagesordnung – die Truppenmassen mußten fast ein ganzes Jahr von der Bevölkerung verpflegt werden.
Im kommenden Jahr 1796 erlebten nun vor allem Westerwald, Taunus, Wetterau und der Maingrund einen Feldzug, der in seiner Größe und in der Katastrophe, die er über die Bevölkerung brachte, in dieser Region einmalig geblieben ist:11 Der siegessichere Kaiser hob den Waffenstillstand auf, da ihm die Franzosen schlecht ausgerüstet schienen und durch ihre abgerissene und zerlumpte Kleidung einen Eindruck von Schwäche machten. Aber die Franzosen errangen bereits innerhalb weniger Tage überraschende Erfolge. Sie drangen über den Westerwald bis an Lahn und Main vor. Während die französischen Generäle Kleber und Jourdan vom Westerwald her über Limburg und Usingen auf Frankfurt zustießen, zog General Pichegru von Mannheim her Richtung Norden und Osten.
Georg Friedrich Rebmann, 1803 Gerichtspräsident im Verfahren gegen Schinderhannes und glühender Verfechter der revolutionären Ideale, wandte sich zu dieser Zeit in seinem „Commentar über die Proklamation des Generals Jourdan an die Deutschen am Rhein“: „Nehmt die Hand an, die euch bald zum Frieden, zur Vereinigung, zur Freiheit, zur Theilnahme am Glück der Franken geboten werden wird!“13 Aber ganz entgegen seiner Absicht erhoben sich die Bauern bei Fulda und in Franken; in Dörfern wie Schlangenbad im Taunus und Mainz-Kastell schloß man sich zusammen und fügte dem französischen Militär, teilweise nur mit Sensen und Dreschflegeln bewaffnet, erhebliche Schäden zu.14
Der militärische Erfolg der Franzosen war aber wiederum nur von kurzer Dauer. Das französische Heer geriet Anfang September bei Würzburg in Auflösung und wich nach Westen zurück. Der Sage nach soll der zu diesem Zeitpunkt 17 Jahre alt gewordene Schinderhannes mit seinen Kumpanen bei der Rückeroberung der Festung Königstein auf österreichischer Seite mitgekämpft haben. Letztendlich wurden die Franzosen über den Rhein zurückgedrängt. Zurückblieben etliche zerstörte und geplünderte Städte und Dörfer, vernichtete Saaten und eine leidgeprüfte Bevölkerung. Vergewaltigung selbst von Greisinnen, wahllose Tötung unbewaffneter Zivilisten aus reiner Lust am Töten, das Schälen von Obstbäumen oder das Requirieren teurer Lebensmittel, um dem französischen Generalstab ein Leben im Luxus zu gewährleisten, waren an der Tagesordnung.15
Steuerdruck und die erzwungenen Lieferungen und Dienstleistungen für die Verpflegung von fast 200.000 Soldaten am Rhein wirkten ernüchternd. Von dem Hochgefühl der „Befreiung“ war in dem Kriegsjahr 1796 nicht mehr viel zu hören. Die Gedanken von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – Grundsätze der Französischen Revolution – waren in ihrem Ursprungsland inzwischen in das „seichte Fahrwasser bourgeoiser Geschäfte manövriert worden“.16 Der enttäuschte Revolutionär Rebmann notierte 1796 dazu auf seiner Reise durch Frankreich: „Ich glaubte ins Heiligtum der Freiheit zu treten und trat – in ihr Bordell!“17
Da sich die militärischen Aktivitäten nun in Norditalien konzentrierten und dort die Heere gebunden wurden, entstand ein staatliches Machtvakuum am Rhein. Frankreich wußte seine militärischen Erfolge in Italien geschickt diplomatisch zu nutzen: Im Friedensvertrag von Campo Formio 1797 sprach man die linksrheinischen deutschen Gebiete Frankreich zu. Wegen der aber weiterhin fehlenden Militärpräsenz deutscher Truppen am Rhein gelangten nun auch die rechtsrheinischen Staaten dauerhaft in die militärische Einflußzone Frankreichs, was die Bevölkerung im allgemeinen nicht mit Wohlwollen sah. Bedeutete diese Zone doch die Verpflichtung, für die Verpflegung eines fremden Heeres aufzukommen. Trotz aller Not der Landbewohner und der Unsicherheit außerhalb der Ortschaften19, blühte bald schon in Frankfurt wieder der Handel mit internationalen Waren. Es war für die betuchten Einwohner zugleich der Beginn einer Ausflugswelle in die Umgebung. Gerade der Taunus war in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts bereits zu einem beliebten Ausflugsziel geworden.20 Die unbeschreibliche Armut der Dörfer auf dem Land war kaum ein Thema für die Wochenendausflügler und Reisenden. Ihnen ging es um ein ursprüngliches Naturerlebnis ganz im Geiste der aufkeimenden Romantik: „Die paradiesischen Gegenden von Epstein zu sehen, lohnt sich eine Reise von hundert Meilen, wenn sie auch über böse und holperichte Wege ginge. Ihr Anblick hat etwas überirdisches und für gefühlvolle Seelen unbeschreibliches (…). Die Sprache ist zu arm, um alles mit Worten zu schildern.“21 Zerfallene Burgen, da der Adel spätestens seit den Unruhen der Revolution kein Geld mehr für den Unterhalt hatte, zerschossene Festungen der letzten Kriegsjahre, wilde Natur, weil über Jahre viele Felder brach liegen mußten – das war der Beginn der deutschen Romantik. Zur dieser Zeit kam da Romanschreibern und Presseleuten ein Johannes Bückler, genannt Schinderhannes, gerade recht, um ihn zu einem romantisch verklärten Räuberhauptmann und Freiheitshelden zu erklären.
5 Eine Quellensammlung über die politischen, militärischen und sozialen Begebenheiten in den Rheinlanden bis 1801 bietet Hansen (1936/38), III u. IV.
6 Die Anlage der Festung Königstein ist etwas kleiner als die von Ehrenbreitstein bei Koblenz.
7 Das Quellenmaterial zusammengestellt von Chuquet (1892). Als Standardwerk zur Mainzer Republik gilt Dumont (198x).
8 U.a. Klein (1861) zur Lage in Mainz 1792/93.
9 U.a. ausführlich Anonymus (1796).
10 Ausschnitt aus der zeitgenössischen Karte „Entsatz von Mainz am 29.10.1795“.
11 Zeitgenössische Literatur dazu: Erzherzog Karl von Österreich (18XX); Jourdan (1840); v.Echt (1823); Anonymus (1811); Lautz (1796).
12 HMFFM, C10030.
13 Rebmann I (1796), S.47.
14 Lautz (1796), in: Annalen für Nassauische Altertumskunde (21), 1889, S.77-106; Anonymus (1796), S.69.
15 Lautz (1796).
16 Rebmann II (1796), S.192 (im Nachwort von H. Weise).
17 Rebmann II (1796), S.192 (im Nachwort von H. Weise).
18 GNANü, Mz 24837/1352.
19 Man mußte damit rechnen, gleich hinter der letzten Frankfurter Warte Opfer eines Raubüberfalls zu werden, StAF 10.547, Vorgang Nr.22 (unsortierte Material), Anzeige des Opfers beim Peinlichen Verhöramt vom 02.10.1798.
20 Z.B. Steinmetz (1950), S.1.
21 Meininger/Döring (1810).
Im engen Zusammenhang mit dem Kriegsgeschehen spielte die jüdische Bevölkerung eine wichtige Rolle. Fast alle ihre Mitglieder waren im Warenhandel und im Geldverleih tätig. Durch ihre weitreichenden Handelsbeziehungen wurden sie vom Militär zum Beispiel für den Nachschub von lebenswichtigen Dingen (Kleidung, Lebensmittel) oder Luxusartikeln, wie Kaffee oder Tee, beschäftigt. Fast alle Gemeinden und Städte nahmen in dieser Zeit Kredite bei Juden auf, die teilweise erst in der der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts getilgt werden konnten.23 Viele von ihnen standen deshalb bei der christlichen Bevölkerung im Ruf, Reichtümer zu besitzen und ihren Reichtum durch wucherische Zinsen weiter zu mehren, ein Umstand, der ihnen das Leben gerade auf dem Lande nicht einfach machte. So entstand auch die Geschichte, daß der Vater des Schinderhannes, Johann Bückler sen., durch wucherische Juden aus seinem Besitztum in Miehlen vertrieben worden war, wie noch heute in der Bevölkerung erzählt wird.24 Zahlreiche Neider mußte es dieser Bevölkerungsgruppe auch gebracht haben, daß sie um die Wende zum 19. Jahrhundert in Kriegszeiten nicht zum Militär verpflichtet wurden.25 Zu allem Überdruß hinzu kam auch der Wegfall des Judenleibzolls in Frankreich, Österreich, Preußen und einigen kleinen deutschen Ländern (wie im Einzugsgebiet des Schinderhannes die Grafschaft Solms-Rödelheim26, die Fürstentümer Nassau-Weilburg27 und Nassau-Usingen28). Alle diese Punkte mögen manchen Menschen dazu verleitet haben, sich ohne Schuldgefühle bei der jüdischen Bevölkerung zu bedienen. Der Mainzer Gerichtspräsident Rebmann schrieb dazu: „Wenn dieser Räuber gleich manche seltsame und abscheuliche Grundsätze hegte; wie zum Beyspiel, daß (…) es keine große Sünde sey, einen Juden zu bestehlen und zu mißhandeln; so waren dieß doch meistens Früchte der ihm wie vielen tausend andern eingeimpften Vorurtheile. Ohne diese Vorurteile wäre Johann Bückler vielleicht nie der grausame Verbrecher geworden, der er ward. So, Regenten, bildet ihr in euern Staaten selbst Missethäter, eure Räuber, eure Mörder, indem ihr geflissentlich die Aufklärung eures Volkes verhindert; so bevölkert ihr selbst eure Hochgerichte mit Leichnamen, indem ihr gelassen bleibet, wenn christliche Pfarrer oder Schullehrer mit angeerbter Dummheit oder religiösen Wahnsinn die Jungen und Alten mit Haß und Verachtung gegen fremde Religionspartheyen anfüllen.“29
22 Ausführlich zu den Juden im Taunus: Marzi (1999).
23 Aufgrund der Fülle der heute noch vorhandenen Akten zu dem Thema wird hier auf eine Quellenangabe verzichtet. In jedem Rechnungsbuch der Gemeinden findet man dazu Hinweise. In vielen Dörfern haben sich dazu bis heute auch mündliche Überlieferungen erhalten.
24 Zuerst Frankfurter Staats-Ristretto, 5. Juli 1802, S.543. Auch der auf Schinderhannes recht gut zu sprechende Gerichtspräsident Rebmann war wohl dieser Meinung, siehe Anonymus (= Weitzel, 1804; 3. Neuauflage 2013), I. Abt., S.24. Als angeblicher Beweis diente dem Volk lediglich die Tatsache, daß das (vermeintliche) Geburtshaus des Räubers noch Anfang der 1930er Jahre im Besitz von Juden war, und wie die ältesten Einwohner von Miehlen damals bezeugten, war es das schon seit Menschengedenken, Lehr (1932), S. 48; vgl. Franke (1983), S.27. Die Ursache für den Weggang der Bücklers war jedoch der Leinwanddiebstahl seiner Mutter (siehe S.70, Fn.242). Das anschließend zwangsversteigerte Haus wurde von einem Juden gekauft, bei dem die Bücklers Schulden in Höhe von 46 Gulden hatten, siehe Gensicke, in: Genealogisches Jahrbuch (12), 1972, Sp.297, Fn.17 m.w.N. Das angebliche Haus der Bücklers in Miehlen ist lediglich das älteste Haus der Gemeinde, steht aber in keinem Bezug zu der Familie Bückler.
25 Arnsberg (1983), S.307.
26 Rheinländische Zeitung, Num.89, 6.Nov.1803, S.356.
27 HHStAW 150 XIVc 4512.
28 HHStAW 131 XIVc 26.
29 Anonymus (= Rebmann, 1804; 1. Neuauflage 2016), 1. Bd., S.8.
Ob nun die zahlreichen kleinen Herrschaften, die Reichsstadt Frankfurt am Main oder die neue Großmacht am Rhein, Frankreich: Alle ihre Verwaltungsorgane hatten es während der Kriegsjahre schwer, für Sicherheit zu sorgen. Die Bewohner der Dörfer und Flecken mußten ihren Schutz meist selbst in die Hände nehmen. Gerade die gebirgigen Gegenden, wie Eifel, Hunsrück, Westerwald, Taunus und Odenwald, galten von jeher als Gebiete, in denen man schnell Wegelagerern zum Opfer fiel. „Im Waldesdickicht, in Erdhöhlen, Schäferhütten, alten Mühlen und wüsten Gebäuden hauste dies lichtscheue Gesindel, bis es gute Beute witterte und dann gewöhnlich in Horden auf Raub auszog.“30 Aber man mußte nicht in die Wälder, um Opfer von Räubern zu werden: Bereits hundert Schritte von der Sachsenhäuser Warte entfernt, also kurz vor den Mauern der Reichsstadt Frankfurt am Main, lauerten zur Mittagszeit Spießgesellen, die den ersten vorbeikommenden Wagen plünderten.31 Aber auch in Frankfurt selbst waren trotz nahegelegener Polizeistationen und den Torwachen Raubüberfälle größeren Umfangs möglich, wie die erfolgreiche Plünderung der Spielbank32 oder der Überfall auf ein Privathaus durch 18 Ganoven33 zeigten.
Wie sollte man dieser Kriminalität begegnen ?
Der Frankfurter Strafrichter jener Zeit, Kriminalrath Dr. Siegler, hatte dazu seine eigenen Rechtsvorstellungen verwirklicht: Wieso sollte er noch nach dem uralten Reichsrecht für Strafsachen von 1532, der sogenannten Peinlichen Halsgerichtsordnung Kaiser Karl V., auch Constitutio Criminalis Carolina genannt, urteilen? Er war weder Anhänger der Folter34 oder der Todesstrafe35, noch Verfechter der übrigen veralteten Strafvorschriften der Halsgerichtsordnung. Die Verurteilten wurden leichten Arbeitsstrafen zugeführt und konnten im allgemeinen darauf vertrauen, nach einigen Wochen oder Monaten wieder in Freiheit zu kommen.36 Eine so fortschrittliche Regelung wie das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794, das eine Differenzierung des Strafvollzugs nach Besserungsfähigkeit des Straftäters vorsah, war vermutlich ganz nach dem Verständnis Dr. Sieglers. Die leidgeprüften Landbewohner hätten wohl kein Verständnis für solche Vorschriften oder für einen so milden Richter gehabt. Hier nahm man sein Recht oft selbst in die Hand, um einer Bedrohung Herr zu werden. In der unter Landgraf Friedrich Jacob (1708-1748) erlassenen Gerichtsordnung für das Amt Homburg wurde streng angeordnet, daß im Falle von Freibeuterei und Dieberei sofort fünf „Streiche“ mit der Glocke getan werden sollten und sich jeder Einwohner mit seiner Wehr auf dem Sammelplatz einzufinden hatte.37 Am wirksamsten waren wohl Streifen bewaffneter Mannschaften in den Wälder, um Banden aufzustöbern. Die Bürgermeister-Rechnungen und Gerichtsakten der Städte und Dörfer beweisen, daß verhältnismäßig oft „auf Räuber gestreift“ werden mußte. Die Verfolgung war aber sicherlich schwierig, denn vermutlich kannten die Räuber die Wege in ihrem Revier besser als die Suchmannschaften; sie traten gewöhnlich in irreführender Verkleidung auf, hatten überall ihre heimlichen Beschützer und Hehler: Hatte man sie ausfindig gemacht, brauchten sie gewöhnlich nur über die Grenze der kleinen Territorien zu springen, um vor ihren Häschern sicher zu sein. Eine Verfolgung in die Nachbarstaaten hinein war nicht erlaubt. Zudem machte es die Furcht der Bauern schwer, die Gaunerei einzuschränken. Es mußten ihnen sogar gelegentlich Strafen angedroht werden, weil sie die Spitzbuben nicht anzeigten. Dabei hatten die Dörfer sogar die rechtliche Möglichkeit, verdächtige Gruppen fremder Personen sogleich zu erschießen, um einem Prozeß mit ungewissem Ausgang zu umgehen. Dies sah § 2 der Kur- und Oberrheinischen Kraissanction vom 4. September 1748 vor, eine Regelung, auf die insbesondere um das Jahr 1800 nochmals besonders verwiesen wurde.38 Aber die Umsetzung dieser und anderer Vorschriften scheiterte nicht nur an der Angst der Landbewohner vor Repressalien durch Verbrecher, sondern auch an der fehlenden Abstimmung zwischen den Nachbarländern und der Passivität der Beamten (die in einigen Fällen auch mit den Ganoven zusammenarbeiteten) sowie der Mobilität der vagierenden Banden mit ihren Helfern und Helfershelfern, die gerade in der einheimischen Bevölkerung zu finden waren.
Einen anderen Weg der Strafverfolgung schlug die französische Verwaltung ein, als sie Ende 1797 die Herrschaft über die Gebiete links des Rheins übernahm. Hier galt nun das neue französische Straf- und Strafprozeßrecht39, der 1791 geschaffene Code pénal und der Code des délits et des peines von 1795. Anders als die teilweise jahrhundertealten deutschen Strafgesetze waren die neuen französischen Gesetze nach – man würde heute sagen – modernem Zuschnitt. Sie hatten dabei zu dieser Zeit sogar eine Vorbildfunktion für viele deutsche Juristen40, da der französische Strafprozeß bereits damals die (heute noch gültigen) Elemente mit der Trennung Staatsanwaltschaft – Verteidigung – Richter – Geschworene besaß und darüberhinaus die Declaration des droits de l’homme et du citoyen et l’Assemblée constituante vom 26. August 1789 und die Verfassung vom 3. September 1791 als für alle Gesetze geltende Grundlagen die Gleichheit vor dem Gesetz, das Verbot willkürlicher Haft, das Recht auf rechtliches Gehör, das Recht auf den gesetzlichen Richter, die Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Verfahrens, das Recht auf Verteidigung, das Folterverbot, das Rückwirkungsverbot und das Recht auf Verhältnismäßigkeit der Strafe garantierte. In der Praxis litt zwar vor allem in der Anfangszeit die Umsetzung dieser Vorschriften, man kann aber heute sagen, daß für die neuen französischen Gebiete im Linksrheinischen der Prozeß gegen Schinderhannes 1803 als Vorbild für alle kommenden Verfahren dienen sollte. Trotz aller Fortschritte im Prozeßrecht waren die Strafen hart – vielleicht das einzige Mittel, um mögliche Straftäter abzuschrecken: Für den Zeitraum 1796 bis 1803 verhängte man in Mainz 25mal die Todesstrafe und 44mal die Eisenstrafe41, das frühere Schiffsziehen, eine Strafe, die wohl regelmäßig aufgrund der immensen körperlichen Arbeit den Tod nach sich zog. Auch aus diesen Gründen kann man die Bitte des später in Frankfurt einsitzenden Schinderhannes verstehen, nicht nach Mainz ausgeliefert zu werden. Eine andere Maßnahme, wie die Landesverweisung, war vermutlich eher von zweifelhaftem Nutzen.42 Letztendlich aber war die Einführung der französischen Justiz links des Rheins so erfolgreich, daß sie sich nach dem Ende der französischen Herrschaft behaupten und sogar in ihren Grundzügen (wenn auch nach jahrzehntelangen Diskussionen) in ganz Deutschland durchsetzen konnte.
30 Hartmann (1952), S.2f.
31 StAF Crim. 10.547 (1798).
32 StAF Crim. 10.454 (1797).
33 StAF Crim. 10.569 (1799).
34 In Frankfurt wurde etwa um das Jahr 1750 zum letzten Mal die Folter angewandt (Eibach 2003, S.66 f., nach StAF Crim.5840, fol.115).
35 In Frankfurt verhängte und vollstreckte man im Zeitraum 1796 bis 1803 nur ein einziges Mal die Todesstrafe, siehe Scheibe (2009), S.107.
36 Ausführlich zur Frankfurter Strafjustiz Scheibe (2009).
37 In den historischen Akten finden sich fast zu jedem Ort ähnliche Anweisungen.
38 U.a. HHStAW 135 XIVa 4464 (Schreiben des Fürsten von Nassau vom 26. April 1805). Auch Frankfurt bezog sich auf diese Kreissanction (Eibach 2003, S.405, nach StAF Crim. 8795, fol. 456 [1774]).
39 Ausführlich dazu Scheibe (2009), S.144 ff.. Vgl. Hansen (1936/38), II/IV (zu einem Großteil übernommen von Grilli [1999], bei diesem allerdings mit erheblichen sachlichen Fehlern).
40 Die anfänglich offene Unterstützung des französischen Justizsystems in Deutschland wurde aber bald aufgrund der veränderten politischen Situation zugunsten der Beibehaltung der eigenen beruflichen Position (siehe z.B. aktuell bei Elsner [2002], S.29 ff., 36) oder wegen der Angst vor Verlust der Reputation (nach Angriffen auf die eigene Person z.B. bei den Göttinger Professoren Schlözer, Spittler, Meiners auch durch anonyme Briefe, in denen sie als Jakobiner oder Demokraten beschimpft wurden, siehe z.B. Hoffmann [1792], S.42-54; Kotzebue [1794], S.107) aufgegeben. Unparteilichkeit war spätestens seit Beginn des Ersten Koalitionskrieges gegen Frankreich (1792) nicht mehr möglich (Brandes an Girtanner, 1.6. 1793; in: Haase [1973], S.388). Die Göttinger Professoren Schlözer, Spittler und Meiners stellten daraufhin 1793/94 ihre Magazine „Statsanzeigen“ und „Göttingisches Historisches Magazin“ ein, die zu den ersten bedeutenden wissenschaftlichen Veröffentlichungen über die Geschehnisse in Frankreich gehörten (Elsner [2002], S.40).
41 Nach Auswertung aller 354 noch vorhandenen Strafakten dieses Zeitraums, in: Scheibe (2009).
42 Siehe u.a. Code pénal von 1791, Titel I, Art.29. Die Frauen der mit Schinderhannes hingerichteten Räuber Reinhard und Schulz wurden in die deutsche Länder abgeschoben, siehe das Endurteil im Schinderhannes-Prozeß, EU, S.32.
43 Chevalier (1815).
Will man den Menschen und Serienkriminellen Schinderhannes besser verstehen, ist es angebracht, auch andere in dieser Zeit bekannt gewordene Verbrecher bzw. Räuberbanden zu nennen. Sicherlich sind bereits damals nur wenige Kriminelle namentlich bekanntgeworden, und der größte Teil von Ihnen wird heute nicht mehr zu recherchieren sein. Schaut man sich die über 1.000 erhaltenen Strafakten der Jahre 1796 bis 1803 aus Mainz und Frankfurt an, merkt man schnell, daß Schinderhannes, aber auch die im folgenden dargestellten Personen nur einen Teil der Kriminalität jener Zeit ausmachten.44
Andreas Ludwig Balzer, genannt „Balzar von Flammersfeld” oder „Capitain noir“, wurde am 3. Oktober 1797 im Alter von 29 Jahren von dem französischen Kriegsgericht der Armee Rhin-et-Moselle, division de blocus d’Ehrenbreitstein wegen Mord, Raub und Verbreitung von Falschgeld zum Tode durch Erschießen verurteilt. Bis zu seinem gewaltsamen Ende auf der Westerburg im Kreis Altenkirchen nutzte auch er die wirren Zeiten während der ersten Jahre der Revolutionskriege, in denen er eine Wildererbande im Westerwald anführte. Nur wenig ist über ihn aus verläßlichen Quellen bekannt.46