Jennifer Castle

Midnight in Manhattan

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch
von Franka Reinhart

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Jennifer Castle

© Juliet Lofaro

Jennifer Castle studierte Englische Literatur und Kreatives Schreiben an der Brown University. Sie arbeitete als Werbetexterin, entwickelte Webseiten für Kinder und schrieb einige (bisher unveröffentlichte) Drehbücher, bevor sie sich an ihren ersten Roman wagte. Mittlerweile hat sie mehrere Jugendbücher geschrieben, für die sie mehrfach ausgezeichnet wurde. Sie lebt mit ihrem Mann, zwei Töchtern und zwei Katzen im Hudson Valley, New York.

 

 

Franka Reinhart studierte in Leipzig und ist akademisch geprüfte Übersetzerin für Englisch. Sie überträgt seit über fünfzehn Jahren Kinder- und Jugendbücher sowie Sachbücher und Krimis für Erwachsene ins Deutsche und hat u.a. Werke von Jane Casey, Morgan Matson, Colleen McCullough, Catherine Rider, Paul Theroux und Ella Mills übersetzt.

Über das Buch

Viel mehr als eine Liebesgeschichte

 

Winterferien in New York: Kendall, 17, gerade von einem Auslandssemester in Europa nach Hause zurückgekehrt, verbringt die Woche nach Weihnachten bei ihrem älteren Bruder in Manhattan. Als sie sich mit ihrem Schwarm Jamie und dessen Freund Max trifft, werden die drei Zeugen eines Unfalls. Eine junge Frau hat sich im Streit von ihrem Freund losgerissen und ist vor den Bus gelaufen. Der Einzige, mit dem Kendall über das Erlebte reden kann, ist Max. Auch er wird die Schuldgefühle nicht los, zu wenig getan zu haben, um den Unfall zu verhindern. Gemeinsam beschließen sie, bis Silvester sieben völlig Unbekannten spontan ihre Hilfe anzubieten. Siebenmal Hilfe – für jede Person, die an der Bushaltestelle stand und nicht eingegriffen hat. Sieben Tage, an denen Kendall Max immer näher kommt. Und ihr Herz in tiefes Chaos stürzt …

Impressum

Deutsche Erstausgabe

2018 dtv Verlagsgesellschaft mbH und Co. KG, München

© 2018 Jennifer Castle

Titel der amerikanischen Originalausgabe: ›Together at Midnight‹,

2018 erschienen bei HarperTeen

HarperTeen is an imprint of HarperCollins Publishers, New York (USA)

© für die deutschsprachige Ausgabe:

2018 dtv Verlagsgesellschaft mbH und Co. KG, München

Umschlaggestaltung: Alexandra Bowien/dtv

unter Verwendung eines Fotos von gettyimages/Michael Grimm

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-43459-1 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-74040-1

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423434591







Für Kathleen Spring,

die es so einfach aussehen ließ

26. Dezember

Kendall

Hier also eine Liste:

Pläne für ein perfektes neues Jahr

Nein, das baut viel zu viel Druck auf. Ich streiche perfekt durch und schreibe stattdessen nicht nervig hin, obwohl ich genau weiß, dass selbst nicht nervig unrealistisch sein dürfte.

1. Mich endgültig darauf vorbereiten, zurück an die Fitzpatrick zu gehen.

Ich habe zwar keine Ahnung, wie ich das hinbekommen soll, aber es aufzuschreiben fühlt sich wenigstens wie ein erster Schritt an. Ich habe das letzte Schulhalbjahr im Ausland verbracht und bin jetzt wieder zu Hause. Meine Highschool steht immer noch da, genau wie ich sie zurückgelassen habe. Während ich weg war, ist sie leider nicht in Flammen aufgegangen. Wenn die Weihnachtsferien in sieben Tagen vorbei sind, muss ich dort also wieder mein Dasein fristen.

2. Mein Buch anfangen. Und es dann – koste es, was es wolle – auch FERTIG bekommen.

In meinem Roman geht es um das Ende der Welt. Einen Titel habe ich schon: Midnight in Manhattan. Außerdem gibt es schon Zeichnungen und Kurzbios von allen Hauptfiguren. Jetzt muss ich nur noch mit dem eigentlichen Schreiben anfangen. Das ist der Teil, der keinen Spaß macht. Deshalb bringe ich es auch nie fertig und muss es auf eine blöde Liste setzen.

3. Genügend Zeit mit Ari verbringen.

Das ist meine beste Freundin. Wir waren noch nie so lange voneinander getrennt. Während ich weg war, haben wir zwar ab und zu gemailt, aber ich muss wissen, ob sie immer noch ihren angestammten Platz in meinem Leben hat. Vor allem jetzt, wo dort auch noch ihr Freund untergebracht werden muss. (Seufz.)

4. Mich bei Jamie melden.

Ich starre auf diese vier simplen Worte. Dann füge ich hinzu:

Ihm mitteilen, dass ich wieder zu Hause bin. Mich mit ihm verabreden.

Doch das ist mir immer noch zu wenig, deshalb ergänze ich:

Ein Paar werden. Zusammen einen tollen Frühling verbringen. Zum Abschlussball gehen. VERLIEBT SEIN.

Nein. Nichts überstürzen. Ich streiche die letzten zwei Wörter.

Jamie habe ich vorigen Sommer kennengelernt, als Ari ganz frisch mit Camden zusammen war. Wir haben uns auf Anhieb gut verstanden und ich fand ihn wirklich toll, bis er mir gesagt hat, dass er mich eher freundschaftlich mag. Als ich in Europa war, hat er mir eins von seinen Fotos gemailt. Ich habe ihm dann eins von mir zurückgeschickt. Und in den letzten Monaten wurde unser Mailaustausch so extrem, dass ich ständig meinen Posteingang kontrollieren musste, was einerseits schrecklich war, aber andererseits auch fantastisch.

So. Diese Liste wird mich motivieren, entweder endlich aufzustehen oder mich noch mehr in meinem Bett zu verkriechen. Wir werden sehen. Zumindest hat sie fertiggebracht, wofür sämtliche meiner Listen da sind – die Denkwürmer in meinem Kopf aus der Reserve zu locken und ihnen klarzumachen: Lasst das Mädchen schön in Ruhe! Kommt spielen – und zwar hier, auf diesem hübschen weißen Blatt!

Ich lege Stift und Notizbuch weg und sehe mich in meinem Zimmer um. Über das Projekt »Movable School« bin ich nach Paris, Rom und London gereist, nach Saint-Tropez und Monaco, ins hügelig grüne Irland und an die weißen Klippen von Dover. Jetzt bin ich zurück in meinen rosa-violetten vier Wänden und starre auf ein Poster mit Torte naschenden Kätzchen. (Die Kätzchen sind immer noch so süß wie damals, als ich elf war, aber nun ja.) Wie soll ich mich hier jemals wieder zurechtfinden?

In unserem Haus gibt es noch jemanden, der solche Gedanken gut kennt und mir vielleicht einen Rat geben kann. Ich mache mich auf die Suche nach ihm.

Als ich mein Zimmer verlasse, tätschele ich meinen riesigen roten Koffer. Er steht noch so gut wie unangetastet neben der Tür. Vor drei Tagen bin ich aus Europa zurückgekehrt und seitdem schiebe ich das Auspacken vor mir her.

Mein Bruder Emerson liegt ausgestreckt auf seinem Bett, als ob ihn jemand aus drei Metern Entfernung dort hingeworfen und dann zugedeckt hätte. Auf den ersten Blick kann ich nicht erkennen, welche Beule in der Decke zu welchem Körperteil gehört. Ich will auf gar keinen Fall seinen Kopf berühren, nur um feststellen zu müssen, dass es gar nicht sein Kopf ist. Das ist mir nämlich schon mal passiert. Ich betrachte ihn einen Moment. Seine Arme und Beine hängen seitlich herunter, denn auf dieser Matratze hat er schon mit zwölf geschlafen.

Eine der Deckenbeulen bewegt sich. Es ist definitiv sein Kopf. Ich strecke die Hand danach aus und tippe ihn an.

»Hey«, flüstere ich.

Mein Bruder stöhnt wie ein Tier, das unter starken Schmerzen leidet. Ein in einer Teergrube versinkendes Fellmammut.

»Ich bin’s. Kendall«, füge ich hinzu.

»Weiß ich«, murmelt Emerson. »Erdbeershampoo.«

»Ich muss dich was fragen.«

»Ken, es ist noch viel zu früh für irgendwelche Fragen von dir.«

»Wie hältst du das immer aus, wenn du nach Hause kommst?«

Em lacht grunzend auf. »Willkommen im Rest deines Lebens, Kind.«

»Jetzt mal ganz im Ernst«, sage ich und stupse ihn noch einmal an. »Ich muss das wissen, bevor du wieder fährst.«

Er wälzt sich herum und schiebt die Decke ein Stück zurück, sodass sein Gesicht zum Vorschein kommt. Ihn anzusehen ist wie ein Blick in den Spiegel, wenn ich als Junge zur Welt gekommen wäre. Die gleichen kastanienbraunen Haare, die gleiche komische Nase. Wobei das bei ihm alles okay aussieht. Bei mir eher nicht.

»Manchmal stelle ich mir vor, dass ich außerhalb meines Körpers bin«, sagt Emerson, »und der denkende und fühlende Teil von mir irgendwo unter der Zimmerdecke schwebt und alles von oben betrachtet.«

»Also so ähnlich, wie manche Leute Nahtoderlebnisse beschreiben?«

»Probier’s doch einfach mal aus.«

»Um wie viel Uhr ist Andrew eigentlich umgezogen?«, erkundige ich mich.

Andrew ist Emersons Freund. Obwohl beide zweiundzwanzig sind, zusammen in Manhattan wohnen und meine Eltern schon seit Ems dreizehntem Lebensjahr wissen, dass er schwul ist (und wahrscheinlich schon lange vorher), zieht unser Dad gnadenlos seine Regel durch, die besagt: Unverheiratete Paare schlafen unter meinem Dach getrennt. Er meint, bei meinen anderen beiden Brüdern habe er das genauso gehandhabt, wenn sie ihre Freundin mitgebracht haben. Die Regeln zu ändern, nur weil Andrew und Emerson Jungs sind, wäre umgekehrte Diskriminierung. Obwohl es keiner von uns laut zugeben würde, ist das ein durchaus überzeugendes Argument.

Emerson macht ein gespielt unschuldiges Gesicht mit großen Kulleraugen – was ich partout nicht hinbekomme, obwohl wir uns so ähnlich sehen.

»Jetzt komm schon«, sage ich. »Er ist zu dir reingekommen, gleich nachdem Mom und Dad schlafen gegangen sind, stimmt’s?«

Emerson lacht. »Was soll ich dazu sagen? Ich schlafe viel besser, wenn er da ist. Irgendwann in den frühen Morgenstunden ist er zurück aufs Sofa gezogen«, räumt er ein. »Wie spät ist es denn jetzt?«

Ich schaue auf die Uhr über seinem Bett. »Viertel vor neun.«

»Ach du Schande!«, ruft er und wirft die Decke zurück. »Wir haben ein Taxi für neun zum Bahnhof bestellt. Weißt du, ob Andrew schon auf ist?«

Während sich Emerson hektisch anzieht, renne ich nach unten. Vorbei am Zimmer meines Bruders Walker, wo dieser wahrscheinlich fast den ganzen Tag verschlafen wird. Dort weht mir immer ein dezenter Hauch von Marihuana entgegen, der das Holz seiner Tür bestimmt bis in die letzte Ritze durchdrungen hat. Danach komme ich an der geschlossenen Tür meines ältesten Bruders Sullivan vorbei, die schon ewig nicht mehr geöffnet wurde, sodass ich mich immer wieder daran erinnern muss, dass es keine Abstellkammer ist. Er ist nicht da, weil er mit seiner Frau beim diesjährigen Weihnachtsbesuch im Hotel übernachtet – einer der vielen Gründe, warum es mir ziemlich glamourös vorkommt, sechsundzwanzig sein.

Jep, das sind wir also: Sullivan, Walker, Emerson und Kendall. Die Leute machen immer Witze, ob mein Vater mit uns vielleicht eine Anwaltskanzlei aufmachen wollte, aber meine Brüder sind schlichtweg nach Künstlern und Schriftstellern benannt, die meinen Eltern am Herzen liegen. Ich kam eher ungeplant hinterher, ein Baby nach dem Motto »Nicht zu fassen, dass unsere Eltern noch Sex haben«. Nach drei Jungs hätte man erwarten können, dass meine Mutter einen richtig schönen Mädchennamen aussucht, irgendwas mit Y oder A am Ende und irgendwo noch ein I, bei dem man den Punkt in Herzchenform malen kann. Aber nein. Kendall war der Familienname eines Lehrers, der sie dazu inspiriert hat, Geschichtsprofessorin zu werden. Besten Dank an diesen Typen, der dann auch noch kurz vor meiner Geburt gestorben ist.

Die Tür zum Schlafzimmer meiner Eltern bleibt immer einen Spalt offen, damit die Katze hinein- und hinauskann. Ich sehe, dass mein Vater noch schläft, meine Mutter ist nicht zu entdecken.

Unten in der Küche macht Andrew schon Kaffee. Nur um das gleich klarzustellen, ich mag Andrew wirklich gern.

»Hey, Äffchen«, begrüßt er mich. (Ich mag es auch, wenn er mich so nennt.) »Ist er aufgestanden?«

»Gerade eben«, antworte ich. »Wo ist Mom?«

»Sie wollte eine Runde joggen, meinte aber, dass sie zurück ist, bevor unser Taxi kommt.«

Ich nicke. Das war ja zu erwarten. Janet Parisi lässt die überflüssigen Weihnachtskalorien natürlich nicht nutzlos in ihrem Körper herumlungern.

Plötzlich hupt es und wir zucken beide zusammen.

Andrew schaut aus dem Fenster. »Oh nein. Das Taxi ist schon da.«

»Verdammt!«, ruft Emerson von oben. »Viel zu früh!«

Andrew seufzt. »Ich sag Bescheid, dass er warten soll.«

Er zieht Stiefel und Mantel an, nimmt seinen schicken kleinen Rollkoffer und stürzt zur Tür hinaus. Unbarmherzig weht von draußen eiskalte Luft herein. Ich beobachte, wie er den Koffer über den vereisten Fußweg in Richtung Straße bugsiert. Der Taxifahrer springt aus dem Wagen, öffnet den Kofferraum und nimmt Andrew sein Gepäck ab.

Ich sehe mich selbst zum Taxi rennen, die Tür aufreißen und hineinspringen.

Nein, Moment mal. Das passiert nur in meinem Kopf.

Ich berühre die Fensterscheibe und zwinge mich, die ganze Handfläche gegen das kalte Glas zu pressen. Das dürfte helfen, dass ich hier in der Realität bleibe.

Emerson kommt die Treppe heruntergestürmt, mit einer großen Ledertasche quer über der Schulter und einer Einkaufstüte mit ausgepackten Weihnachtsgeschenken in der Hand. Seine Haare, die sonst immer perfekt sitzen, sehen reichlich zerzaust aus.

»Wieso musst du denn schon zurück?«, frage ich ihn. »Eigentlich muss doch nur Andrew arbeiten. Du hast die ganze Woche noch frei.«

Andrew schreibt für ein Onlinemagazin. Emerson unterrichtet Sechstklässler an einer Privatschule in Naturwissenschaften. Die beiden sind seit dem zweiten Studienjahr am College ein Paar und zusammen unerträglich bezaubernd.

Er schüttelt den Kopf. »Würde ja gerne bleiben, aber noch eine Nacht hier gibt meine außerkörperliche Bewältigungsstrategie einfach nicht her.«

Andrew kommt zurück ins Haus. »Fertig?«

Emerson nimmt die Kaffeekanne von der Heizplatte, trinkt direkt daraus einen kräftigen Schluck, stellt sie wieder hin und wischt sich den Mund ab. »Fertig.«

»Deine Mutter ist noch nicht von ihrer Laufrunde zurück«, bemerkt Andrew. »Sie ist bestimmt sauer, wenn sie sich nicht verabschieden konnte.«

»Ach was, wir sehen sie und Kendall doch in ein paar Tagen, wenn sie in die City kommen und sich Wicked anschauen.«

Andrew nimmt Emerson die Einkaufstasche ab und reicht ihm seinen Mantel. Emerson dreht sich zu mir um. »Schön, dass du wieder zu Hause bist, Ken. Ich freu mich, dass du so eine tolle Zeit in Europa hattest.«

Aus unerfindlichen Gründen bringt mich das fast zum Weinen.

»Es war ein schönes Weihnachtsfest«, sage ich nickend und halte meine Hand immer noch an die Fensterscheibe. »Bis Mittwoch dann.«

Ich löse mich vom Fenster, damit ich Emerson umarmen kann. Danach drücke ich Andrew und dann verlassen die beiden das Haus. Als sich die Tür öffnet, bläst mir ein Windzug unangenehm kalt ins Gesicht, aber das ist mir egal, weil bei mir schon wieder ein Film abläuft.

Diesmal sehe ich mich zwischen Emerson und Andrew auf der Rückbank des Taxis sitzen.

Ehe ich richtig begreife, was ich da tue, stürze ich in Socken durch die Eingangstür und rufe ihnen hinterher: »Wartet mal!«

Die Kälte fährt mir blitzschnell in die Fußsohlen. Andrew, Emerson und der Taxifahrer drehen sich zu mir um und sehen mich fragend an.

Hastig füge ich hinzu: »Kann ich mitkommen?«

Sie starren mich alle entgeistert an, bis Andrew schließlich fragt: »Wie jetzt?«

»Kann ich bei euch übernachten? Ein paar Tage? In der Stadt?«

Andrew kommt vorsichtig auf mich zugestakst und mustert mich dabei unverwandt. Ob man es mir ansieht? Wie dringend ich mit ihnen mitfahren will? (Immer diese Fragen. Ständig.)

»Wir müssen jetzt aber los, sonst verpassen wir den Zug«, erwidert er.

»Ich brauche nur zwei Minuten.«

Auf seinem Gesicht breitet sich ein Grinsen aus. »Mom wird total durchdrehen. Und die Welt nicht mehr verstehen.«

»Damit komm ich klar.«

»Wir haben doch jetzt ein Gästezimmer«, sagt Andrew zu Emerson. »Wär doch super, es gleich mal einzuweihen.«

Emerson seufzt. Sein Blick wandert zwischen Andrew und mir hin und her. »Na gut«, sagt er schließlich.

Ich stürme zurück ins Haus, die Treppe hinauf und in mein Zimmer. Dort stopfe ich mein Handy in die Tasche meines Pyjama-oberteils. Als ich nach meinem Koffer greife, kann ich förmlich hören, wie er leise jubelt. Um keinen unnötigen Lärm zu machen, trage ich das gute Stück. Es ist unanständig schwer, sodass ich um meine Gesundheit fürchte.

Ich schleppe den Koffer zum Hauseingang, ziehe meinen langen Wollmantel und meine Winterstiefel an und hieve ihn dann nach draußen.

»Meine Güte«, stöhnt Andrew, als er ihn sieht.

Einen Augenblick später ist der Kofferraum proppenvoll, er wird zugeklappt und alles ist genau so, wie ich es vorhin schon vor Augen hatte: Ich sitze eingeklemmt zwischen Emerson und Andrew und wir sind unterwegs zum Bahnhof nach Poughkeepsie.

Das allerdings stand nun wirklich nicht auf meiner Liste.

Max

»Lasst CNN an oder ich enterbe euch!«

Die Stimme meines Großvaters dröhnt so laut durch die Wohnung, dass ich davon aufgewacht bin. Zuerst dachte ich, es sei die Stimme Gottes – das ist echt eine krasse Erfahrung, auf diese Weise aus dem Schlaf gerissen zu werden. Jetzt liege ich im Bett und lausche, wie Gott alle Welt tyrannisiert.

»Diese Drohung funktioniert nicht mehr«, höre ich meinen Vater sagen. »Lass dir mal was weniger Lächerliches einfallen, ja?«

»Komm schon, Big E«, meldet sich eine hohe, angespannt klingende Stimme zu Wort. Es ist meine Tante, Dads Schwester. »Die Kinder sollen nicht die ganze Zeit Bilder von Flüchtlingen sehen. Davon kriegen sie tagelang Albträume. Nur eine halbe Stunde Nickelodeon, okay? Während wir alle unsere Sachen packen?«

Irgendetwas fällt herunter. Oder wird geworfen. Die arme Fernbedienung. Sie besteht fast nur noch aus Klebeband.

Mein Großvater Ezra Levine – von denen, die ihn ertragen müssen, auch Big E genannt – ist eigentlich in bester Verfassung. Er hat nur leichte Herzprobleme, etwas zu hohen Blutdruck und zwei schmerzende Hüften. Das größte Problem ist seine chronische schlechte Laune. Die war zwar noch nie besonders gut, aber seit dem Tod meiner Großmutter im März ist es noch wesentlich schlimmer geworden. Zu ihren Ehren haben wir Weihnachten alle zusammen in Big Es riesiger Wohnung gefeiert. Nanny haben wir sie immer genannt. Sie war eine irische Katholikin, die uns bei Familienfesten immer wieder verzaubert hat. Besonders ihren mürrischen jüdischen Ehemann.

Alle, das sind meine Eltern, meine Schwester, meine Tante und mein Onkel, ihre drei Kinder und ich. Ich wurde in Dads ehemaliges Kinderzimmer einquartiert, zusammen mit meinen beiden Cousins, den Zwillingen Theo und Ezra. Ich bin achtzehn, sie sind vier. Es ist wie im kleinsten und seltsamsten Ferienlager der Welt.

Ich kann es kaum erwarten, endlich abzureisen und wieder zu arbeiten. Den Blicken meiner erweiterten Familie zu entkommen. Selbst die Vierjährigen schauen mich so komisch an, als ob sie fragen wollten: Und wieso bist du jetzt eigentlich nicht am College?

Es klopft.

»Max, ich bin’s – Dad. Bist du wach?«

»Jep.«

Mein Vater kommt herein und sieht sich im Zimmer um. Die Wände sind immer noch mit der Flugzeugtapete von damals versehen, außerdem hängt da ein ausgeblichenes Poster von Queen und Freddie Mercury mit freiem Oberkörper und in engen weißen Hosen, der ein Mikro fest umklammert. Tja, fühlt sich schon ein bisschen absurd an hier.

Dad zieht den kleinen Stuhl vom noch kleineren Schreibtisch zu sich heran. Hier hat er sicher viele Stunden gesessen und Hausaufgaben für die elitäre Privatschule gemacht, auf die er früher gegangen ist. Dann holt er tief Luft und sieht mich an. Mich beschleicht ein ungutes Gefühl.

»War ein schönes Weihnachtsfest«, sage ich.

»Ja. Eigentlich schon.«

»Wenn Big E nicht alle so beschissen behandeln würde?«

»Ein bisschen mehr Respekt, wenn ich bitten darf«, entgegnet Dad, muss dann jedoch lachen. »Aber gut, so kann man es auch nennen.«

»Tante Suze meinte, seine Pflegerin hat gekündigt?«

»Ja. Genau darüber wollten wir mit dir reden.«

Ich sehe mich um. Wen meint er mit wir? An Dads Gesichtsausdruck erkenne ich, dass er mir etwas Unangenehmes mitzuteilen hat.

»Maxie«, fährt er fort. »Wir müssen dich um einen Gefallen bitten. Einen ziemlich großen sogar, aber ich weiß, dass du der Aufgabe gewachsen bist.«

Lieber Himmel. Wahrscheinlich wird er mich gleich bitten, ihm zu helfen, meinen Großvater in die Badewanne zu setzen.

»Suze und ich werden eine neue Pflegekraft engagieren«, sagt Dad, »aber es wird ein paar Tage dauern, bis wir jemanden gefunden haben. Ich muss morgen wieder arbeiten. Und deine Tante fährt mit den Kindern zurück nach New Jersey.«

Allmählich begreife ich, was Sache ist. Es geht um erheblich mehr als einen nackten alten Mann im Badezimmer.

»Maxie, du bist der Einzige von uns, der diese Woche keine Verpflichtungen hat …«

Na los, sag’s schon. Ich bin der Idiot, der sein Studium an der Brown University schon in trockenen Tüchern hatte und dann im letzten Moment, kurz vor der Einführungswoche, beschlossen hat, das Ganze noch um ein Jahr zu verschieben.

Einer meiner Gründe dafür war absolut vernünftig. Der andere allerdings nicht. Er war sogar so daneben, dass er den vernünftigen in den Schatten stellt. Und zwar so sehr, dass ich mich jeden Tag schwarzärgere, nicht in Providence, Rhode Island, zu sein. Mein Studienplatz wird mir zwar bis nächstes Jahr reserviert, aber im Grunde müsste ich jetzt schon dort sein, an dieser Leerstelle. Und sie bis in den letzten Winkel ausfüllen.

»Also, du müsstest …«, spricht mein Vater weiter. »Nein, wir bitten dich … noch hierzubleiben, bis eine neue Pflegerin anfangen kann. Das werden vielleicht zwei Tage sein, maximal. Aber jemand muss bei ihm sein, oder zumindest in der Nähe, falls er etwas braucht.«

»Big E und ich …«, beginne ich, bringe den Rest aber nicht über die Lippen. Wir haben uns nichts zu sagen. Er denkt, Großvater zu sein bedeutet, mir ausgeschnittene Zeitungsartikel zu schicken, die ich seiner Ansicht nach lesen soll. Ich bin nicht mal sicher, ob er mich überhaupt leiden kann.

»Ich weiß«, sagt Dad, was vielleicht sogar stimmt. »Hör zu, du musst nicht die ganze Zeit bei ihm in der Wohnung hocken. Du kannst rausgehen und dein eigenes Ding machen. Ins Kino gehen oder ins Museum. Du solltest nur in der Nähe sein, falls er dich anruft.«

Die Wahrheit ist, dass ich zu Hause auch nichts zu tun hätte. Ich jobbe gerade bei einer Telemarketing-Firma, um vor dem Studium so viel Geld wie möglich zu verdienen, aber diese Woche sind Betriebsferien. Wenn ich hierbliebe, könnte ich mich außerdem weder mit meinen Freunden aus der Highschool noch mit meiner Ex-Freundin Eliza treffen. Was ein großer Pluspunkt wäre.

»Ja klar, Dad«, antworte ich schließlich. »Ja, du hast recht. Es bietet sich an, dass ich das mache.«

Dad klopft mir auf die Schulter. »Du bist ein guter Junge, Maxie. Immer da, wenn’s brennt.«

So ist das eben bei mir. Wenn jemand irgendwas braucht, steh ich auf der Matte.

Aber wo steh ich, wenn niemand was von mir braucht? Wer bin ich dann? Das, mein Freund, ist die große Frage.

 

Eine Stunde später haben beide Familien fertig gepackt und sind abreisebereit.

Abgesehen von mir natürlich. Ich sitze schon seit einiger Zeit vor einer riesigen Tasse Kaffee in der Küche. Meine Schwester Allie gesellt sich zu mir und trinkt einen Schluck davon. Sie ist fünfzehn.

»Vaya con Dios, hermano«, sagt sie.

»Danke.«

Mom und Tante Suze umarmen mich kurz nacheinander. Meine kleinen Cousins drücken mich ebenfalls, weil Tante Suze es ihnen befiehlt. Mein Vater klopft mir noch einmal auf die Schulter. Big E ist in seinem Sessel eingenickt und ich weiß nicht genau, was lauter ist – der Fernseher oder sein Schnarchen.

Tante Suze nimmt mich beiseite und geht mit mir die Liste seiner Medikamente durch. »Er weiß eigentlich, was er wann einnehmen muss. Erinnere ihn zur Sicherheit trotzdem ein paarmal am Tag daran.«

Sie entfernt alles aus dem Kühlschrank, was er nicht essen soll. Dann überreicht sie mir einen Stapel Flyer von nahe gelegenen Lokalen, auf denen bestimmte Gerichte markiert sind. Aus dieser Vorauswahl soll ich das Mittag- und Abendessen für ihn bestellen. Dann gibt sie mir noch eine Liste mit den Telefonnummern seiner zahlreichen Ärzte. »Aber wenn es kein Notfall ist, ruf bitte zuerst mich an«, sagt Suze. »Ich kann in einer Stunde hier sein.«

Ich sehe ihr angestrengtes Stirnrunzeln und ahne zum ersten Mal, wie viel Kraft sie für meinen Großvater aufbringt. Das muss ungefähr so sein, als hätte sie nicht drei, sondern vier Kinder. Ich bin ganz überwältigt vor lauter Mitgefühl und Anerkennung. Und außerdem bin ich erleichtert. Weil ich mich nützlich machen kann.

Kurz darauf sind beide Familien weg. Da niemand Big E wecken wollte, haben sie sich nicht von ihm verabschiedet. Das könnte ihn wütend machen, aber vielleicht ist es ihm auch völlig egal. Ich beobachte eine Weile, wie sich sein Brustkorb hebt und senkt. Eine enorme Schwere liegt in dieser Bewegung. Natürlich weiß ich, dass er auch nur ein Mensch ist. Er kennt mich schon mein ganzes Leben lang. In unseren Adern fließt das gleiche Blut und wir haben den gleichen zweiten Vornamen.

Trotzdem mache ich mir vor Angst fast in die Hose.

Kendall

Wir mussten rennen, um die U-Bahn zu erwischen, die in den Norden von Manhattan fährt, wo Emerson und Andrew wohnen. Unfassbar, wie anstrengend es war, meinen Koffer durch die Grand Central Station zu wuchten. Jetzt atme ich auf meinem Sitzplatz an der Wand erst einmal tief durch. Der Typ neben mir trägt eine Ray-Ban-Sonnenbrille, schwarze fingerlose Handschuhe und eine Lederjacke. Er liest ein französisches Buch und schert sich kein bisschen darum, dass ihm ein atemloses Mädchen mit überdimensioniertem Gepäck auf die Pelle rückt.

Als Figur in meinem Roman wäre er so ähnlich wie Judd Nelson im Film The Breakfast Club und außerdem Jahrgangsbester. Still und voller Geheimnisse. Sämtliche Mädchen aus seiner Highschool würden sich über ihn lustig machen, aber ihn insgeheim anhimmeln. Eine von ihnen ist besonders beeindruckt von seinen immer makellos sauberen und gepflegten Fingernägeln.

Es ist eine Angewohnheit von mir, reale Personen in fiktive Charaktere zu verwandeln und in meine Texte einzubauen. Ich zeichne dann immer schnell eine Skizze von ihnen und notiere ein paar Eckdaten. Den Namen, wo sie wohnen, was sie so treiben und was sie sich wünschen. Lauter Denkwürmer, die ständig wie aus dem Nichts in meinem Kopf auftauchen.

Leute beobachten zu können, ist einer der Gründe, warum ich in New York so gern U-Bahn fahre. Außerdem fasziniert es mich, wie es gleichzeitig laut und trotzdem so still sein kann. Außerhalb der Bahn hört es sich an, als ob ganze Universen kollidieren und untergehen würden, aber drinnen im Wagen redet kaum jemand ein Wort.

Ich schaue auf mein Handy. Eine neue Textnachricht von Mom ploppt auf.

Wann kommst du heute Abend nach Hause?

Heikle Sache. Ich antworte: Übernachte bei Emerson, melde mich später noch mal, denn mehr weiß ich im Moment selbst nicht.

OK, schreibt sie zurück. Wenn zwei getippte Buchstaben genervt aussehen können, dann diese. Was ja auch total verständlich ist. Nachdem ich gerade vier Monate im Ausland war, hatte Mom sich auf eine nette Mutter-Tochter-Zeit gefreut, aber ich bin so grausam, ihr diese Hoffnung zu nehmen.

Sie weiß natürlich genau, wie unsinnig diese Idee ist. Was soll ich denn in Manhattan? Ich habe fast kein Geld mehr, denn aus Europa bin ich mit vierundzwanzig Dollar und etwas bunt gemischtem Kleingeld in der Tasche zurückgekehrt. Münzen, die sich ganz fremd anfühlen, und Geldscheine in ungewöhnlichen Farben – alle mit Gesichtern und Namen, die mir völlig unbekannt sind (abgesehen von Königin Elisabeth natürlich). Wenn es ganz schlimm kommt, kann ich zumindest die noch umtauschen. Aber im Moment gefällt es mir ganz gut, sie in meiner Geldbörse zu haben, weil es sich so schön international anfühlt.

Ich öffne ein Fotoalbum auf meinem Handy, das exakt siebenundzwanzig Bilder enthält. Ich kann mich bei jedem einzelnen genau erinnern, wann Jamie es mir geschickt hat, wo ich in diesem Moment war und was ich ihm als Antwort gesendet habe. Ein Foto zeigt einen Baum mit feuerrotem Laub vor strahlend blauem Himmel. Auf einem anderen sind zwei Trinkgeldgefäße in einem Café zu sehen, von denen eins mit »unsichtbar sein« und das andere mit »fliegen können« beschriftet ist. Die Superkraft »unsichtbar sein« hat eindeutig gewonnen.

Jamie hat diese Fotos nie irgendwie kommentiert, was ich gut fand, weil es auch gar nicht nötig war.

Plötzlich habe ich solche Sehnsucht nach ihm, dass mir die Kehle davon schmerzt, so ähnlich wie Sodbrennen, nur romantischer. Punkt drei von meiner Liste schreit also danach, dringend abgearbeitet zu werden. Ach, was soll’s. Ich sitze hier in der U-Bahn in meinem Fleecepyjama mit Pinguinmuster, peinlicher kann es eigentlich nicht mehr werden. Also suche ich seine Nummer heraus und fange an zu tippen:

Hi, Kendall hier. Hoffe, du hattest schöne Weihnachten. Bin wieder da. Lust auf ein Treffen?

SENDEN.

Wahrscheinlich wird die Nachricht sowieso erst verschickt, wenn ich die U-Bahn verlassen habe, aber der schwierigste Teil ist damit geschafft.

»Kendall!«, ruft Emerson durch das Rattern der Bahn hindurch. »Hast du gehört? Wir steigen an der nächsten Station aus!« Er tippt gegen meinen Ellbogen, weil er im Laufe der Zeit gelernt hat, dass ich oft erst dann reagiere und auch wirklich zuhöre.

»Alles klar«, antworte ich. Es wäre nicht das erste Mal, dass ich in öffentlichen Verkehrsmitteln eine Haltestelle verpasse. Draußen herrscht genauso viel Lärm wie in mir drinnen, man könnte ihn als ohrenbetäubend bezeichnen, aber ehrlich gesagt ist er das Beruhigendste, was ich seit Tagen erlebt habe.

Noch ein bisschen Kofferplage, und dann sind wir oben auf der Straße.

Cool, ich bin wieder in der City.

Seit meinem letzten Besuch hier sieht alles noch viel magischer aus. Überall leuchtet, glänzt und funkelt es knallbunt. Schon erstaunlich, was Beleuchtung und weihnachtliche Schaufensterdeko an jeder x-beliebigen Straßenecke so ausrichten können. Zwei Querstraßen und Treppenabsätze später haben wir die Wohnung erreicht.

»Willkommen«, sagt Andrew, als er die Tür öffnet und ich nach den beiden eintrete.

Eine flauschig schwarze Katze springt von irgendwo herunter und kommt auf uns zugestürmt.

»Louis!«, ruft Em, lässt seine Tasche fallen und nimmt die Katze hoch. »Daddy und Papa sind wieder da!«

Die Wohnung ist klein und ziemlich vollgestellt, aber das meiste sieht irgendwie durchdacht aus. »Schön«, sage ich und sehe mich um. »Alles wirklich sehr schön.«

Mit schön meine ich, dass ich so etwas auch haben will. Genau so.

»Willst du das Gästezimmer sehen?«, erkundigt sich Andrew.

Er geht mit mir auf eine Tür zu und öffnet sie mit einem breiten Grinsen.

Es ist ein begehbarer Kleiderschrank.

In den mit Mühe und Not ein Bett hineinpasst. Sämtliche Kleiderstangen hängen voll.

»Ähm«, sage ich.

»Nur deswegen haben wir uns für diese Wohnung entschieden«, erklärt Andrew stolz.

Emerson kommt dazu und mustert prüfend mein Gesicht. »Sie sieht nicht allzu beeindruckt aus.«

»Wenn sie Ahnung vom Wohnungsangebot für Paare um die zwanzig hätte, wäre sie das«, sagt Andrew.

»Doch, ich bin tatsächlich beeindruckt«, widerspreche ich. »Seit ihr euch fünf Minuten kanntet, habt ihr davon geredet, dass ihr zusammen in Manhattan wohnen wollt. Und jetzt macht ihr es. Ihr seid richtig erwachsen.«

»Tja, das wird sich noch zeigen«, wirft Andrew ein und schaut zu Emerson, der gerade sein Gesicht im Fell der Katze vergräbt. »Aber wir tun gern so. Und genau deshalb muss ich mich jetzt umziehen und ins Büro fahren.«

Ich ziehe meinen Koffer in die winzige Kammer. Der Platz reicht gerade aus, um ihn am Fußende des Betts abzustellen, aber öffnen kann ich ihn da nicht. Egal, das werde ich schon irgendwie hinbekommen.

Ich fische ein paar vernünftige Sachen heraus, ziehe mich um und gehe ins Wohnzimmer, wo Emerson mit der schlafenden Katze auf dem Sofa sitzt. Andrew ist schon weg.

»Na los«, stichelt Em, als ich mich neben ihm fallen lasse. »Hol schon dein Handy raus und schau nach.«

»Was willst du denn damit sagen?«, frage ich grinsend.

»Du hast jetzt ungefähr einmal pro Minute nachgesehen. Also, wie heißt er?«

»Und woher willst du wissen, dass es ein Er ist?«

Emerson lacht. »Schwesterchen, dass du hetero bist, weiß ich schon länger, als mir klar ist, dass ich schwul bin.«

»Er heißt Jamie. Ich kenne ihn seit vorigem Sommer. Er ist ein Kumpel von Aris Freund Camden.«

»Ah, einer von den Dashwood-Leuten, die du mal erwähnt hast?« Dashwood ist eine alternative Privatschule, die Jamie besucht. »Moment mal. Aber das ist nicht der Typ, der dir das Herz gebrochen hat, weil er gesagt hat, dass er dich eher freundschaftlich mag?«

»Also, gebrochen würde ich es nicht nennen. Vielleicht ein bisschen angeknackst. Aber das ist schon fast wieder verheilt.«

Die Sache hat eine Vorgeschichte, bei der mir allerdings ganz übel wird, wenn ich nur daran denke. Und da ich mich auf Emersons coolem beigefarbenem Sofa ganz bestimmt nicht übergeben will, gehe ich nicht weiter ins Detail.

»Komm schon, erzähl’s mir«, fordert mich Emerson auf. »Ich will alles genau wissen.«

»Als ich in Paris war, hab ich aus heiterem Himmel eine Mail von ihm bekommen«, beginne ich. »Es war ein Foto von einem Mann, der aus dem Fenster schaut und den Kopf in die Hände stützt. Das Bild sah total nach ›Tut mir leid‹ aus. Deshalb hab ich ihm ein Bild zurückgemailt, von einem kleinen Mädchen mit Luftballon im Tuileriengarten. Seitdem haben wir immer wieder Fotos ausgetauscht.«

Emerson zieht die Augenbrauen hoch. »Nur Fotos?«

»Ja, nur Fotos. Keinen Text. Und keine Bildunterschriften.«

Emerson lehnt sich zurück und streicht Kater Louis über den Rücken. »Wow, scharf.«

Ja, total. Aber jetzt hätte ich gern die Worte und Sätze und noch viel mehr. Also gewissermaßen alles.

Und wie auf Stichwort summt mein Telefon.

27. Dezember

Max

Ich warte in einem Kameraladen auf meinen Freund Jamie und frage mich, wie jemand auf die Idee kommen kann, zweitausend Dollar für ein Teleobjektiv auszugeben. Durch das Schaufenster sehe ich draußen die halbe Menschheit vorbeiflanieren. In dieser Woche herrscht in New York angeblich besonders viel Trubel. Heilige Fortpflanzung! Es gibt echt ziemlich viele Menschen auf der Welt.

Als Jamie mir gestern Abend schrieb, dass er in die Stadt kommt und sich hier mit einem Mädchen trifft, mit dem er einen eFlirt laufen hat, habe ich sofort die Chance auf ein bisschen Gesellschaft genutzt. Ich habe ihm sogar einen Schlafplatz in der Wohnung von Big E angeboten. Mein Kumpel verspätet sich, aber das ist mir egal. Hauptsache, ich komme mal unter Leute. So weit bin ich schon, nachdem ich gestern den ganzen Tag mit meinem Großvater Fußball schauen musste. Also, nicht American Football, sondern die englische Variante. Big E lässt sich gern lang und breit darüber aus, wie viel differenzierter diese Sportart sei.

Wenn »differenziert« bedeutet, dass kaum jemand ein Tor schießt, hat er völlig recht.

»Siehst du den Mann da, den Teamchef?«, fragte Big E irgendwann. »Mit dem hab ich am College studiert.«

Natürlich stimmt das nicht.

»Kanntest du ihn gut?«, erkundigte ich mich.

»Ja, eine Zeit lang schon. Netter Kerl, aber seine Freundin hat er wie den letzten Dreck behandelt.«

Dann fragte ich: »Wie habt ihr euch denn kennengelernt?« Daraufhin servierte mir Big E zwanzig Minuten lang den größten Schwachsinn, den ich je gehört habe. In solchen Momenten verstehe ich, warum er mal so ein legendärer Anwalt war.

Nach diesem Muster laufen die Gespräche zwischen meinem Vater oder Tante Suze und meinem Großvater immer ab. Und auch ich werde die Zeit hier genauso hinter mich bringen – indem ich ihm eine Menge Fragen stelle und seine mit den verschiedensten Varianten von Ja beantworte. Irgendwann bekommt er dann Hunger oder wird müde. (Vorzugsweise Letzteres.) Auf keinen Fall werden wir über mich reden und warum um alles in der Welt ich noch nicht am College bin. Auch die Sache mit der neuen Pflegerin ist tabu, und alle eventuellen Pläne, ihn in ein Heim zu geben und seine Wohnung für Unsummen zu verkaufen. Es wird also null Anlass für ihn geben, mit der Fernbedienung herumzuwerfen.

Es muss schon ziemlich ätzend sein, seine Ehefrau zu überleben, obwohl alle damit gerechnet haben, dass man selbst als Erstes stirbt. Wenn einem ein langes Leben geschenkt wird und man keine Ahnung hat, was zur Hölle man damit anfangen soll. Und wenn man einen messerscharfen Verstand hat, der in einem schwachen, hinfälligen Körper gefangen ist.

Jemand stößt mich mit dem Ellbogen an.

»Hey, Mann!«, begrüßt mich Jamie, als ich mich umdrehe. Er trägt einen Rucksack mit Brustschnalle und sieht dermaßen provinziell und peinlich aus, dass es mir fast die Schuhe auszieht.

»Jamie!«, rufe ich und wir umarmen uns kumpelhaft. Ich finde es wirklich schön, ihn zu treffen. »Du sieht irgendwie anders aus. So lange ist es doch gar nicht her, oder?«

»Mindestens einen Monat. Oder noch länger? Alter, wieso kommst du denn nicht mal in der Schule vorbei?«

»Ähm, du weißt genau, warum«, antworte ich.

»Ach ja.« Jamie verzieht das Gesicht. »Richtig.«

Das Warum hat einen Namen: Eliza.

»Ich freu mich auf jeden Fall total, dass du hier übernachtest, dann können wir sämtliche Neuigkeiten austauschen.« Ich lasse meinen Blick durch den Laden schweifen. »Also kaufst du dir jetzt diese Videokamera, die du haben wolltest?«

Jamie nickt grinsend. »Weihnachtsgeld macht’s möglich.«

Eine Verkäuferin neben uns hat uns belauscht und schaltet sich diensteifrig ein: »Unsere Videoabteilung ist oben!«

»Hier gibt’s verschiedene Abteilungen?«, frage ich verblüfft. »Und mehrere Etagen?«

Jamie lacht. »Los, komm, ich zeig dir meine Welt.«

Auch wenn ich mich immer über ihn lustig mache, beneide ich Jamie auch ein bisschen. Er hat ein richtiges Hobby, eine Leidenschaft. Einen Grund, die Augen offen zu halten.

Bei mir gab es immer nur meine Freundin. Eliza und vorher Nadine und davor Iris. Ich könnte noch weitere aufzählen. Nur in den kurzen Pausen zwischen diesen Beziehungen schaffe ich es, wirklich auf mich selbst zu hören. Aber bisher ist mir da noch nichts ansatzweise Interessantes zu Ohren gekommen.

Ich begleite Jamie in die Videoabteilung, wo er so ziemlich jede Kamera in die Hand nimmt, die dort angeboten wird. Ich finde es ein bisschen obszön, wie er sie alle begrapscht. Er nimmt jede einzelne in die Hand und drückt an den Knöpfen herum. Peinlich berührt wende ich mich ab.

»Oh mein Gott«, seufzt er. »Die hier hatte ich im Auge. In echt fühlt sie sich noch viel besser an, als ich dachte.«

Ekelhaft, oder?

»Wann triffst du dich denn mit dem Mädchen?«, frage ich und versuche, unser Gespräch wieder in unverfängliche Bahnen zu lenken.

»Um eins«, antwortet er. »Im Met.«

»Oh, ein Museumsdate. Wie nett.«

»Dort gibt es eine Fotoausstellung, die wir beide sehen wollen.«

»Klingt cool. Also, sie scheint ganz cool zu sein.«

Jamie schweigt einen Moment lang und holt dann tief Luft, als ob er etwas sagen wollte.

»Na, kommen wir zurecht?«, erkundigt sich die Verkäuferin, die wie aus dem Nichts aufgetaucht ist.

Während Jamie die Kamera bezahlt und die Lieferung zu sich nach Hause vereinbart, schlendere ich hinüber zu einer Monitorwand. Als ich direkt davorstehe, bin ich plötzlich auf sämtlichen Bildschirmen zu sehen. Allerdings nicht komplett. Kopf und Schultern sind abgeschnitten, was für mich aber nichts Neues ist. Wenn man eins neunzig groß ist, kennt man das, dass man nicht ganz aufs Foto passt. Oder in mobile Toiletten. Oder Autos.

Ich betrachte, was ich vor mir sehe. Der Körper sieht total beliebig aus. Wenn ich nicht genau wüsste, dass ich einen braun karierten Schal trage, hätte ich ihn nicht mit mir in Verbindung gebracht.

»Mann, das war vielleicht ein erhebendes Gefühl«, jubelt Jamie hinter mir. Ich drehe mich um und sehe ihn mit einem Bon wedeln.

»Glückwunsch«, sage ich. »Ich hoffe, ihr habt viel Spaß miteinander, deine Videokamera und du.«

Wir lachen. Das ist ein gutes Gefühl. Nach meiner Trennung von Eliza war unser Verhältnis ziemlich angespannt und unser gesamter Freundeskreis gespalten.

»Hey, komm«, sagt Jamie. »Ich habe jetzt noch genau zwölf Dollar übrig und die will ich unbedingt in Hotdogs investieren.«