KAPITEL 2
Lehrjahre
Florenz in den 1480er-Jahren. Im Zentrum die Kathedrale mit Brunelleschis Kuppel und dem Palazzo della Signoria, dem Sitz des Stadtparlaments zu seiner Rechten.
UMZUG
Ungeachtet der Verwicklungen, die das Aufwachsen innerhalb einer Großfamilie mit sich brachte, führte Leonardo bis zu seinem zwölften Lebensjahr ein vergleichsweise ruhiges Leben in Vinci. Er wohnte vorwiegend bei seinen Großeltern und seinem faulen Onkel Francesco im Zentrum der Stadt. Bis zu seinem fünften Lebensjahr wurden auch sein Vater und seine Stiefmutter als dort lebend aufgelistet, danach jedoch war Florenz ihr Hauptwohnsitz. Leonardos Mutter und ihr Ehemann wohnten mit ihrer wachsenden Kinderschar zusammen mit Accattabrigas Eltern und der Familie seines Bruders auf einem Bauernhof unweit der Stadt.
Doch im Jahr 1464 zerbrach diese heile Welt. Leonardos Stiefmutter Albiera starb bei der Geburt ihres ersten Kindes, das ebenfalls nicht überlebte. Auch sein Großvater, das Oberhaupt des Haushalts in Vinci, war kurz zuvor verstorben. Daher wurde Leonardo, als er in das Alter kam, um mit einer Ausbildung zu beginnen, von seinem allein lebenden und vermutlich noch nicht wieder verheirateten Vater nach Florenz gebracht.1
Da Leonardo in den Notizbüchern nur selten über seine Gefühle berichtet, ist schwer zu sagen, was er angesichts dieses Umzugs empfand. Nur die Fabeln, die er bisweilen notierte, gewähren einen flüchtigen Blick in seinen Seelenzustand. Eine handelt von der traurigen Odyssee eines Steins, der in einem Hain auf einem Hügel umgeben von bunten Blumen lag – mit anderen Worten, an einem Ort wie Vinci. Als er die vielen Steine am Weg unterhalb des Hügels sah, beschloss er, sich zu ihnen zu gesellen. »Was tue ich hier zwischen all diesen Pflanzen?«, fragte der Stein. »Ich will mit meinen steinernen Geschwistern zusammenleben.« Also rollte er den Hügel hinab zu den anderen. »Doch bald schon«, erzählt Leonardo, »wurde er von den Rädern der Karren, den Hufeisen der Pferde und den Füßen der Vorübergehenden traktiert. Manchmal erhob er sich ein wenig, wenn er mit Schlamm oder dem Dung eines Tieres bedeckt war, und blickte wehmütig zu dem friedvollen und abgeschiedenen Ort hinauf, von dem er gekommen war.« Leonardo zieht eine Moral aus dieser Geschichte: »Das geschieht jenen, die ihr abgeschiedenes und besinnliches Leben aufgeben, um in der Stadt unter lauter unendlich bösen Menschen zu wohnen.«2
In seinen Notizbüchern finden sich zahlreiche Lobgesänge auf das Landleben und die Abgeschiedenheit. Du musst »deine Behausung in der Stadt verlassen, von Freunden und Verwandten scheiden und über Berge und Wälder durch ländliche Orte schweifen«, weist er ehrgeizige Maler an. »Wenn du allein bist, wirst du ganz dir selbst gehören.«3 Diese Lobpreisungen auf das Landleben klingen romantisch und sind verlockend, wenn man am Bild des einsamen Genies festhalten möchte, doch mit Leonardos Lebensrealität haben sie nur wenig zu tun. Den größten Teil seiner Karriere verbrachte er nämlich umgeben von Schülern, Gefährten und Patronen in Florenz, Mailand und Rom, also in überfüllten Zentren des Handels und der Kreativität. Nur selten zog er sich allein aufs Land zurück, um längere Zeit in Abgeschiedenheit zu verbringen. Wie viele Künstler wurde er durch die Gesellschaft von Menschen mit ganz unterschiedlichen Interessen stimuliert. Auch wenn er damit gegenteiligen Aussagen in seinen Notizbüchern widerspricht, erklärt er an einer Stelle: »Es ist viel besser, in Gesellschaft zu zeichnen als allein.«4 Das Vorbild, das ihm sein Großvater und sein Onkel durch ihr ruhiges Landleben gaben, mag seine Vorstellungswelt beeinflusst haben, nicht aber seine Lebenspraxis.
Während seiner ersten Jahre in Florenz lebte Leonardo bei seinem Vater, der für seine rudimentäre Ausbildung sorgte und ihm bald darauf zu einer guten Lehrstelle und zu Aufträgen verhalf. Eines jedoch tat Ser Piero nicht, obwohl es für einen so gut vernetzten Notar wie ihn ein Leichtes gewesen wäre: Er versuchte nicht, aus Leonardo auf dem Rechtsweg einen legitimen Sohn zu machen. Dazu hätten Vater und Sohn nur beim »conte palatino« (Pfalzgraf), einem lokalen Würdenträger mit der Entscheidungsbefugnis über Fälle wie diesen, erscheinen und ein Gesuch einreichen müssen, während das Kind vor dem Amtsträger kniete.5 Angesichts der Tatsache, dass Piero keine anderen Kinder hatte, ist seine Entscheidung, Leonardo nicht zu legitimieren, durchaus überraschend.
Ein Grund dafür mag gewesen sein, dass Piero hoffte, noch einen Erben zu bekommen, der die Familientradition fortführen und Notar werden würde, denn bereits mit zwölf Jahren war klar, dass Leonardo keinerlei Neigung dazu verspürte. Nach Vasari hatte auch Piero bemerkt, dass sein Sohn »niemals das Zeichnen und plastische Arbeiten (vernachlässigte), die mehr als alles andere seine Fantasie anregten«.6 Hinzu kam eine nur schwer zu umgehende Regel der Notargilde, die auch legitimierten unehelichen Söhnen die Mitgliedschaft verwehrte. Deshalb sah Piero vermutlich gar keinen Grund, diesen Weg zu beschreiten. Zumal Aussicht auf einen weiteren Sohn bestand, der seine Nachfolge als Notar antreten konnte, denn nur ein Jahr später heiratete Piero die Tochter eines bekannten Florentiner Notarkollegen. Einen legitimen Erben, der später tatsächlich Notar wurde, zeugte er allerdings erst in seiner dritten Ehe mit einer Frau, die er 1475 heiratete und die sechs Jahre jünger als Leonardo war.
FLORENZ
Nur wenige Orte in der Geschichte haben so stimulierend auf kreative Prozesse verschiedenster Art gewirkt wie Florenz im 15. Jahrhundert. Die einst von ungelernten Wollspinnern geprägte Wirtschaft der Stadt blühte durch die Verflechtung von Kunst, Technik und Handel auf. Es gab Kunsthandwerker, die mit Seidenfabrikanten und Kaufleuten zusammenarbeiteten, um Stoffe herzustellen, die regelrechte Kunstwerke waren. Im Jahr 1472 existierten 84 Holzschnitzer, 83 Seidenweber, 30 Meistermaler sowie 44 Goldschmiede und Juweliere in Florenz, das zugleich ein Zentrum des Bankwesens war. Der für seinen hohen Goldgehalt bekannte Florin war die vorherrschende Standardwährung in ganz Europa und die Einführung der doppelten, Soll und Haben vermerkenden Buchführung sorgte für einen florierenden Handel. Die führenden Denker der Stadt formulierten einen Renaissance-Humanismus, der die Würde des Einzelnen und den Anspruch auf irdisches Glück durch Bildung postulierte. Florenz hatte die höchste Alphabetisierungsrate in Europa, ein gutes Drittel der Bevölkerung konnte lesen und schreiben. Durch die Förderung des Handels wurde die Stadt zum Finanzzentrum und zu einem Schmelztiegel für Ideen.
»Das schöne Florenz hat alle sieben Dinge, die eine Stadt braucht, um perfekt genannt zu werden«, schrieb der Essayist Benetto Dei 1472, als Leonardo dort lebte. »Erstens genießt es volle Freiheit; zweitens hat es eine große, reiche und elegant gekleidete Bevölkerung; drittens verfügt es über einen Fluss mit sauberem Wasser und Mühlen innerhalb der Mauern; viertens herrscht es über Burgen, Dörfer, Ländereien und Menschen; fünftens hat es eine Universität, an der Griechisch und die Rechenkunst gelehrt werden; sechstens gibt es dort Meister in jeder Kunst; siebentens hat es Banken und Geschäftsvertreter in der ganzen Welt.«7 Jeder einzelne dieser Vorzüge war von großem Wert für eine Stadt (und ist es bis heute). Das gilt nicht nur für »Freiheit« und »sauberes Wasser«, sondern auch für die »elegant gekleidete« Bevölkerung und den Umstand, dass die Universität für ihren Rechen- und Griechischunterricht bekannt war.
Die Kathedrale von Florenz war die schönste ganz Italiens. In den 1430er-Jahren wurde sie vom Architekten Filippo Brunelleschi mit der weltgrößten Kuppel versehen, die als Triumph der Kunst und des Ingenieurswesens galt. Die Verbindung dieser beiden Disziplinen war der Schlüssel zur Florentiner Kreativität. Viele der Künstler waren zugleich Architekten und die Tuchproduktion der Stadt gründete auf der Kombination von Technik, Design, Färbekunst und Handel.
Das Vermischen von Ideen aus unterschiedlichen Bereichen wurde zur Regel, weil hier Menschen aus verschiedenen Berufen und mit ganz unterschiedlichen Fähigkeiten zusammenwirkten. Seidenweber arbeiteten mit Goldschlägern, um exquisite Mode zu erschaffen, Holzschnitzer mit Architekten, um die 108 Kirchen der Stadt auszuschmücken. Aus Läden wurden Ateliers, aus Kaufleuten Finanziers, aus Kunsthandwerkern Künstler.8
Als Leonardo nach Florenz kam, hatte die Stadt etwa 40 000 Einwohner – etwa genauso viele wie in den hundert Jahren zuvor, aber deutlich weniger als die 100 000 Menschen, die um 1300 dort gelebt hatten, bevor der Schwarze Tod und andere Seuchen einen Großteil der Bevölkerung dahinrafften. Es gab mindestens hundert Familien, die als sehr reich gelten konnten. Hinzu kamen etwa 5000 Gildemitglieder, Ladenbesitzer und Händler, die der prosperierenden Mittelschicht angehörten. Da viele von ihnen erst kürzlich zu Wohlstand gelangt waren, mussten sie ihren Status noch bestätigen. Und das taten sie, indem sie unvergleichliche Kunstwerke in Auftrag gaben, luxuriöse goldbestickte Seidenkleidung erwarben, palastartige Villen erbauten (dreißig davon entstanden allein zwischen 1450 und 1470) und die Mäzene von Literaten, Dichtern und humanistischen Philosophen wurden. Der Konsum war beachtlich, aber geschmackvoll. Als Leonardo eintraf, gab es in Florenz mehr Holzschnitzer als Metzger. Die Stadt selbst war zu einem Kunstwerk geworden. »Es gibt keinen schöneren Platz auf der Welt«, schrieb der Dichter Ugolino Verino.9
Anders als einige andere italienische Stadtstaaten wurde Florenz nicht von einem Erbkönigtum beherrscht. Bereits über ein Jahrhundert vor Leonardos Ankunft hatten reiche Kaufleute und Gildenführer eine Republik etabliert, deren gewählte Vertreter im heute als Palazzo Vecchio bekannten Palazzo della Signoria zusammenkamen. »Die Menschen wurden täglich mit Vorführungen, Festspielen und Neuerungen unterhalten«, schrieb der 1483 geborene Florentiner Historiker Francesco Guicciardini. »Sie waren wohlgenährt aufgrund der Lebensmittel, vor denen die Stadt nur so strotzte. Und jede Art von Gewerbe florierte. Begabte und tüchtige Männer hatten ihr Auskommen. Lehrer der Literatur, der Kunst und sonstiger Fertigkeiten waren willkommen und hatten eine Anstellung sicher.«10
Die Republik war jedoch weder demokratisch noch egalitär. Ja, im Grunde war es gar keine richtige Republik, denn die ausführende Macht hinter ihrer Fassade waren die Medicis, eine ungeheuer reiche Bankiersfamilie, die während des 15. Jahrhunderts Politik und Kultur in Florenz bestimmte – und das, ohne ein Amt innezuhaben oder einen erblichen Titel zu besitzen. Erst im 16. Jahrhundert wurden sie zu Erbherzögen, einige Mitglieder der Familie brachten es sogar bis zum Papst.
Nachdem Cosimo de’ Medici um 1430 die Familienbank übernommen hatte, wurde sie zur größten in ganz Europa. Indem sie die Geschicke der reichen Familien des Kontinents lenkten, machten die Medicis sich selbst zu den reichsten von allen. Sie waren Wegbereiter einer modernen Buchführung, also der Abrechnung nach dem Prinzip von Soll und Haben, das eine Triebfeder des Fortschritts in der Renaissance war.
Durch Schmiergelder und Intrigen wurde Cosimo de’ Medici faktisch zum Herrscher von Florenz. Sein Mäzenatentum machte die Stadt zur Wiege der Renaissancekunst und des Humanismus. Als Sammler antiker Manuskripte, der in griechischer und römischer Literatur unterrichtet worden war, unterstützte Cosimo das wiederaufkeimende Interesse an der Antike, das der Kern des Renaissance-Humanismus war. Er gründete und finanzierte die erste öffentliche Bibliothek in Florenz und förderte die zwar einflussreiche, aber informelle Platonische Akademie, in der Gelehrte und Intellektuelle über die Klassiker diskutierten. Er war außerdem Mäzen von Künstlern wie Fra Angelico, Filippo Lippi und Donatello.
Cosimo starb 1464, also in dem Jahr, in dem Leonardo aus Vinci nach Florenz kam. Auf Cosimo folgte zunächst sein Sohn Piero und fünf Jahre später sein berühmter, il Magnifico (der Prächtige) genannter Enkel Lorenzo de’ Medici.
Unter den wachsamen Augen seiner Mutter Lucrezia Tornabuoni, einer versierten Dichterin, war Lorenzo in humanistischer Literatur und Philosophie unterrichtet worden und wurde wie sein Großvater Mäzen der Platonischen Akademie. Er war außerdem ein hervorragender Sportsmann und zeichnete sich bei Turnierkämpfen, beim Jagen, in der Falknerei sowie in der Pferdezucht aus. All das machte ihn zu einem besseren Dichter und Mäzen als Bankier, denn es bereitete ihm weit größeres Vergnügen, den Reichtum der Familie zu verwenden, als ihn zu mehren. Während seiner dreiundzwanzigjährigen Herrschaft förderte er innovative Künstler wie Botticelli und Michelangelo, aber auch die Werkstätten von Andrea del Verrocchio, Domenico Ghirlandaio und Antonio del Pollaiuolo, in denen zur Verschönerung der boomenden Stadt Gemälde und Skulpturen erschaffen wurden.
Lorenzo de’ Medicis Mäzenatentum, sein autokratischer Führungsstil und seine Fähigkeit, ein friedliches Gleichgewicht mit den rivalisierenden Stadtstaaten zu erhalten, trugen bereits am Beginn seiner Karriere dazu bei, aus Florenz einen Hort der Kunst und des Handels zu machen. Außerdem sorgte er durch grandiose öffentliche Spektakel und Veranstaltungen wie Passionsspiele und Karnevalsfeiern für die Unterhaltung der Bürgerschaft. So aufwendig und vergänglich diese Inszenierungen auch sein mochten, sie waren lukrativ und stimulierten die Kreativität und Vorstellungskraft vieler daran beteiligter Künstler – und dies ganz besonders bei Leonardo.
Doch nicht nur die Festkultur in Florenz inspirierte kreative Geister, Ideen aus ganz unterschiedlichen Bereichen miteinander zu verknüpfen. Im Gewirr der Gassen arbeiteten Färber neben Goldschlägern, diese wiederum Tür an Tür mit Brillenmachern, und während der Pausen traf man sich auf der Piazza, um angeregt miteinander zu diskutieren. In der Werkstatt Pollaiuolos wurden anatomische Studien durchgeführt, die jungen Malern und Bildhauern ein besseres Verständnis von der menschlichen Gestalt ermöglichten. Künstler befassten sich mit den Prinzipien perspektivischer Darstellung und lernten, wie einfallendes Licht Schatten und den Eindruck von räumlicher Tiefe erzeugt. Diese offene Arbeitskultur kam vor allem jenen zugute, die in der Lage waren, verschiedene Disziplinen miteinander zu verbinden.
BRUNELLESCHI UND ALBERTI
Das Vermächtnis dieser beiden Universalgelehrten hatte einen prägenden Einfluss auf Leonardo. Der erste, Filippo Brunelleschi (1377–1446), hatte die Kuppel der Kathedrale von Florenz entworfen und war wie Leonardo Sohn eines Notars. In der Hoffnung auf ein kreativeres Leben ließ er sich zum Goldschmied ausbilden. Es kam seinen vielfältigen Interessen jedoch entgegen, dass die Goldschmiede mit anderen Kunsthandwerkern in der Gilde der Seidenweber und Kaufleute zusammengeschlossen waren, zu der auch die Bildhauer gehörten. Brunelleschi begann sich für Architektur zu interessieren und reiste mit seinem Freund Donatello – einem anderen jungen Florentiner Goldschmied, der später Bildhauer werden sollte – nach Rom, um die antiken Bauten zu studieren. Sie vermaßen die Kuppel des Pantheons, untersuchten weitere Großbauten und verleibten sich die Werke römischer Autoren ein, darunter vor allem Vitruvs De Architectura, jenen Lobgesang auf die klassischen Proportionen. Dadurch wurden sie zum Inbegriff multidisziplinärer Interessen und trugen zur Wiederbelebung des antiken Wissens bei, das die Frührenaissance so sehr prägte.
Um den Dom der Kathedrale errichten zu können – eine selbsttragende Konstruktion aus annähernd vier Millionen Ziegeln, die bis heute die größte gemauerte Kuppel der Welt darstellt –, musste Brunelleschi ausgeklügelte mathematische Modelle entwickeln sowie eine Reihe von Hebevorrichtungen und andere technische Apparate erfinden. Der Umstand, dass einige dieser Hebezeuge anschließend für Lorenzo de’ Medicis prächtige Theaterinszenierungen mit ihren fliegenden Gestalten und beweglichen Bühnenbildern verwendet wurden, ist nur ein Beispiel für die verschiedenen, sich gegenseitig befruchtenden schöpferischen Kräfte in Florenz.11
Brunelleschi entdeckte auch antike Konzepte der perspektivischen Darstellung wieder, die der mittelalterlichen Kunst gefehlt hatten, und entwickelte sie weiter. In einem Experiment, das Leonardos Arbeiten vorausahnen ließ, malte er auf eine Tafel einen perspektivischen Blick, der vom Dom aus über die Piazza S. Giovanni auf das Baptisterium fiel. Er bohrte ein kegelförmiges Loch in die Tafel, dessen größere Öffnung sich auf der Rückseite befand. Diese hielt er an sein Auge und blickte durch sie hindurch auf das Baptisterium. Mit Hilfe eines Spiegels, den er mit ausgestrecktem Arm vor sich hielt, konnte er die Reflexion des auf die Vorderseite der Tafel gemalten Bildes mit dem realen Baptisterium vergleichen. Das Wesen realistischen Malens bestand für ihn darin, eine dreidimensionale Ansicht auf eine zweidimensionale Oberfläche zu bringen.
Nach seinem Trick mit der bemalten Tafel zeigte Brunelleschi, wie auf einen Fluchtpunkt zuführende parallele Linien in der Entfernung zusammenzulaufen scheinen. Seine Konzeption der Linearperspektive veränderte nicht nur die Kunst, sondern beeinflusste auch die wissenschaftliche Optik, die Architektur und die Anwendung der euklidischen Geometrie.12
Brunelleschis Nachfolger als Theoretiker der Linearperspektive war mit Leon Battista Alberti (1404–1472) ein anderer Universalgelehrter der Renaissance, der viele der Experimente Brunelleschis verfeinerte und seine Entdeckungen über die Perspektive vertiefte. Wie Leonardo war auch Alberti Künstler, Architekt, Ingenieur und Schriftsteller. Überhaupt ähnelten sie einander sehr, denn beide waren sie uneheliche Söhne wohlhabender Väter, sportlich, gutaussehend, unverheiratet und fasziniert von allem, von der Kunst bis hin zur Mathematik. Anders als bei Leonardo verhinderte Albertis Illegitimität allerdings nicht seine klassische Schulausbildung. Sein Vater half ihm, einen Dispens von den Kirchengesetzen zu erlangen, die uneheliche Kinder von der Priesterweihe oder von Kirchenämtern ausschlossen. Er studierte Recht in Bologna, wurde zum Priester ordiniert und trat als Schreiber in die Dienste des Papstes. Mit Anfang dreißig verfasste Alberti sein Meisterwerk De pictura (Über die Malkunst), in dem er Malerei und Perspektive wissenschaftlich analysierte und dessen italienische Ausgabe Brunelleschi gewidmet war.
Alberti hatte ein starkes Gespür für Zusammenarbeit; er war nach den Worten des Historikers Antony Grafton wie Leonardo ein »Freund der Freundschaft« und ein »herzlicher Mensch«. Zudem besaß er die geschliffenen Manieren eines Höflings. Da er an allem, an jeder Kunst und jeder Technik interessiert war, fragte er Menschen aller sozialen Schichten aus, vom Flickschuster bis zum Universitätsgelehrten, um ihre Geheimnisse zu ergründen.
In einem Punkt unterschied er sich allerdings von Leonardo. Jener verfolgte nicht das Ziel, durch Verbreitung und Veröffentlichung seiner Entdeckungen das menschliche Wissen zu erweitern. Alberti hingegen brauchte den Austausch mit einer Gemeinschaft aus intellektuellen Kollegen, die auf den Entdeckungen der jeweils anderen aufbauen konnten und so wie er die Diskussion und Veröffentlichung der Ergebnisse als Weg ansahen, um Erkenntnisse anzusammeln. Als Meister kollaborativer Praktiken glaubte er nach Grafton an den »öffentlich geführten Diskurs«.
Weil der bereits über sechzigjährige Alberti sich meist in Rom aufhielt, als Leonardo noch ein Teenager in Florenz war, sind die beiden sich wahrscheinlich niemals begegnet. Dennoch hatte Alberti großen Einfluss auf Leonardo, der seine Traktate studierte und ganz bewusst versuchte, seinen Schreibstil und sein Auftreten nachzuahmen. Alberti hatte sich »mit jedem seiner Worte und jeder seiner Bewegungen als Inkarnation von Grazie« etabliert und verkörperte damit einen Stil, den Leonardo sehr bewunderte. »Man muss höchste Kunstfertigkeit in drei Dingen erlangen«, schrieb Alberti, »nämlich im Spazieren durch die Stadt, im Reiten und im Sprechen. Und in allen dreien muss man versuchen, jedem zu gefallen.«13 Leonardo gelang dies.
In De pictura vertieft Alberti Brunelleschis Analyse der Perspektive, indem er mit Hilfe der Geometrie berechnet, wie die Perspektivlinien entfernter Objekte auf zweidimensionalen Flächen dargestellt werden sollten. Auch schlug er den Malern vor, einen aus besonders feinen Fäden gewebten Schleier zwischen sich und dem Motiv aufzuhängen, das sie zu malen gedachten, und dann die Stellen zu markieren, an denen jedes Objekt auf dem Schleier zu sehen war. Mit seinen neuen Methoden verbesserte er nicht nur die Kunstmalerei, sondern machte sich auch um die Kartografie und die Bühnenmalerei verdient. Indem er mathematische Methoden auf die Kunst anwandte, verbesserte er freilich nicht den Status der Maler, sondern leistete der später auch von Leonardo vertretenen Auffassung Vorschub, dass die bildenden Künste den anderen humanistischen Bestrebungen an die Seite zu stellen seien.14
ERZIEHUNG
Leonardos einzige formale Ausbildung bestand im Besuch einer Abakus-Schule, einer Art Grundschule mit Schwerpunkt auf den für Handel und Wirtschaft nützlichen mathematischen Fähigkeiten. Dort lehrte man nicht das Formulieren abstrakter Theorien, sondern vor allem praktische Inhalte, etwa das Erkennen von Analogien zwischen unterschiedlichen Sachverhalten – eine Methode, die Leonardo im Zuge seiner wissenschaftlichen Forschungen immer wieder anwenden sollte, denn das Aufspüren von Mustern und Analogien wurde für ihn zum elementaren Bestandteil der Theoriebildung.
Über Leonardos Zeit in der Abakus-Schule schreibt Vasari, sein vor Begeisterung sprühender und zu Übertreibungen neigender erster Biograf: »Beispielsweise fing er an, sich mit Arithmetik zu beschäftigen, und machte innerhalb weniger Monate dermaßen große Fortschritte, dass er den ihn unterrichtenden Lehrer mit seinen ständig vorgebrachten Zweifeln und Problemstellungen gründlich durcheinanderbrachte.«15 Vasari erwähnt allerdings auch, Leonardo habe sich leicht ablenken lassen, weil er an so vielen Dingen interessiert gewesen sei. Er besaß eine Begabung für Geometrie, beherrschte aber niemals die Gleichungen oder die rudimentäre Algebra, die zu seiner Zeit bekannt waren. Und er lernte kein Latein. Noch in seinen Dreißigern versuchte er diesen Mangel zu beheben, indem er Listen lateinischer Wörter anfertigte, gewissenhaft unbeholfene Übersetzungen abfasste und mit den Regeln der lateinischen Grammatik rang.16
Als Linkshänder schrieb Leonardo meist von rechts nach links, und zwar in der für ihn charakteristischen Spiegelschrift, die laut Vasari »nur mittels eines Spiegels lesbar« sei.17 Bisweilen wird angenommen, Leonardo habe sich aus Gründen der Geheimhaltung für diese Schreibweise entschieden, aber das ist falsch, denn man kann die Texte auch ohne Spiegel lesen. Er ließ die Hand nach links über die Seite gleiten, weil es ihm wie jedem Linkshänder auf diese Weise leichter fiel, die Tinte nicht zu verschmieren. Diese Praktik war gar nicht so ungewöhnlich. Als sein Freund, der Mathematiker Luca Pacioli, Leonardos Spiegelschrift beschrieb, merkte er an, dass auch andere Linkshänder auf diese Weise schrieben. Und ein beliebtes Kalligraphiebuch des 15. Jahrhunderts lehrte linkshändige Leser das Schreiben in lettera mancina, also in Spiegelschrift.18
Dass er Linkshänder war, beeinflusste auch Leonardos Zeichenstil, denn er zeichnete auch von rechts nach links, um die Linien nicht mit der Hand zu verwischen.19 Die meisten Künstler zeichnen schräg nach rechts oben zeigende Schraffuren (wie diese: ///). Leonardos Schraffuren hingegen weisen nach schräg links oben (\\\). Für uns heute hat dieser Stil einen zusätzlichen Vorteil, denn linkshändiges Schraffieren ist ein Indiz dafür, dass eine Zeichnung tatsächlich von Leonardo stammt.
Im Spiegel betrachtet, ähnelt Leonardos Schrift ein wenig der seines Vaters, was darauf hindeuten könnte, dass dieser seinem Sohn das Schreiben beibrachte. Der Umstand, dass Leonardo viele mathematische Berechnungen in herkömmlicher Weise niederschrieb, ist wohl darauf zurückzuführen, dass man den Gebrauch von Spiegelschrift in der Abakus-Schule nicht duldete.20 Linkshänder zu sein war zwar kein größeres Handicap, galt jedoch als seltsam und als eine Eigenschaft, die Worte wie sinister oder linkisch heraufbeschwor. Es war also ein weiterer Aspekt, in dem Leonardo sich von anderen unterschied.
VERROCCHIO
Als Leonardo etwa vierzehn war, verschaffte sein Vater ihm eine Lehrstelle bei seinem Klienten Andrea del Verrocchio, einem versierten Künstler und Ingenieur, der eine der besten Werkstätten in Florenz führte. »Als Messer Piero dies erkannte (…), nahm er eines Tages einige Zeichnungen seines Sohnes und brachte sie seinem guten Freund Andrea del Verrocchio. Eindringlich bat er diesen, ihm zu sagen, ob es von Nutzen wäre, wenn Leonardo sich auch künftig dem Zeichnen widme«,21 schreibt Vasari. Piero kannte Verrocchio gut, denn er beglaubigte für ihn zu dieser Zeit wenigstens vier juristische Vergleiche und Mietpapiere. Dennoch nahm Verrocchio den Jungen wohl wegen seines Könnens als Lehrling an und nicht nur, um dem Vater einen Gefallen zu tun. Er sei, so berichtet Vasari, vom Talent des Jungen »beeindruckt« gewesen.22
Verrocchios Werkstatt, die sich in einer Straße unweit von Pieros Notariat befand, war der perfekte Ort für Leonardo. Verrocchios strenges Lehrprogramm umfasste das Studium von Oberflächenanatomie, Mechanik, Zeichentechniken sowie Licht- und Schatteneffekten auf unterschiedlichen Materialien wie etwa Vorhangstoffen. Als Leonardo mit seiner Lehre begann, entwarf Verrocchios Werkstatt gerade ein geschmücktes Grab für die Medicis, schuf Bronzestatuen von Christus und dem Heiligen Thomas, stellte für einen Festzug Banner aus weißem Taft her, die mit Blumen aus Silber und Gold verziert waren, betreute die Antiken der Medicis und fertigte Madonnen-Gemälde für Kaufleute an, die ihren Reichtum und ihre Frömmigkeit zur Schau stellen wollten. Aus einer Inventur seines Ladens geht hervor, dass dieser einen Esstisch, Betten, einen Globus und eine Vielzahl italienischsprachiger Bücher enthielt, darunter Übersetzungen von Gedichten Petrarcas und Ovids sowie amüsante Kurzgeschichten des im 14. Jahrhundert beliebten Florentiner Schriftstellers Franco Sacchetti. Die in Verrocchios Werkstatt diskutierten Themen betrafen Mathematik, Anatomie, Sektionen, Antiquitäten, Musik und Philosophie. »In seiner Jugend befasste er sich mit den Wissenschaften, besonders mit der Geometrie«, so Vasari.23
Ebenso wie bei seinen fünf, sechs Hauptkonkurrenten war auch Verrocchios Werkstatt kein reines Kunstatelier, sondern eher so etwas wie eine Verkaufsstelle, vergleichbar den Läden der Schuster und Juweliere in derselben Straße. Im Erdgeschoss befand sich ein zur Straße hin offener Werkraum, in dem Kunsthandwerker und Lehrlinge auf ihren Staffeleien, Werkbänken, Öfen, Töpferscheiben und Metallschleifern massenhaft Produkte fertigten. Viele derjenigen, die dort arbeiteten, aßen und lebten gemeinsam in den Quartieren im Obergeschoss. Gemälde und Kunstgegenstände wurden nicht signiert, denn sie sollten gar nicht Ausdruck individuellen Schaffens sein. Bei den meisten handelte es sich um Gemeinschaftsproduktionen, was auch viele der üblicherweise Verrocchio zugeschriebenen Gemälde einschließt. Es war nicht das Ziel des Meisters, kreativen Genies dabei zu helfen, ein Ventil für ihre Originalität zu finden, sondern einen steten Strom marktfähiger Kunstwerke und Artefakte zu erzeugen.24
Aufgrund ihrer fehlenden Lateinkenntnisse wurden die in solchen Werkstätten tätigen Kunsthandwerker nicht zur kulturellen Elite gerechnet. Doch der Status der Künstler begann sich zu wandeln. Mit dem wiedererwachten Interesse an den antiken römischen Autoren waren nicht zuletzt die Schriften Plinius des Älteren in den Blickpunkt geraten, der über die akkurate Wiedergabe der Natur durch die klassischen Künstler zu berichten weiß, dass sogar Vögel auf gemalte Trauben hereinfielen.* Aber auch die Schriften Albertis und die Entwicklung der mathematischen Perspektive verbesserten die soziale und intellektuelle Stellung der Maler, sodass einige von ihnen zunehmend gefragt waren.
Als gelernter Goldschmied überließ Verrocchio viele Malarbeiten anderen, insbesondere einer Gruppe junger Maler, zu denen auch Lorenzo di Credi gehörte. Verrocchio war ein gütiger Meister. Häufig blieben Schüler wie Leonardo auch nach Ende ihrer Lehrzeit bei ihm, um weiter für ihn zu arbeiten, und andere junge Maler wie Sandro Botticelli wurden Teil seines Zirkels.
Verrocchios kollegiale Art hatte allerdings auch einen Nachteil. Da er alles andere als ein strenger Arbeitgeber war, stand seine Werkstatt in dem Ruf, beauftragte Arbeiten nur selten zum vereinbarten Termin abzuliefern. Vasari berichtet, dass Verrocchio einmal vorbereitende Zeichnungen für eine Schlachtszene mit nackten Figuren und andere Darstellungen anfertigte, doch sie seien, aus welchem Grund auch immer, unvollendet geblieben. Für die Fertigstellung mancher Gemälde brauchte Verrocchio Jahre. Doch Leonardo sollte seinen Meister in allem noch weit übertreffen – in der Neigung, sich leicht ablenken zu lassen, angefangene Arbeiten einfach liegen zu lassen oder sich jahrelang mit Gemälden aufzuhalten.
Eine von Verrocchios hinreißendsten Skulpturen ist die 126 Zentimeter hohe Bronzestatue des jungen, über dem abgeschlagenen Kopf Goliaths triumphierenden David (Abb. 1). Sein Lächeln wirkt so aufreizend und geheimnisvoll, dass man sich unwillkürlich fragt, was er wohl gerade denken mag – ähnlich wie man es später bei dem Lächeln auf einigen von Leonardos Gemälden tut. Es oszilliert zwischen dem Ausdruck kindhaften Ruhms und dem Bewusstsein für das Heraufdämmern künftiger Führerschaft. Es ist ein übermütiges Lächeln, just in dem Moment eingefangen, da es beginnt, sich in Entschlossenheit zu verwandeln. Anders als die berühmte Marmorstatue Michelangelos, die David als einen muskulösen erwachsenen Mann zeigt, erscheint Verrocchios David als auffallend hübscher, etwa vierzehnjähriger Junge mit leicht weiblichen Zügen.
Vierzehn – dies war das Alter Leonardos, der wohl gerade erst seine Lehrstelle angetreten hatte, als Verrocchio mit der Arbeit an der Statue begann.25 Die Künstler in Verrocchios Zeit neigten dazu, das klassische Ideal mit naturalistischen Merkmalen zu vermengen, auch wenn seine Statuen sicher keine exakten Porträts bestimmter Modelle waren. Gleichwohl gibt es Hinweise darauf, dass Leonardo für Verrocchios David Modell gestanden hat.26 Das Gesicht der Statue entspricht nicht dem üblichen, bis dahin von Verrocchio bevorzugten Typ. Er verwendete offensichtlich ein neues Modell und der neue, erst kürzlich in der Werkstatt eingetroffene Lehrjunge war die naheliegende Wahl, denn laut Vasari verkörperte der junge Leonardo über seine äußere Schönheit hinaus in jederlei Hinsicht eine große Anmut. Dieses Loblied auf die Anmut des jungen Leonardos hallt auch bei seinen anderen frühen Biografen wider. Ein weiterer Beleg: Das Gesicht des David mit seiner markanten Nase, dem kräftigen Kinn sowie den weichen Wangen und Lippen ähnelt stark dem eines Jungen, den Leonardo am Rand seines Bildes Die Anbetung der Könige aus dem Morgenland malte und der für ein Selbstporträt gehalten wird (Abb. 3), weil er außer dem Gesicht noch weitere Ähnlichkeiten mit Leonardo aufweist.
Wenn man Verrocchios bezaubernden David betrachtet, kann man sich also mit ein wenig Fantasie vorstellen, wie der junge Leonardo ausgesehen haben mag, als er im Atelier für die Statue Modell stand. Darüber hinaus gibt es eine Zeichnung von einem Schüler Verrocchios, bei der es sich wahrscheinlich um die Kopie einer Studie für diese Statue handelt. Sie zeigt das jungenhafte Modell zwar nackt, aber in genau derselben Pose mit der linken Hand an der Hüfte, und auch die kleine Halskuhle am Schlüsselbeinansatz ist identisch (Abb. 2).
Verrocchios Kunst wurde bisweilen als handwerklich abgetan. »Sein Skulpturen- und Malstil war eher hart und derb, so wie bei jemandem, der sich sein Können hart erarbeiten musste, anstatt mit einer angeborenen Gabe ausgestattet zu sein«, schreibt Vasari. Sein David jedoch ist ein Meisterwerk, das den jungen Leonardo beeinflusste. Die Locken Davids wie die im Haupt- und Barthaar Goliaths sind genauso üppige Spiralen und Wirbel, wie sie später auch für Leonardos Kunst charakteristisch sein sollten. Außerdem zeichnet sich Verrocchios Werk (anders als Donatellos Version von 1440) durch eine große Sorgfalt und beachtliches Können in Bezug auf anatomische Details aus. Die beiden Venen an Davids rechtem Arm zum Beispiel sind sehr genau wiedergegeben und treten auf eine Weise hervor, die zeigt, dass er das dolchartige Schwert ungeachtet seiner scheinbaren Lässigkeit sehr fest gepackt hält. Ähnlich verhält es sich mit dem Muskelspiel am linken Unterarm, das genau zur Handhaltung passt.
Die Fähigkeit, Feinheiten der Bewegung auf ein Kunstwerk zu übertragen, gehört zu den nicht genügend gewürdigten Talenten Verrocchios. Leonardo machte sich dieses Können seines Meisters zu eigen und übertraf ihn darin auf seinen eigenen Gemälden dann sogar noch. Mehr als die meisten Künstler vor ihm versah Verrocchio seine Statuen mit Drehungen, Wendungen und fließenden Bewegungen. In seiner Bronze-Gruppe Christus und Thomas, mit der er während Leonardos Lehrzeit begann, dreht sich der Heilige Thomas nach links, um Jesu Wunden zu berühren, der sich seinerseits leicht nach rechts wendet, während er seinen rechten Arm hebt. Durch die Art der Bewegungen wird die Statuengruppe zu einer Erzählung. Sie stellt nicht nur einen bestimmten Moment dar, sondern gibt die gesamte Thomasgeschichte aus dem Johannesevangelium wieder, als der Jünger an der Wiederauferstehung Christi zweifelte und dieser ihn aufforderte: »Reiche deinen Finger her und siehe meine Hände und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite.« Nach Kenneth Clark tritt hier »zum ersten Mal in der Renaissance jener komplizierte Bewegungsfluss der ganzen Komposition auf, erreicht durch kontrastierte Bewegungsachsen, den Leonardo zum Hauptmotiv seiner sämtlichen Konstruktionen machte.«27 Verrocchios Vorliebe für fließende Bewegungen ist auch an den Haaren des Heiligen Thomas und am Bart von Jesus zu erkennen, die wie bei David eine Fülle von Locken und gewundenen Strähnen aufweisen.
Den Gebrauch der Mathematik für kommerzielle Zwecke hatte Leonardo in der Abakus-Schule gelernt, von Verrocchio jedoch lernte er etwas viel Tiefergehendes: die Schönheit der Geometrie. Nach dem Tod Cosimo de’ Medicis entwarf Verrocchio eine Bodenplatte aus Marmor und Bronze für dessen Grab. Sie wurde 1467 fertiggestellt, also ein Jahr, nachdem Leonardo als Lehrling in Verrocchios Werkstatt eingetreten war. Anstelle religiöser Symbole zeigt die Platte geometrische Muster, die von einem Quadrat mit eingefügtem Kreis beherrscht werden – eine Anordnung, wie Leonardo sie später auch in seiner Zeichnung Der vitruvianische Mensch verwenden sollte. Innerhalb des Quadrats befinden sich Einlegearbeiten aus sorgfältig proportionierten Rechtecken und Halbkreisen in Farben, die auf den harmonischen Verhältnissen der pythagoreischen Stimmung beruhen.28 Es war also Verrocchio, von dem Leonardo etwas über die Harmonie der Proportionen lernte und der ihm beibrachte, dass die Geometrie so etwas wie der Pinselstrich der Natur ist.
Abb. 1: Verrocchios David
Abb. 2: Zeichnung, die wahrscheinlich den für Verrocchios David modellstehenden Leonardo zeigt
Abb. 3: Vermutliches Selbstbildnis Leonardos in Die Anbetung der Könige aus dem Morgenland
Geometrie und Harmonie spielten auch zwei Jahre später eine Rolle, als Verrocchios Werkstatt den Auftrag erhielt, ein Kreuz auf einer vergoldeten Kupferkugel als Bekrönung für Brunelleschis Domkuppel in Florenz zu erschaffen. Es wurde ein Triumph von Kunst und Technik. Leonardo war neunzehn, als die Bekrönung im Jahr 1471 unter Fanfarenstößen und Lobpreisungen angebracht wurde. Durch dieses Projekt, auf das er sich noch Jahrzehnte später in seinen Notizbüchern beziehen sollte, erlangte er ein Gefühl für das Zusammenspiel von Kunst und Ingenieurswesen. Er fertigte liebevolle und detaillierte Zeichnungen der in Verrocchios Werkstatt verwendeten Flaschenzüge und Räderwerke an, von denen einige auf Entwicklungen Brunelleschis zurückgingen.29
Die Konstruktion der Kugel aus Stein, der mit acht vergoldeten Kupferblechen verkleidet wurde, entfachte auch Leonardos Faszination für die Optik und die Geometrie von Lichtstrahlen. Es gab keine Schweißbrenner zu dieser Zeit, sodass die dreieckigen Kupferbleche mit Hilfe etwa ein Meter großer Hohlspiegel verlötet werden mussten, die das Sonnenlicht auf einem heißen Punkt konzentrierten. Ein Verständnis für Geometrie war unerlässlich, um den präzisen Winkel der Lichtstrahlen zu berechnen und den Spiegel mit der richtigen Wölbung zu versehen. Leonardo war fasziniert – bisweilen geradezu besessen – von den »Feuerspiegeln«, wie er sie nannte. Über die Jahre fertigte er in seinen Notizbüchern beinahe 200 Zeichnungen über den Bau von Hohlspiegeln an, die Lichtstrahlen in unterschiedlichen Winkeln bündeln. Annähernd vierzig Jahre später, als er in Rom an großen, waffenfähigen Hohlspiegeln arbeitete, notierte er: »Erinnere dich, wie die Kugel von Santa Maria del Fiore zusammengeschweißt wurde.«30
Beeinflusst wurde Leonardo auch von Antonio del Pollaiuolo, Verrocchios größtem Konkurrenten in Florenz. Mehr noch als Verrocchio experimentierte Pollaiuolo mit der Darstellung sich bewegender und drehender Körper und führte Sektionen durch, um die menschliche Anatomie zu studieren. Nach Vasari »verstand er die Nacktheit auf modernere Weise als die anderen Meister und häutete viele menschliche Körper, um die Anatomie darunter zu sehen. Er war der erste, der Muskeln untersuchte.« In seinem Kupferstich Kampf der nackten Männer sowie der Bronzegruppe und dem Gemälde Herkules und Antäus stellte Pollaiuolo Kämpfer in kraftvoll verdrehten, gerade noch realistischen Posen dar, während sie aufeinander einstachen und versuchten, sich gegenseitig niederzuringen. In den Grimassen der Gesichter und den verdrehten Gliedern bringt Pollaiuolo die Anatomie der Muskeln und Sehnen zum Ausdruck.31
Leonardos Vater würdigte die Vorstellungskraft und die Fähigkeit seines Sohnes, die Kunst und die Wunder der Natur miteinander zu verbinden, durchaus und profitierte in einem Fall sogar davon: Ein Bauer aus Vinci bat Piero eines Tages, ein kleines Holzschild mit nach Florenz zu nehmen, um es dort bemalen zu lassen. Piero übertrug Leonardo diese Aufgabe, der beschloss, ein furchterregendes, feuer- und giftspeiendes, drachenartiges Ungeheuer zu erschaffen. Um die Darstellung möglichst naturgetreu erscheinen zu lassen, ließ er sich vom Erscheinungsbild realer Eidechsen, Grillen, Schlangen, Schmetterlinge, Heuschrecken und Fledermäuse inspirieren. »Und dabei mühte Leonardo sich so lange mit diesem Werk, dass sein Arbeitszimmer vom Gestank der toten Tiere erfüllt war, den er selbst allerdings wegen seiner großen Liebe zur Kunst nicht bemerkte«, schreibt Vasari.32 Als Piero schließlich kam, um das Bild abzuholen, wich er vor Schreck zurück, weil ihm das Bildnis im Dämmerlicht wie ein echtes Ungeheuer erschien. Piero entschied sich, die Schöpfung seines Sohnes zu behalten, und erwarb für den Bauern ein anderes Schild. »Kurz darauf verkaufte Messer Piero Leonardos Schild für hundert Dukaten heimlich an einige Kaufleute in Florenz, und schon kurze Zeit später kam er in die Hände des Herzogs von Mailand, der ihn von besagten Kaufleuten für dreihundert Dukaten erworben hatte.«33
Dieses Schild ist das vielleicht erste bekannte Kunstwerk Leonardos und zeigt bereits sein Talent für die Verbindung von Fantasie und Naturbeobachtung. In den Notizen für sein geplantes Traktat über die Malerei sollte er später schreiben: »Wenn du also einem von dir erdachten Tier – sagen wir einem Drachen – ein natürliches Aussehen geben willst, dann nimm für das Haupt den Kopf eines Bluthundes oder Bracken, für die Augen die einer Katze, für die Ohren die eines Stachelschweins, und dazu die Schnauze eines Windhundes, die Brauen eines Löwen, die Schläfen eines alten Hahns und den Hals einer Wasserschildkröte.«34
FALTENWÜRFE, CHIAROSCURO UND SFUMATO
Eine der Übungen in Verrocchios Werkstatt war das Zeichnen von »Draperiestudien«, die zumeist mit feinen Pinselstrichen in schwarzer und weißer Lavur auf Leinwand ausgeführt wurden. Nach Aussage Vasaris machte Leonardo »Tonfiguren, die er mit weichen, in Gips getränkten Tüchern überzog, um sie dann geduldig auf feinste Leinwände und andere geeignete Gewebe zu malen. Er führte diese Zeichnungen mit der Spitze seines Pinsels in Schwarz und Weiß aus.«35 Seine samtartige Darstellungsweise drapierter Falten und Wellen zeichnete sich durch eine gekonnte Lichtführung, fein abgestufte Schatten und gelegentliche Glanzlichter aus (Abb. 4).
Abb. 4: Leonardo zugeschriebene Draperiestudie aus Verrocchios Werkstatt (ca. 1470)
Bei einigen der Draperiezeichnungen aus Verrocchios Werkstatt scheint es sich um Studien für Gemälde zu handeln, während andere wohl nur zu Übungszwecken angefertigt wurden. Die Zeichnungen führten zu lebhaften akademischen Diskussionen über die Frage, welche davon aus Leonardos Hand stammen und welche eher von Verrocchio, Ghirlandaio oder anderen Kollegen geschaffen wurden.36 Der Umstand, dass die Zuschreibungen so schwierig sind, ist der gemeinschaftlichen Arbeitsweise in Verrocchios Atelier geschuldet.
Die Draperiestudien halfen Leonardo, die entscheidenden Komponenten seines künstlerischen Genies zu entwickeln. Zum einen lehrten sie ihn, auf einer zweidimensionalen Oberfläche die Illusion von Dreidimensionalität und räumlicher Tiefe zu erzeugen. Zum anderen schulten diese Übungen seine Beobachtungsgabe hinsichtlich der subtilen Wirkung des Lichts, indem sie seinen Blick für die Glanzlichter auf Oberflächen, die Helligkeitsunterschiede innerhalb von Falten oder den Anflug eines reflektierenden Schimmerns schärften, der sich in den Tiefen eines Schattens zeigt. »Die erste Aufgabe eines Malers ist es, auf einer planen Oberfläche einen erhabenen Körper zu erschaffen, so als sei er losgelöst von eben dieser Fläche. Und demjenigen, der alle anderen darin übertrifft, gebührt das größte Lob, denn diese Fertigkeit ist die Krönung der Malerei und erwächst aus Licht und Schatten, um nicht zu sagen aus Hell und Dunkel (chiaro e scuro).«37 Diese Aussage kann als Leonardos künstlerisches Manifest gelten oder doch zumindest als ein Kernpunkt davon.
Chiaroscuro ist aus den italienischen Worten für »hell« und »dunkel« zusammengesetzt und bezeichnet eine Gestaltungstechnik, die mit Hilfe starker Hell-Dunkel-Kontraste den Eindruck von Räumlichkeit erzeugen soll. Wenn Leonardo diese Maltechnik anwandte, erzeugte er die Dunkelheitsabstufungen jedoch nicht durch eine stärkere Sättigung der Farbtöne, sondern durch die Beimischung von Schwarz. Bei seiner Madonna Benois etwa malte er das blaue Kleid der Jungfrau Maria in Schattierungen, die von beinahe Weiß bis zu fast Schwarz reichen.
Beim Anfertigen von Draperiestudien erkundete Leonardo bereits die Möglichkeiten der von ihm entwickelten Technik des Sfumato, bei der Hintergründe wie durch einen Nebel und mit weichen Konturen wiedergegeben werden. Diese Maltechnik gibt dem Künstler die Möglichkeit, entfernte Gegenstände so blass und undeutlich darzustellen, wie sie dem menschlichen Auge tatsächlich erscheinen. Diese Neuerung veranlasste Vasari, Leonardo als Erfinder der »modernen Methode« in der Malerei zu bezeichnen, und der Kunsthistoriker Ernst Gombrich schrieb: »Hierin liegt das Wesen von Leonardos berühmter Erfindung, die die Italiener ›Sfumato‹ nennen, die etwas verwischten Konturen und verschleierten Farben, die die Formen verschmelzen und unserer Phantasie einen gewissen Spielraum überlassen.«38
Der Begriff Sfumato ist vom italienischen Wort für »Rauch« (fumo) abgeleitet und bedeutet so viel wie »verraucht«, spielt also auf das Phänomen des langsamen Sich-Auflösens von Rauch in der Luft an. »Deine Schatten und Lichter sollen nahtlos ineinander übergehen, so wie Rauch, der sich in der Luft verliert«, schreibt Leonardo in einer Serie von Leitsätzen für junge Maler.39 Von den Augen seines Engels in Die Taufe Christi bis zum Lächeln der Mona Lisa geben die verschwommenen, wie mit Rauch umhüllten Kanten unseren eigenen Vorstellungen Raum. Ohne scharfe Konturen erscheinen Blicke und Lächeln ebenso rätselhaft wie mysteriös.
KRIEGER MIT HELMEN
Im Jahr 1471, etwa zu der Zeit, als die Kupferkugel auf der Kuppel der Kathedrale angebracht wurde, waren Verrocchio und seine Mitarbeiter wie die meisten Künstler in Florenz in die von Lorenzo de’ Medici organisierten Feierlichkeiten involviert, die anlässlich des Besuches von Galeazzo Maria Sforza stattfanden, des grausamen, autoritären und bald darauf ermordeten Herzogs von Mailand. In Begleitung Galeazzos befand sich sein dunkelhäutiger und charismatischer jüngerer Bruder Ludovico Sforza, der gerade neunzehn und damit im selben Alter wie Leonardo war. (An ihn schickte Leonardo elf Jahre später seinen berühmten Bewerbungsbrief.) Verrocchios Werkstatt hatte zwei Hauptaufgaben bei den Feiern: die Herrichtung der Gästequartiere der Medicis und die Herstellung einer Rüstung samt Schmuckhelm als Geschenk für Galeazzo.
Der Reiterzug des Herzogs von Mailand beeindruckte sogar die von den Spektakeln der Medicis verwöhnten Florentiner. Er umfasste 2000 Pferde, 600 Soldaten, tausend Jagdhunde, Falken, Falkner, Trompeter, Flötenspieler, Barbiere, Hundetrainer, Musiker und Dichter.40 Eine Entourage, die mit ihren eigenen Barbieren und Dichtern reist, kann man nur bewundern.
Obwohl gerade Fastenzeit war und anstelle öffentlicher Zweikämpfe und Turniere drei religiöse Aufführungen stattfanden, war die allgemeine Stimmung alles andere als fastenmäßig. Der Besuch der Sforzas markierte den Höhepunkt der Medici-Praktik, der Unzufriedenheit des Volkes mit Festspielen und Spektakeln entgegenzuwirken.
Für Machiavelli, der neben seinem Handbuch für autoritäre Herrscher auch eine Geschichte von Florenz schrieb, war die Neigung zum Prunk verbunden mit einem Niedergang, der die Stadt während dieser Periode relativen Friedens erfasste, als Leonardo dort als junger Künstler arbeitete: »Die unbeschäftigten jungen Leute verschleuderten Zeit und Gut für Kleider, Gastmähler und dergleichen Sinnengenüsse, im Spiel und mit Weibern, und ihr Trachten ging nur dahin, in prachtvollen Anzügen zu erscheinen und scharfe Reden vernehmen zu lassen. Wer die spitzeste Zunge hatte, galt für den weisesten. Zur Vermehrung dieser Unsitte trugen noch die Höflinge des Herzogs von Mailand bei, der mit seiner Gemahlin und seinem ganzen Hofe, wie er sagte, zur Erfüllung eines Gelübdes nach Florenz kam, wo er mit dem Pomp empfangen ward, welcher für einen solchen Fürsten und so großen Freund der Republik passte.« Als im Zuge der Feiern eine Kirche bis auf die Grundmauern niederbrannte, betrachtete man dies als göttliche Strafe, denn – so Machiavelli – »während der Fastenzeit, in welcher man gemäß dem Kirchengebote der Fleischspeisen sich enthalten soll, aß des Herzogs ganzer Hof Fleisch, ohne Ehrfurcht vor Gott und der Kirche«.41
Leonardos berühmteste frühe Zeichnung könnte durch den Besuch des Herzogs von Mailand inspiriert worden sein oder nimmt sogar darauf Bezug.42 Sie stellt einen römischen Krieger mit markanten Zügen und Schmuckhelm auf dem Kopf im Profil dar (Abb. 5). Sie ist an eine Zeichnung Verrocchios angelehnt, dessen Atelier, wie erwähnt, einen solchen Helm als Geschenk der Stadt Florenz an den Herzog entworfen hatte. Umständlich mit einem Silberstift auf eingefärbtes Papier gezeichnet, trägt Leonardos Krieger einen Helm, der mit einer überaus realistisch wirkenden Vogelschwinge und jenen Schnörkeln aus Spiralen und Voluten verziert ist, die er so sehr liebte. Auf dem Brustharnisch ist ein herrlicher, wenngleich etwas grotesker Löwenkopf angebracht. Das subtil gezeichnete, mit feinen Schattierungen aus akkuraten Schraffuren versehene Gesicht des Kriegers ist so ausdrucksstark, dass Wangen, Brauen und Unterlippe beinahe karikaturhaft überzeichnet wirken. Hinzu kommen die Hakennase und das ausladende Kinn, die ein Profil erzeugen, das so etwas wie ein Leitmotiv in Leonardos Zeichnungen werden sollte, nämlich der bärbeißige alte Krieger mit noblen und zugleich ein wenig lächerlichen Zügen.
Abb. 5: Ein Krieger
Der Einfluss Verrocchios ist nicht zu übersehen. Von Vasari wissen wir, dass Verrocchio ein Relief mit zwei Metallköpfen erschuf, von denen das eine Alexander den Großen im Profil zeigte und das andere ein fantasievolles Porträt des persischen Großkönigs Darius, des Gegenspielers von Alexander. Beide Kunstwerke sind heute zwar verloren, aber durch zahlreiche Kopien aus jener Zeit bekannt. Die bedeutendste Nachbildung ist ein Marmorrelief in der Washington National Gallery, das den jungen Alexander zeigt und Verrocchios Werkstatt zugeschrieben wird. Darauf trägt der Makedone einen ähnlich verzierten Helm mit einem geflügelten Drachen und einen Brustharnisch mit einer brüllenden Fratze. Unter dem Helm quillt eine üppige Lockenpracht hervor, wie sie auch zum Markenzeichen von Verrocchios Schülern wurde. In seiner eigenen Zeichnung ließ Leonardo ein Tier mit weit geöffnetem Maul weg, das Verrocchio auf der Spitze des Helms platziert hatte; außerdem verwandelte er den Drachen in Pflanzenspiralen und gestaltete den Entwurf insgesamt weniger kompliziert. »Durch seine Vereinfachungen lenkte Leonardo den Blick des Betrachters auf (…) die Beziehung zwischen Mann und Tier«, schreiben Martin Kemp und Juliana Barone.43
Nicht nur bei seinem Darius und Alexander stellte Verrocchio das Profil eines runzeligen alten Kriegers neben das eines hübschen jungen – ein Motiv, das später auch häufig in Leonardos Zeichnungen und Notizbuchkritzeleien auftaucht. Ein weiteres Beispiel für diese Vorliebe seines Meisters ist Verrocchios Silberrelief Die Enthauptung Johannes des Täufers, das er für das florentinische Baptisterium schuf und auf dem sich am rechten Rand ein junger und ein alter Krieger anblicken. Als diese Arbeit um 1477 entstand, war Leonardo 25, und es ist unklar, wer hier wen beeinflusste. Der alte und der junge Krieger sowie ein engelhafter Junge auf der linken Reliefseite zeichnen sich nämlich durch eine so lebendige Bewegtheit und einen derart emotionsgeladenen Gesichtsausdruck aus, dass eine Beteiligung Leonardos durchaus denkbar erscheint.44
FESTSPIELE UND THEATERAUFFÜHRUNGEN
Für die Künstler und Ingenieure in den Werkstätten von Florenz war die Mitarbeit bei den Festspielen und Spektakeln der Medicis ein wichtiger Bestandteil ihrer Tätigkeit. Für Leonardo war dies überdies ein echter Genuss. Er hatte sich bereits einen Namen gemacht als jemand, der bunte Kleidung, Brokatwämser und rosafarbene Tuniken liebte, und war auch für seine fantasievollen Theaterinszenierungen bekannt. Über die Jahre befasste er sich in Florenz, danach auch in Mailand mit dem Entwurf von Kostümen, Bühnenbildern, bühnentechnischen Apparaturen, Spezialeffekten, Beleuchtungen, Bannern und Unterhaltungsprogrammen. Von seinen Theateraufführungen sind jedoch nur einige Skizzen in den Notizbüchern übrig geblieben. Man könnte sie als Ablenkung abtun, doch tatsächlich gaben sie ihm die Gelegenheit, die Kunst und das Ingenieurswesen auf genussvolle Weise miteinander zu verknüpfen, was einen prägenden Einfluss auf seine Persönlichkeit hinterließ.45