EINFÜHRUNG

Ich kann auch malen

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Aus Leonardos Notizbüchern (um 1495): eine Skizze für Das Letzte Abendmahl, geometrische Studien zur Quadratur des Kreises, oktogonale Kirchenentwürfe und eine Passage in Spiegelschrift.

Als Leonardo an der Schwelle zu seinem dreißigsten Lebensjahr stand, schrieb er einen Bewerbungsbrief an Ludovico Sforza, den Herrscher von Mailand, und zählte darin die Gründe auf, die für seine Anstellung sprachen. In Florenz war er als Maler leidlich erfolgreich gewesen, hatte zuweilen jedoch Schwierigkeiten gehabt, seine Aufträge zu beenden. Nun suchte er nach neuen Herausforderungen.

In den ersten zehn Absätzen seines Schreibens stellt Leonardo seine technischen Fähigkeiten heraus, ebenso sein Können beim Entwerfen von Brücken, Kanälen, bewehrten Fahrzeugen und öffentlichen Bauten. Erst ganz am Ende, im elften Absatz, merkt er an, darüber hinaus auch ein Künstler zu sein. »Ferner werde ich (…) in der Malerei wohl etwas leisten, was sich vor jedem anderen, wer immer es auch sei, sehen lassen kann«, schreibt er.1

Ja, malen konnte Leonardo. Tatsächlich sollte er später zwei der berühmtesten Bilder der Welt, Das Letzte Abendmahl und die Mona Lisa, erschaffen. Doch nach seiner eigenen Auffassung war er ebenso ein Mann der Wissenschaft und Technik. Mit einer verspielten und zugleich obsessiven Leidenschaft betrieb er wegweisende Studien: zu Anatomie, Fossilien, Vögeln und Flugmaschinen, über Optik, Botanik und Geologie, zu Wasserbewegungen und Waffenkunde und über das Herz. Er wurde zum Archetypen eines Renaissancemenschen und zur Inspiration für all jene, die glaubten, die »unendlichen Werke der Natur« – wie er es nannte – seien allesamt in einem mit wunderbaren Formen angefüllten Ganzen miteinander verwoben.2 Seine Fähigkeit, Kunst und Wissenschaft miteinander zu verbinden, die nicht zuletzt in seiner als Vitruvianischer Mensch bekannten Zeichnung eines ideal proportionierten Mannes innerhalb eines Kreises und Quadrates zum Ausdruck kommt, machte ihn zum kreativsten Genie aller Zeiten.

Leonardos wissenschaftliche Untersuchungen inspirierten sein künstlerisches Schaffen. Er zog Leichnamen die Gesichtshaut ab, beschrieb die Muskeln, die die Lippen bewegten – und malte dann das berühmteste Lächeln aller Zeiten. Er studierte menschliche Schädel, machte Schichtzeichnungen von Knochen und Zähnen – und stellte anschließend die asketische Agonie am Körper des Heiligen Hieronymus dar. Er erforschte die mathematischen Grundlagen der Optik, zeigte, wie Lichtstrahlen auf die Hornhaut treffen – und erschuf die magischen Illusionen der wechselnden Perspektiven in Das Letzte Abendmahl. Durch seine Studien zu Licht und Optik perfektionierte er den Gebrauch von Schattierungseffekten und Perspektive auf der Leinwand, sodass es ihm gelang, auf einer zweidimensionalen Oberfläche Gegenstände dreidimensional wirken zu lassen. Die Fähigkeit, eine plane Oberfläche wie einen erhabenen Körper und losgelöst von der Fläche erscheinen zu lassen, war nach Leonardos Ansicht »die erste Aufgabe des Malers«.3 So wurde die Darstellung von Räumlichkeit nicht zuletzt dank seiner Arbeiten zu einer der größten Neuerungen der Renaissancekunst.

Mit zunehmendem Alter verfolgte Leonardo seine wissenschaftlichen Studien immer weniger um der Vervollkommnung seiner Kunst willen, sondern aus dem tiefen Bedürfnis heraus, die Schönheit der Schöpfung zu ergründen. Als er sich mit der Frage befasste, warum der Himmel blau erscheint, tat er dies nicht allein seiner Malerei wegen. Seine Neugier ging tiefer und war auf liebenswerte Weise fanatisch.

Dennoch lassen sich Leonardos Gedanken über den blauen Himmel und seine Wissenschaft nicht von seiner Kunst trennen. Sie waren die Triebfedern einer Leidenschaft, die alles wissen wollte, was es über die Welt zu wissen gab und wie der Mensch in sie hineinpasst. Er hatte Ehrfurcht vor der Natur und ein Gefühl für die Harmonie ihrer Zusammenhänge, die er im Kleinen wie im Großen erkannte. In seinen Notizbüchern zeichnete er Haarlocken, Wasserstrudel oder Luftwirbel und stellte Berechnungen über die mathematischen Grundlagen solcher Spiralen an. Als ich in Windsor Castle die wallende Kraft der »Sintflutzeichnungen« bewunderte, die Leonardo am Ende seines Lebens angefertigt hatte, fragte ich den Kurator Martin Clayton, ob er glaube, dass Leonardo sie als Kunstwerke oder aus wissenschaftlicher Neugier geschaffen habe. Noch während ich sprach, erkannte ich, wie dumm meine Frage war. »Ich denke nicht, dass Leonardo diese Unterscheidung gemacht hätte«, antwortete er.

Ich habe mit diesem Buch begonnen, weil Leonardo da Vinci das ultimative Beispiel für das Leitthema meiner früheren Biografien ist. In denen ging es mir um die Frage, wie die Fähigkeit, unterschiedliche Disziplinen, nämlich Kunst, Technik, Natur- und Geisteswissenschaften, miteinander zu verknüpfen, zum Schlüssel für Innovation, Vorstellungskraft und Genialität wird. Benjamin Franklin etwa, mit dem ich mich vor einer Weile befasst habe, war der Leonardo seiner Zeit. Ohne Schulbildung formte er sich selbst zu einem einfallsreichen Universalgelehrten und Aufklärer, der Amerikas bester Wissenschaftler, Erfinder, Diplomat, Autor und Geschäftsstratege wurde. Er ließ einen Drachen steigen und fand heraus, dass es sich bei Blitzen um elektrische Phänomene handelt, woraufhin er den Blitzableiter erfand. Er entwickelte die Bifokalbrille, Heizöfen, Musikinstrumente, erstellte eine Karte des Golfstroms und begründete den einzigartigen schlichten amerikanischen Humor.

Wenn Albert Einstein bei der Entwicklung seiner Relativitätstheorie nicht weiterkam, holte er seine Geige hervor und spielte Mozart, weil ihm das half, mit den Harmonien des Universums wieder in Einklang zu kommen. Ada Lovelace, die ich in einem Buch über Erfinder porträtierte, verband die poetische Sensibilität ihres Vaters Lord Byron mit der Liebe ihrer Mutter zur Mathematik, um einen Universalrechner zu entwerfen. Steve Jobs pflegte den Höhepunkt seiner Produkteinführungen mit einem Bild von Straßenschildern einzuleiten, die für die Überschneidung von Technologie und freien Künsten standen. Leonardo war sein Held. »Er sah die Schönheit in Kunst und Technik gleichermaßen«, sagte Jobs, »und es war seine Fähigkeit, diese beiden Disziplinen miteinander zu verbinden, die ihn zum Genie machte.«4

Ja, er war ein Genie: unfassbar einfallsreich, leidenschaftlich neugierig und auf mehreren Gebieten kreativ. Dennoch sollten wir Vorsicht walten lassen bei der Verwendung dieses Begriffs. Leonardo mit dem Etikett »Genie« zu versehen macht ihn erstaunlicherweise kleiner, als er ist. Es ist beinahe so, als sagte man, er sei erleuchtet worden. Giorgio Vasari, ein Künstler des 16. Jahrhunderts und früher Biograf Leonardos, beging genau diesen Fehler: »Zuweilen vereinen sich allerdings auf übernatürliche Weise in einem einzigen Körper Schönheit, Anmut und Tugend im Übermaß, so dass dieser Mensch, wohin er sich auch wendet, in allen seinen Taten göttlich ist und sich, alle anderen hinter sich lassend, als etwas zu erkennen gibt, das in der Tat von Gott geschenkt und nicht durch menschliche Fähigkeiten erworben wurde.«5 Tatsächlich beruhte Leonardos Genie jedoch auf seinem eigenen Willen und Ehrgeiz; ebenso wenig wie Newton oder Einstein wurde er von Gott mit einem so leistungsfähigen Intellekt ausgestattet, dass sich dieser dem Begriffsvermögen von uns Normalsterblichen entziehen könnte. Leonardo hatte so gut wie keine Schulausbildung und konnte nur schlecht Latein oder schriftlich dividieren. Sein Genie war von einer Art, die wir verstehen und von der wir sogar lernen können. Es basierte auf Neugier und genauer Beobachtung, auf Fähigkeiten also, die wir selbst besitzen und an deren Verbesserung wir arbeiten können. Außerdem hatte er eine so ausgeprägte Vorstellungskraft, dass es schon an Fantasterei grenzte – auch dies etwas, das wir uns bewahren und bei unseren Kindern fördern sollten.

Leonardos Fantasie durchdrang alles, womit er sich befasste: seine Theaterinszenierungen, seine Pläne, Flüsse umzuleiten, seine Zeichnungen idealer Städte, seine Entwürfe von Flugmaschinen und beinahe jeden Aspekt seiner Kunst und Ingenieurskunst. Sein Brief an den Herrscher von Mailand ist ein Beispiel dafür, denn seine militärtechnischen Fähigkeiten schlugen sich zu diesem Zeitpunkt vor allem in seiner inneren Vorstellung nieder. Seine Aufgabe bei Hof bestand zunächst auch nicht im Bau von Waffen, sondern in der Inszenierung von Festspielen. Selbst auf dem Höhepunkt seiner Karriere waren die meisten seiner Kampf- und Flugapparate eher visionär als praktisch einsetzbar.

Zuerst dachte ich, Leonardos Anfälligkeit fürs Fantasieren sei eine Schwäche, ein Zeichen für den Mangel an Disziplin und Sorgfalt, die in seiner Neigung ihren Ausdruck fand, Kunstwerke und Abhandlungen nicht fertigzustellen. Im Prinzip lag ich damit auch richtig, denn ohne ihre Umsetzung bleibt jede Vision eine Halluzination. Aber ich gelangte auch zu der Erkenntnis, dass seine Fähigkeit, die Grenze zwischen Fantasie und Realität zu verwischen, entscheidend für seine Kreativität war, denn ohne Vorstellungskraft bleibt jedes Können fruchtlos. Weil Leonardo jedoch Beobachtung und Vorstellungskraft miteinander zu verbinden wusste, machte ihn das zum perfekten Erfinder.

Mein Ausgangspunkt für dieses Buch waren nicht Leonardos künstlerische Meisterwerke, sondern seine Notizbücher. Sein Geist enthüllt sich meines Erachtens am besten in den über 7200 Seiten seiner Notizen und Kritzeleien, die wie durch ein Wunder bis heute erhalten sind. Papier erweist sich damit einmal mehr als ein hervorragender Datenspeicher, dessen Inhalte auch nach fünfhundert Jahren noch lesbar sind, was unseren heutigen Tweets wohl kaum gelingen wird.

Glücklicherweise konnte Leonardo es sich nicht leisten, Papier zu verschwenden, sodass jeder Quadratzentimeter seiner Seiten mit unterschiedlichsten Zeichnungen und Spiegelschriftnotizen vollgestopft ist. Sie scheinen willkürlich zu sein, liefern in Wahrheit jedoch tiefe Einblicke in seine Gedankensprünge und Assoziationen. Ohne erkennbaren Grund nebeneinandergekritzelt finden sich mathematische Berechnungen, Skizzen seines jungen Liebhabers, Zeichnungen von Vögeln, Flugmaschinen, Theaterrequisiten, Wasserstrudeln, Blutgefäßen, grotesken Köpfen, Engeln, Siphons, Pflanzenhalmen und zersägten Schädeln. Hinzu kommen Ratschläge anderer Maler, Bemerkungen über Augen und Optik, Waffen und Krieg, Fabeln, Rätsel und Malstudien. Die fächerübergreifende Brillanz quillt geradezu aus jeder Seite und gewährt wundervolle Einblicke in einen Geist, der mit der Natur tanzt. Leonardos Notizbücher sind das umfassendste die menschliche Neugier belegende Zeugnis, das jemals geschaffen wurde, ein wundersamer Führer zu einer Person, die der bedeutende Kunsthistoriker Kenneth Clark »in seiner unnachgiebigen Neugier (…) einmalig in der Geschichte«6 nannte.

Meine Lieblingspreziosen in seinen Notizbüchern sind die von Wissensdrang diktierten To-do-Listen. Eine von ihnen, in den 1490er-Jahren in Mailand entstanden, besteht aus einer Auflistung von Dingen, die er gerne tun und lernen möchte. »Mailand und seine Vororte vermessen«, lautet der erste Eintrag. Dieses Vorhaben hat einen ganz praktischen Grund, der sich auf einen anderen, weiter unten in der Liste erscheinenden Punkt bezieht: »Mailand zeichnen.« Andere Einträge zeigen, wie sehr er auf der Suche nach Menschen war, deren Hirn er anzapfen konnte: »Lass dir von einem Meister der Rechenkunst zeigen, wie man ein Dreieck quadriert (…). Erkundige dich bei Giannino Bombardieri, wie der Turm von Ferrara aufgemauert wurde …). Frag Benedetto Protinari, wie man in Flandern über das Eis läuft (…). Lass dir von einem Meister der Wasserbaukunst erzählen, wie man ein Schleusentor, einen Schiffskanal und eine Mühle auf lombardische Art instand setzt (…). Lass dir von Maestro Gianni Francese, dem Franzosen, die versprochenen Maße der Sonne geben.«7 Sein Wissensdurst scheint wahrlich unstillbar gewesen zu sein.

Wieder und wieder, Jahr um Jahr, listet Leonardo Dinge auf, die er tun und lernen muss. Einige davon betreffen detaillierte Beobachtungen, mit denen die meisten von uns sich nur selten aufhalten. »Beobachte den Fuß der Gans. Wäre er immer in der gleichen Weise ausgebreitet oder geschlossen, so könnte das Tier überhaupt keine Bewegung machen.« Andere Einträge drehen sich um Warum-ist-der-Himmel-blau-Fragen, Phänomene also, die scheinbar so alltäglich sind, dass wir uns keine Gedanken darüber machen. »Warum ist der Fisch im Wasser schneller als der Vogel in der Luft, obgleich es umgekehrt sein sollte, da das Wasser schwerer und dichter ist als die Luft …?«8

Am besten sind die vollkommen wahllos erscheinenden Einträge. »Beschreibe die Zunge des Spechts«, weist er sich selbst an.9 Wer auf dieser Welt würde eines Tages ohne erkennbaren Grund plötzlich wissen wollen, wie die Zunge eines Spechts aussieht? Es ist keine Information, die Leonardo zum Malen eines Bildes oder für das Verständnis des Vogelfluges benötigt hätte. Aber es gibt, wie wir noch sehen werden, tatsächlich faszinierende Dinge über die Spechtzunge zu lernen. Der Hauptgrund für sein Interesse war jedoch der Umstand, dass Leonardo eben Leonardo war: neugierig, leidenschaftlich, stets von Staunen erfüllt.

Zu den kuriosen Einträgen gehört dieser: »Geh jeden Samstag ins heiße Bad, wo du Nackte sehen wirst.«10 Man darf getrost davon ausgehen, dass Leonardos Interesse nicht nur anatomischer, sondern auch ästhetischer Natur war. Aber musste er wirklich sich selbst daran erinnern, dies zu tun? Der nächste Punkt auf der Liste ist: »Blase die Lunge eines Schweins auf und überprüfe, ob sie sich in Breite und Länge oder nur in der Breite ausdehnt.« Wie Adam Gopnik, der Kunstkritiker des New Yorker, schrieb, »bleibt Leonardo sonderbar und unfassbar verschroben, da ist nichts zu machen«.11

Ich beschloss, ausgehend von Leonardos Notizbüchern ein Buch über all diese Fragen zu schreiben. Dafür begab ich mich zunächst auf eine Pilgerreise, um die Originale in Mailand, Florenz, Paris, Seattle, Madrid, London und Windsor Castle in Augenschein zu nehmen. Auf diese Weise hielt ich mich zugleich an Leonardos Aufforderung, jede Untersuchung an den Quellen zu beginnen: »Wer an die Quelle gehen kann, geht nicht zum Krug.«12 Darüber hinaus habe ich mich in wissenschaftliche Artikel und Dissertationen über Leonardo vertieft, die jeweils Jahre fleißiger Arbeit über sehr spezifische Themen repräsentieren. In den letzten Jahrzehnten, vor allem seit der Wiederentdeckung seiner Kodizes in Madrid im Jahr 1965, hat es große Fortschritte in der Analyse und Interpretation seiner Schriften gegeben. Zudem hat die moderne Technik neue Erkenntnisse über seine Maltechniken geliefert.

Nachdem ich begonnen hatte, mich eingehend mit Leonardo auseinanderzusetzen, versuchte ich die Dinge so zu sehen, wie er es getan hatte, und bemühte mich, aufmerksamer zu sein gegenüber Phänomenen, die ich für gewöhnlich ignoriere. Wenn ich nunmehr Sonnenlicht auf Vorhänge treffen sah, dann zwang ich mich innezuhalten und zu betrachten, wie die Falten von den Schatten liebkost wurden. Ich versuchte zu erkennen, wie Licht, das von einem Objekt reflektiert wurde, auf subtile Weise die Schatten eines anderen färbte, und bemerkte, wie sich das Schimmern eines Lichtflecks auf einer glänzenden Oberfläche veränderte, wenn ich meinen Kopf zur Seite neigte. Ich versuchte die Perspektivlinien zu visualisieren, wenn ich von einem nahen zu einem weiter entfernt stehenden Baum hinüberblickte. Wenn ich irgendwo einen Wasserstrudel sah, verglich ich ihn mit einer Haarlocke. Wenn ich ein mathematisches Konzept nicht verstand, versuchte ich mit aller Macht, es mir vorzustellen. Wenn ich Menschen beim Abendessen sah, studierte ich den Zusammenhang zwischen ihren Bewegungen und Empfindungen. Und wenn ich sah, wie jemandes Lippen der Anflug eines Lächelns umspielte, versuchte ich das Geheimnis dahinter zu ergründen.

Nein, ich gelangte dabei nicht zu Einsichten, die auch nur annähernd mit denen Leonardos vergleichbar gewesen wären, oder legte auch nur ein Quäntchen seines Talents an den Tag. All das brachte mich der Fähigkeit, einen Gleiter zu konstruieren, eine neue Art des Kartenzeichnens zu erfinden oder die Mona Lisa zu malen, nicht einen Schritt näher. Ich musste mich selbst dazu zwingen, neugierig auf die Spechtzunge zu sein. Und dennoch lernte ich auf diese Weise von Leonardo, wie allein schon der Wunsch, über die Welt zu staunen, in der wir uns tagtäglich bewegen, unser Leben bereichern kann.

Es gibt drei bedeutende frühe Berichte über Leonardo, verfasst von Autoren, die beinahe seine Zeitgenossen waren. Der Maler Giorgio Vasari, geboren 1511 (also acht Jahre vor Leonardos Tod), schrieb das erste kunsthistorisch bedeutende Buch über die Lebensläufe der berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten (1550). Später erschien eine erweiterte Ausgabe (1568), deren Überarbeitungen im Fall Leonardos auf weiteren Gesprächen mit Menschen beruhten, die ihn gekannt hatten, darunter auch sein Schüler Francesco Melzi.13 Als Florentiner Lokalpatriot, der er war, würdigte Vasari Leonardo und vor allem Michelangelo überschwänglich dafür, etwas geschaffen zu haben, das Vasari erstmals in der Literatur als künstlerische »Renaissance« bezeichnete.14 Zwar neigte auch Vasari bisweilen zu Übertreibungen, sagte meist jedoch die Wahrheit. Der Rest ist eine Mischung aus Klatsch, Beschönigungen, Erfindungen und unbeabsichtigten Fehlern. Das Problem besteht heute darin, zu erkennen, welche der Anekdoten in welche Kategorie gehört – etwa jene, nach der Leonardos Lehrer den Pinsel aus Ehrfurcht vor seinem Schüler aus der Hand gelegt habe.

Ein in den 1540er-Jahren entstandenes anonymes, nach der Familie, die es einst besaß, »Anonimo Gaddino« genanntes Manuskript enthält viele schillernde Geschichten aus dem Leben Leonardos und anderer Florentiner. Auch hier gibt es Ausschmückungen, so wie die Behauptung, Leonardo habe mit Lorenzo de’ Medici gearbeitet und gelebt. Aber die Schrift liefert auch eine Reihe von im wahrsten Sinne des Wortes farbigen Details, die nichtsdestotrotz wahr klingen. So scheint Leonardo rosafarbene Tuniken geliebt zu haben, die ihm nur bis zu den Knien reichten, während seine Zeitgenossen lange Gewänder zu tragen pflegten.15

Die dritte frühe Quelle stammt von dem Maler Gian Paolo Lomazzo, der sich nach seiner Erblindung dem Abfassen kunsthistorischer und kunsttheoretischer Schriften widmete. Er schrieb ein unpubliziertes Manuskript mit dem Titel Buch der Träume (Libro dei sogni), das vor 1564 entstanden sein muss. Anschließend veröffentlichte er ein siebenbändiges Traktat über die Kunst der Malerei (Trattato dell’arte della Pittura), das 1584 erschien. Er war der Schüler eines Malers, der Leonardo gekannt hatte, und befragte Leonardos Schüler Melzi, wodurch er Zugang zu Informationen aus erster Hand bekam. Vor allem enthüllte er Leonardos sexuelle Neigungen. Hinzu kommen kurze Berichte in den Schriften des Florentiner Händlers Antonio Billi und des italienischen Physikers und Historikers Paolo Giovio, die beide Zeitgenossen Leonardos waren.

Viele dieser frühen Berichte erwähnen Leonardos Aussehen und seine Persönlichkeit. Er wird als auffallend schöner, anmutiger Mann beschrieben. Er hatte wallende goldene Locken und einen muskulösen Körper, besaß eine bemerkenswerte physische Kraft und zeichnete sich durch ein elegantes Auftreten aus, wenn er in seinen farbigen Gewändern durch die Stadt ging oder ritt. »Leonardo war schön in Gestalt und Aussehen, wohl proportioniert und anmutig«, sagt Anonimo Gaddiano. Außerdem galt er als charmanter Gesprächspartner, Naturliebhaber und war bekannt dafür, Mensch und Tier gleichermaßen freundlich zu behandeln.

In Bezug auf andere Aspekte herrscht weniger Einigkeit. Im Verlauf meiner Untersuchung bin ich auf viele geheimnisumwitterte und mythisch verklärte Ereignisse im Leben Leonardos gestoßen, die – wie sein Geburtsort oder die Szene bei seinem Tod – Gegenstand heftiger Diskussionen waren oder noch sind. Zu meiner Freude und Verwunderung musste ich außerdem feststellen, dass Leonardo nicht immer ein Gigant war. Auch er hatte Fehler. Er schweifte ab, wenn er mathematische Probleme verfolgte, die zu zeitraubenden Ablenkungen wurden. Und er war dafür berüchtigt, Gemälde nicht zu beenden. Am bekanntesten sind Die Anbetung der drei Könige aus dem Morgenland, Der heilige Hieronymus und Die Schlacht von Anghiari. Als Folge davon gibt es bestenfalls fünfzehn Gemälde, die ihm ganz oder zumindest in großen Teilen zugeschrieben werden können.16

Obwohl er von seinen Zeitgenossen im Allgemeinen als freundlich und liebenswürdig charakterisiert wurde, war Leonardo manchmal auch in düsterer und aufgewühlter Stimmung. Seine Notizbücher und Zeichnungen sind wie ein Fenster in seinen fiebrigen, einfallsreichen und manischen Geist. Wäre er ein Student zu Beginn des 21. Jahrhunderts gewesen, er hätte sich vielleicht Medikamente gegen die Stimmungsschwankungen und seine Aufmerksamkeitsdefizitstörung verschreiben lassen. Man muss gar nicht auf den Topos des gestörten Künstlergenies zurückgreifen, um zu erkennen, wie glücklich wir uns schätzen dürfen, dass es Leonardo selbst überlassen blieb, seine Dämonen zu bekämpfen, während er seine Drachen heraufbeschwor.

Eines der seltsamen Rätsel in seinen Notizbüchern lautet: »Eine riesige Gestalt in Menschenform, die umso kleiner wird, je näher man ihr kommt.« Die Lösung: »Der Schatten, den ein Mann mit Lampe im Dunkeln wirft.«17 Obwohl man dasselbe über Leonardo sagen könnte, glaube ich nicht, dass ein Mensch zu sein ihn kleiner macht. Sowohl sein Schatten als auch seine reale Gestalt verdienen es, groß genannt zu werden. Tatsächlich verschaffen uns seine Fehler und Eigenheiten einen Zugang zu ihm, geben uns das Gefühl, ihm nacheifern zu können, und lassen uns die Augenblicke des Triumphs umso mehr schätzen.

Das 15. Jahrhundert, in dem Leonardo, Kolumbus und Gutenberg lebten, war eine Zeit der Erfindungen, der Entdeckungen und der Verbreitung von Wissen durch neue Technologien. Kurz gesagt, es war eine Zeit ähnlich der unserigen. Darum können wir so viel von Leonardo lernen. Seine Fähigkeit, Kunst, Wissenschaft, Technik und Vorstellungskraft miteinander zu verbinden, ist und bleibt der höchste Ausdruck von Kreativität. Ein Außenseiter zu sein war für ihn vielleicht sogar von Vorteil: er war unehelich geboren, homosexuell, Vegetarier, Linkshänder, leicht abgelenkt und zuweilen Häretiker. Aber Florenz erlebte im 15. Jahrhundert gerade deshalb eine Blütezeit, weil Menschen wie er sich dort wohlfühlten. Vor allem Leonardos unstillbare Neugier und Experimentierfreude sollten uns daran erinnern, wie wichtig es ist, uns selbst und unseren Kindern klarzumachen, dass man nicht blind auf allgemein anerkanntes Wissen vertrauen darf, sondern dazu bereit sein muss, es in Frage zu stellen. So wie die begabten Außenseiter in allen Zeiten müssen auch wir unsere Vorstellungskraft einsetzen und Querdenker sein.

Anmerkungen zum Kapitel

1. Codex Atl., 391r-a/1082r; Notebooks / J. P. Richter, 1340. Die Datierung des Briefs wird in Kapitel 14 thematisiert. Es ist nur ein Entwurf im Notizbuch erhalten geblieben, nicht aber die abgeschickte Endfassung; dt.: Lücke, S. 890.

2. Kemp, Leonardo, S. vii, 4; in dieser und anderen Arbeiten befasst Kemp sich mit Mustern und Gemeinsamkeiten, die Leonardos diversen Bestrebungen zugrunde liegen.

3. Codex Urb., 133r-v; Leonardo Treatise / Rigaud, Kap. 178; Leonardo on Painting, S. 15; dt. vgl. Lücke, S. 708.

4. Interview des Autors mit Steve Jobs 2010.

5. Vasari, S. 17.

6. Kenneth Clark, Glorie des Abendlandes (Civilisation), Gütersloh 1978, S. 155.

7. Codex Atl., 222a/664a; Notebooks / J. P. Richter, 1448; Robert Krulwich, »Leonardos To-Do-List«, in: Krulwich Wonders, NPR, 18. November 2011. Portinari war ein Mailänder Händler, der Flandern bereist hatte.

8. Notebooks / Irma Richter, 91; dt.: Lücke, S. 367 und 122.

9. Windsor, RCIN 919070; Notizbücher / J. P. Richter, 819.

10. Paris Ms. F, 0; Notizbücher / J. P. Richter, 1421; dt.: Thomsen.

11. Adam Gopnik, »Renaissance Man«, New Yorker, 17. Januar 2005; dt.:_ Thomsen.

12. Codex Atl., 196b/586b; Notebooks / J. P. Richter, 490.

13. Ich möchte Margot Pritzker für ein Original der zweiten Ausgabe und ihre Gelehrsamkeit danken. Vasaris Buch ist online zugänglich.

14. Vasari erklärte, sein Thema sei der Aufstieg der Künste zur Perfektion während der römischen Antike, ihr Niedergang und ihre Wiederherstellung oder vielmehr ihre Wiedergeburt (rinascimento).

15. Anonimo Gaddiano.

16. Je nach Definition und Standards divergiert die Zahl der Zuschreibungen unter den Gelehrten zwischen zwölf und achtzehn. Gemäß Luke Syson, dem Kurator der National Gallery in London und anschließend des Metropolitan Museums in New York, »begann er in seiner fast ein halbes Jahrhundert dauernden Karriere vermutlich nicht mehr als zwanzig Bilder und nur fünfzehn erhaltene Gemälde wurden nach allgemeiner Auffassung von ihm allein geschaffen. Von diesen wiederum sind vier mehr oder weniger unvollendet geblieben.« Eine Diskussion über die Leonardo zugeschriebenen Werke findet sich in der »List of Works by Leonardo da Vinci« bei Wikipedia (en.wikipedia.org/wiki/List_of_works_by_Leonardo_da_Vinci; de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Gemälde_von_Leonardo_da_Vinci)

17. Paris Ms. K, 2:1b; Notebooks / J. P. Richter, 1308.