Für Sibille

Inhaltsverzeichnis

1. Teil

Brief an Rikscha-Taxi

Abgekürzte Anfänge

Geiles Triebgefühl

Hunger

Fußballer, bleib bei deiner Leiste!

Der Spatz in der Hand

Millionen in der Unterwelt

Keiner fliegt öfter

Jungfräulicher Ampelmann

Nackt

Die Rote Else

Mumifizierte Mörderin

Die Mumie in der U-Bahn

Johannes Müller und die Sterne in der Dunkelheit

Besser als Aspirin Complex

Das Schloss

Rob de Vries

Wie Johannes Kunckel die Pfaueninsel bekam und wieder verlor

Schwerer Diebstahl

2. Teil

Die Nacht, in der Anne Will gestorben ist

Der Handschuh

Sonntag

Gertraude

Die zwölf Apostel in der Luisenstraße

Der Tag der Zwillinge

Casanovas Blick

Casanovas Glück

Bett ohne Panke

Das harte Brötchen der frühen Jahre

Es ist nicht vorbei, bevor die fette Frau singt

Blinde

Am Wasser

Der Kuss

Drüsenprobleme

Unsterbliches Maiglöckchen

Pelmeni Oralski

Sodoma und Gomera

Eldorado

Einem Schwulen gewidmet

Wie ich mir am Christopher Street Day einen wunden Arsch holte

Von der Liebe und der Großmutter, die wie ein Hai aussah

Wie ich Charlotte von Mahlsdorf traf

Vom Lecken am Arsch

Geld

Gratisfahrt

Die Fickscha

Betäubungsmittel

Testflug

Der Unfall

Noli Me Tangere

Der Rikscha Blues

Die Architekten, denen zu viel einfiel

Der Überfall

3. Teil

Cohen

Das Geräusch des Schweigens

Der erste und der letzte Stadtrundflug

Glütenreinheit

Casanova und Denis

Hank Chinaski

Der Düstere Keller

Asoziale Berliner

Fische, Frauen und Fahrgäste

Gedichte, die unter die Haut gehen

In der Mausefalle

Bieryoga

Hamburger in Berlin

Rikscha aus der Zukunft

Schlimmer Finger

Wie ich zu Diskofingern kam

Regen

Licht am Ende des Tunnels

Das Ende vom Lied

1. Teil

Brief an Rikscha-Taxi

Was verwechseln, das kann jedermann.

Was verwechseln, das kann jedermann.

Aber gar nichts wissen, dann ist man dran.

Ich hab den Rikscha Blues.

Beschwerde über Ihren Angestellten Falko Hennig

Karlsruhe, 10. November

Sehr geehrte Damen & Herren von Rikscha-Taxi,

angezogen hat meine Frau und mich Ihre Werbung „Mit Rikscha-Taxi fahren Sie richtig!“ und so buchten wir für unseren Urlaub eine Rikschatour zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten. Es heißt in Ihrer Reklame, dass sowohl Neuankömmlinge als auch „alte Hasen“ in Berlin mit einer solchen Fahrt die richtige Wahl träfen. Dafür sorge der perfekte Mix aus obligatorischen Klassikern wie dem Hackeschen Markt, dem Potsdamer Platz und dem Regierungsviertel sowie „hidden places“, also Wohnsitzen von Promis und Szeneeinblicken. Ergänzt werde die Fahrt durch umfassendes Hintergrundwissen von qualifizierten Fahrern, ich zitiere: „erfahrene Stadtführer, die Maßstäbe setzen“.

Maßstäbe hat der Guide Falko Hennig, mit dem wir am 22. Oktober fuhren, wirklich gesetzt mit einer Fahrt, auf die meine Frau und ich sehr gern verzichtet hätten. Vielleicht hätten wir schon durch die merkwürdige Kleidung unseres Fahrers stutzig werden müssen, die selbst für Berliner Verhältnisse auffällig schäbig und geschmacklos war. Dazu stank er penetrant, womöglich wegen seiner schweren Hautkrankheit, die wohl niemand sonst einem Publikum zugemutet hätte.

Gegen einen Joint nach Feierabend haben wir wirklich nichts, aber dieser Fahrer hat stinkenden Skunk derartig Kette geraucht, dass meine Frau und ich die ganze Zeit hustend in seiner Rauchfahne sitzen mussten.

Elfmal gelang es diesem Individuum, mit der Rikscha gegen Wände, Mauern oder Bäume zu fahren. Von den roten Ampeln, die er überfuhr, den Einbahnstraßen in der falschen Richtung und Bürgersteigen, über die er mit irrsinnigen Tempo raste, wohlgemerkt mit uns als seinen Geiseln in der Rikscha, will ich gar nicht erst anfangen, da dies den Rahmen dieses Briefes sprengen würde.

Dass dieser Mensch schon vor Beginn der Fahrt und dazwischen nicht weniger als sieben mal auf seine Bücher hinwies, die er zu verkaufen habe, war besonders nervend. Er hörte damit auch nicht auf, als wir für unsere Verhältnisse extrem deutlich gemacht hatten, dass wir keinerlei Interesse daran hätten. Schon die oberflächlichste Recherche zeigte uns nach diesem Horrortrip, dass er sich nicht als Schriftsteller, sondern ausschließlich als Plagiator einen Namen gemacht hat. Sein aufdringliches Geschäftsgebaren erinnerte uns an das aus afrikanischen und arabischen Ländern, aber es war nicht verbunden mit dem Charme beispielsweise ägyptischer Händler.

Anfangs fanden wir seine undurchdringliche Sonnenbrille gruselig und wir wünschten, dass er sie mal absetzte. Vom Augenblick an allerdings, als er das getan hatte, sich zu uns umdrehte und wir seine blutunterlaufenen, glasigen Augen sehen mussten, hätten wir es begrüßt, wenn er sie wieder aufgesetzt hätte.

Dass unser Fahrer meistens keine Ahnung hatte, wo er sich befand, konnten wir nicht übersehen. Wo wir zum Beispiel genau waren, als er uns das angebliche Geburtshaus von Hitler zeigte, wusste er offensichtlich nicht. Aber dass es unmöglich ein Plattenhochhaus von ungefähr 1985 sein konnte, war auch uns als historische Laien klar. Auch hinterließen seine ständigen Erwähnungen des Führerhauptquartiers, aus dem er komme und in das er wieder zurück müsse, bei uns einen bitteren Geschmack.

Seine Frage, ob wir „auch so nen Brand“ hätten, verneinten wir ausdrücklich. Gern hätten wir die Fahrt abgebrochen, aber weder wir noch unser Fahrer wussten ja, wo in Berlin wir überhaupt waren. Dass wir mit ihm auf der Avus auf dem Randstreifen der Autobahn bis zur Ausfahrt Spanische Allee fahren mussten und uns am Arsch der Welt wiederfanden, das verdanken wir Ihrem grandiosen Angestellten.

Sein immer wieder vorgebrachter Vorschlag, doch in diese oder jene Kneipe einzukehren, um „die Kehle anzufeuchten“, „einen zu zwitschern“, „ein Sturzbier da vorn“ zu nehmen, weil doch hier sehr „trockene Luft“ sei, lehnten wir ausdrücklich ab. Gerade von trockener Luft konnte bei dem feuchtkalten Wetter in keiner Weise die Rede sein.

Einige seiner Fehlleistungen habe ich in Erinnerung. Der angebliche Biber-Damm war eindeutig die Mühlendamm-Schleuse. Der angebliche Darkroom von Wowereit im Roten Rathaus war ein Wasserloch unter einem Bauwagen in Treptow. Dass Barack Obama und Helmut Kohl ausgerechnet an der Currybude Mehringdamm zusammen gegessen haben, ist doch auszuschließen. Auffällig war der Geldschein, mit dem sich unser Fahrer beim Mann von der Frittenbude auszahlen ließ.

Nun wollte er mit uns „jetzt mal ordentlich einen löten“ und „einen schnasseln“, weil es so heiß sei und das jeweilige Lokal besonders bemerkenswert. Dies beruhte ausschließlich auf seinem Wunsch. In Wirklichkeit war es ziemlich kalt. Weder meine Frau noch ich wollten am Morgen schon Alkohol trinken.

Dass dieser Touristenführer behauptete, ein prominenter Autor zu sein und viele Bücher zur Geschichte der Stadt geschrieben zu haben, ist ein Hohn. Wir haben ja schon erlebt, dass jemand die vielen Friedrichs und Wilhelms in der Berliner Geschichte durcheinanderbringt. Aber noch nie einen, der Erich Honecker mit Nelson Mandela verwechselt, von denen, ganz nebenbei, ebenfalls keiner in Berlin geboren oder gestorben ist. Erst recht wurden sie nicht auf dem Marktplatz mit glühenden Zangen gezwickt, gevierteilt und die Teile an den vier Stadttoren auf Spießen ausgestellt.

Seine Unfähigkeit zeigte uns der Fahrer am Brandenburger Tor, das er als höchstes Gebäude der Stadt bezeichnete, obwohl alle angrenzenden Häuser deutlich sichtbar höher waren. Dass es 1980 zur 1000-Jahrfeier Berlins eingeweiht worden sei und man unterm Dach in einem Drehrestaurant speisen könne, waren dann noch die i-Tüpfelchen auf seinem Quark der Inkompetenz. Dieser Mann ist entweder schwer dement, wahnsinnig oder steht unter Einfluss einer Überdosis sehr gefährlicher Drogen.

Zu dem verheerenden Gesamteindruck seiner Arbeit kam hinzu, dass er beim Fahren offensichtlich versuchte, sämtliche Hunde auf den Gehwegen und in den Nebenstraßen zu fotografieren. Als es regnete, schützte sich dieser Irre mit einem Regenschirm, in der Rikscha fahrend und weiterhin fotografierend, ein abscheulicher Anblick für uns hilflos hinten sitzend und ganz unmöglich war es ihm, dabei auf den Verkehr oder uns zu achten.

Lediglich der Auffälligkeit seiner in schreienden Farben lackierten Rikscha ist es zu verdanken, dass schlimmere Unfälle verhindert wurden.

Wir legten keinen Wert auf seine unvermittelten Erzählungen aus dem Drogenmilieu, wo in Saloniki und Harrar in Abessinien man guten Stoff kaufen könne oder wie er in Jijiga völlig high mit dem Gouverneur auf Löwen geschossen und wie viel Nasen er mit Gerhard Schröder gezogen habe, wo welche Drogen hergestellt würden und wo er schon überall verhaftet worden sei, offensichtlich nicht nur wegen Drogendelikten, sondern auch wegen diverser Überfälle, Einbrüche und schwerer Körperverletzung.

Weder meine Frau noch ich wollte wissen, wo und mit wem dieser hässliche Mensch überall schon Sex gehabt hatte. Erst recht waren wir nicht daran interessiert, wo seinem Vater der Fuß amputiert worden sei. Bei einem Zahnarzt wohlgemerkt, wenn man seinen Worten glauben würde, was wir nicht tun. Seine wiederholten Erwähnungen der Massenmörder an der Charité lassen auf eine akute Persönlichkeitsspaltung schließen.

Wer will denn wissen, wo diesem Individuum ein Furunkel am Hoden entfernt worden sei? Wir nicht!

Von den vielen Leuten, die er unterwegs grüßte, kannte ihn niemand. Die Namen, die er ihnen zurief, unter anderem Orje, Kalle und Hotte, stimmten kein einziges mal.

Auf den Fotos, die er zur Illustrierung seiner Ausführungen zeigte, waren ausschließlich dicke Kinder abgebildet.

Des Weiteren fiel sein Zittern und Schwitzen unangenehm auf, dazu stotterte er häufig und sprach dann minutenlang in einer Phantasie-Sprache. Darauf angesprochen, erwiderte er zu seiner Verteidigung, in Abchasien würde man diese Sprache sprechen. Das ist völlig unglaubhaft!

Noch nie haben wir in irgendeinem Land einen so übelriechenden Menschen getroffen. Als er Blauer Mond von Berlin sang, ist uns schlecht geworden. Die absurdesten Verwechslungen unterliefen dem Fahrer am Reichstag, den er uns ernsthaft als Plötzensee vorstellte.

Wir hoffen inständig, dass dieser Mann nicht typisch für Ihre Rikscha-Fahrer ist. Bitte feuern Sie ihn und sorgen Sie dafür, dass er niemals wieder in Berlin arglose Reisende in die Irre und ins Verderben fährt!

Mit freundlichen Grüßen

Dr. jur. Rolf Gottwald (Karlsruhe)

Richter im Ruhestand

Abgekürzte Anfänge

Mit BS und PA gings bergab.

In der DDR mochte mans knapp.

Die DDR kürzte sich selber ab.

Ich hab den Rikscha Blues.

Ehrlich gesagt, konnte ich mich an die Fahrt nicht erinnern. Aber dass sie so war, wie von Herrn Gottwald beschrieben, würde ich ausschließen. Allerdings wäre es wohl ganz gut, wenn ich es wissen und nicht nur vermuten würde. Aber so sehr ich auch mein Hirn zermarterte, mir fiel weder sein Gesicht noch das seiner Frau noch die Tour ein, von der er schrieb.

Aber ich sollte mich erinnern, wenn es stimmte und erst recht wenn es nicht stimmte. Hatte ich wirklich während der Fahrt gekifft? Mit einem Richter in der Rikscha? Wie war diese Fahrt in Wirklichkeit abgelaufen?

Ich muss mich verdammt nochmal erinnern! Das mit dem Trinken konnte einfach nicht stimmen, ich war seit fast zehn Jahren trocken! Dass ich gewohnheitsmäßig kiffte, traf zu, aber doch nicht während der Fahrt mit Passagieren! Oder doch? Was war da passiert?

Gelernt hatte ich noch in der DDR den Beruf des Schriftsetzers, Spezialisierungsrichtung Zeitungsumbruch. Meine Druckerei gibt es schon lange nicht mehr, es war die Druckerei des MfNV. In der DDR hatten sie dieses Faible für Abkürzungen, von denen niemand wissen konnte, was sie bedeuteten. Das fing schon in der Schule an, wie alle anderen war ich aufgewachsen mit ZV, PM, UTP, ESP, PA, PAG, ASV, AWG, EOS, AK, BGL, FDGB, SED, VP, DSF und tausend anderen Abkürzungen.

Meine Lieblingsabkürzungen aus der DDR waren D.G.S für Deutsches Großsilberkaninchen, E.g.H. für eine Kuh namens Einfarbig gelbes Höhenvieh, D.w.E. für Deutsches weißes Edelschwein und MuFuTi für Multifunktionstisch. Auch BZF fand ich einen Hit, die Abkürzung für das Bremszylinderfett Boluskol. Ich nehme an, dass sie es in großen Mengen in den W50 gegossen haben.

Meine Heimatstadt Ludwigsfelde stand im Zeichen von IFA, das war der Industrieverband Fahrzeugbau, dort wurde der W50 gebaut, ein Lastwagen von fünf Tonnen, der in Werdau entwickelt worden war, was diese Abkürzung erklärt.

Wenn ich mich bei meinen Stadtführungen vorstellte, ließ ich Ludwigsfelde lieber weg, das war zu kompliziert und darüber konnte ich mich mit Berlinern unterhalten, ob die Industriestadt zu Berlin gehörte oder nicht. Vor dem W50 war dort der Motorroller Berlin gebaut worden. Ich sagte den Touristen einfach, dass ich in Berlin geboren worden war und basta. Wen es noch detaillierter interessiert: Im Oktober 1969, als der Fernsehturm eröffnet wurde, 1,67 Kilometer entfernt.

Ich hatte in Mitte an der BBS des ND gelernt, der Betriebsberufsschule des Neuen Deutschland, mein Stammbetrieb war die Druckerei des MfNV in Schöneweide, also des Ministeriums für Nationale Verteidigung.

Dass ich mich in dieser Druckerei ausbilden lassen hatte, offenbarte meinen Opportunismus, ich hatte pazifistische Ideale und lehnte Militär und besonders die NVA der DDR ab, ach so, NVA, das war die Nationale Volksarmee. Ich hatte den Wehrunterricht gehasst und das Wehrlager und die Wachablösung und den Stechschritt und die Preußenverehrung und die Militarisierung des ganzen Alltags in dieser Scheiß-DDR. Wahrscheinlich hätte ich den Dienst an der Waffe verweigert. Aber diese friedlichen Ideale hatten mich nicht daran gehindert, bei der militaristischsten Druckerei des östlichen Deutschlands zu lernen und wäre die DDR nicht untergegangen, hätte ich bestimmt meinen Lebensweg mit immer weiter zunehmender Anpassung absolviert.

Andererseits hatte ich auch immer wieder Konflikte mit der Polizei und das war seit Ende der DDR nicht viel besser geworden. Die DDR gabs nicht mehr, genauso wenig wie meine Druckerei oder auch nur den Beruf des Schriftsetzers. Ich hatte mich autodidaktisch zum Stadtführer fortgebildet und, wie ich immer betonte, wenn ich mich den Touristen vorstellte, auch zum Schriftsteller, Stadtbilderklärer und Vortragsreisenden.

Fast jeden Tag hatte ich irgendwann Fahrradtouren geführt und war insgesamt gut angekommen. Ich hatte durchaus, besonders am Anfang, Unsicherheiten gespürt, obwohl ich schon seit vielen Jahren Stadtführungen machte. Was war ein Markgraf genau, was unterschied ihn von einem Kurfürsten, warum war es von Bedeutung, ob jemand König in oder von Preußen war?

Allerdings war das eigentlich völlig egal, hatte ich von Alberto, meinem Chef, gelernt. Man musste möglichst viele der völlig unterschiedlichen Menschen erreichen. Es konnten in einer Gruppe alle Lebensalter von zehn bis 80 Jahren vertreten sein. Deshalb musste man, um möglichst viele zu interessieren, an jedem Ort zu vielen verschiedenen Aspekten erzählen, so dass möglichst für jeden Geschmack was dabei war. Letztlich war genau aber das auch unmöglich, weil es zu viele Idioten gab. Aber sie waren Kunden, und der Kunde ist König.

Aber dann warf Alberto mich raus.

Geiles Triebgefühl

Was macht man, wenn man keinen Ausweg hat?

Was macht man, wenn man keinen Ausweg hat?

Entweder Schluss, oder man steigt aufs Rad.

Ich hab den Rikscha Blues.

Ich hatte es unbedingt wissen wollen, was die Gründe für meinen Rauswurf waren, ich fuhr ja auch so oft bei Rot über die Ampeln und kiffte und dann haute ich auch immer sofort ab zum Fußballspielen. Ich hatte meinem Chef Alberto, jetzt ja früherem Chef geschrieben, dass mich seine Begründung nicht überzeugte und ich nicht dumm sterben wolle. Alberto und ich trafen uns im Nola’s im Weinbergspark, er war schwer von der Grippe gezeichnet und um so netter fand ich es, dass er mit demjenigen sprach, den er grad gefeuert hatte. Der Brief von dem Richter war es jedenfalls nicht, der kam viel, viel später.

Was er mir zur Begründung sagte, das leuchtete mir nicht ein, aber er sagte es so, dass ich ihm nicht böse sein konnte. Er möge mich, aber ich polarisiere das Publikum, also manche von denen mochten mich nicht und er brauche Führer, die allen gefallen. Das gefiel mir, ein Führer, der allen gefiel, so jemand wie Hitler, das war ich nicht. Ich war eher so wie Gandhi und viele hatten Gandhi gehasst, er war ja sogar erschossen worden.

Zustimmen konnte ich ihm nicht, er lag einfach falsch. Ich merkte doch, bei welchen Geschichten die Leute lachten und zuhörten und bei welchen sie abschalteten. Ich konnte ihre Fragen beantworten, bezog sie mit Gegenfragen ein und am Ende gaben sie mir jede Menge Trinkgeld und klatschten. Kurz: Ich war ein sehr guter Fahrrad-Guide.

Aber damit war es vorbei und meine Überzeugung konnte ich mir in die Haare schmieren. Ich fühlte mich nicht vor dem Abgrund oder dem Nichts, aber meinen Jahresplan konnte ich in die Tonne treten.

Beim Jobcenter hatte ich zuletzt so eine sadistische SS-Ziege, die war auch wie Hitler, nur nicht so beliebt, jedenfalls bei mir. Dort wieder Hilfe zum Lebensunterhalt zu beantragen hätte mit Sicherheit zu einem depressiven Schub geführt und da meldete ich mich bei der Rikscha-Bude an. Diana hatte mir immer nahe gelegt, es doch zu probieren: Kurt fahre da auch und verdiene in einigen Monaten genug, um jeden Winter in Brasilien verbringen zu können. Wieso ich es jetzt machte, nachdem wir auseinander waren, und nicht vorher getan hatte, als wir noch zusammen waren und es vielleicht günstig für unsere Liebe gewesen wäre? Ich konnte es nicht beantworten.

Auch Ulrike, meine Ex, mit der ich zwei Töchter hatte, war mal Rikscha-Fahrerin gewesen und empfahl es mir. Die Rikscha-Bude war in einigen S-Bahn-Bögen am Hauptbahnhof auf der anderen Seite des Humboldt-Hafens untergebracht, nicht weit von der Charité. Ich brauchte dorthin mit dem Fahrrad von meiner Wohnung gerade mal 10 Minuten, perfekt.

Es fing nicht übermäßig vielversprechend an. Wolfgang, der Chef von Rikscha-Taxi, machte mit mir und mit Manfred, einem anderen Bewerber, einen sehr leichten Ortskundetest, wirklich sehr leicht:

„Nennen Sie drei Sehenswürdigkeiten in der Straße Unter den Linden!“ Nach dem schriftlichen Test fuhr er uns in einer Rikscha zum Hauptbahnhof. Er war so ein junggebliebener Mitfünfziger, sportlich und braungebrannt durchs Rikschafahren, er trug Shorts und Sandalen. Wir drehten einige Runden mit der Rikscha, ich kam ohne Berührung durch die Poller aus großen Granitwürfeln, Wolfgang sagte:

Ein Poller steht am Straßenrand,

sein Zweck ist gänzlich unbekannt.

Der Phallus im Verkehrsgewühl

erweckt ein geiles Triebgefühl.

Er fuhr uns wieder zurück, auf der Brücke hörte ich schönen Gesang von einer Frau und sah sie stehen, wo wir eben noch testgefahren waren. Dann war sie außer Sicht und außer Hörweite und im Depot war Wolfgang zufrieden, dass wir nicht blind waren und kräftig genug, den Motor einer elektrischen Rikscha einzuschalten.

Ich war Rikscha-Fahrer. Ich hatte es geschafft. Und das war, als mein Ärger begann.

Hunger

Was das Rikschafahren mir bringen mag?

Was das Rikschafahren mir bringen mag?

Ich erfahre es am allerersten Tag.

Ich hab den Rikscha Blues.

Nüchtern erscheinen! Wegen des Sonografie-Termins am Abend durfte ich nach dem Frühstück nichts mehr essen. Und das an meinem ersten Rikscha-Tag! Gleichzeitig war es der dritte Tag meiner Ibuprofen-Kur, ein Arzt aus einer meiner Fußballmannschaften hatte mir dazu geraten. Ich nahm 1200 Milligramm pro Tag, aber ich merkte keine Besserung.

Mysteriöse Schmerzen in der Leiste quälten mich seit fast einem halben Jahr. Es war keine normale Alterserscheinung, sondern etwas Geheimnisvolles, denn es wurde einfach nicht besser. Im normalen Alltag tat gar nichts weh, wenn ich zügig ging, spürte ich etwas wie einen Muskelkater, wenn ich lief, merkte ich es stärker, wenn ich schneller lief, dann stach es wie mit Messern in meinem Unterbauch.

Da ich exzessiv Fußball spielte, hatte ich alle Mediziner, die ich mit meinen Beschwerden aufgesucht hatte, gefragt:

„Ich habe Schmerzen in der Leiste und spiele exzessiv Fußball, könnte es sich um die Fußballerleiste handeln?“ Die Antwort war immer eindeutig gewesen:

„Nein!“ Warum es ausgeschlossen war, hatten mir weder der Chirurg noch die Physiotherapeutin, nicht der Orthopäde, nicht der Allgemeinarzt verraten und auf das heutige Urteil des Sonografen war ich einigermaßen gespannt. Ich nahm an, dass es für die Mediziner schon eine Zumutung war, dass ein Patient überhaupt einen Verdacht auf eine Diagnose äußerte. Ich hatte keinen Befund, aber Physiotherapie bekommen, hatte mehrere Monate überhaupt keinen Fußball gespielt, die Beschwerden blieben.

Nach 10 Uhr war ich im Depot und bekam den E-Cruiser 31, das Wetter war perfekt für meinen ersten regulären Rikscha-Tag. ZwölfEuro hatte ich Miete zu zahlen und die müssten mindestens wieder hereinkommen, dann wäre ich bei Null.

Manche Namen konnte ich mir gut merken. Oft brauchte ich Eselsbrücken, von denen niemand etwas wissen musste. Wenn Leute Ronald heißen, merkte ich mir das mit Ronald Reagan. Jonas konnte ich mir leicht im Kopf behalten wegen der Bibel. Denn der Jonas aus der Bibel bekam den Namen Jonas, weil er aus dem Wal kam und die Leute sagten:

„Der ist jo nass!“ Von dem Rikscha-Fahrer Jonas stammte, inspiriert vom Kommunistischen Manifest, unser Wahlspruch:

„Die Rikschisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen. Sie erklären es offen, dass ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Straßenverkehrsordnung. Mögen die Autofahrer vor einer rikschistischen Revolution zittern. Die Rikscha-Fahrer haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Stadt zu gewinnen. Rikscha-Fahrer aller Länder, vereinigt euch!“

Mir schien das Motto so passend wie nur eins: Die Zukunft sollte mit weniger Autos und mehr Rikschas stattfinden, von mir aus auch mit mehr Fahrrädern, Skateboards, Rollern, nur halt nicht mit diesen Unmengen von Verbrennungsmotoren in teilweise grotesken Fahrzeugen. Mit Grausen erinnerte ich mich an meine Fahrt in dieser Stretch-Limousine von Hummer, so stellte ich es mir in einem Panzer vor. Ich war mir darin vorgekommen wie Arnold Schwarzenegger beim Endkampf um Mossul.

Von halb 11 an stand ich am Hackeschen Markt, Massen von Menschen liefen an mir vorbei, die mich mit Missachtung straften. Nach einer Viertelstunde radelte ich zur Spree am Monbijou, dort war aber noch totere Hose. Mein Ziel war doch nicht zu hoch gesteckt, zwölf Euro einzunehmen an meinem ersten Tag, dazu mit wunderbaren Wetter? War das zu viel erhofft?

Unterwegs sah ich eine Gruppe von Berlin Bike Tours vorbei radeln. Das löste bei mir negative Gefühle aus. Ich war eine narzisstische Leberwurst und etwas eingeschnappt wegen des Rauswurfes. Immerhin fragte mich ein erstes Paar, dem aber zehn Euro zur Französischen- und Mauerstraße zu teuer war. Ich radelte auf die Friedrichsbrücke und harrte froh der kommenden Dinge. Bald gesellte sich Manfred zu mir, der gemeinsam mit mir angefangen hatte. Das schweißte irgendwie zusammen. Er stand unten, ich stand oben auf der steilen Fußgängerbrücke zwischen Museumsinsel und Burgstraße.

Dann bekam ich meine erste Fuhre. Es waren zwei Russen, die recht gut Deutsch konnten, aber sehr betrunken waren. An den Ku’damm wollten sie:

„Wo die Schlampen stehen.“ Als sich herausstellte, dass sie die Oranienburger Straße meinten, waren wir schon durchs Brandenburger Tor und ich fuhr sie am Reichstag vorbei zurück.

Ich stand neben dem Seifenblasen-Künstler am Hackeschen Markt und nahm mir vor, hier bis 13 Uhr, also insgesamt anderthalb Stunden abzuwarten, um evidente Erfahrungen zu machen und las dazu in einem Buch über die Rolling Stones. Mit meiner Ex war ich auf einem Konzert gewesen und seitdem zu 90% ein Fan. Zwischendurch schrieb ich auch an einer Geschichte über Blutwurst aus Nacktschnecken, die würde bestimmt ein großer Erfolg werden.

Ich war drauf und dran, an diesem Standort aufzugeben, als zwei nette Libanesen einstiegen, die ich zur Sophienkirche, zu Clärchens Ballhaus und zur Synagoge fahren konnte.

Beim Anstieg der Monbijoubrücke schwächelte die Rikscha und die beiden verabschiedeten sich. Die letzten zwei Stunden wartete ich an der Karl-Liebknecht-Straße und der Ecke Spandauer-, ich hatte etwas über 20 Euro eingenommen, das war eher lausig, aber immerhin hatte ich, mein gewünschtes Minimum.

Ich brachte die Rikscha ins Depot und fuhr in die Radiologie in der Torstraße und wartete in einem Wartezimmer, in dem zwei ältere Damen auf zwei Liegen lagerten:

„In einer Dreiraumwohnung, da sind meine fünf Kinder groß jeworden, wir waren glücklich jewesen. Links ist die Balkontür, saick immer, könnse durchgehen. Storkower Straße, da war ick glücklich, da will ick ooch sterben. Fünf Kinder und 14 Enkel hab ick,” sagte die eine Greisin, die zweite murmelte etwas Anerkennendes, die erste fuhr fort:

„Nächstes Jahr 70. würde ick am liebsten wegfahren. Da können Se sich vorstellen, wat bei mir los ist, wenn die alle kommen. Aber alle sehr diszipliniert, wenn die Stühle alle sind, setzen sie sich aufn Bierkasten oder hocken. Wo waren Sie her?”

„Oschersleben, wennse das kennen, eine Küche, ein Zimmer, ein Bad.”

„Wo wohnen Sie?”

„Weißensee!”, sagte die zweite und beschrieb die Lage ihrer Straße.

„Ah, den Friedhof kenne ick, da liegen meine Schwiegermutter „und mein Mann. Mensch, mir brennt der Po, brennt Ihnen nischt? Sie haben noch n bisschen mehr Speck drauf.” Die zweite Dame verteidigte sich:

„Meine Ärztin sagt, ich soll nicht abnehmen, das sei alles Quatsch. Meine Mutter rennt noch wie ’ne Biene.”

„Muss doch über 80 sein.”

„87, aber macht noch alles, Straße fegen und so.”

„Noch alte Schule, meine Mutter ist natürlichen Tod gestorben, mit 80.”

„Da sind wir ja schon hingeköppte Menschen. Kennen Sie den einbalsamierten Menschen in Kahlbutz? So sieht mein Bruder aus, hat spät im Alter Zucker gekriegt. Die Frau an Brustkrebs gestorben, aber seine Wohnung, da könnte sich manche Frau ’ne Scheibe abschneiden.”

„Mein Schwiegersohn wird demnächst 60, da muss ich wieder hin. Ja, die Jahre vergehen.” Zustimmend grunzte die andere.

„Ich könnt jetzt ’ne schöne Tasse Kaffee trinken und ’ne Zigarette. Man muss nur nicht dran denken, dann geht das wieder, deshalb nehm ick mir auch immer was zu lesen mit.”

„Bei welchem Doktor waren Sie?”

„Ick war damals bei dem Brandt mit dem Zopf in Hohenschönhausen, jetzt habick den hier auch gesehen, hat mir damals diese Platte eingesetzt.” Sie stöhnte und ächzte:

Ick kann nicht mehr liegen. Bei drei Wochen, ick hab jedacht, ick hab keen Kreuze mehr, ick dachte des bricht. Dit hat allet mit der Durchblutung zu tun. Eine Zeit lang geht’s immer, tanzen, letztet Jahr haben se mich mit nach Italien jenommen. Habick gesagt: Geht, ick hab für heute jenuch Schmerzen jehabt.” Gleichmäßig rauschte die Klimaanlage und mir wurde klar, dass es mir verdammt gut ging.

Zwischen den Lamellen der grünen Jalousien waren vor dem blauen Himmel Schlote, ein Glaspavillon sowie verschiedene Alt- und Neubauten zu sehen.

„Wann bin ich hier reingekommen, halb 12? Ich war für um 10 bestellt, halb 11 war ich drin. Hab gar nicht richtig auf die Uhr gekuckt. Ich warte bis ich dran bin. Das selbe Theater wie beim letzten Mal.”

„Hämmert dit bei Ihnen ooch so in der Schlagader? Mein Schieber rutscht weg.”

„Was für ein Schieber?”

„Na wo die Beene drin sind.”

„Nee, ick spüre nichts.” Die Zimmertür wurde geöffnet:

„Herr Hennig?“ Ich stand auf und folgte dem Mann in einen Nebenraum. „Atmen Sie mal intensiv ein und drücken Sie die Luft in den Unterbauch!“ Ich tat es und er strich mit einer mit Gleitcreme eingefetteten Sonde über meinen Bauch. Ich sagte:

„Der Chirurg hat mir schon gesagt, dass ich eine schwache Bauchdecke habe.“

„Davon merke ich nichts. Für einen Leistenbruch kann ich auch keine Anzeichen finden.“ Immerhin war nun klar, dass es keine Zerrung und auch kein Leistenbruch war. Irgendwann, wenn alle Krankheiten ausgeschlossen waren, bis auf eine, dann würde klar sein, was ich hatte. Ich fuhr nach Hause und erinnerte mich an eine Weisheit von Sherlock Holmes, die auf diesen Fall genau zutraf:

„Wenn man das Unmögliche ausschließt, muss das, was übrig bleibt, so unglaublich es scheinen mag, die Wahrheit sein.“

Fußballer, bleib bei deiner Leiste!

Könnte es ’ne Fußballerleiste sein?

Könnte es ’ne Fußballerleiste sein?

Ausgeschlossen? Na dann ist ja fein!

Ich hab den Rikscha Blues.

Es war sehr eigenartig, nicht mehr Fußball spielen zu können, immerhin: Fahrradfahren ging und auch Rikscha. Vielleicht sollte ich mit Radball beginnen?

Von meinem Vater hatte ich Den Teltow von Willy Spatz geerbt, ein legendäres dreibändiges Geschichtswerk, signiert vom Autor für sein Patenkind. Mein Vater hatte es von seinem Vater geerbt, der es wiederum als Prämie vom Leiter der Ludwigsfelder Hermann-Löns-Schule geschenkt bekommen hatte.

Ein Stempel war noch zu erkennen: „Der Leiter der Volksschule zu Ludwigsfelde. Kreis Teltow“. Das Hakenkreuz in den Reichsadlerklauen war ausgekratzt, wahrscheinlich um der Erschießung durch russische Soldaten zu entgehen.

Ich war aufgewachsen mit den Schwarten, aber als Kind war mir nicht klar, dass nicht nur Ludwigsfelde und Rangsdorf auf dem Teltow lagen, sondern dass sich fast ganz Westberlin auf dieser Hochebene befand, ja sogar Ostberlins historisches Zentrum mindestens zur Hälfte. Denn die Grenzen des Teltow sind die Spree, die Havel und die Kanäle Nute und Notte.

Jetzt hatte ich die drei Bände Der Teltow in meiner Wohnung im Spreetal direkt an der Kante des Barnim, der dem Teltow gegenüberliegenden Hochebene. Schweizer lachten sich immer tot, wenn ich von dieser Hochebene erzählte und sie mit mir den Anstieg von insgesamt fast 30 Metern hochfuhren. Man brauchte mit Fahrrad nicht einmal eine Gangschaltung. Der Teltow, der Barnim, der Wedding, so sagte man es bis heute, früher hatte man auch der Berlin gesagt, aber das war lange her.

Meine Wohnung sah der meines Vaters verblüffend ähnlich, ich hatte seinen Bücherschrank geerbt, seinen Schreibtisch, seine Scheren und Lupen, seine Aktenordner, sein Bismarck-Bild, seine Dampfmaschine, seine Bücher über Berlin, die Mark Brandenburg und die Uckermark. Und dann hunderte von Fotoalben. Die ganzen Fußbälle, die Perücken, die Stempelkästen, Schreibmaschinen. Allerdings hatte ich über alles bunte Lichterketten gehängt. Viele sagten, dass es bei mir gemütlich sei und fügten sofort hinzu, dass sie so nicht leben könnten.

Immer, wenn ich von meinem Vater und seinen Leidenschaften sprach, glaubten die Leute, ich würde mich selbst beschreiben. Ich überlegte, was ich genau war, Stadtführer, Rikscha-Fahrer, Fußballer, Schriftsteller, aber ich kam auf kein eindeutiges Ergebnis. Vielleicht Leser, weil ich am liebsten las? Besonders gern über die Geschichte von Berlin.

Ich hatte wieder einen Termin beim Arzt und da ich sowieso bezahlt hatte, konnte ich auch mit Rikscha nach Neukölln radeln. So eine Rikscha war ja nichts anderes als eine Leihwagen, ich bezahlte 12 Euro für den Tag Miete, ich konnte sie zwischen 10 und 11 Uhr abholen und musste sie zwischen 18 und 19 Uhr zurückbringen.

Ich hatte unterschrieben, dass ich in der Zeit hauptsächlich in der Innenstadt, also zwischen Unter den Linden und Gedächtniskirche herumfahren oder herumstehen würde. Aber niemand konnte das überprüfen und es kümmerte auch keinen. Es war eine ziemliche Strecke die Sonnenallee hinaus Richtung Stadtrand. Ich machte den Schlenker durchs alte Rixdorf, wenn ich schon mal durch Neukölln kam.

Neukölln hatte früher Rixdorf und noch früher Ricksdorf geheißen, auch Richardstorff, Rigerstorpp, Richarstorp, Riechstorff, Rechßdorff, Risdorf, Reichstorff und Riesdorf. Im 19. Jahrhundert hatte Rixdorf wegen der hohen Kriminalität, wegen vieler proletarischer Besäufnisse und schlechter Sitten einen üblen Leumund und 1912 war es deshalb in Neukölln umbenannt worden. Aber auch der neue Name war blitzschnell abgeranzt und der Ruf miserabel, noch bis vor wenigen Jahren war Neukölln das Synonym für schlechte Schulen und große Probleme mit türkischen und anderen Gastarbeitern. Aber eine erneute Umbenennung hatte man nicht erwogen und inzwischen war der Bezirk zu einem Zentrum der Gentrifizierung geworden. Hier gab es noch die Kneipen und Clubs mit Sperrmüllmöbeln, die es in den Jahren nach der Wende auch in Mitte und im Prenzlauer Berg gegeben hatte. Deutlich absehbar war, dass hier mit den neuen, wohlhabenden Bewohnern auch diese Kneipen schließen würden. Die Gegend würde fein und ruhig werden und die Aufwertung der Immobilien würde woanders weiter gehen, wenn sie hier abgeschlossen war.

Ich fuhr die Sonnenallee weiter Richtung Süden an meinem ersten Arbeitsamt vorbei, damals in der Wendezeit 1990 hatte ich eine Meldeadresse in der Elbestraße gehabt, in Wirklichkeit hatte ich in Ostberlin gewohnt, aber es gab im Westen mehr Arbeitslosengeld.

Dann saß ich im Wartezimmer der Sportlerleisten-Koryphäe und war gespannt auf die Auswertung meines MRT. An den Wänden hingen Bilder der dankbaren Hertha-Spieler, die dieser Fachmann wieder fit gemacht hatte.

Ich durfte hinein und wartete weiter, dann kam der Sportarzt herein. Er blätterte die Bilder vom MRT durch, er zeigte mit dem Finger auf weiße Stellen in meiner Leiste:

„Wie ich vermutet habe, Fußballerleiste: Ostitis, also beginnende Knochenhautentzündung an den Schambeinästen.“

„Darf ich denn Fußball spielen?“

„Verbieten tue ich Ihnen gar nichts. Aber wenn Sie eine große Wunde am Arm hätten, würden Sie dann Säure drüberkippen und mit dem Messer immer wieder reinschneiden? Das muss ausheilen.“

„Wäre denn Physiotherapie hilfreich?“

„Physio bei ner Ostitis? Da sollte man die Finger von lassen. Auch von Schmerzmitteln! Als ich bei Hertha anfing, konnte ich es erst nicht fassen: Die nehmen alle Schmerzmittel! Ich dachte ich traue meinen Augen nicht, als der Arzt vor dem Spiel die Tabletten verteilte. Ich wäre fast vom Glauben abgefallen! Einem Spieler hat der Arzt damit einen Nierenschaden beschert, die musste transplantiert werden, also besser Hände weg!“

Tatsächlich hatte als einziger Sportfreund Habib mit seiner Diagnose Pubalgie recht gehabt, während die vielen Mediziner sich als ganz unfähig erwiesen hatten. Ich litt unter Schambeinentzündung, auch Ostitits, Grazilis- oder Pierson-Syndrom genannt, einer Überlastung durch Fußball. Bei mir war der Schmerz erfreulicherweise auf die Schambeinäste begrenzt. Kamerad Uli hatte mir erzählt, dass er sich bei seiner Schambeinentzündung nicht einmal im Bett hatte drehen können.

Das einzige, was wirklich half, war Fußballpause bis zur völligen Heilung. Ich nahm mir vor, an dem anstehenden internationalen Turnier noch teilzunehmen und mich dann auszuklinken und auszuheilen.

Der Spatz in der Hand

Der Spatz ist besser als die Taube auf dem Dach.

Der Spatz ist besser als die Taube auf dem Dach.

Doch für Den Teltow gilt das Argument nur schwach.

Ich hab den Rikscha Blues.

Ich fuhr mit der Rikscha zurück Richtung Innenstadt, ich dachte nach über die merkwürdigen Ärzte, über meine Laufbahn als Fußballer, über die nächsten Fußballspiele in Nordzypern und in Paris. Wenn ich Fußball spielte, war alles gut und ich hatte keine Sorgen, meist nicht einmal Schmerzen. Dann dachte ich nicht an Diana und warum wir nicht mehr zusammen waren, nicht an meine verkrachte Existenz oder die bevorstehende Ausdehnung der Sonne und das Ende allen Lebens. Wenn es die Möglichkeit gäbe, nur noch Fußball zu spielen, ich würde es wohl machen. Aber mein Körper hatte mir die Rote Karte gezeigt. Das ging also auch nicht.

Ich bog hinter dem Estrel und dem Neuköllner Schifffahrtskanal links in die Mareschstraße ab und fuhr rechts die Schudoma- zum alten Dorfkern von Neukölln, dort angekommen fühlte ich mich etwas wie im Märchenland. Ohne Vorwarnung war man plötzlich nicht mehr in der Mietskasernenstadt, sondern in einem zauberhaften Dorf.

Ich bog an der Bethlehemkirche rechts auf den Richardplatz ab, umkreiste ihn und den alten Anger und fuhr rechts nach Böhmisch-Rixdorf. An dieses Kolonistendorf für die religiös Verfolgten aus Böhmen hatte das alte Rixdorf einen großen Teil seiner Grundstücke verloren. Während Deutsch-Rixdorf ein typisches Angerdorf war, hatte man Böhmisch Rixdorf als schnurgerades Straßendorf angelegt.

Im Siebenjährigen Krieg hatten Russen, Sachsen und Österreicher den Teltow verheert, waren nach Berlin vorgedrungen und hatten bei Rixdorf gelagert. Die Kosaken hatten Wein, Bier und Branntwein in rauen Mengen erpresst, dazu Geld und Kleidung,hatten die Kirchen geplündert, die Pfarrer ausgepeitscht und das Vieh geraubt. Von hier hatten sie Feuerkugeln nach Berlin geschleudert, das sich ergeben musste.

1763 war Frieden und Friedrich der Große kam nach Berlin zurück und beschrieb sich als „alt, fast kindisch, grau wie ein Maultier, tagtäglich einen Zahn einbüßend, von der Gicht zum halben Krüppel gemacht“. 500.000 Menschen waren dem Krieg zum Opfer gefallen. Als Friedrich starb, war Preußen erleichtert, die Blutbäder hatten ihr Ende gefunden.

Der Alte Fritz war jedenfalls eine interessante Figur, Preußen hatte er groß gemacht, ob er schwul war oder nicht, darüber konnte man sich streiten, Massenmörder, Flötenspieler und Kriegsherr, Dichter und Philosoph.

Ich radelte die Rikscha auf der Sonnenallee Richtung Hermannplatz. 1860 waren Charlottenburg, Tempelhof, Schöneberg und Rixdorf Berlin zugeschlagen worden, der Teltow hatte damit ein Fünftel seiner Bevölkerung an die Stadt verloren. Während bis dahin der Kreis Teltow bis weit ins Spreetal gereicht und an der Potsdamer Brücke sogar den Landwehrkanal überschritten hatte, war er dann auf die eigentliche Hochfläche des Teltow beschränkt.

1875 fuhren die ersten Pferdeeisenbahnen zwischen Rixdorf und dem Halleschen Tor und bald auch die schmalspurige Kleinbahn von Rixdorf nach Mittenwalde. 1899 schied Rixdorf ganz aus dem Kreis Teltow, eine hohe Summe hatte das Dorf an den Kreis für den Unterhalt der Chausseen zu zahlen und für das Recht, in den Kreiskrankenhäusern Britz und Lichterfelde Betten zu belegen. Ich fuhr den Teltow hinunter ins Spreetal und spürte keinen Stich.

Napoleon war geschlagen, wir waren frei.

Millionen in der Unterwelt

Die Stadt der Liebe war und ist Paris.

Die Stadt der Liebe war und ist Paris.

Deshalb gehts mir dort bei Herzschmerz obermies.

Ich hab den Rikscha Blues.

Ich flog nach Paris und ausgerechnet dort erwischte mich der Rikscha Blues. Dabei trat ich nicht einmal selber in die Pedale, sondern wurde von der bildhübschen bulgarischen Psychologie-Studentin gefahren. Gut war, dass ich meine Sonnenbrille mit hatte, den Regenponcho dagegen hätte ich zu Hause lassen können wie auch mein Brokatjackett.

Paris sei sehr teuer, so wurde immer erzählt. Mit U-Bahn oder Bus durch die Stadt zu fahren, kostete zwei Euro, ein städtisches Fahrrad auszuleihen, kostete 70 Cent pro Tag. Überall waren dafür Stationen, mit dem Handy konnte man nachsehen, wo wie viel Fahrräder bereitstanden. Ich radelte jeden Tag durch die sonnigen Straßen.

Oft hatte ich gehört, in Paris spreche niemand Englisch und wenn man jemanden etwas auf englisch frage, so werde man ignoriert. Ich fragte ungefähr 100 Franzosen nach allem möglichen auf Englisch, meistens nach dem Weg, und immer wurde mir freundlich und auf Englisch geholfen.

Die einzige Erklärung war, dass es noch ein anderes Paris gab und ich war in dem guten. Die Voraussetzungen waren perfekt, ich fuhr mit meiner großen Tochter, ich spielte Fußball, wir wohnten bei extrem netten Leuten. Aber der Blues packte mich heftig, trotz Sonne, Urlaub, den unfassbar attraktiven Pariserinnen, trotz Margritte und den Beat-Autoren, es war einfach Liebeskummer.

Das Wissen, dass nicht nur der Junimond mit Diana vorüber war, sondern dass auch kein Herbst und Winter mehr kommen würden, erreichte mein Inneres, das man früher im Herz lokalisiert hatte. Mein Herz war nichts als ein bescheuerter Hohlmuskel und tat weh.

An einem verkaterten Morgen, wäre es der Verkaterte-Morgen-Blues gewesen, hätte ich mir das Bein gebrochen, wäre es der Beinbruchblues. Weil ich in Paris war, war es der Paris-Blues.

Es hätte alles gut sein müssen, wir, die deutschen Schriftsteller, spielten Fußball gegen die französischen, und es funktionierte auch und für zwei mal 45 Minuten war ich völlig glücklich. Aber dann war das Spiel vorbei und ich merkte, dass meine Hoffnung erloschen war. Bis vor kurzem hatte ich in mir immer noch geglaubt, Diana und ich könnten als Paar neu beginnen, obwohl klar war, dass sie gar nicht wollte. Ich hatte es mir schöngeredet: Damit wir neu anfangen können, muss halt auch richtig Schluss sein. Schluss war wirklich, aber nichts Neues begann. Diese Hoffnung war bis jetzt in mir lebendig geblieben, entgegen jeder Vernunft. In Paris starb sie. Einfach so.