KAPITEL 1
Kindheit
Vinci, 1452–1464
Die Stadt Vinci mit der Taufkirche Leonardos
DA VINCI
Leonardo hatte das große Glück, außerehelich geboren worden zu sein. Andernfalls hätte er, so wie alle legitimen erstgeborenen Söhne seiner Familie in den vorangegangenen fünf Generationen, Notar werden müssen.
Die Wurzeln seiner Familie lassen sich bis ins frühe 14. Jahrhundert zurückverfolgen, als sein Ur-Ur-Urgroßvater Michele in dem etwa 27 Kilometer westlich von Florenz gelegenen toskanischen Städtchen Vinci als Notar praktizierte*. Beim Aufblühen von Handel und Wirtschaft in Italien spielten Notare ein wichtige Rolle, denn sie fassten in lateinischer Sprache geschriebene Handelsverträge, Landverkaufsurkunden, Testamente und andere Rechtsdokumente ab, die sie häufig mit historischen Bezügen und literarischen Ausschmückungen versahen.
Weil Michele ein Notar war, hatte er Anspruch auf den Ehrentitel »Ser« und wurde auf diese Weise zu Ser Michele da Vinci. Sein Sohn und sein Enkel waren als Notare noch erfolgreicher, Letzterer wurde sogar Kanzler in Florenz. Der Nächste in der Linie, Antonio, fiel aus der Reihe. Er verwendete zwar den Ehrentitel Ser und heiratete eine Notarstochter, scheint mit der Familientradition jedoch gebrochen zu haben. Er zog es nämlich vor, von den Einkünften aus dem Landbesitz der Familie zu leben, der von Pächtern bewirtschaftet wurde und einen bescheidenen Ertrag an Wein, Oliven, Öl und Weizen lieferte.
Antonios ehrgeiziger Sohn Piero überwand die Trägheit seines Vaters und war erfolgreich in Pistoia und Pisa tätig, bevor er sich um das Jahr 1451 im Alter von 25 Jahren in Florenz etablierte. Ein Vertrag, den er notariell beglaubigte, gibt als seine Büroadresse den »Palazzo del Podestà«, also das Magistratsgebäude (heute das Museo Nazionale del Bargello) an, der gegenüber dem Palazzo della Signoria, dem Sitz des Stadtparlaments, liegt. Er wurde der Notar vieler Klöster und religiöser Ordensgemeinschaften, der jüdischen Gemeinde von Florenz und zumindest in einem Fall auch der Medici.1
Während eines Besuchs in seiner Heimatstadt hatte Piero dann eine Beziehung mit einem unverheirateten Bauernmädchen, aus der im Frühling 1452 ein Sohn hervorging. In seiner selten verwendeten Notarhandschrift erinnerte Antonio, der Großvater des Jungen, ganz unten auf der letzten Seite eines Notizbuchs, das bereits seinem Großvater gehört hatte, an die Geburt des Jungen. »1452: Mir ist ein Enkel geboren worden, der Sohn meines Sohnes Ser Piero, am 15. Tag des April, einem Samstag, um die dritte Nachtstunde [etwa 22 Uhr]. Er trägt den Namen Leonardo.«2
Leonardos Mutter wurde weder in Antonios Geburtsnotiz noch in einer anderen Geburts- oder Taufakte der Erwähnung für wert befunden. Aus einem Steuerdokument erfahren wir fünf Jahre später, dass ihr Name Caterina lautete. Ihre Identität war den modernen Gelehrten lange ein Rätsel. Man glaubte, sie sei Mitte zwanzig gewesen, und einige Forscher hielten sie für eine arabische oder chinesische Sklavin.3 Tatsächlich war sie ein armes, sechzehn Jahre altes Waisenmädchen namens Caterina Lippi aus der Umgebung von Vinci. Der Kunsthistoriker Martin Kemp aus Oxford und der Archivforscher Giuseppe Pallanti aus Florenz haben erst 2017 Beweise dafür vorgelegt, ihren Hintergrund dokumentiert (und damit gezeigt, dass es noch immer etwas über Leonardo zu entdecken gibt).4
Im Jahr 1436 als Tochter eines armen Bauern geboren, wurde Caterina mit vierzehn zur Waise. Sie kam mit ihrem kleinen Bruder bei der Großmutter unter, die ein Jahr später, im Jahr 1451, starb. Dazu gezwungen, für sich selbst und ihren Bruder zu sorgen, ging sie im Juli desselben Jahres eine Beziehung mit dem prominenten und wohlhabenden, zu diesem Zeitpunkt vierundzwanzigjährigen Piero da Vinci ein.
Auf eine Heirat bestand nur geringe Aussicht. Obwohl ein früher Biograf sie als »von gutem Blut«5 beschrieb, stammte Caterina doch aus einer anderen sozialen Schicht. Außerdem war Piero zu diesem Zeitpunkt wohl bereits mit seiner zukünftigen Frau Albiera, der sechzehnjährigen Tochter eines bekannten Florentiner Schuhmachers, verlobt, die im Gegensatz zu Caterina eine standesgemäße Partie darstellte. Piero und Albiera heirateten acht Monate nach Leonardos Geburt. Die für beide Seiten in gesellschaftlicher wie in beruflicher Hinsicht vorteilhafte Eheschließung war vermutlich arrangiert und die Mitgift bereits vor Leonardos Geburt festgelegt worden.
Um den Schein zu wahren und die Dinge zu ordnen, sorgte Piero kurz nach Leonardos Geburt dafür, dass Caterina einen mit der Familie da Vinci verbundenen Bauern und Ziegelbrenner heiratete. Er hieß Antonio di Piero Buti del Vaccha und wurde Accattabriga genannt, was so viel wie »Streithammel« bedeutet (auch wenn er gar keiner gewesen zu sein scheint).
Leonardos Großeltern väterlicherseits und sein Vater besaßen ein Haus mit kleinem Garten direkt an den Burgmauern im Zentrum von Vinci. Dort mag Leonardo geboren sein, auch wenn es durchaus Gründe gibt, die dagegen sprechen. Schließlich war es nicht gerade angemessen, ein schwangeres und anschließend stillendes Bauernmädchen im Haus zu haben, während Ser Piero über die Verlobung mit der Tochter einer prominenten Familie verhandelte, in die er einzuheiraten gedachte. Glaubt man einer von der lokalen Tourismus-Branche kolportierten Legende, dann könnte Leonardos Geburtshaus ebenso gut eine unweit eines Bauernhofs in etwa drei Kilometer Entfernung an der Straße von Vinci nach Anchiano gelegene Kate aus grauen Steinen gewesen sein, in der sich heute ein kleines Leonardo-Museum befindet. Ein Teil dieser Liegenschaften gehörte seit 1412 der Familie von Piero di Malvolto, einem engen Freund der da Vincis. Er war der Pate von Piero da Vinci und wurde 1452 auch der Pate seines Sohnes Leonardo – was durchaus Sinn ergäbe, sollte der Junge auf seinem Besitz geboren worden sein. Die Familien standen sich jedenfalls sehr nah. Leonardos Großvater Antonio war Zeuge eines Vertrages, in dem es um Teile des Besitzes von Piero di Malvolto in Anchiano ging. In den Notizen über den Geschäftsvorgang heißt es, Antonio habe gerade unweit des Hauses Backgammon gespielt, als man ihn um seine Zeugenschaft bat. Piero da Vinci erwarb schließlich in den 1480er Jahren einen Teil dieses Besitzes.
Zurzeit von Leonardos Geburt lebte Piero di Malvoltos siebzigjährige Mutter in Anchiano. Es gab also in fußläufiger Entfernung von Vinci eine alleinstehende Witwe, die wenigstens zwei Generationen der da Vinci-Familie eine vertrauenswürdige Freundin gewesen war. Ihr Bauernhof verfügte zudem über ein halbverfallenes Nebengebäude, das die Familie aus Steuergründen für unbewohnbar erklärt hatte. Diese Kate könnte – wie es die örtliche Überlieferung berichtet – der ideale Ort gewesen sein, um Caterina während ihrer Schwangerschaft zu beherbergen.6
Leonardo wurde an einem Samstag geboren und gleich am nächsten Tag vom örtlichen Priester in der Kirche von Vinci getauft. Ungeachtet der Umstände seiner Geburt war die Taufe ein großes öffentliches Ereignis. Er hatte zehn Paten, also weit mehr als üblich, darunter Piero di Malvolto, und zu den Gästen gehörten auch Mitglieder der lokalen Oberschicht. Eine Woche später verließ Piero Caterina und das Kind, um nach Florenz zurückzukehren, denn am darauffolgenden Montag befand er sich in seinem Büro, wo er Unterlagen seiner Klienten notariell beglaubigte.7
Leonardo hat uns keinen Kommentar über die Umstände seiner Geburt hinterlassen, aber in seinen Notizbüchern gibt es eine vielsagende Anspielung auf die Gunst, welche die Natur unehelichen Kindern gewährt. »Ein Mann, der den Geschlechtsakt widerstrebend und mit Unbehagen vollzieht, wird jähzornige und unzuverlässige Kinder zeugen«, schreibt er. »Wird der Akt hingegen mit großer Liebe und auf beiderseitigen Wunsch vollzogen, wird das Kind von großer Intelligenz, geistvoll, lebhaft und liebenswert sein.«8 Man darf wohl annehmen oder zumindest hoffen, dass er sich selbst zur letzteren Kategorie zählte.
Seine Kindheit verbrachte Leonardo in zwei verschiedenen Elternhäusern. Caterina und Accattabriga lebten auf einem kleinen Bauernhof am Stadtrand von Vinci und blieben freundschaftlich mit Piero verbunden. Zwanzig Jahre später arbeitete Accattabriga an einem Brennofen, der von Piero gemietet worden war, und beide dienten einander im Laufe der Jahre mehrfach als Zeugen bei Verträgen und Grundbucheinträgen. In den Jahren nach Leonardos Geburt bekamen Caterina und Accattabriga vier Töchter und einen Sohn. Piero und Albiera dagegen blieben kinderlos. Tatsächlich war Leonardo bereits 24, als Piero zum zweiten Mal Vater wurde. Von da an holte er jedoch auf: Er heiratete insgesamt viermal und bekam elf Kinder.
Da sein Vater sich die meiste Zeit über in Florenz aufhielt und seine Mutter ihre eigene wachsende Familie zu versorgen hatte, lebte Leonardo von seinem fünften Lebensjahr an vorwiegend im Haus der da Vinci-Familie bei seinem mußeliebenden Großvater Antonio und dessen Frau. In der Steuererhebung des Jahres 1457 listete Antonio die mit ihm lebenden Angehörigen auf, zu denen auch sein Enkelsohn gehörte: »Leonardo, Sohn des erwähnten Ser Piero, non legittimo, geboren ihm und Caterina, die nun die Frau Accattabrigas ist.«
Im selben Haushalt lebte auch Pieros jüngster Bruder Francesco, der nur fünfzehn Jahre älter war als sein Neffe Leonardo. Francesco erbte den Hang zum Müßiggang und wurde in einem Steuerdokument ausgerechnet von seinem Vater als jemand beschrieben, der sich in der Gegend herumtreibe und nichts tue.9 Er wurde Leonardos heißgeliebter Onkel und beizeiten sein Ersatzvater. (In der ersten Ausgabe seiner Biografie begeht Vasari den später korrigierten Fehler, Piero anstatt Francesco als Leonardos Onkel zu bezeichnen.)
EINE GUTE ZEIT FÜR BASTARDE
Wie Leonardos gut besuchte Taufe zeigt, war der Umstand, unehelich geboren worden zu sein, keineswegs ein Grund, sich vor der Öffentlichkeit zu schämen, wie etwa bei Jakob Burckhardt, dem Kulturhistoriker des 19. Jahrhunderts, nachzulesen ist.10 Besonders in der herrschenden aristokratischen Klasse war Illegitimität kein Hindernis. Pius II., der amtierende Papst zurzeit von Leonardos Geburt, berichtete Folgendes über einen Besuch in Ferrara, wo unter den Gästen bei seiner Willkommensfeier auch sieben – allesamt uneheliche – Prinzen der herrschenden Este-Familie zugegen waren, darunter der regierende Herzog. »Es ist eine ungewöhnliche Eigenschaft dieser Familie, dass kein legitimer Erbe jemals das Prinzipat erlangte; den Söhnen ihrer Mätressen war wahrlich mehr Glück beschieden als denen ihrer Ehefrauen.«11 (Pius selbst war Vater zweier unehelicher Kinder.) Ebenfalls während Leonardos Lebenszeit hatte Papst Alexander VI. eine Vielzahl von Mätressen und illegitimen Kindern. Eines von ihnen war Cesare Borgia, der später Kardinal, Befehlshaber der päpstlichen Truppen, ein Arbeitgeber Leonardos und Gegenstand von Machiavellis Der Fürst wurde.
Bei den Mitgliedern der Mittelschicht war die uneheliche Geburt allerdings nicht in gleicher Weise akzeptiert. Um ihre neuen Stände zu schützen, gründeten Kaufleute und Handwerker Gilden und Zünfte mit bisweilen etwas eingeengten Moralvorstellungen. Zwar duldeten einige dieser Zusammenschlüsse die unehelichen Söhne ihrer Mitglieder, doch für die Arte dei Giudici e Notai, die ehrwürdige (1197 gegründete) Gilde der Richter und Notare, zu der Leonardos Vater gehörte, galt dies nicht. »Der Notar war ein beeideter Zeuge und Skribent«, schreibt Thomas Kuehn in Illegitimacy in Renaissance Florence. »Seine Vertrauenswürdigkeit musste über jeden Zweifel erhaben sein und er musste dem Mainstream der Gesellschaft angehören.«12
Diese Einschränkungen hatten einen Vorteil: Ihre uneheliche Geburt erlaubte es einfallsreichen und freigeistigen jungen Männern, sich in einer Zeit zu entfalten, in der Kreativität zunehmend belohnt wurde. Zu den unehelich geborenen Poeten, Malern und Kunsthandwerkern gehörten Petrarca, Boccaccio, Lorenzo Ghiberti, Filippo Lippi, sein Sohn Filippino, Leon Batista Alberti – und natürlich Leonardo. Freilich war es so, dass ein Bastard zu sein das Leben auch verkomplizierte, denn es machte die Betroffenen nicht nur zu Außenseitern, sondern erzeugte darüber hinaus eine Statusambiguität. »Das Problem mit Bastarden bestand darin, dass sie zwar Teil der Familie waren, aber nicht vollständig dazugehörten«, schreibt Kuehn. Das half einigen dabei – oder zwang sie dazu –, mehr Risiko- und Improvisationsfreude an den Tag zu legen.
Obwohl Mitglied einer Mittelschichtfamilie, blieb Leonardo dennoch von ihr separiert. Wie so viele Schriftsteller und Künstler der Epoche wuchs er mit dem Gefühl auf, ein Teil der Welt und zugleich von ihr losgelöst zu sein. Dieser Schwebezustand hatte auch Auswirkungen auf das Erbrecht. Eine Mischung aus Gesetzeskonflikten und einander widersprechenden Präzedenzfällen führte zu einer Unklarheit darüber, ob ein unehelicher Sohn Erbe sein konnte. Das musste auch Leonardo viele Jahre später im Zuge von Rechtsstreitigkeiten mit seinen Stiefbrüdern feststellen. »Der Umgang mit solchen Mehrdeutigkeiten war kennzeichnend für das Leben in einem Renaissance-Stadtstaat«, erklärt Kuehn. »Und sie trugen zu der viel gerühmten künstlerischen und humanistischen Kreativität in Städten wie Florenz bei.«13
Weil die Gilde der Florentiner Notare den non legittimi verschlossen blieb, konnte Leonardo von der für seine Familie charakteristischen Gewohnheit profitieren, sich alles zu notieren, war jedoch frei darin, seinen eigenen schöpferischen Interessen nachzugehen. Und das war sein Glück, denn er hätte einen lausigen Notar abgegeben. Er langweilte sich viel zu schnell und ließ sich leicht ablenken, sobald eine Sache ihren kreativen Aspekt verloren hatte und zur Routine wurde.14
SCHÜLER DER ERFAHRUNG
Ein uneheliches Kind zu sein hatte für Leonardo noch einen weiteren Vorteil: Er musste auf keine der »Lateinschulen« gehen, an denen aufstrebende Handwerker und Kaufleute in der Frührenaissance in alten Sprachen und Geisteswissenschaften unterrichtet wurden.15 Abgesehen von einer Grundausbildung in Wirtschaftsmathematik in einer sogenannten »Abakus-Schule« war Leonardo Autodidakt. Der Umstand, ein »Mann ohne Gelehrsamkeit« zu sein, wie er selbst es mit gewisser Ironie formulierte, schien ihm häufig Unbehagen zu bereiten. Andererseits war er stolz darauf, dass das Fehlen einer formalen Schulausbildung es ihm erlaubte, aus Versuch und Praxis zu lernen. »Leonardo da Vinci, discepolo della Sperientia«,16 beschrieb er sich selbst einmal – »Schüler der Erfahrung«. Diese freigeistige Haltung bewahrte ihn davor, ein Akolyth traditioneller Denkweisen zu werden. In seinen Notizbüchern feuerte er eine Breitseite auf jene – wie er sie nannte – aufgeblasenen Narren ab, die ihn dafür verunglimpften:
Ich weiß sehr wohl, dass so mancher eitle Fant, zumal ich kein Gelehrter bin, glauben wird, er könne mich mit Recht tadeln, indem er geltend macht, ich sei ein Mann ohne Gelehrsamkeit. Törichte Leute! (…) Diejenigen, die sich mit fremden Leistungen schmücken, wollen die meinigen nicht gelten lassen (…). Sie werden behaupten, ich könne mangels Gelehrsamkeit das, was ich behandeln will, nicht richtig sagen. Nun, wissen sie denn nicht, dass meine Lehren nicht so sehr aus den Worten anderer gezogen werden, als aus der Erfahrung, die doch die Lehrmeisterin derer war, die gut geschrieben haben?17
Auf diese Weise blieb Leonardo von verstaubter Scholastik und mittelalterlichen Dogmen verschont, die sich seit dem Niedergang der Wissenschaften und des eigenständigen Denkens angesammelt hatten. Sein mangelnder Respekt vor Autoritäten und seine Bereitschaft, überliefertes Wissen in Frage zu stellen, führten ihn bei seinem Versuch, die Natur zu verstehen, zu einer empirischen Herangehensweise, welche die ein Jahrhundert später von Bacon und Galileo entwickelte wissenschaftliche Methode in gewisser Weise vorwegnahm. Seine Methode wurzelte im Experiment, in der Neugier und der Fähigkeit, über Phänomene zu staunen, für die wir uns nur noch selten begeistern, sobald wir unsere Kindheit hinter uns gelassen haben.
Hinzu kamen Leonardos ausgeprägte Beobachtungsgabe und sein starkes Bedürfnis, die Wunder der Natur zu ergründen. Er stachelte sich selbst dazu an, Formen und Schatten mit einer erstaunlichen Genauigkeit wahrzunehmen. Besonders gut konnte er Bewegungen erkennen, ganz gleich, ob es sich um den Flügelschlag eines Vogels oder die Gefühlsregungen im Gesicht eines Menschen handelte. Auf dieser Grundlage ersann er Experimente, von denen er einige nur in Gedanken, andere in Form von Zeichnungen und einige wenige mit realen Objekten ausführte. »Bevor ich fortfahre, mache ich erst ein paar Experimente«, verkündete er, »weil ich zunächst Erfahrungswerte sammeln und dann mit Argumenten zeigen will, warum es auf solche Weise geschehen muss.«18
Für ein ambitioniertes und talentiertes Kind wie Leonardo war es eine gute Zeit. 1452 hatte Johannes Gutenberg mit dem Buchdruck begonnen. Bald darauf verwendeten auch andere die von ihm erfundene Druckerpresse mit beweglichen Metalllettern, um Bücher herzustellen, die ungeschulte, aber brillante Köpfe wie Leonardo dazu befähigten, sich selbst zu bilden. Zugleich durchlebte Italien eine der seltenen Friedensperioden: Vierzig Jahre lang führten seine Stadtstaaten keine Kriege gegeneinander. Die Alphabetisierungsrate stieg, die Rechenfähigkeiten nahmen zu, auch die Einkommen wuchsen erheblich, während sich die Machtverhältnisse weg von den adeligen Landbesitzern hin zu den Kaufleuten und Bankiers in den Städten verlagerten, die von den Fortschritten im Rechts-, Buchhaltungs-, Kredit- und Versicherungswesen profitierten. Die Ottomanen waren im Begriff, Konstantinopel zu erobern, was Italien eine Flut byzantinischer Gelehrter bescherte. Sie hatten viele Manuskripte im Gepäck, die das antike Wissen von Euklid, Platon, Aristoteles und Ptolemaios enthielten. Ein Jahr vor Leonardo wurden Christoph Kolumbus und Amerigo Vespucci geboren, die eine Ära der Entdeckungen einläuteten. Und Florenz mit seiner aufstrebenden Händlerklasse und seinen nach Status strebenden Mäzenen wurde zur Wiege der Renaissancekunst und des Humanismus.
KINDHEITSERINNERUNGEN
Seine lebhafteste Kindheitserinnerung notierte Leonardo etwa fünfzig Jahre später, als er gerade den Vogelflug studierte. Er schrieb über einen Raubvogel – den Milan, der einen gefächerten Schwanz und lange elegante Flügel besitzt, die ihm weite Gleitflüge erlauben. Mit der für ihn typischen Beobachtungsschärfe erkannte Leonardo genau, wie der Milan beim Landen seine Flügel öffnet, seinen Schwanz spreizt und anschließend absenkt.19 Das weckte eine Kleinkinderinnerung in ihm: »Den Weih (Milan) so klar zu beschreiben, scheint meine Bestimmung zu sein; denn in der frühesten Erinnerung an meine Kindheit war mir immer so, als sei zu der Zeit, da ich noch in der Wiege lag, ein Weih zu mir gekommen und habe mir den Mund mit seinem Schwanz geöffnet und mich dann mehrere Male mit dem Schwanz auf die Lippen geschlagen.«20 Wie vieles, das Leonardos Geist hervorbrachte, enthält wohl auch diese Geschichte fantastische und zusammengereimte Elemente. Denn man kann sich nur schwer vorstellen, dass tatsächlich ein Vogel auf seiner Wiege gelandet ist, um mit Schwanzschlägen einen Kleinkindmund zu öffnen. Das war Leonardo offenbar bewusst, denn die von ihm verwendete Formulierung »mi parea« (»mir scheint«) deutet darauf hin, dass es sich zumindest teilweise auch um einen Traum gehandelt haben könnte.
All dies – eine Kindheit mit zwei Müttern und einem häufig abwesenden Vater, dazu eine traumartige Begebenheit, in der es um einen schlagenden Vogelschwanz geht – ist geradezu eine Steilvorlage für jeden Psychoanalytiker. Und tatsächlich befasste sich Sigmund Freud persönlich mit der Sache. Im Jahr 1910 nutzte er den Milanschwanz als Ausgangspunkt für das kurze Buch Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci.21
Freud beging jedoch einen Fehler, denn er saß einer schlechten deutschen Übersetzung des italienischen Originals auf, in welcher der Vogel fälschlicherweise als Geier bezeichnet wird. Das verleitete ihn zu einer langen Erklärung über die Symbolik des Geiers bei den alten Ägyptern, in deren Hieroglyphenschrift das Wort für Mutter mit dem Bild dieses Vogels wiedergegeben wird – was in diesem Zusammenhang natürlich vollkommen irrelevant ist, wie er später peinlich berührt zugab.22 Den Vogel-Fauxpas einmal beiseitegelassen, zielt Freuds Analyse im Wesentlichen darauf ab, dass das Wort für Schwanz in vielen Sprachen, so auch im Italienischen (coda), umgangssprachlich für »Penis« verwendet wird und dass Leonardos Erinnerung mit seiner Homosexualität zusammenhänge. »Die in der Fantasie enthaltene Situation, dass ein Geier den Mund des Kindes öffnet und mit dem Schwanz tüchtig darin herumarbeitet, entspricht der Vorstellung einer Fellatio«, schreibt Freud. Leonardos unterdrückte Sehnsüchte hätten sich, so mutmaßt er, in einer fieberhaften Kreativität kanalisiert, doch seien wegen Leonardos Verklemmtheit viele seiner Arbeiten unvollendet geblieben.
Diese Interpretation löste einige vernichtende Kritiken aus, deren bekannteste vom Kunsthistoriker Meyer Shapiro23 stammt. Tatsächlich scheint mir, dass Freuds Ausführungen mehr über ihn selbst als über Leonardo aussagen. Biografen sollten vorsichtig sein, wenn sie die Psyche von jemandem analysieren, der vor 500 Jahren gelebt hat. Ebenso gut mag Leonardos traumartige Erinnerung, so wie er selbst es sieht, sein lebenslanges Interesse am Vogelflug widergespiegelt haben. Und es braucht keinen Sigmund Freud, um zu verstehen, dass sexuelle Triebe sich in Ehrgeiz und andere Leidenschaften verwandeln können. So sah es auch Leonardo selbst. »Die Leidenschaft des Geistes treibt die Sinnenlust aus«, schrieb er in einem seiner Notizbücher.24
Bessere Einblicke in Leonardos Charakter und Beweggründe bietet eine andere persönliche Erinnerung, die sich auf einen Ausflug in der Umgebung von Florenz bezieht. Leonardo war bei dieser Gelegenheit auf eine dunkle Höhle gestoßen und hatte überlegt, ob er sie betreten solle. »(…) so gelangte ich, nachdem ich eine Weile zwischen düsteren Klippen umhergewandert war, zum Eingang einer großen Höhle, vor der ich staunend stehen blieb«, erinnert er sich. »Mit gekrümmtem Rücken, die linke Hand auf das Knie gestützt und mit der rechten die gesenkte, gerunzelte Stirn überschattend, beugte ich mich immer wieder vor, bald dahin und bald dorthin, um zu sehen, ob dort drinnen irgend etwas zu unterscheiden sei; aber daran wurde ich gehindert, durch das tiefe Dunkel, das dort herrschte. Und nachdem ich eine Weile davorgestanden hatte, regten sich plötzlich zwei Gefühle in mir, nämlich Furcht und Begierde: Furcht vor dieser düster drohenden Höhle und Begierde, zu erforschen, ob dort drinnen etwas Wunderbares sei.«25
Die Begierde gewann, seine unersättliche Neugier triumphierte. Leonardo ging hinein und entdeckte, eingebettet in die Höhlenwand, das Fossil eines Wals. »Oh gewaltiges, einst lebendiges Werkzeug der Natur«, schrieb er, »Auch du musstest also, da deine großen Kräfte dir nichts nützten, das Leben in der Stille lassen.«26 Einige Gelehrte haben behauptet, er habe eine Fantasiewanderung beschrieben oder einige Verse von Seneca auf die Schippe genommen. Aber die entsprechende Notizbuchseite und die Seiten davor und danach sind voller Beschreibungen von Schichten fossiler Muscheln, und in der Toskana wurden tatsächlich zahlreiche versteinerte Walknochen gefunden.27
Das Walfossil löste überdies die Vision einer apokalyptischen Flut aus, wie sie zeit seines Lebens zu Leonardos dunkelsten Vorahnungen gehören sollte. Auf der folgenden Seite beschreibt er nämlich ausführlich die wütende Kraft des längst toten Tieres: »Du aber, mit den zackigen Flossen schnell dahinrudernd und mit dem gegabelten Schwanz heftig um dich schlagend, riefst auf dem Meer plötzlich einen Sturm hervor, unter gewaltigem Getöse und zum Untergang der Schiffe …« Dann wurde er philosophisch. »Oh Zeit, du schnelle Rafferin der Dinge, wie viele Könige, wie viele Völker hast du schon vernichtet! Und wie viele Wandlungen von Staaten und allerlei Zuständen sind erfolgt, seit die merkwürdige Form dieses Fisches hier in den abgründigen und gewundenen Tiefen verging!« Der Gedanke an die zerstörerischen Kräfte der Natur drängte Leonardos Befürchtungen über die Gefahren, die in der Höhle auf ihn lauern mochten, in den Hintergrund. Stattdessen erfasste ihn ein existenzieller Schrecken. Hastig kritzelte er mit einem Silberstift die Beschreibung einer mit Wassermangel beginnenden und mit Feuer endenden Apokalypse auf eine rot eingefärbte Seite. »Die Flüsse werden ohne Wasser sein, die Erde wird kein Grün mehr hervorbringen, die Felder werden nicht mehr mit wogendem Getreide bedeckt sein und alle Tiere werden sterben, weil sie kein frisches Gras mehr finden«, schreibt er. »Und auf diese Weise wird die fruchtbare und ertragreiche Erde (…) im Feuer enden. Ihr Angesicht wird zu Asche verdorren und dies wird das Ende der irdischen Natur sein.«28
Die dunkle Höhle, die seine Neugier ihn zu betreten zwang, hielt für Leonardo neben wissenschaftlichen Entdeckungen also auch fantastische Visionen bereit – zwei Leitfäden, die sein ganzes Leben hindurch eng miteinander verwoben sein sollten. Leonardo würde tatsächliche wie seelische Stürme überstehen, indem er sich den dunklen Abgründen der Welt und seines Geistes stellte. Aber seine Neugier gegenüber der Natur würde ihn dazu antreiben, immer weiter zu forschen. Seine Begeisterung und seine Visionen sollten in seiner Kunst zum Ausdruck kommen, angefangen mit seiner Darstellung des sich vor dem Eingang einer Höhle quälenden heiligen Hieronymus bis hin zu seinen Zeichnungen und Schriften über apokalyptische Fluten.
Anmerkungen zum Kapitel
* Leonardo da Vinci wird bisweilen fälschlicherweise verkürzt »da Vinci« genannt, so als sei dies sein Nachname, obwohl damit nur seine Herkunft »aus Vinci« gemeint ist. Allerdings ist der Gebrauch dieser Benennung nicht so ungeheuerlich wie von einigen Puristen behauptet. Zu Leonardos Lebzeiten begannen die Italiener zunehmend, die Verwendung erblicher Nachnamen zu regeln, und viele von ihnen, wie Genovese oder DiCaprio, sind von den Herkunftsorten der Familien abgeleitet. Und sowohl Leonardo als auch sein Vater fügten ihrem Vornamen häufig den Zusatz »da Vinci« hinzu. Als Leonardo nach Mailand ging, nannte sein Freund, der Hofpoet Bernardo Bellincioni, ihn in seinen Schriften »Leonardo Vinci, der Florentiner«.
1. Alessandro Cecchi, »New Light on Leonardo’s Florentine Patrons«, in: Bambach, Master Draftsman, S. 123.
2. Nicholl, S. 39; Bramly, S. 55. Der Sonnenuntergang in Florenz war an diesem Tag um 18.40 Uhr. Die Nachtstunden wurden üblicherweise vom Läuten der Vesperglocke an gezählt.
3. Francesco Cianchi, La Madre di Leonardo era una Schiava? Museo Ideale Leonardo da Vinci, Vinci, 2008; Angelo Paratico, Leonardo Da Vinci. A Chinese Scholar Lost in Renaissance Italy, Hong Kong 2015; Anna Zamejc, Was Leonardo Da Vinci’s Mother Azeri?, Radio Free Europe, 25. November 2009.
4. Martin Kemp und Giuseppe Pallanti, Mona Lisa, Oxford 2017, S. 87. Mein Dank gilt Professor Kemp, der mir die Ergebnisse der Studie zugänglich gemacht, und Giuseppe Pallanti, der sie mit mir diskutiert hat.
5. Anonimo Gaddiano.
6. Austausch des Autors mit dem Archivforscher Giuseppe Pallanti 2017; Alberto Malvolti, »In Search of Malvolto Piero. Notes on the Witnesses of the Baptism of Leonardo da Vinci«, in: Erba d’Arno 141, 2015, S. 37. Da sie in den Steuerlisten als unbewohnbar erscheint, glauben Kemp und Pallanti, Mona Lisa, nicht, dass Leonardo in dieser Kate geboren wurde.
7. Kemp und Pallanti, Mona Lisa, S. 85.
8. Leonardo, »Weimar-Blatt«, recto Schloss-Museum Weimar; Pedretti, Commentary, 2, S. 110.
9. James Beck, »Ser Piero da Vinci and His Son Leonardo«, Notes in the History of Art 5,1 (1985), S. 29.
10. Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, Frankfurt a. M. 1989 (Erstveröffentlichung 1860), Kap. 4.
11. Jane Fair Bestor, »Bastardy and Legitimacy in the Formation of a Regional State in Italy. The Estense Succession«, Comparative Studies in Society and History 38,3 (Juli 1996), S. 549–585.
12. Thomas Kuehn, Illegitimacy in Renaissance Florence, Chicago 2002, S. 80. Siehe auch Thomas Kuehn, »Reading between the Patrilines. Leon Battista Alberti’s ›Della Familia‹ in Light of His Illegitimacy«, I Tatti Studies in the Italian Renaissance 1 (1985), S. 161–187.
13. Kuehn, Illegitimacy, S. 7, ix.
14. Kuehn, Illegitimacy, S. 80. Siehe auch Brown; Beck, »Ser Piero da Vinci and His Son Leonardo«, S. 32.
15. Charles Nauert, Humanism and the Culture of Renaissance Europe, Cambridge 2006, S. 5.
16. Codex Atl., 520r/191r-a; Notebooks / MacCurdy, 2:989.
17. Notebooks / J. P. Richter, 10–11; Notebooks / Irma Richter, 4; Codex Atl., 119v, 327v; dt.: Lücke, S. XXII.
18. Paris Ms. E, 55r; Notebooks / Irma Richter, 8; Capra, Science, S. 161, 169.
19. Paris Ms. L, 58v; Notebooks / Irma Richter, 95.
20. Codex Atl., 66v/199b; Notebooks / J. P. Richter, 1363; Notebooks / Irma Richter, 269; dt.: Lücke, S. 908.
21. Sigmund Freud, Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci, Leipzig und Wien 1910.
22. Sigmund Freud–Lou Andreas-Salomé Briefwechsel, hg. v. Ernst Pfeiffer, Frankfurt 1966, S. 100.
23. Meyer Schapiro, »Leonardo and Freud«, in: Journal of the History of Ideas 17,2 (April 1956), S. 147. Zur Verteidigung von Freud und zur Diskussion über den Zusammenhang der Neid-Zeichnungen mit dem Milan siehe Kurt Eissler, Leonardo da Vinci: Psychoanalytic Notes on the Enigma, New York 1961, und Alessandro Nova, »The Kite, Envy and a Memory of Leonardo da Vinci’s Childhood«, in: Lars Jones (Hg.), Coming About, Cambridge, Mass., 2001, S. 381.
24. Codex Atl., 358 v; Notebooks / MacCurdy, 1:66; Sherwin Nuland, Leonardo da Vinci, New York 2000, S. 18; dt.: Lücke, S. 23.
25. Codex Arundel, 155r; Notebooks / J. P. Richter, 1339; Notebooks / Irma Richter, 247; dt.: Lücke, S. 916 f.
26. Codex Arundel, 156r; Notebooks / J. P. Richter, 1217; Notebooks / Irma Richter, 246; dt.: Lücke, S. 917.
27. Kay Etheridge, »Leonardo and the Whale«, in: Fiorani and Kim.
28. Codex Arundel, 155b; Notebooks / J. P. Richter, 1218, 1339n; dt.: Lücke, S. 917.