Der Verfasser, Jahrgang 1923, begegnete 1945 in englischer Kriegsgefangenschaft einem der Pioniere des deutschen Buddhismus, dem jetzt über 95-jährigen Paul Debes. Schon während er nach Kriegsende sein Jurastudium zu Ende führte und promovierte, assistierte er bei ersten Vorträgen und Veröffentlichungen und bei dem 1948 von Paul Debes gegründeten, nach allen Seiten unabhängigen Buddhistischen Seminar. Zeitlebens war er freiwilliger Mitarbeiter der dort im 48. Jahrgang erscheinenden buddhistischen Zweimonatsschrift Wissen und Wandel. Seine Berufstätigkeit als Partner in einer patent- und wirtschaftsrechtlich spezialisierten international tätigen Rechtsanwaltskanzlei gab er nach zwanzig Jahren auf, um mehr Zeit für die Lehre des Buddha zu haben. Über 35 Jahre lang vertiefte er sich in die Pālisprache, in der die zentralen Lehrtexte des Buddha überliefert sind.
Vierzehn Jahre hat er fast ausschließlich diesem Buch gewidmet, bis es 1995 in erster Auflage erschien. Dafür hat er erstmals alle diejenigen rund 360 Lehrtexte des Pālikanon übersetzt und ausgewertet, die nicht für Mönche oder Nonnen, sondern für Menschen in Familie und Beruf bestimmt waren. Zweihundert besonders wichtige davon sind abgedruckt und eingehend erläutert. Aus ihnen filtert der Verfasser den weitgehend unentdeckten, bis in die letzten Tiefen reichenden, gleichwohl krampflos gangbaren besonderen Lehr-Gang des Buddha für Menschen in der Häuslichkeit heraus. Damit widerlegt er das verbreitete Vorurteil, die Lehre des Buddha sei eine reine Mönchsreligion. Er unterbreitet nach inzwischen 56 Jahren des Strebens nach lehrgemäßer Praxis eine durch ihre Tiefe, Ruhe, Klarheit, Frische und Exaktheit überraschende Materialfülle in Form eines erdachten Dreiergesprächs, das viele Brücken zu den Denkweisen heutiger ernsthaft suchender Menschen schlägt und auf den Stand der heutigen Naturwissenschaft, die er seit Jahrzehnten verfolgt, ebenso eingeht wie auf geistige Strömungen unserer Zeit. Die zweite Auflage wurde vollständig durchgesehen und in wesentlichen Teilen (5. und 15. Gespräch) neu gefasst. In der dritten Auflagen wurden noch einige Schreibfehler korrigiert.
Als die erste Auflage begonnen wurde, ahnte noch niemand den »Buddhismus-Boom«. Ihm wird gegenübergestellt das Zeitlose der Lehre des Buddha, der sich »der Erwachte« nannte – erwacht aus dem Daseins-Wahntraum. Er sagte von sich: »Eines nur lehre ich: das Leiden und seine Überwindung«, und von seiner Lehre: »Sie lädt ein: ›Komm und sieh selbst!‹«
Zum Selbersehen will dieses Buch einladen.
Originalausgabe. eBook-Version der dritten Auflage 2012. Copyright © by Werner Kristkeitz Verlag, Heidelberg 2016. Alle Rechte für alle Medien und jede Art der Verbreitung, Vervielfältigung, Speicherung oder sonstiger, auch auszugsweiser, Verwertung bleiben vorbehalten.
ISBN (eBook) 978-3-932337-84-0
ISBN (gedrucktes Buch) 978-3-921508-80-0
www.kristkeitz.de
Über den Autor und dieses Buch
Das einleitende Gespräch
Vorwort
I. Das Ziel der Lehre
II. Der Weg zur Erlösung
III. Die drei Abschnitte der Heilsentwicklung
IV. Fünf »Eigenschaften« (dhammā) zu Heilssinnen (indriya) entwickeln
V. Die verschiedene Gangart von Asketen und in der Welt Lebenden:
VI. Anleitungen des Buddha für Nicht-Asketen
VII. »Laien«-Buddhismus?
VIII. Grundsätze des Buddha, wen er anleitet
Erste Reihe der Gespräche:
Wie kommt ein selbstständig denkender Mensch an die Wahrheit?
1. Gespräch
Die offensichtliche Lehre?
2. Gespräch
Annäherung an nicht offensichtliche Wahrheiten
3. Gespräch
Erster Vorblick: Worauf läuft die Lehre des Buddha hinaus?
I. Erlösung von Hinneigung, Abneigung, Blendung
II. Die Komponenten der Existenz: Fünf Zusammenhäufungen durchschauen
4. Gespräch
Zweiter Vorblick – Kein Verstehen ohne Wandlung: Fünf Hemmungen überwinden
Zweite Reihe der Gespräche
Wie kann man als Nicht-Asket nach der Wahrheit leben?
5. Gespräch
Reifer Umgang mit Besitz und Wunschbefriedigung im täglichen Leben
6. Gespräch
Die sinnlichen Triebe von höchster Warte betrachtet
7. Gespräch
Rat des Buddha für Beruf, öffentliches Leben und Familie
I. Rat des Buddha für den Beruf
II. Rat des Buddha für das öffentliche Leben
III. Rat des Buddha zur Wirtschaft
IV. Rat des Buddha für das Familienleben
8. Gespräch
Wie können wir in der Vielfalt leben?
I. Der Anhalt für die Welt
II. Die Frage des Königs: Wie sollen wir in der Vielfalt leben?
III. Die zehn heilsuntauglichen und heilstauglichen Wirkensbahnen
IV. Die ehern-flexible Grundregel: Worauf sich einlassen, worauf nicht?
V. Der Feiertag des Nachfolgers (uposatha)
Dritte Reihe der Gespräche
Die Bedingungen allen Leidens und ihre Aufhebung
9. Gespräch
Karma, Wiedergeburt
10. Gespräch
Wunder? Jenseitswelten?
11. Gespräch
Der Daseinskreislauf und seine Bedingtheit
I. Wahn, das erste Glied des Bedingungszusammenhangs
II. Durch Wahn bedingt sind Gestaltungen (sankhāra)
III. Durch Vorgänge bedingt ist der (Bewusstseins-)Erfahrungsablauf (viññāna)
IV. Durch den eingespielten (Bewusstseins-)Erfahrungssuchlauf bedingt ist wertendes Nennen und Form (nāma-rūpa)
V. Durch wertendes Nennen (nāma) und Form (rūpa) bedingt ist das sechsfache Erlebnisspannungsfeld (salāyatana)
VI. Durch das sechsfache Erlebnisspannungsfeld bedingt ist Berührung (phassa)
VII. Durch Berührung bedingt ist Gefühl (vedanā)
VIII. Durch Gefühl bedingt ist Durst (tanhā)
IX. Durch Durst bedingt ist Aufgreifen (upādānā)
X. Durch Aufgreifen bedingt ist Werden (bhava)
XI. Durch Werden bedingt ist Geburt (jāti)
XII. Durch Geburt bedingt ist Altern und Sterben
Vierte Reihe der Gespräche
Der Weg zum Frieden
12. Gespräch
Durch taugliches Verhalten (sīla) zum Herzens-Frieden (samādhi)
I. Geben: Ein positiver Einstieg in die heilenden Tugenden
II. Heilende Tugend – die Vorstufe zum Frieden (samādhi)
1.) Die Tragweite der fünf Kerntugenden (sīla)
2.) Hintergrundwissen für die Übung der heilenden Tugenden
3.) Einzelfragen
4.) Wie führt Tugend zum Herzensfrieden?
13. Gespräch
Durch inneren Frieden (samādhi) zum Klarwissen (paññā)
I. Sieg über den Zorn und Herzensfriede (samādhi)
II. Sieg über die Angst und Herzensfriede
III. Herzensfriede führt zum Klarwissen
IV. Nichtmessende Liebe als Weg zum Klarwissen
14. Gespräch
Erlösendes Klarwissen
I. Klarwissen löscht den Daseinsbrand
II. Sechs Erinnerungen (anussati) ordnen das Klarwissen häuslicher Nachfolger
1.) Die Erinnerung an die Wachheit des Vollendeten
2.) Die Erinnerung an die Lehre
3.) Die Erinnerung an die Heilsgängergemeinde
4.) Die Erinnerung an die heilenden Tugenden
5.) Die Erinnerung an übermenschliche Eigenschaften
6.) Die Erinnerung an das Loslassen
15. Gespräch
Endgültig gesichert – anusāri (Nachfolger) und sotāpanna (in den Strom eingetreten)
I. Als gesicherter Nachfolger (anusāri) unumkehrbar auf dem Weg zur Heilsströmung
II. Der Eintritt in die Heilsströmung (sotāpatti)
Abkürzungen und Literatur
A. Pālikanon
B. Literatur
C. Allgemeine Abkürzungen
FRITZ: Guten Morgen Ruth, ‘Morgen, Hans. Nur herein. Setzt euch.
HANS: Nanu, bei dir sieht es so verändert aus. Das Regal voll Bücher und Mappen stand doch letztes Mal noch nicht neben deinem Stuhl. Das riecht so nach Arbeit. Was hat denn das zu bedeuten?
FRITZ: Ich schreibe ein Buch. Da habe ich alles griffbereit.
HANS: Du schreibst ein Buch! Wie soll es denn heißen?
FRITZ: Es soll heißen:
Der Buddha sprach nicht nur für Mönche und Nonnen –
die ganze Lehre erstmals nur nach seinen Reden für Nichtasketen.
RUTH: Wieso? Ist der Buddhismus nicht eine Mönchsreligion?
FRITZ: Das kann ich nicht mit drei Worten sagen. Ich habe mehrere Seiten Vorwort gebraucht, um es zu erklären.
RUTH: Ja, ist denn das Vorwort schon fertig?
FRITZ: Ja.
HANS: Vorlesen! Vorlesen!
FRITZ: Gern. Sitzt ihr bequem? Dann können wir ja anfangen:
In unserer Zeit scheinen – bis auf wenige Inseln der Besonnenheit – alle Maßstäbe verloren gegangen. Als Hüter solcher Inseln haben sich seit jeher die christlichen Kirchen verstanden. Aber der Leiter der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen muss bekennen: »Im westlichen Christentum … sind die Quellen der Spiritualität weitgehend ausgetrocknet.« [→ 1] Der Marxismus-Leninismus, der das ganze Leben »diesseitig« umfassend ordnen wollte, ist nach über 70 Jahren selbst in seinem Stammland gescheitert; der letzte Generalsekretär der KPdSU hat eingeräumt: »Die Schaffung eines sozialistischen Systems ist unreal.« [→ 2] An die Stelle prägender kultureller Grundmuster ist allgemeine Beliebigkeit getreten. Der französische Kulturphilosoph Alain Finkielkraut sagt: »Wir leben in der Zeit der Feelings; es gibt keine Wahrheit und keine Lüge, keine Stereotypen und keine Einfälle, keine Schönheit und keine Hässlichkeit mehr, sondern nur noch eine unendliche Palette von verschiedenen und gleichen Vergnügungen. Die Demokratie, die den Zugang zur Kultur für alle bringen wollte, definiert sich nun durch das Recht eines jeden auf die Kultur seiner Wahl (oder auch das Recht, seinen augenblicklichen Trieb Kultur zu nennen). ›Lasst mich mit mir machen, was ich will.‹« [→ 3]
Die Naturwissenschaft, vor allem deren Speerspitze, die Physik, hat in den letzten Jahrzehnten ihre eigenen Grundlagen so massiv in Frage gestellt, dass sie als weltlicher »Religionsersatz« ausgeschieden ist. Der Direktor des Werner-Heisenberg-Instituts am Max-Planck-Institut für Physik in München, Hans Peter Dürr, stellt fest, eine widerspruchsfreie Erklärung der mit den modernsten Denkwerkzeugen der Physik erfassten Phänomene komme »zu der überraschenden Schlussfolgerung, dass es eine objektivierbare Welt, also eine gegenständliche Realität, wie wir sie bei unserer objektiven Betrachtung als selbstverständlich voraussetzen, gar nicht wirklich gibt, sondern dass diese nur eine Konstruktion unseres Denkens ist.« [→ 4] Noch deutlicher hat Dürr bei der internationalen Tagung »Geist und Natur« 1988 in Hannover vor internationalen Spitzen-Wissenschaftlern, darunter mehreren Nobelpreisträgern, den heutigen Stand der Physik unwidersprochen wie folgt zusammengefasst:
»Unter dem starken Einfluss der Naturwissenschaft … haben wir uns daran gewöhnt, unsere Wahrnehmung von der Wirklichkeit mit der Wirklichkeit gleichzusetzen und diese Wirklichkeit sogar im Sinn einer materiell fundierten, in Teile zerlegbaren Realität zu interpretieren. Die moderne Physik hat uns da jedoch eine interessante Lektion erteilt, die zu einer tief greifenden Korrektur dieser Vorstellung führte. Sie hat uns bedeutet, dass die Vorstellung einer objektiven Realität, einer materiell ausgeprägten Wirklichkeit wohl in einer gewissen Näherung angemessen, aber als absolutes Naturprinzip unzulässig und falsch ist, ja, dass diese Vorstellung uns sogar einen tieferen Einblick in das Wesen der eigentlichen Wirklichkeit versperrt.« [→ 5]
Man muss das zwei Mal lesen: Kein Priester oder Philosoph, sondern Heisenbergs Nachfolger in einer der herausragenden Positionen der modernen Physik sagt hier nicht mehr und nicht weniger, als dass es diese vermeintliche »objektive Welt«, diese vermeintliche »materielle Realität«, die seit Descartes und Newton immer wieder gegen alles Immaterielle ins Feld geführt wurde, überhaupt nicht gibt. Und das sagt er nicht als private Glaubensäußerung, sondern als die Zusammenfassung des Standes der Spezialwissenschaft für das Physische: der Physik. Newtons Vorstellung von einer objektiven Welt als »an sich« bestehendem gewaltigem Uhrwerk hat damit den letzten Todesstoß erhalten. Damit ist zugleich auch die Vorstellung von der Spaltung in Subjekt und Objekt ins Wanken geraten.
Die Lehre des Buddha bedarf keiner modernen Bestätigung. Aber diese Entwicklungen mögen unsere verstärkte Aufmerksamkeit lenken auf den 2.500 Jahre alten ständigen, eingehend begründeten Hinweis des Buddha, die Wahrnehmung einer materiellen, unabhängig »an sich« bestehenden Welt, die die Menschen so bedrängt und ängstigt, sei ein Wahn. Je mehr wir uns das vor Augen halten, desto besser werden wir die Lehre des Buddha von der Wirklichkeit, der Entstehung und Aufhebung des aus diesem Wahn hervorgehenden Leidens und von dem Weg zu seiner Aufhebung verstehen. Und im gleichen Maß werden wir selber erfahren, warum der Buddha von seiner Lehre sagen konnte, dass sie nicht blinden Glauben fordert, sondern »einlädt: ›Komm und sieh selbst.‹« [→ 6] und: »Willkommen sei mir ein einsichtiger Mensch, offen, ehrlich, von gerader Natur. Ich unterweise ihn in der rechten Lebensführung. Ich zeige ihm die Wirklichkeit. Wenn er nach der Unterweisung sich einübt, dann wird er bald selber erfahren, selber sehen, dass er von der Binde befreit wird, und zwar von der Binde des Wahns.« (M 80) — Wo haben wir je eine solche Sprache vernommen?
Der Zusammenbruch der beiden in der Neuzeit im Westen herrschenden »objektivierenden« philosophischen Weltbilder: des Idealismus mit seinem »Reich ewiger Ideen« ebenso wie des Materialismus, hat viele Menschen auf die lange Zeit verschüttete Spiritualität aufmerksam gemacht und zu einer »Meditationswelle« geführt, die manchen Suchenden zu einzelnen beglückenden Vorstößen in das Innere verholfen hat. Doch wo blieben die erhofften Dauerwirkungen auf die Probleme ihres täglichen Lebens? Und die verbreitete Hingabe an esoterische und magische Praktiken – hat sie das Sehnen nach Orientierung stillen können? Einzelne psychologische Schulen oder Gurus haben Lösungen in Lustgewinn oder Spontaneität und Kreativität vorgeschlagen. Aber hat das nicht neue Abhängigkeiten geschaffen? — Mit ihren inneren Drängen allein gelassene antiautoritär erzogene Kinder klagen: »Wir müssen immer machen, was wir wollen.« Oder man denke an Abhängigkeiten von dem jeweiligen Guru. Wer die vielen Versuche am Dasein leidender Menschen mit Mitempfinden und Achtung betrachtet, muss erkennen: Die allgemeine Ratlosigkeit hat im letzten halben Jahrhundert trotz aller »Fortschritte« zugenommen.
Über alle »Wellen« und »Moden« hinweg sehnen sich viele Menschen nach klaren, erfahrungsbegründeten Anhalten, die gleichermaßen Gemüt und Verstand ansprechen und im praktischen Leben befriedend verwirklicht werden können. Heute finden solche Suchenden Zugang zu viel mehr Lehren als vor der »Informationsgesellschaft«. Darunter ist meist auch irgendwann die Lehre des einstigen Prinzen Siddhatto, der verkündete, er sei erwacht aus dem geistigen Schlaf und dem Daseinstraum, und daher »Buddha« – der Erwachte – genannt worden. Seit dem Erwachen könne er klar sehen und – nicht aus spekulativem Denken oder aufgrund unbegreiflicher Offenbarung, sondern aus leibhaftiger Erfahrung – als weltüberlegen Befriedeter den Mitwesen die Daseinsgesetze und den Weg zur Genesung zeigen. Diese Besonderheit spüren offene Geister, wie Carl Friedrich v. Weizsäcker: [→ 7] »Ich las die chinesischen Klassiker in Wilhelms Übersetzung, zumal die juwelengleichen kurzen Texte Dschuang Dsis, und die Reden Buddhas in K.E. Neumanns Übersetzung, die man so langsam lesen muss, dass der Atem dieser Lehre folgt, ›deren Anfang begütigt, deren Mitte begütigt, deren Ende begütigt‹. Ich habe mich seitdem, bei wacher Bewusstheit der tiefen kulturellen Differenzen, im spirituellen Asien selbstverständlicher zu Haus gefühlt als in Europa. Ich wusste: Dort gibt es Menschen, die sehen und sind.«
In den über 50 Jahren, seit ich selber, so gut ich kann, nach dieser Wegweisung lebe – immer glücklicher lebe –, erst im Beruf, dann im Ruhestand – nicht als alternativer Aussteiger, sondern unter recht normalen häuslichen Lebensumständen –, erfahre ich aber häufig: Gerade ernsthaften Suchern wird die Nachfolge erschwert durch den Irrtum, »eigentlich« sei die Lebensanleitung des Buddha nur von Asketen, Mönchen und Nonnen, zu verwirklichen. Wer sich dazu nicht durchringen könne, müsse scheitern. Die rund 360 für dieses Buch gesammelten Lehrtexte des Pālikanons für in der Welt lebende Nachfolger entziehen diesem Vorurteil die Grundlage. Dennoch wird es in der westlichen Sekundärliteratur von Wissenschaftlern, Theologen und vereinzelt sogar von Mönchen buddhistischer Länder gefördert. So nennt der Altmeister der Soziologie, Max Weber, der in seinem Werk über Religionssoziologie dem Buddhismus und Hinduismus einen eigenen Band gewidmet hat, den Buddhismus eine elitäre Mönchsreligion. [→ 8]
Der Buddhismusforscher Conze [→ 9] behauptet über die Mönche: »Nur sie sind wahre Buddhisten im eigentlichen Sinne«; nach den Ordensregeln sei es verboten, »den Wortlaut der Heiligen Schriften Nichtordinierten zu lehren« [→ 10], obwohl die Ordensregeln zur Zeit des Buddha schon deshalb nichts über »heilige Schriften« bestimmten, weil es keine gab; denn in den ersten 400 Jahren nach dem Buddha war die Lehre nur mündlich fixiert. Mehrere hundert Lehrtexte bezeugen: Der Erwachte hat auch Nichtmönchen die tiefsten Wahrheiten dargelegt. [→ 11] Einer großen Versammlung von Hausvätern hat er z. B. einmal die »tiefen, über die Welt hinausleitenden Lehrreden, die von der Leerheit handeln«, ans Herz gelegt (S 55,23). Aber das ist heute weitgehend vergessen. Zwar ist die These von der vermeintlichen »Mönchsreligion« nicht allgemein anerkannt. Und doch legt sie sich wie ein Schatten über das Gemüt mancher ernsthaft strebender westlicher Buddhisten. Diese Bedrückung wird noch dadurch verstärkt, dass tatsächlich die meisten Lehrreden des Buddha an Mönche gerichtet sind. Auch hat der Buddha häuslich lebenden Anhängern immer wieder berichtet, wie die Mönche leben und üben. Das wird oft als Aufforderung zur Nachahmung missverstanden, obwohl die genaue Betrachtung der Lehrreden diese Deutung ausschließt.
Dieses unterschwellige Missverständnis führt leicht zu Schwierigkeiten: Manche versuchen aus Unkenntnis der Hunderte von Anleitungen des Buddha für Nicht-Asketen, in Familie und Beruf so viel wie möglich asketische Lebensregeln einzuhalten. Andere ziehen aus dem dutzendfach in den Texten enthaltenen Hinweis des Buddha, Asketentum sei im Hausstand nicht vollständig zu verwirklichen, heillose Konsequenzen: Entweder sie meinen, die Lehre sei für Nicht-Asketen überhaupt nicht zu verwirklichen. So hätten es Ideale eben an sich. Und deshalb konsumieren sie die Lehre wie ein Kunstwerk voll unverbindlicher Bewunderung: Dazu sagt ein Psychotherapeut: [→ 12] »Das religiöse Konsumententum, das von Seminar zu Seminar und von spiritueller Erfahrung zu spiritueller Erfahrung flattert, kommt der Religion und der Spiritualität nicht nahe.« Wieder andere wenden sich jenen vom Buddha vorausgesagten, Jahrhunderte späteren Formen des Buddhismus zu, in denen der klare Kern der ursprünglichen Lehre mehr oder weniger dicht von Zutaten überdeckt ist, bis hin zu solchen, die – ähnlich einzelnen Strömungen der modernen Psychologie oder heutigen Gurus – lehren, die Triebe voll auszuleben, um Komplexen und Aggressionen vorzubeugen. Den Rest möchten viele »kosmischen Kräften« überlassen, die man nur in einer Gruppe »ganz entspannt im Hier und Jetzt« in sich einströmen zu lassen brauche. Wer hätte nicht schon – vielleicht gar in der eigenen nächsten Umgebung – manches Elend aus solchen Missverständnissen erlebt. Dabei gibt es in demselben Pālikanon, aus dem aus unvollständiger Kenntnis alle diese Missverständnisse hergeleitet werden, etwa 360 Reden und Lehrgespräche des Buddha und tief erfahrener Nachfolger aus seiner Lebenszeit, die ausdrücklich für in der Häuslichkeit Lebende bestimmt sind. Sie nehmen klar und einfühlend auf die Lebensumstände von Menschen in Familie und Beruf und auf das Maß ihrer inneren Möglichkeiten und Kräfte genau so Rücksicht, wie die Anleitungen für Mönche und Nonnen speziell auf deren Lebensweise und innere Möglichkeiten zugeschnitten sind. Viele dieser Aussagen sind zwar heutigen Buddhisten isoliert bekannt. Aber kaum jemand achtet darauf, welche für Asketen und welche für häuslich Lebende bestimmt waren. Paul Debes, einer der Pioniere des deutschen Buddhismus, hat gerade auch diese niemanden überfordernde Seite der Wegweisung des Erwachten in den letzten Jahrzehnten immer deutlicher herausgearbeitet. Um durch eine zusammenfassende Darstellung zu ihrer weiteren Erschließung als Lebenshilfe beizutragen, wurde dieses Buch geschrieben. Es soll Menschen, die dazu bereit sind, helfen, die Grundlagen für ihre eigenen Beurteilungen und Entscheidungen bei einem freien Hineinwachsen in eine größere Vertrautheit mit der Wahrheitssicht des Buddha zu erweitern, der in der Rede S 22,94m erklärt hat: »Wo in der Welt die Weisen übereinstimmen: ›Das gibt es nicht‹, davon sage auch ich: ›Das gibt es nicht‹. Wo in der Welt die Weisen übereinstimmen: ›Das gibt es‹, davon sage auch ich: ›Das gibt es‹.«
Von Herzen Dank sage ich den Freunden, ohne die es dieses Buch nicht geben könnte: Paul Debes, dem Gründer des Buddhistischen Seminars, der mich vor bald einem halben Jahrhundert an das Wichtigste im Leben: die Lehre des Buddha, herangeführt und bis heute darin unschätzbar gefördert hat, Ingetraut Anders-Debes, ohne deren jahrzehntelange selbstlose Hilfe als Herausgeberin, Autorin, Gesprächspartnerin, Bewahrerin und Verwalterin seines Lebenswerks er seine Arbeit nicht hätte tun können, ferner – in alphabetischer Folge – Heinz Fleck für freundschaftliche Förderung, Hellmuth und Uta Hecker für jahrelange konstruktive Anregungen [→ 13], Kurt Onken, dem Gründer und Präsidenten seiner Stiftung »Haus der Besinnung« [→ 14], das die heitere Stille für viele Arbeiten am Buch bot, für seine großzügige Förderung, Jürgen Tacke für die große Mühe seiner gründlichen Enddurchsicht [→ 15] und hilfreiche Anregungen, und allen, die durch Austausch und Da-sein geholfen haben.
RUTH: Fritz, das könnte genau das Buch werden, das mir bisher gefehlt hat: Ich weiß nicht viel vom Buddhismus. Interessiert hat er mich schon lange. Ich habe verschiedenerlei darüber gelesen, auch ein paar Vorträge gehört. Nach all dem schien mir die Lehre des Buddha etwas Besonderes zu haben, das ich sonst nirgends gefunden habe, vor allem, dass sie keinen blinden Glauben verlangt. Aber ich meinte, richtig danach leben könne man nur im Orden. Nach manchem, was mir Freunde von ihrem Urlaub in buddhistischen Ländern erzählt haben, scheint aber auch der Orden mancherorts von der westlichen Veräußerlichung angekränkelt, und einen Nonnenorden soll es ja bis vor kurzem überhaupt nicht mehr gegeben haben. Da habe ich mir gesagt: Ich mag keine halben Sachen; wenn ich unter meinen jetzigen Lebensumständen doch nicht danach leben kann, dann fange ich gar nicht erst an. Bloß zum Darüberreden steht er mir zu hoch. Du wirst dich vielleicht gewundert haben, dass ich bei unseren vielen Gesprächen nie danach gefragt habe, und ich bin dankbar, dass du nie »mit gezückter Lehre« über Hans und mich hergefallen bist. Nun weißt du den Grund. Und als ob du es geahnt hättest: Nun kommst du und schreibst ein Buch, dass man eben doch in der Häuslichkeit danach leben kann! Ich bin gespannt, wie es weitergeht.
HANS: Ich kann es auch kaum erwarten, bis das Buch fertig ist.
RUTH: Fritz, ich habe eine Idee: Wie wäre es, wenn wir regelmäßig zu dir kämen und dich über das Thema deines Buches ausfragen würden? Wir würden zulernen, du bekämst vielleicht Anregungen, und wir müssten nicht so lange warten!
FRITZ: Das ist eine wunderbare Idee, Ruth. Das Buch sollte ohnedies die Form eines Gesprächs erhalten. Jetzt weiß ich auch, wie die drei Gesprächspartner heißen sollen: Ruth, Hans und Fritz.
HANS: Hu, da geniere ich mich aber; wenn mich jemand wieder erkennt!
FRITZ: Keine Sorge: Die drei Figuren sollen nur Träger von Fragen sein, keine dramaturgisch ausgearbeiteten Charaktere. Sonst müsste ich ja auch meine eigenen Fehler und Schwächen hineinschreiben; dann würde es noch dicker. Ich denke mir einfach das erdachte Gespräch als einen Gedankenaustausch zwischen einem, der schon lange mit der Lehre des Buddha lebt, und zwei geistig offenen, Wahrheit suchenden westlichen Menschen. Den, der die Lehre schon kennt, wollte ich sowieso Fritz nennen, weil ich selber so heiße. Und da wir drei ja ständig im Gespräch miteinander sind, läge es nahe, wenn ihr meinen beiden Buchfiguren eure Vornamen leihen würdet. Das wäre – im Ernst – sogar kostengünstig: Das Buch ist eigentlich nur für wenige geeignet. Und es wird so dick, dass es nur ernstlich Interessierte in die Hand nehmen. Es wird daher nur eine bescheidene Auflage gedruckt. Bei dem Umfang, den das Buch haben wird, spielt es schon eine Rolle, dass ich durch einsilbige Namen viele Seiten sparen kann. Das Wichtigste für mich ist aber: Die Gespräche mit euch werden mir eine große Hilfe sein. Denn wenn auch die drei Gesprächspartner im Buch erfunden sind: Die Fragen sollen keine Erfindungen sein, sondern solche, wie ich sie in Jahrzehnten immer wieder höre. Seither haben sich die Zeiten, Menschen und Auffassungen geändert. Da wärt ihr mir wichtige Zeugen dafür, was eure Altersgenossen heute so denken und fragen, und im Austausch mit euch würde ich sicher auch viele Richtigstellungen empfangen. Vielleicht ergibt sich aus dem Gang unserer Gespräche sogar ein organischer Aufbau für das ganze Buch. Ich muss nämlich gestehen: Bei dieser Fülle des Stoffes habe ich noch keine klare Vorstellung über die Gliederung.
HANS: Das müsste doch bei der Lehre des Buddha leicht sein: In jedem Lexikon und in den Oberklassen der Schulen wird gesagt, dass sie aus den vier heiligen Wahrheiten besteht: vom Leiden, von der Leidensentstehung, von der Leidensaufhebung und von dem zur Leidensaufhebung führenden Weg. Da hast du doch deine Gliederung.
RUTH: Ich weiß nicht recht, Hans. Ich habe einmal in einem Radiovortrag gehört, die vier Wahrheiten seien der Gipfel der Lehre des Buddha. Von ihnen habe er erst gesprochen, nachdem er seine Zuhörer beruhigt und erhoben habe durch ein Gespräch über Geben, Tugend, Weiterleben jenseits des Todes mit oder ohne grob- oder feinstofflichen Körper je nach dem karmischen Wirken und über das Loslassen und das Elend des Begehrens. Dann erst seien die Zuhörer reif gewesen, die vier Wahrheiten zu verstehen. Danach scheint man diese vier Wahrheiten in ihrer Tiefe gar nicht richtig begreifen zu können, wenn man nur rein intellektuell darangeht. Wir könnten vielleicht mit diesen vier vorgeschalteten Lehren anfangen und dann erst die vier letzten Wahrheiten erklären, Fritz?
HANS: O je: Wenn Fritz erst seitenlang schreibt über Geben, Tugend und wie man »in den Himmel kommt«, dann sagen viele wie Gretchen im Faust: »So ungefähr sagt’s der Herr Pfarrer auch«, legen das Buch weg und denken: »Da steht ja gar nichts vom ›eigentlichen Buddhismus‹ drin.« Oder sie fangen hinten an zu lesen, weil sie meinen, Tugend sei ein naives Ideal für die heile Welt. Ideale seien nun einmal unerfüllbar, erst recht heute, wo die Welt wahrlich nicht heil sei. Wenn dein Rundfunkvortrag Recht hat, Ruth, dann könnten diese Menschen die vier Wahrheiten gar nicht kennen und verstehen lernen. Schwierig, schwierig!
FRITZ: Da liegt das Problem: Das gab es zur Zeit des Buddha noch nicht. Da war die von Ruth genannte Art, wie der Buddha die Menschen einführte, die ideale, allerdings nicht die einzige. Denn in vielen Reden ist der Buddha gleich von den manchmal bis ans Letzte rührenden Fragen seiner Zuhörer ausgegangen. [→ 16] Aber auch heute ist die Einführung über die vier »Vorschaltlehren« die geeignetste für Menschen, die in Bezug auf die Lehre noch ein unbeschriebenes Blatt sind. Das waren die meisten Zuhörer des Buddha: Entweder hatten sie überhaupt noch nichts über seine Lehre gehört oder nur den vielfach überlieferten Ruf, der ihm vorausging: »Da ist doch jetzt der Asket Gotamo angekommen, der Sakyerprinz, der aus dem Fürstenhaus der Sakyer in die Hauslosigkeit gezogen ist. Diesem erhabenen Herrn Gotamo geht der wunderbare Ruf voraus: ›Er ist der Erhabene, Geheilte, vollkommen Erwachte, der im Wissen und Wandel Vollendete, zum Heil gekommen, der Kenner der Welt, der unübertreffliche Lenker des anzuleitenden Menschen, der Meister der Himmelswesen und Menschen, erwacht, erhaben. Diese Welt samt ihren Geistern, den weltlichen und den reinen, samt ihren Scharen von Asketen und brahmisch Lebenden, Himmelswesen und Menschen lehrt er so kennen, wie er sie selber in weltüberlegenem Bewusstsein erschaut und erfahren hat. Er verkündet eine Lehre, die nach Inhalt und Aussageweise schon von Anfang an hilft, in der Mitte hilft und zum Ende hilft; das vollkommen hilfreiche [→ 17], lückenlose, vollkommen lautere brahmische Leben zeigt er auf. Glücklich, wem es vergönnt ist, einen solchen Heilskünder zu erleben.‹« [→ 18] Aber was er lehrte, wussten sie in der Regel nicht. Damalige »neue« Zuhörer waren also in einer oft schon mehr oder weniger erhobenen Erwartungshaltung. Karma und Wiedergeburt waren für sie selbstverständliche Bestandteile der Religion, in die sie hineingeboren waren, ihre bisherige Unkenntnis schützte sie gegen Vorurteile, und wenn sie doch welche hatten, saßen sie nun an der besten Quelle für eine authentische Richtigstellung.
Heute haben wir eine völlig andere Situation: Der Buddhismus ist eine Weltreligion geworden, zu der sich mehrere hundert Millionen Menschen zählen. [→ 19] Eine gewisse Kenntnis der Grundzüge der großen Weltreligionen gehört zur Allgemeinbildung und wird in Abschlussprüfungen abgefragt. Deshalb wird fast jeder Leser meinen, eine ungefähre Vorstellung vom »Buddhismus« zu haben. Aber die Nachschlagewerke belehren ihn, dass es heute, nach 2.500 Jahren, vielfältige Formen von Buddhismus gibt: Theravada, Mahāyāna, Zen, tibetischen, vietnamesischen, kambodschanischen Buddhismus, Tantra und viele andere mit je eigenen Sammlungen von Texten, die oft weit mehr als tausend Jahre nach dem Buddha entstanden sind. Die Nachschlagewerke, die ja nicht die Wahrheitsfrage beantworten, sondern über die heutigen Religionsformen informieren wollen, zählen diese Vielfalt neutral auf, und der Leser fragt sich: Welches ist denn nun der »richtige« Buddhismus?
Wer Näheres wissen will, kann zwar in der reichen wissenschaftlichen oder populärwissenschaftlichen Sekundärliteratur Rat suchen. Aber das Interesse internationaler indologischer und buddhologischer Forschung gilt heute – von Ausnahmen abgesehen – überwiegend der Geschichte der Verzweigungen der Überlieferung und Veränderung der Lehre des Buddha bis heute – wer wen worin auf welchen verschlungenen Wegen beeinflusst hat. Bei der heutigen Fortschrittsgläubigkeit meinen viele suchende Menschen: Je neuer, desto besser. Aus diesem Grund und weil viele Asiaten aus buddhistischen Ländern im Westen Zuflucht gesucht haben, sind hier gerade Spätformen wie Zen oder der tibetische Buddhismus verbreitet. Die verschiedenen Schulen vertragen sich in freundschaftlicher, vielfach herzlicher Toleranz, halten in Dachorganisationen Verbindung und betonen das Gemeinsame, besonders auch Liebe und Gewaltlosigkeit im praktischen Leben.
Doch wem die religionsgeschichtlichen, religionssoziologischen, religionspsychologischen und vergleichend-religionswissenschaftlichen Arbeiten der Fachgelehrten und richtungsübergreifende Kontakte als Lebenshilfe nicht genügen und wer deshalb Rat bei praktizierenden Nachfolgern sucht, trifft auf eine große Richtungsvielfalt, darunter Respekt gebietende und liebenswerte Persönlichkeiten, die aber den neueren Richtungen oft weit näher stehen als den ursprünglichen Quellen. Der Fülle dieser ursprünglichen Quellen sind die allerwenigsten Menschen begegnet. Viele wissen nicht einmal, dass es sie gibt. Bei andern sind sie mehr Gegenstand literarischer Verehrung oder sie sind durch spätere Umarbeitungen ersetzt – oder der Gang zu den Quellen als aufnehmender, prüfender und danach lebender Zuhörer ist zugunsten wortloser, nur in das eigene Innere blickender Meditation verpönt. Selbst im Mönchsorden in Sri Lanka, Burma und Thailand, der das unschätzbare Verdienst hat, über die Jahrtausende hinweg den Pālikanon treu überliefert zu haben, wird heutzutage von dessen drei großen Teilen in erster Linie nicht etwa der »Korb der Lehrtexte« (Sutta-Piṭaka) mit den Lehrreden und Gesprächen des Buddha und der ihn zu Lebzeiten umgebenden großen Mönche und Nonnen gelesen, sondern der ein Jahrtausend später von Mönchsgelehrten verfasste »Abhidhamma-Piṭaka«, »eine riesige Sammlung von systematisch angeordneten, tabellarisierten und klassifizierten Lehrinhalten«. [→ 20]
Wer heute versucht, Näheres über die Lehre des Buddha zu erfahren, hat sich meist aus dieser Vielfalt – schon bevor er mein künftiges Buch in die Hand nimmt –, ein »Vor«-Urteil gebildet, je nachdem, an wen unter all den achtbaren, lieben, ernsthaft um die Wahrheit bemühten Buddhisten er sich um Aufklärung gewandt hat. Und in aller Regel hat zu diesem Vor-Urteil die älteste Quelle, der Pālikanon, den geringsten, oft sogar überhaupt keinen Beitrag geleistet. Das ist dann etwa so, wie wenn ein Mensch die Lehre Jesu kennenlernen will, und er liest dazu einiges aus dem Alten Testament und studiert die Lehren der Neupythagoräer, Luthers, der Quäker, Mennoniten, Neuapostoliker, Zeugen Jehovas, die Schriften von Kierkegaard, Albert Schweitzer, Rudolf Steiner, Karl Barth, Uta Ranke-Heinemann, Kardinal Ratzinger und Eugen Drewermann. Aber er hat noch nie das Neue Testament gelesen. Wer über die Lehre des Buddha bisher nur erfahren hat von Angehörigen viele Jahrhunderte späterer buddhistischer Schulen, westlichen Wissenschaftlern, christlichen Theologen, aus Nachschlagewerken oder von Meditationslehrern, die asiatische Meditationspraktiken variieren, kann keineswegs davon ausgehen, dass sein Buddhismusbild auch nur halbwegs getreu der ursprünglichen Lehre des Buddha entspricht. Dadurch werden viele auf diesen Wegen aufgekommene Fragen, die in den tiefsten und letzten Bereich der Lehre gehören, gleich zu Anfang gestellt und debattiert, ohne dass die inneren Voraussetzungen zum Verständnis vorliegen. Die im Vergleich zur Gesamtzahl der Buddhisten in Deutschland wenigen, die aus dem Pālikanon die Mittlere und die Längere Sammlung und die Sammlungen in Versen, vor allem in der genialen, hochpoetischen Übersetzung von Karl Eugen Neumann, gelesen haben, können zwar eine ferne Ahnung von der unnachahmlichen Atmosphäre der Lehre, vom »Geschmack der Erlösung« gewinnen. Aber auch hier stehen zahlenmäßig die Anleitungen für Mönche und Nonnen im Vordergrund. Auch die Leser der vorliegenden Übersetzungen mühen sich daher heute mit Fragen und vor allem mit Übungen, vor die sie der Buddha nicht gleich in ihrer gegenwärtigen Verfassung – und sofern es Asketenpraktiken waren, überhaupt nie – gestellt hätte. Da kann ich aber im Buch schwerlich immer nur sagen: »Wartet bis später; das könnt ihr jetzt noch nicht verstehen; versteht erst einmal richtig, was Geben und Tugend bedeutet.« Ich stelle mir deshalb den Lauf des erdachten Gesprächs so vor, dass wir in Spiralen durch die Texte aufwärts wandern. Wo es sich gerade ergibt, werden auch Fragen über das Letzte angesprochen, die erfahrungsgemäß viele Menschen heute aufgrund ihrer Vorinformationen gleich zu Anfang stellen. Die würden sie sonst als verständnishemmende Last weiterschleppen. Deshalb soll darauf zwar, wie in wirklichen Gesprächen, gleich eingegangen werden, aber nur so weit, dass die Betrachtung vorläufig in eine von Vorurteilen möglichst wenig getrübte Richtung gelenkt wird und eine einstweilige Grundlage für eine spätere Behandlung entsteht.
RUTH: Deine Leser werden sehr unterschiedliche Menschen sein. Da ist es kaum zu vermeiden, dass der eine Leser eine Stelle nicht versteht, die einer anderen Leserin gerade besonders einleuchtet und umgekehrt. Wie kannst du da helfen?
FRITZ: Ich werde schreiben, dass es in solchen Fällen oft das Beste ist, sich nicht an einer unverstandenen Stelle »festzubeißen«, sondern erst ruhig weiterzulesen: Die Darstellung wird so breit angelegt, dass sich meist an einer anderen Stelle der Zweifel lösen wird. Ich möchte herausstellen, dass volles Verständnis nicht nur Information, sondern Transformation, innere Wandlung voraussetzt, so bescheiden sie auch sein mag. Es liegt mir viel daran, bei Aufbau und Darstellungsweise zwar auf die heute ganz andere Situation der Leser Rücksicht zu nehmen – aber ohne jemanden nach dem Munde zu reden oder danach zu schielen, »was zurzeit ankommt«. Ich möchte verständlich machen: Es geht um eine Lehre, die der Buddha selber bezeichnet hat als »tiefe Lehre, nicht leicht zu verstehen, nicht leicht zu erkennen, still, erhaben, dem bloßen Denken allein nicht zugänglich, von feinster Genauigkeit, nur vom Weisen erfahrbar« [→ 21] – wobei unter einem Weisen nicht verstanden wird, wer über viele Informationen verfügt, sondern wer sein Inneres so gewandelt, geschlichtet und beruhigt hat, dass er klar sehen kann. Wer es überhaupt ernsthaft auf sich nimmt, zu meinem künftigen Wälzer zu greifen, wird in der Regel zu diesem Vorgehen in der Lage sein. Der herzlichen Achtung für alle, die dazu bereit sind, bin ich es schuldig, für die Begegnung mit der Lehre des Buddha die sicherste und verlässlichste Grundlage zu bieten, die man einem selbstständig denkenden Menschen bieten kann: indem ich mich in dem Wust von Schriften aus zwei Jahrtausenden an den Spruch von Angelus Silesius halte: [→ 22]
Mensch, in dem Ursprung ist
das Wasser rein und klar.
Trinkst du nicht aus dem Quell,
dann bist du in Gefahr.
HANS: Dann willst du also von den Sanskrit-Texten ausgehen?
FRITZ: Nein, Hans; das sind nicht die ursprünglichen. Sanskrit war die altindische Gelehrtensprache, vergleichbar dem Kirchenlatein. Im Sanskrit sind die Lehr- und Dogmengebäude der Veden und Upanishaden überliefert, und die Jahrhunderte nach dem Buddha entstandenen abweichenden buddhistischen Schulen in Indien bedienten sich dieser Gelehrtensprache. Aber die ältesten Texte des Buddha und seiner Zeitgenossen sind in der Pālisprache überliefert.
HANS: Wird die heute noch gesprochen?
FRITZ: Nur noch im Orden. Aber zur Zeit des Buddha und lange danach diente sie in weiten Teilen Indiens als ein Zwischending zwischen Dialekt und Hochsprache, als eine »Verständigungssprache«, die jeder verstand. Die indischen Dialekte waren zur Zeit des Buddha noch nicht zu verschiedenen Sprachen auseinander getreten; jeder verstand jeden, und ein Wechseln von einem Dialekt in den andern wurde nicht als Übersetzung empfunden, sodass gar kein Bedürfnis für eine besondere Hochsprache bestand. [→ 23]
RUTH: Dann war also Pāli und nicht Sanskrit die Ursprache des Buddhismus?
FRITZ: Auch nicht: Weil im Wandergebiet des Buddha jeder jeden verstand, konnte jeder mit jedem in der eigenen vertrauten Sprachform über die Lehre sprechen. Darüber sind sich heute auch die Fachgelehrten einig. Im Protokoll eines internationalen Kongresses 1976 über »Die Sprache des ältesten Buddhismus« heißt es darüber: »Es scheint klar, dass es nicht nur eine einzige Sprache oder einen einzigen Dialekt gab, die vom Buddha für seine Reden verwendet wurden, und es ist deshalb unkorrekt, von einer ›Ursprache‹ des Buddhismus zu sprechen.« [→ 24] In den Ordensregeln [→ 25] hat denn auch der Buddha ausdrücklich bestimmt, dass auch seine Mönche und Nonnen die Lehre nicht in der Gelehrtensprache Sanskrit lernen und lehren sollten, damit sie lebendig bleibt und nicht zu einem Dogmengebäude erstarrt.
HANS: Ja, kannst du denn Pāli sprechen?
FRITZ: Sprechen nicht, nur lesen, aber wegen der Genauigkeit mit Pāli-Englisch-Wörterbuch und Grammatik in Griffweite.
HANS: Dann hast du aber doch die Pālischrift lernen müssen?
FRITZ: Die hat es nie gegeben. Pālitexte wurden jeweils in der Schrift des Gebietes aufgezeichnet, für das sie bestimmt waren. [→ 26]
HANS: Dann musst du ja sogar mehrere von diesen asiatischen Kringelschriften entziffern!
FRITZ: Nein. Die inzwischen über hundertjährige Pāli Text Society in London hat sämtliche Texte des Pālikanons in lateinische Schriftzeichen übertragen – ein kaum abzuschätzendes Verdienst!
HANS: Du hast also auch unter dem älteren buddhistischen Schriftgut keine chinesischen oder tibetischen oder Zen-Texte ausgewertet, nur den Pālikanon?
FRITZ: Ja. Die fernöstlichen Schulen haben sich erst Jahrhunderte, teilweise mehr als tausend Jahre später aus der ursprünglichen Lehre des Buddha abgespalten, nachdem die 500 Jahre abgelaufen waren, auf welche der Erwachte den reinen Bestand seines Ordens in A VIII,5m ziemlich auf das Jahr genau vorausgesagt hatte. [→ 27]
HANS: Das ist aber eine Riesenarbeit, den ganzen Pālikanon auszuwerten.
FRITZ: Nicht den ganzen. Nur einen seiner drei »Körbe«. Der Pālikanon wird nämlich auch »Dreikorb« (Ti-Piṭaka) genannt, weil seine drei Teile auf Palmblätter geschrieben waren, die in Körben von Kloster zu Kloster transportiert wurden. Von diesen dreien wird hier nur der »Korb der Lehrtexte« [→ 28] (Sutta-Piṭaka) verwendet, nur selten der »Korb der Ordenszucht« (Vinaya-Piṭaka = wörtlich: »Korb der Zurechtführung«), der nur die Ordensregeln für Mönche und Nonnen betrifft, und überhaupt nicht der viele Jahrhunderte jüngere »Korb der Scholastik« (Abhidhamma-Piṭaka [→ 29] ), von dem ich gerade erzählt habe. (Der in manchen Kreisen bekannte scholastische Kommentar, den der Mönchsgelehrte Buddhagosa etwa ein Jahrtausend nach dem Buddha verfasst hat, gehört, wie andere Kommentare, gar nicht mehr zum Pālikanon, auch nicht zum Abhidhamma-Piṭaka [→ 30] ).
Die rund 360 Lehrtexte, die für in der Häuslichkeit lebende Menschen wie du und ich bestimmt waren, stammen alle aus den fünf Sammlungen (nikāya) des Korbs der Lehrtexte: der Längeren Sammlung (Dīgha-Nikāya), der Mittleren Sammlung (Majjhima-Nikāya), der Angereihten Sammlung (Anguttara-Nikāya), der Gruppierten Sammlung (Samyutta-Nikāya) und der Kürzeren Sammlung (Kuddaka-Nikāya), zu der u. a. die Sammlungen Suttanipāta (wörtlich: »Sammlung von geordneten Lehrtexten«), Udāna (wörtlich etwa: »Kernsprüche zum Aufatmen«) und Itivuttaka gehören, ferner die Strophen der Mönche und Nonnen (Theragāthā und Therīgāthā). Davon liegen alle in deutscher Übersetzung vor. [→ 31]
HANS: Die Anhänger des tibetischen Buddhismus müssen Tibetisch lernen. Muss man eigentlich Pāli lernen, wenn man sich für den ursprünglichen Buddhismus interessiert?
FRITZ: Nein. Ich hatte sogar anfangs vor, so wenig wie möglich Pāli zu zitieren. Im Interesse einiger seit Jahren in Asien abgeschieden lebender deutscher Mönche werde ich es aber doch tun. Bei der Ausdruckskraft und Präzision des Pāli ist das beim Erklären oft eine Hilfe, und manche Leser wird es auch freuen, Beispielen für Tiefe und Wohlklang dieser indogermanischen Sprache zu begegnen. Aber wer nicht selber übersetzen will, braucht nicht zu fürchten, er müsse Pāli lernen. Fast alle Schriften des Sutta-Piṭaka liegen in deutschen Übersetzungen vor, und mein Buch wird ja alle darin behandelten Texte in Übersetzung anbieten.
HANS: Musst du aber nicht für das Zitieren von Pāliwörtern viele besondere Schriftzeichen verwenden mit Pünktchen oder Strichen darunter oder darüber?
FRITZ: Eigentlich schon. Ich werde es aber nur da tun, wo es für die Bedeutung eines Wortes eine Rolle spielen kann, um den Aufwand in Grenzen zu halten.
RUTH: Die Texte für häuslich Lebende sind wohl in erster Linie in den Sammlungen mit kürzeren Texten enthalten?
FRITZ: Zu meiner eigenen Überraschung ist es umgekehrt: Insgesamt fast ein Drittel aller Texte der Mittleren und der Längeren Sammlung sind für in der Welt lebende Menschen bestimmt: Von den 152 Texten der Mittleren Sammlung 42, von den 34 der Längeren 14. In den Sammlungen mit vielen, meist kurzen Texten, der Angereihten und der Gruppierten Sammlung, sind dagegen über 90 % für Mönche und Nonnen: Von den etwa [→ 32] 1.600 Texten in der Angereihten Sammlung sind nur 126 für in der Häuslichkeit Lebende, von den rund 1.200 in der Gruppierten Sammlung nur 117. Allerdings sind die in diesen beiden Sammlungen enthaltenen 10 % Texte für Nicht-Asketen ganz besonders auf die Lebensverhältnisse in der Häuslichkeit spezialisiert. Hinzu kommen noch 25 Reden für in der Welt lebende Anhänger aus den Sammlungen in Versen, davon allein 11 aus dem großenteils sehr alten Suttanipāta. Überrascht hat mich auch: Unter den 152 Texten der Mittleren Sammlung sind 24 eingeordnet in Kapitel, die nach in der Welt lebenden Zuhörern des Buddha benannt sind, nämlich 15 ins »Buch der Hausväter« [→ 33] und zehn ins »Buch der Brahmanen«. [→ 34] Dennoch reichen von den Texten im Buch der Hausväter zwei Drittel bis in die Dimension der Spitzenlehre des Erwachten, von den neun im Buch der Brahmanen immerhin vier. Noch erstaunlicher verhält es sich in der Gruppierten Sammlung. In ihrer 35. Gruppe heißt das Kapitel III ebenfalls »Kapitel der Hausväter«. Es enthält aber keine »Rezepte für buddhistisches Hausleben«, sondern nur Gespräche mit häuslich Lebenden über die tiefsten Fragen.
HANS: Fritz, du bringst doch sicher auch einige von den schönen Versen aus dem Wahrheitspfad?
FRITZ: Kaum. Das »Dhammapada« (Wahrheitspfad), ebenfalls aus der Kürzeren Sammlung des Korbes der Lehrtexte, ist zwar alt [→ 35] und bis heute beliebt und verbreitet. Aber außer bei Versen, die aus anderen Sammlungen übernommen sind, lässt sich kaum klären, ob sie zu Mönchen oder in der Welt Lebenden gesprochen waren. Ähnlich ist es meist bei den in Indien immer noch beliebten Jātaka, Erzählungen über frühere Wiedergeburten des Buddha. Aber beides kann man leicht verschmerzen: Es gibt 12 deutsche Übersetzungen des Dhammapada [→ 36]; Nacherzählungen der schönsten Jātaka gibt es in der »Schatzkiste« des Buddhistischen Seminars. [→ 37] Und es bleiben ja immer noch die rund 360 Texte für in der Häuslichkeit Lebende.
HANS: Diese Fülle ist schon beeindruckend. Aber in deinem Vorwort steht, der Pālikanon sei die ersten vierhundert Jahre nach dem Buddha nur mündlich überliefert worden. Seither sind über 2.000 Jahre vergangen. Kann man sich denn da auf diese Überlieferung überhaupt noch verlassen?
FRITZ: Natürlich gibt es in jeder alten Überlieferung Fehler. Aber bei den Texten des Pālikanons – jedenfalls im Korb der Lehrreden – sind es erstaunlich wenige. Sie betreffen entweder Nebensachen oder sind bei der Fülle der Texte durch Vergleich leicht richtig zu stellen. Nach Jahrzehnten kann ich nur sagen: In der Textfülle stimmt eines genau zum anderen, wie die Zellen eines Körpers sich aneinanderfügen. Und oft genug geht erst nach Jahren bei Textstellen, hinter denen man zunächst Überlieferungsfehler vermutet hatte, eine ganz neue, ungewohnte Sicht auf.
HANS: Ja, aber zweieinhalbtausend Jahre alt und vierhundert Jahre nur mündliche Überlieferung! Das kann doch nicht gut gehen!
FRITZ: Die Veden und Upanishaden sind viel älter und ihre Textmassen noch größer. Sie waren im Westen schon Gegenstand wissenschaftlicher Forschung, als der Pālikanon noch unbekannt war. Dennoch sind sich die Indologen einig, dass sie wortwörtlich und sogar mit den Betonungszeichen zusammen durch die Jahrtausende auf uns herabgekommen sind. [→ 38] Klaus Mylius, Professor für Sanskritistik und indische Altertumskunde an der Universität Leipzig, schreibt, dass »die mündliche Überlieferung über viele Jahrhunderte hinweg das einzige Mittel der Textbewahrung darstellte. Sie war vorwiegend an brahmanische, priesterliche Schulen geknüpft, die geradezu einzigartige mnemotechnische Leistungen vollbrachten. Daraus erklärt es sich, dass besonders religiöse Texte mit größter, ja absoluter Genauigkeit überliefert wurden.« [→ 39] Solche Schulen gab es auch für die Texte des Buddha. [→ 40]
HANS: – ›Mit absoluter Genauigkeit‹ – kaum zu fassen. So viel kann doch kein Mensch auswendig behalten!
RUTH: Ja nun, was müssen auch heute noch Schauspieler oder Sänger bei langen Rollen auswendig lernen. Oder Dirigenten, die ganze Opern mit 80-100 verschiedenen Orchesterstimmen, Sängern und Chören auswendig dirigieren!
FRITZ: Noch zur Zeit unserer Eltern und Großeltern konnten manche Menschen die Bibel auswendig. Und kürzlich las ich den Brief einer deutschen Buddhistin, die wenige Monate zuvor in Burma nicht weniger als fünf Mönche angetroffen hat, die als »dhamma-dhāraka«, Bewahrer der Lehre, gelten, weil sie den ganzen Sutta-Piṭaka auswendig können; ein Foto lag bei und zeigte beeindruckende Gestalten. Mit einem wesentlich verfeinerten methodischen Instrumentarium [→ 41] wurden von der heutigen indologischen Sprachforschung und Quellenkritik die besonderen Gesetze der mündlichen Überlieferung entdeckt und geklärt. So sind inzwischen die meisten Fachwissenschaftler zu der Erkenntnis gekommen, dass keines der noch vor wenigen Jahren für Zweifel an der Treue der Überlieferung des Pālikanons angeführten sprachwissenschaftlichen oder quellenkritischen Argumente standhält.