cover

Julian Nida-Rümelin

Die gefährdete Rationalität der Demokratie

Ein politischer Traktat

Inhalt

Vorwort

Einführung und Überblick

 

  1.Liberale Weltordnung und Demokratie: die interne Dimension

  2.Liberale Weltordnung und Demokratie: die externe Dimension

  3.Sieg und Verfall der Liberalen Weltordnung

  4.Die sozioökonomische Erosion sozialer Marktwirtschaft

  5.Eine kosmopolitische Alternative

  6.Was Demokratie (nicht) ist

  7.Demokratie und kollektive Rationalität

  8.Das Arrow-Theorem

  9.Lehren aus dem Arrow-Theorem

10.Kollektive Autonomie

11.Individuelle Autonomie

12.Das Sen-Paradoxon

13.Konsens in der Demokratie

14.Dissens in der Demokratie

15.Das Gibbard-Theorem

16.Fünf Formen der Demokratiekritik

17.Freiheit und Gleichheit

18.Kritik des Egalitarismus

19.Gerechtigkeit in der Demokratie

20.Deliberation in der Demokratie

21.Demokratischer Realismus

22.Kooperation in der Demokratie

23.Demokratie als Lebensform

24.Sechs Paradigmen der Demokratie

Danksagung

Anmerkungen

Grafiken

Vorwort

Die gegenwärtige Krise der Demokratie kann schwerlich bezweifelt werden. Jedenfalls der Demokratie, wie wir sie in den westlichen Ländern kennen, charakterisiert durch Rechtsstaatlichkeit, unveräußerliche Grundrechte, institutionelle Stabilität und Gewaltenteilung, gestützt auf eine politische Kultur des öffentlichen Vernunftgebrauchs. Mit ihr steht auch das in Frage, was als Liberale Weltordnung gilt: eine regelorientierte, multilaterale, an Freiheit und Wohlstand orientierte internationale Praxis. Und ebenso, wie es darauf ankommt, genauer zu bestimmen, was unter Demokratie zu verstehen ist, um sie fortentwickeln oder revidieren zu können, so gilt auch für die Liberale Weltordnung, dass ihr Inhalt, ihre Erfolge und ihr Versagen analysiert werden müssen, um eine tragfähige globale Perspektive zu entwickeln. Beides soll in diesem Buch geleistet werden.

Manche Intellektuelle – rechts und links im politischen Spektrum – reden von einer Transformation der »westlichen«, »liberalen« Demokratie in eine anders verfasste Volksherrschaft, in der es einen unmittelbaren Durchgriff des Volkswillens, vermittelt durch eine charismatische Führungspersönlichkeit gibt, die sich von institutionellen, rechtlichen und internationalen Bedenken nicht aufhalten lässt. Manche Politiker praktizieren eine »illiberale«, auf ethnische Identität abstellende, Minderheiten unterdrückende Demokratie (von rechts) oder eine Volks-Demokratie als Transformation des postulierten Mehrheitswillens der Unterdrückten gegen die alten Eliten (von links). Das erste Transformationsmodell findet sich in einer der ältesten westlichen Demokratien, in Gestalt der Rhetorik des Wahlkämpfers und Präsidenten Donald Trump, aber auch – in einer intellektuell anspruchsvolleren Form – bei einer Galionsfigur der europäischen Rechten, Victor Orbán, dem ungarischen Staatschef. Und es findet sich in kleineren Größen der europäischen Rechten, wie dem Niederländer Geert Wilders, dem Brexit-Hardliner Nigel Farage oder Matteo Salvini, dem Chef der nationalistischen Lega in Italien, bei Marine Le Pen in Frankreich und, insbesondere im rechten Flügel, bei der AfD. Das linke Transformationsmodell findet sich vor allem in Südamerika, bei Hugo Chávez bis 2013 in Venezuela, bei Evo Morales in Bolivien oder bei Lenín Moreno in Ecuador, aber auch in linkspopulistischen Bewegungen, wie Syriza in Griechenland oder Podemos in Spanien.

Ziel dieses Buches ist es nicht, sich mit den unterschiedlichen Facetten der aktuellen Herausforderungen der Liberalen Weltordnung und der Demokratie als Staats- und Gesellschaftsform auseinanderzusetzen. Das erforderte eine umfangreiche empirische Studie.1 Vielmehr geht es mir um ein angemessenes Verständnis dessen, was Demokratie ist und was Demokratie folgerichtig nicht ist. Es geht um die spezifische Rationalität der Demokratie und ihre aktuelle Gefährdung.2

Meine – vielleicht allzu kühne – Hoffnung ist es, dass eine Klärung dessen, was die Demokratie als Staats- und Gesellschaftsform ausmacht, ein Beitrag zu ihrer Stärkung werden kann, jedenfalls Voraussetzung dafür ist, die aktuellen Herausforderungen der Demokratie als Staats- und Gesellschaftsform zu bewältigen. Dieses Buchprojekt steht also nicht in der Tradition der Eule der Minerva, die erst in der Dämmerung ihren Flug beginnt.3 Ich beabsichtige keinen Abgesang, kein Katastrophenszenario, ich bin optimistisch, ich glaube an die Demokratie – in den unnachahmlichen Worten des Konservativen Winston Churchill: »No one pretends that democracy is perfect or all-wise. Indeed, it has been said that democracy is the worst form of government except all those other forms that have been tried from time to time.«4 Ich bin zuversichtlich, dass sich ihre politischen, sozialen und kulturellen Grundlagen so erneuern lassen, dass sie den aktuellen Herausforderungen gewachsen ist.

Mein Buch ist keine Streitschrift, es will zu gedanklicher – philosophischer und politischer – Klarheit beitragen, es bietet Analyse, nicht Polemik. Und es verlangt den Leserinnen und Lesern* einiges ab. Sie müssen sich einlassen auf teilweise komplexe philosophische Argumente, um die politischen Schlussfolgerungen nachvollziehen zu können. Nichts ist praktischer als eine gute Theorie.

Diese Analyse erfordert vorurteilsfreies Denken, dennoch kommt sie nicht ohne eine Orientierung an fundamentalen Normen und Werten aus. Sie nimmt auf Parteipositionen und -bindungen keine Rücksicht, aber sie ist parteiisch, insofern sie einem humanistischen Ethos5 verpflichtet ist und die Demokratie stärken will. Es handelt sich nicht um eine summa meiner politischen Philosophie, eher um ein Kondensat aus vielen Jahren des Nachdenkens, geschrieben in Sorge um die Zukunft der Demokratie.6

Der sachliche Ton ist als Kontrapunkt zu den aktuellen Aufgeregtheiten der politischen Debatte beabsichtigt.7 Ziel ist Klarheit im Kopf, damit die Praxis wieder Orientierung findet.

*Auf Binnen-I und Gendersternchen habe ich in dieser Schrift erneut verzichtet. Die weiblichen und männlichen Formen, das heißt das generische Maskulinum und das generische Femininum, folgen einem Zufallsoperator.

Einführung und Überblick

Vielerorts erstarken antidemokratische Kräfte, in einigen westlichen Ländern stellen sie gar die Regierung oder sind an ihr beteiligt. Der globale Siegeszug der Demokratie, wie er sich zunächst im Sturz europäischer Diktaturen, dann der Militärregime in Südamerika, schließlich im Verfall des Kommunismus und zuletzt in den postkolonialen Staaten Afrikas gezeigt hat8, ist gestoppt. In einigen Weltregionen ist die Demokratie als Staatsform auf dem Rückzug.9 Die Entwicklungen in der Türkei, in Russland, Brasilien, auf den Philippinen, aber auch in Ungarn und Polen, zuletzt sogar im EU-Gründerstaat Italien, belegen diese Entwicklung. Die beiden viel gerühmten angelsächsischen Zivilregime10 erscheinen sogar besonders gefährdet, denn in beiden Staaten – den USA und Großbritannien – ist das Institutionengefüge volatil und muss das Verhältnis der staatlichen Gewalten zueinander immer wieder neu austariert werden. Im Falle Großbritanniens kommt die schwach entwickelte Nationalstaatlichkeit hinzu, die durch das Brexit-Referendum und seine Folgen nun zusätzlich unter Druck gerät. Ein Zerfall des Vereinigten Königreichs ist nicht mehr ausgeschlossen. Amerikanischer Pragmatismus und britischer Common Sense sind einer zunehmenden politischen und kulturellen Spaltung in der Bevölkerung gewichen. In Brasilien regiert ein Präsident, der seine Sympathien für das frühere Militärregime nicht verhehlt und die demokratischen Traditionen des Landes verachtet. Die Türkei scheint nach wie vor11 auf dem Weg zu einem Sultanat zu sein, mit einer Reislamisierung des öffentlichen Lebens, dem Verlust von Gewaltenteilung und Redefreiheit und einer Erosion der von Atatürk durchgesetzten säkularen Verfassungsordnung.

Die politische Kultur verändert sich aber auch durch die zunehmende Bedeutung der Internet-Kommunikation, insbesondere in den Social Media. Dabei sind gegenläufige Tendenzen zu beobachten: zum einen eine Repolitisierung durch erleichterte Informationsgewinnung und eine Intensivierung medialer Debatten. Die öffentliche Meinungsbildung ist inklusiver geworden, die Partizipationschancen haben zugenommen. Zum anderen parzelliert die politische Öffentlichkeit zunehmend, manche sprechen von Filter-Blasen mit eigenen medialen Plattformen, Weltanschauungen und Gruppenbildungen. Seriöse Medien verlieren an Einfluss.

Als eine, vielleicht die zentrale Herausforderung der Demokratie gilt der Populismus, zumal der Rechtspopulismus, aber in südeuropäischen und südamerikanischen Ländern auch der Linkspopulismus. Mit dem Terminus »Populismus« ist erst recht seine Bewertung umstritten. Während die einen jede Form von Populismus als Gefährdung der institutionellen Verfasstheit liberaler Demokratien ansehen, preisen andere ihn als Gegengift gegen Elitenherrschaft und Abgehobenheit. Manchen gilt nicht die Demokratie schlechthin als gefährdet, sondern lediglich eine spezifische Form, nämlich die der liberalen Demokratie, die bereits ihrem Ende entgegengehe. Rechts im politischen Spektrum wird die Volksidentität beschworen und der direkte Durchgriff des Volkswillens auf staatliches Handeln eingefordert. Links im politischen Spektrum wird bezweifelt, dass die Wahrung der individuellen Freiheitsrechte und der Rechtsstaatlichkeit wünschenswert sei.

Manche Beobachter warnen vor einer Wiederholung der Geschichte. Im Jahr 1928, so hatte Erich Kästner diagnostiziert, wäre es noch an der Zeit gewesen, die nationalsozialistische Bewegung zu stoppen, danach sei es zu spät gewesen.12 1929 begann die größte Weltwirtschaftskrise der Menschheitsgeschichte und ließ die sozialen und politischen Ordnungen demokratischer Staaten erodieren, am radikalsten die fragile Weimarer Demokratie Deutschlands. Die zweitgrößte Weltwirtschaftskrise im Jahr 2009, ausgelöst durch eine US-amerikanische Hypothekenkrise auf lokalen Immobilienmärkten, hat ökonomische und politische Gewissheiten zweifellos schwer erschüttert, vor allem das Vertrauen darauf, dass die globalen Finanzmärkte stabil und die politische Steuerung der ökonomischen Entwicklung durch Regierungen und Zentralbanken verlässlich seien. Die Ursache der Krise lag in politischen Fehlentscheidungen, insbesondere für jene des billigen Geldes während der Clinton-Präsidentschaft, ermöglicht durch vorausgegangene und fortgesetzte Liberalisierungen, und sie wurde verstärkt durch weitere politische Fehlentscheidungen und institutionelle Schwäche. Zugleich wurde ein konzeptionelles Defizit deutlich: Die Politik hatte sich in Zeiten des Neoliberalismus selbst der Instrumente beraubt, die sie für eine effektive Steuerung der ökonomischen Entwicklung benötigte. Es ist nicht verwunderlich, dass sich jeweils nach beiden Weltwirtschaftskrisen die politischen Formationen veränderten. Aber steht zu befürchten, dass in beiden Fällen die Demokratie am Ende zu den Opfern gehören wird?

Die globale Verrechtlichung und die Globalisierung der Ökonomien schränken die Handlungsmöglichkeiten nationalstaatlich organisierter Demokratien ein – je kleiner und ökonomisch schwächer das Land, desto deutlicher. Es entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen einer regelbasierten internationalen Ordnung und den sich globalisierenden Märkten einerseits sowie zwischen einzelstaatlicher Souveränität und demokratischer Kontrolle andererseits. Die Verbindung von Nationalismus und Liberalismus im 19. Jahrhundert in Europa in Gestalt des auf liberalen Freiheitsrechten beruhenden souveränen Nationalstaats wurde im späten 20. und nun im frühen 21. Jahrhundert durch eine Verbindung von Liberalismus und Globalisierung abgelöst. Fällt am Ende dieser Verbindung die liberale und soziale, nationalstaatlich verfasste Demokratie zum Opfer? Erweist sich am Ende die Demokratie als unvereinbar mit weitgehend deregulierten globalen Finanzmärkten und unkontrollierbarer globaler Migration?

Um auf diese Fragen Antworten geben zu können, müssen wir uns von ideologischen Voreingenommenheiten lösen und die Begriffe und Kriterien klären: Was ist unter einer Liberalen Weltordnung, die gegenwärtig so emphatisch beschworen wird, eigentlich zu verstehen? Was ist bewahrenswert, und was sollte überwunden werden? Was genau ist unter Demokratie zu verstehen, welcher Zusammenhang besteht zwischen einer demokratischen Staatsform einerseits und einer demokratischen Gesellschafts- und Lebensform andererseits? Wie verhalten sich individuelle Rechte und kollektive Interessen zueinander? Wie kann man ein hinreichendes Maß kollektiver Rationalität sichern? Welche Rolle spielt die Deliberation, das Abwägen von Argumenten in der Demokratie?

Die ersten vier Kapitel befassen sich kritisch mit dem, was als Liberale Weltordnung von den einen angegriffen und den anderen verteidigt wird, das fünfte Kapitel skizziert eine kosmopolitische Alternative.13 Im sechsten Kapitel werden vor dem Hintergrund aktueller Herausforderungen der Demokratie als Staats- und Gesellschaftsform (auf dieses »und« lege ich aus Gründen, die im Laufe des Buches dargelegt werden, Wert) populäre Selbstmissverständnisse der Demokratie aufgeklärt, die nicht nur in der politischen Öffentlichkeit, sondern irritierenderweise auch in der wissenschaftlichen Debatte kursieren. Denn die Demokratie lässt sich nicht durch das Abstimmungsverfahren, die Mehrheitswahl, definieren. Dieses spielt eine Rolle, ist aber keineswegs so zentral, wie die meisten annehmen.

Demokratie ist eine besondere Form kollektiver Rationalität (Kap. 6), und daher ist es erforderlich, sich mit der Logik kollektiver Entscheidungen auseinanderzusetzen, die das analytische Instrumentarium bereitstellt, um die verbreiteten und populismusanfälligen Selbstmissverständnisse der Demokratie aufzuklären (Kap. 8, 9, 12 und 15). Sie erlaubt eine Praxis kollektiver Autonomie (Kap. 10). Man muss diese Idee allerdings richtig fassen, um den Fallstricken des Rousseauismus, ja einer (linken) politischen Romantik, zu entgehen.

Insbesondere steht die Idee kollektiver Autonomie in einer engen Beziehung und nicht in einem Gegensatz zu einer anderen, für die Demokratie ebenfalls konstitutiven Idee, nämlich der der individuellen Autonomie (Kap. 11 und 12). In der kontraktualistischen Tradition, die alle staatliche Legitimität an einen, zumindest hypothetischen, Vertrag bindet, ist diese der Ausgangspunkt: Alle Herrschaft legitimiert sich dadurch, dass sie gegenüber jedem einzelnen Individuum als rationalem Akteur gerechtfertigt werden kann. Demokratische Herrschaft ist eine selbst auferlegte, und sie ist nur dann legitim, wenn sie mit der individuellen Autonomie der Bürgerinnen und Bürger verträglich ist.

Demokratie beruht im Kern also nicht auf einer Abstimmungsregel, sondern auf einem Konsens höherer Ordnung (Kap. 13). Demokratische Legitimität wird erst durch Konsens gestiftet. Und dieser Konsens ist legitimierend, obwohl wir in der politischen Deliberation (Kap. 20) auf normative Tatsachen Bezug nehmen und uns in diesen immer täuschen können. Anders formuliert: Konsens ist kein Ersatz für normative Tatsachen. Eine Demokratie ohne Wahrheitsansprüche ist keine (Kap. 21).

Die linke, »radikale«, Kritik der Demokratie14 setzt dagegen auf Dissens. Sie setzt dem Konsensmodell der Demokratie ein antagonistisches (marxistisches) oder agonistisches (postmarxistisches) Modell entgegen. Ein angemessenes Verständnis von Dissens ist in der Tat unverzichtbar für die demokratische Praxis und die Theorie der Demokratie (Kap. 14 und 15). Die leitende These meiner Analyse lautet jedoch, dass jeder demokratische Dissens auf einem Konsens höherer Ordnung beruht, zumindest einem Konsens über die Form, in der Meinungs- und Interessenkonflikte auszutragen sind. Tatsächlich aber ist dieser Konsens sehr viel weiter gehend und umfasst empirische und normative Überzeugungen, ja emotive Einstellungen, die eine Lebensform erst konstituieren und damit die Demokratie als Lebensform tragen.15

Der normative Grundkonsens der Demokratie hat seinen Ursprung in der wechselseitigen Anerkennung als Freie und Gleiche. Es lohnt sich, diese anthropologische, normative Prämisse der Demokratie in ihrem Gehalt und ihren Implikationen sorgfältig zu analysieren und gegen ihre Kritiker zu verteidigen (Kap. 16, 17 und 18). Gleichheit bedeutet allerdings keineswegs Gleichverteilung. Gerechtigkeit ist die oberste politische Tugend, sie beruht in der Demokratie auf gleicher Freiheit, ist aber mit Ungleichheiten des Einkommens und Vermögens vereinbar (Kap. 19).

Ein essenzieller Bestandteil jeder Demokratie ist der öffentliche Vernunftgebrauch, die Deliberation als Methode demokratischer Entscheidungsfindung (Kap. 20). Diese ist realistisch zu interpretieren, das heißt, wir versuchen in der Praxis des Gebens und Nehmens von Gründen herauszufinden, was gut ist, was unser politisches Handeln leiten sollte (Kap. 21). Die Praxis der Deliberation hat kulturelle Voraussetzungen, die gegenwärtig in vielen Ländern zunehmend erodieren. Dazu gehört die Fähigkeit, abweichende Meinungen zur Kenntnis zu nehmen, ja so weit nachvollziehen zu können, dass ihnen begründet eine andere Meinung entgegengestellt werden kann. Diskursverweigerung führt zur Erosion demokratischer Praxis.

Für die demokratische Praxis ist Kooperation zentral (Kap. 22), Demokratie kann man folglich als eine spezifische Form von Kooperation verstehen, und dieses Verständnis ist vereinbar mit dem Anspruch auf Wahrheit und mit dem, was wir als »demokratischen Realismus« bezeichnen (Kap. 21). Demokratie ist also nicht nur eine Staatsform, sondern auch eine Lebensform. Der liberalen Trennungsthese von Kultur und Politik können wir uns nicht anschließen (Kap. 23). Das 24. und letzte Kapitel positioniert die hier entwickelte Demokratie-Konzeption im Spektrum der wichtigsten und nur scheinbar unvereinbaren Paradigmen der Demokratie.

  1.Liberale Weltordnung und Demokratie: die interne Dimension

In der gesamten westlichen Welt erstarken seit einigen Jahren die rechtspopulistischen Kräfte. Manche können auf etablierte organisationsstarke, rhetorisch geschulte Parteiformationen zurückgreifen, wie etwa der Front National in Frankreich, der sich heute Rassemblement Nationale nennt, andere formieren sich aus Euroskepsis und Kritik an der Flüchtlingspolitik Merkels zwischen einer rechtskonservativen, ursprünglich wirtschaftsliberalen AfD und einer offen fremdenfeindlichen und antiislamischen Pegida-Bewegung16 speziell im Osten der Bundesrepublik Deutschland. In mehreren EU-Mitgliedsländern, so in Polen oder Ungarn, bestimmen rechtspopulistische Parteien die Regierungspolitik. Zudem üben rechtspopulistische Kräfte einen großen Einfluss auf traditionelle konservative Parteien, wie auf die Republikaner in den USA oder auf die Tories in Großbritannien, aus. Das Erstarken rechtspopulistischer Kräfte geht teilweise zulasten konservativer, aber, deutlicher noch, zulasten sozialdemokratischer und sozialistischer Parteien. In Deutschland und Italien haben sich christdemokratische Kräfte sozialdemokratisiert und damit rechts Spielräume geschaffen, die von der Lega in Italien und von der AfD in Deutschland genutzt werden. Dadurch sind christdemokratische Kräfte auf das vormalige Terrain der Sozialdemokratie vorgedrungen, sodass linke Parteien doppelt verloren haben: an »sozialdemokratisierte«, christdemokratische oder liberale, Parteien, wie im Falle von Macrons En Marche, und – als direkter Wählerverlust migrationsskeptischer Bürgerinnen und Bürger, insbesondere aus dem kleinbürgerlichen und dem Arbeitermilieu – an die rechten Parteien. In Italien ist das besondere Phänomen zu beobachten, dass der Partito Democratico, entstanden aus der postkommunistischen PDS und den linken und liberalen Teilen aus der Konkursmasse der Democrazia Christiana, vor allem in den Vierteln gewählt wird, die von einem hohen Bildungsniveau und einem vergleichsweise hohen Durchschnittseinkommen geprägt sind. Die Sozialdemokratie ist in Italien zur Partei der benestanti geworden und hat ihre ursprüngliche Wählerbasis weitgehend verloren. Die Abspaltung der traditionellen Linken hatte keinen Erfolg und konnte die Abwanderung zu rechtspopulistischen Parteien nicht stoppen.

Die Motivlagen sind teilweise gut untersucht, und es ist hier nicht der Ort, die Ergebnisse der Wählerstromanalysen zu referieren. Interessant ist aber, dass unterschiedliche Aspekte der Globalisierung ausschlaggebend für diese neue Formation der Politik in westlichen Ländern zu sein scheinen: Das gilt ganz besonders für die Migrationsthematik. In der ökonomischen Theorie und von Unternehmensverbänden wird die Öffnung der Grenzen nicht nur für Warenströme, sondern auch für Arbeitskräfte befürwortet. Zusammen mit der linksliberalen Befürwortung einer multikulturellen Gesellschaft haben sich in Reaktion darauf politische Bewegungen unterschiedlicher Schattierungen gebildet, die in Italien als sovranisti bezeichnet werden; sie wenden sich gegen den Souveränitätsverlust des Nationalstaates, aber auch gegen kulturelle »Überfremdung«. In ihren extremen Ausformungen bedienen sie sich rassistischer, antisemitischer und antimuslimischer Parolen, der Übergang zu völkischen, identitären Bewegungen ist fließend.

Unter »Populismus« sind politische Bewegungen zu fassen, die sich als Vertreter des (»einfachen«) Volkes gegenüber den (vermeintlichen) Eliten inszenieren, die das, was sie unter dem Volkswillen verstehen, gegen dessen Geringschätzung in der etablierten Politik, aber auch in Wissenschaft und Kultur zu verteidigen vorgeben. Populismus ist eher eine politische Methode als eine inhaltliche Festlegung. Es gibt populistische Strömungen und Parteien, die von ihren Zielsetzungen überwiegend rechts im politischen Spektrum stehen (in Europa die Rassemblement Nationale, die Lega, UKIP, zunehmend auch die AfD), andere stehen eher links (Podemos, Syriza), manche gehören eher der linken Mitte an, wie etwa die Cinque Stelle in Italien.

In Europa wendet sich der Rechtspopulismus in besonderer Weise gegen die Politik der Europäischen Kommission, gegen Forderungen nach einer innereuropäischen Solidarität bei den Finanzen und bei der Aufnahme von Flüchtlingen, gegen die gemeinsame Währung des Euro und fordert ein Zurück zu nationalstaatlicher Souveränität mit allenfalls intergouvernementaler europäischer Kooperation. Der Rechtspopulismus der Gegenwart tritt dabei teils regionalistisch, teils nationalistisch auf. Durch seine oft gute lokale Verwurzelung schafft er eine enge Verbindung zu seiner Wählerschaft, die den christdemokratischen und sozialdemokratischen, erst recht den liberalen und grünen Parteien schon länger nicht mehr gelingt. Möglicherweise geht damit die politische Formation, die sich seit dem Zweiten Weltkrieg in fast allen westlichen Ländern unabhängig von ihrem Wahlsystem etabliert hat, zu Ende. Und damit endet auch deren Prägung durch starke Volksparteien der linken und der rechten Mitte und durch die Konkurrenz zwischen Sozial- und Christdemokratie oder in Frankreich zwischen Sozialisten und Gaullisten, in Italien zwischen PCI und Democrazia Christiana.

Besonders dramatisch ist die Gefährdung der liberalen Ordnung im Inneren westlicher Länder ausgerechnet in den beiden angelsächsischen Vormächten USA und Großbritannien gediehen. Während Eric Voegelin und andere politische Theoretiker sich immer wieder beeindruckt zeigten von der zivilen Kultur der angelsächsischen Demokratien, der amerikanischen und britischen civil culture, die auch große politische Konflikte ohne Gefährdung der politischen Institutionen abfedern und die zusammen mit Frankreich auf die längste Geschichte demokratischer Institutionen zurückblicken können, ist gerade dort eine unerwartete Gefährdung der demokratischen Institutionen manifest.

Die Wahl von Donald Trump zum Präsidenten ist ein politisches Phänomen, das von den Beobachtern des demokratischen Spektrums für undenkbar gehalten worden war. Alle seriösen politischen Kommentatoren, Zeitungen und Zeitschriften, sämtliche Forschungsinstitute waren sich einig darin, dass sowohl die Persönlichkeit als auch die inkohärente Programmatik des Kandidaten schon einen Sieg bei den Vorwahlen und erst recht einen Sieg bei den Präsidentschaftswahlen ausschließen würde. Dieses Phänomen ließe sich anhand zahlreicher Details analysieren, etwa wie es dazu kommen konnte, dass die Wahlprognosen und die Umfrageergebnisse offenbar systematisch fehlerhaft waren17, wie es dazu kommen konnte, dass die aufgrund des besonderen Wahlsystems der USA am Ende ausschlaggebenden Unzufriedenen des sogenannten Rust Belt18 nicht hinreichend berücksichtigt wurden, warum die feministische Botschaft von Hillary Clinton gerade bei den weißen Frauen nicht verfing, warum diese am Ende einer Kampagne, in der dem Kandidaten massive Übergriffe auf Frauen vorgeworfen wurden, mehrheitlich Donald Trump wählten19, welchen Zusammenhang es zwischen den Anhängern von Bernie Sanders in den demokratischen Vorwahlen und dem späten Erfolg Trumps in den Hauptwahlen gibt etc.

Für uns ist jedoch etwas anderes relevant: die Erosion der liberalen Werte ausgerechnet in dem Land, das sich als Hort und Anführer dieser Werte versteht. Die am Ende erfolgreiche Wahlkampfrhetorik Donald Trumps, zu großen Teilen rechtspopulistisch ausgerichtet, bedeutete zweifellos einen tiefen Traditionsbruch: Denn sie brach mit den zivilen Werten der amerikanischen Demokratie, mit der engen Beziehung zu Europa, mit der westlichen Verteidigungsgemeinschaft, mit der gleichen Anerkennung unterschiedlicher Kulturen, Ethnien und Religionen im Inneren, sie brach mit der traditionellen Weltoffenheit dieses Landes, mit dem respektvollen Umgang mit Unterschieden, mit der guten Partnerschaft mit dem nördlichen (Kanada) und dem südlichen (Mexiko) Nachbarn. Keiner der früheren Präsidentschaftskandidaten hatte sich je einer solchen Rhetorik bedient.

Im Rückblick sind lange verdrängte Phänomene der US-amerikanischen politischen Kultur ins öffentliche Bewusstsein zurückgeholt worden, wie die McCarthy-Hysterie gegen alles, was links oder auch nur linksliberal war, die Aggressivität der Rednecks gegen die Beatniks und die aggressive Reaktion auf die Jugendbewegung der 1960er und frühen 1970er Jahre, die immer wieder in Gewalt ausartete, vor allem aber die beschämend lange Frist, die verstrich, bis diese liberale Demokratie das Unrecht der Sklaverei erkannte. Ein Déjà-vu stellt sich ein, im Blick auf die noch frühere Geschichte der USA, als sich der Republikanismus der Federalist Papers mit seinen Grandseigneurs wie James Madison oder Alexander Hamilton zur Politik Andrew Jacksons wandelte, einem Präsidenten anderen Typus, der sich als common man stilisierte und allen Verfeinerungen von Sprache, Auftreten und Intellekt mit Verachtung begegnete. Der zeitweise engste Berater von Donald Trump, Steve Bannon, verkörpert auch im Habitus diese Tradition der amerikanischen Elitenverachtung.

Seine Gegenkandidatin, Hillary Clinton, stand weniger als ihr Gatte, der vormalige Präsident Bill Clinton, in der Tradition einer liberalen Sozialdemokratie, vielmehr war sie stärker feministisch und multikulturalistisch geprägt, mit einer vornehmlich bildungspolitischen Antwort auf die sozialen und kulturellen Verwerfungen. Gerade dies, die Betonung von Bildungsanstrengungen, um tatsächliche oder empfundene Benachteiligungen auszugleichen, kommt erfahrungsgemäß aber generell nicht gut an, und in den USA offenbar besonders schlecht bei den Abgehängten einer globalisierten Ökonomie, die als Arbeiter und Facharbeiter noch vor Jahrzehnten problemlos eine Familie ernähren konnten und sich jetzt mit Jobs über Wasser halten müssen, die nur knapp ein Auskommen sichern.

Dieses Phänomen allerdings beschränkt sich nicht auf die US-Demokraten, sondern hat auch die linksliberalen, sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien Europas erfasst: Die Transformation sozialer Fragen in Bildungsfragen mit der Botschaft, dass mit einer zunehmenden Akademisierung alle in die Mittelschichten aufsteigen könnten, wurde von einem Großteil der traditionellen Wählerschaft dieser Parteien als unglaubhaft und diskriminierend empfunden. Auch der fast völlige Austausch des Funktionärskörpers, der einen ersten Schub in den 1970er Jahren als Folge der Studentenbewegung erlebte, spielt dabei eine Rolle. Die Auseinandersetzungen zwischen den linken Intellektuellen, die sich nach dem Verlust ihrer utopischen Hoffnungen nun auf den langen Marsch durch die Institutionen machten, und den »Alteingesessenen«, meist aus der Facharbeiterschaft oder der Kleinbürgerschaft kommenden Funktionären, waren eben nicht in erster Linie ein Links-Rechts-Konflikt, wie er in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde, sondern auch ein Klassenkonflikt zwischen Gebildeten und Jüngeren aus den Mittelschichten, teilweise auch den Oberschichten, mit den formal weniger Gebildeten aus der Facharbeiterschaft mit Gewerkschaftsbindung und Berufserfahrung. Die sozialistische Partei Frankreichs wurde in diesem Prozess zunehmend zu einer Partei der Lehrerinnen und Lehrer sowie der Bildungsinstitutionen, und in Deutschland wurde die SPD zu einer Partei des öffentlichen Dienstes, jedenfalls in den Ländern mit einer über einen längeren Zeitraum bestehenden sozialdemokratischen Regierungsverantwortung. Ein Teil der Arbeiterschaft fühlte sich von und in ihren früheren Parteien marginalisiert, flüchtete in die Wahlenthaltung oder wählte konservative und zuletzt zunehmend rechtspopulistische Parteien.

Die liberale Botschaft, dass jede Person ihr Leben eigenverantwortlich gestalten kann und die staatlichen Bedingungen dies entsprechend ermöglichen, die staatlichen Institutionen sich ansonsten aber große Zurückhaltung auferlegen sollten, was direkte Eingriffe in die Lebensformen und die unterschiedlichen kulturellen Prägungen betrifft, aber auch, was staatliche Interventionen in die Wirtschaft und Transfers von den Wohlhabenderen zu den weniger Begüterten angeht, kommt in einem wachsenden Teil der Bevölkerung in den europäischen und zunehmend auch den nordamerikanischen Demokratien nicht mehr an.

Der Brexit in Großbritannien, also die knappe Mehrheitsentscheidung beim Referendum, die EU zu verlassen, kann als Menetekel der Erosion liberaler Werteorientierung im Inneren gelten. Der Erfolg der Brexit-Kampagne mitsamt seiner Vorgeschichte im Erfolg der rechtspopulistischen UKIP-Bewegung mit Nigel Farage an der Spitze beruhte zweifellos auf einer antiliberalen und nationalistischen Rhetorik. Europa wurde als Moloch karikiert, der die britischen Bürger aussaugt, der den Verlust nationaler Identität durch erzwungene Zuwanderung herbeiführt und die nationale Souveränität bedroht. Diese Kampagne wurde mit einer Vielzahl offenkundig lügnerischer Behauptungen geführt, wie sie in alten, institutionell stabilen und mit einer freien Presse gesegneten Demokratien bislang nicht vorgekommen waren. Das Beunruhigende ist, dass alle Mechanismen, die ein gewisses Maß an öffentlicher Vernunft sichern sollten, in diesem Fall versagten. Selbst die Tatsache, dass schon bald nach dem Brexit-Votum auch öffentlich nicht mehr bestritten wurde, dass die Brexiteers ihren Erfolg lügnerischen Argumenten zu verdanken hatten, änderte nichts daran, dass dieses Votum fortan, befeuert von einer geradezu hetzerischen Yellow Press, als unumstößlich galt. Nicht einmal die sich abzeichnenden massiven ökonomischen Verluste und die Tatsache, dass durch den Austritt finanzielle Nachteile für die Bürgerinnen und Bürger Großbritanniens eintreten werden, änderten die Stimmungslage. Eine Erklärung für dieses ungewöhnliche Phänomen ist, dass es sich nur in zweiter Linie um eine politische Sachfrage handelte, sondern vielmehr darum, dass sich zum ersten Mal seit Langem die Provinz gegen die Metropole, die einfachen Leute gegen die Eliten durchgesetzt hatten.

Die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten, der Erfolg der Brexiteers, die Übernahme von Regierungsverantwortung durch rechte, Demokratie- und EU-kritische Parteien in europäischen Ländern, die Erosion sozialdemokratischer, teilweise auch christdemokratischer Volksparteien belegen eine architektonische Verschiebung: eine Demokratiekrise, die als die interne Dimension einer erodierenden Liberalen Weltordnung verstanden werden kann.

  2.Liberale Weltordnung und Demokratie: die externe Dimension

Mit der internen Erosion der normativen Grundlagen der liberalen Ordnung korrespondiert eine externe Herausforderung ganz neuen Typs. Während der Jahrzehnte der bipolaren Weltordnung standen sich zwei militärisch in etwa gleich starke Systeme gegenüber, die diese Parität in den SALT-Verträgen der 1970er Jahre auch wechselseitig anerkannt hatten. Beide Akteure waren spätestens seit der Kuba-Krise darauf bedacht, Konflikte so zu kontrollieren, dass sie nicht zu einer direkten militärischen Konfrontation der zwei Weltmächte ausarten konnten, jeweils eingesponnen in ein Netz internationaler Beziehungen mit engen Verbündeten, Kooperationspartnern, Abhängigen und Einflusszonen. Kriege erschienen nur an der Peripherie dieser Systeme möglich. Zugleich allerdings tobte ein innergesellschaftlicher Kampf um die intellektuelle Hegemonie. Seit den ersten Jahren nach der Russischen Revolution etablierte sich im Westen ein intellektueller Diskurs, insbesondere in europäischen Ländern wie Frankreich und Italien, teilweise aber auch in Deutschland und England, der bei aller Kritik doch von einer Grundsympathie für die sozialistische Alternative bestimmt war. Ähnliche Entwicklungen in den USA stießen auf massiven Widerstand der politischen Elite, was die liberale Grundordnung dieses Landes im Kalten Krieg einer ernsten Bedrohung aussetzte. Die externe, sozialistische Systemalternative korrespondierte mit einer internen Kritik des liberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells.

An dieser Stelle muss die soziale Dimension der liberalen Ordnung in die Betrachtung einbezogen werden. Sozialstaatlichkeit gibt es in ganz unterschiedlichen Formen, eine bedeutende Studie spricht von Three Worlds of Welfare Capitalism20. Aber gemeinsam ist ihnen, dass die liberale Staatsordnung westlicher Gesellschaften ohne eine sozialstaatliche Komponente nicht (mehr) denkbar erscheint. In Deutschland war es der konservative Staatsmann Bismarck, der mit der Reichsversicherungsordnung das Fundament legte. Er reagierte damit auf das Erstarken der Sozialdemokratie, die als Repräsentanz des Dritten Standes dagegen aufbegehrte, dass die arbeitende Bevölkerung weithin rechtlos blieb und ihnen die gewünschte Anerkennung versagt wurde. Otto von Bismarck entwickelte eine Doppelstrategie aus Verfolgung und Sozialstaatlichkeit (zwölf Jahre Sozialistengesetze) und bewirkte damit etwas, was er wohl gar nicht beabsichtigt hatte: Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte entstand so etwas wie eine nationale Identität, spürbar über alle regionalen und landsmannschaftlichen, sprachlichen und kulturellen Identitäten hinweg. Die Reichsgründung 1871 wurde im Süden und im Westen der Republik als preußische Hegemonie nach zahlreichen gewonnenen Kriegen empfunden. Der Aufbau eines gemeinsamen Rechts- und dann Sozialstaates etablierte das, was im Französischen als citoyenneté und im Englischen als citizenship bezeichnet wird, zu dem es interessanterweise im Deutschen keine Entsprechung gibt (»Bürgerschaft« hat andere Konnotationen).

Den zweiten Entwicklungsschub erfuhr die europäische Sozialstaatlichkeit, auch die US-amerikanische, als Reaktion auf die Erfahrung der Weltwirtschaftskrise 1929 ff. mit Faschismus, Nationalsozialismus und Krieg. Keynesianisch angeleitete wirtschaftliche Globalsteuerung sollte die Krisenanfälligkeit des Kapitalismus dämpfen und über gleiche soziale Anspruchsrechte die Beteiligung aller Bürgerinnen und Bürger am anwachsenden Wohlstand sichern. In Deutschland erfolgte diese zweite Phase des Ausbaus sozialstaatlicher Institutionen ebenfalls unter der Ägide konservativer, wenn auch nun demokratischer Politik unter Konrad Adenauer. Der dritte Entwicklungsschub reagierte auf die Kapitalismuskritik der 1960er und 1970er Jahre unter der kulturellen und politischen Hegemonie sozialdemokratischer Parteien, die erst in den Erdölpreiskrisen angesichts wachsender Massenarbeitslosigkeit und zunehmender Ineffektivität keynesianischer Globalsteuerung in den späten 1970er und Anfang der 1980er Jahre zu Ende geht.

Die Verbindung eines dynamischen Kapitalismus mit sozialer Beteiligung nicht nur der Arbeitnehmerschaft, sondern der Bürgerschaft als ganzer sicherte dem liberalen Ordnungsmodell eine hohe Attraktivität gegenüber dem wirtschaftlich zunehmend ineffizienten zentralstaatlichen Sozialismus der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten. Weniger eindeutig fällt der Vergleich in der »Dritten Welt« aus: Der Radikalkommunismus chinesischer Prägung kann sich auch ökonomisch gut gegenüber der Demokratie Indien behaupten. Während die Systemkonkurrenz des industrialisierten Ostens mit dem industrialisierten Westen in der Nachkriegszeit immer einseitiger wird, gilt dies nicht in gleichem Maße für den globalen Süden.

Unterdessen sind der Verbindung liberaler Freiheitsrechte mit Kapitalismus und Sozialstaatlichkeit im Westen, insbesondere in Nord- und Mitteleuropa, Konkurrenzmodelle erwachsen, etwa in Gestalt der gelenkten Demokratie Singapurs oder der aufstrebenden Weltmacht China. Singapur hat gezeigt, dass eine effiziente Staatlichkeit auch ohne individuelle Freiheitsrechte möglich ist und dass ein kleines Land ohne Rohstoffe sich mit hohen Bildungsstandards und funktionierender Sozialstaatlichkeit gegenüber allen Konkurrenten der Region hervorragend behaupten kann. Selbst wenn das Bruttosozialprodukt pro Kopf in China immer noch weit hinter dem Europas oder gar der USA zurückliegt, sind doch viele aus dem Westen von der Effizienz staatlichen Handelns und der Dynamik der kapitalistischen Entwicklung in Schanghai oder Peking und anderen chinesischen Metropolen beeindruckt. Jedenfalls scheint der Siegeszug der demokratischen Staatsform zunächst in Europa, dann in Südamerika, schließlich in Teilen Afrikas, gestoppt zu sein. Länder, die auf einem guten Weg zur Demokratie schienen, wie die Türkei, fallen in autokratische Muster zurück, andere, die als Transformationsgesellschaften galten, wie Weißrussland oder Russland und andere vormalige Sowjetrepubliken, versuchen, ökonomische Dynamik ohne liberale Freiheitsrechte zu realisieren, teilweise erfolgreich.

In der islamischen Welt ist die Attraktivität, die das westliche Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell zumindest in den Metropolen über Jahrzehnte ausstrahlte, geschwunden. Die Länder schwanken ganz überwiegend zwischen autokratischen Regimen unterschiedlichen Typs (feudalistischen, wie in Saudi-Arabien, oder militaristischen, wie in Ägypten oder Syrien) und islamisch-fundamentalistischen oder technokratischen Regimen. Im sogenannten Arabischen Frühling schien kurzzeitig die Option einer Liberalisierung von Staat und Gesellschaft auf, entpuppte sich dann aber als eine Art Fata Morgana, getragen nur von einem kleinen Teil der Bevölkerung, überwiegend aus der jüngeren Generation und den gebildeten städtischen Mittelschichten. Die Alternative zur Militärdiktatur, über Jahrzehnte mit ruhiger und harter Hand von Mubarak geführt, war dann nicht, wie vom Westen erwartet, eine liberale Demokratie in Ägypten, sondern die Muslimbruderschaft: durch einen überwältigenden Wahlerfolg im Jahr 2012 legitimiert und angeführt von Mohammed Mursi, der bereits ein Jahr später durch einen Militärputsch abgesetzt wurde und 2019 im Gefängnis verstarb. Als sich die ägyptische Militärdiktatur unter Abd al-Fattah al-Sisi neu etablierte, ging ein Aufatmen durch westliche Hauptstädte, obwohl sich die Staatspraxis unter al-Sisi von der Mubaraks nur unwesentlich unterscheidet.

Während der Islamismus in der arabischen, generell in der muslimischen Welt zu einer starken kulturellen und sozialen, zunehmend auch zu einer politischen Kraft geworden ist, hat er in den westlichen Demokratien zum Wiedererstarken von Nationalismus, Antisemitismus und Antiislamismus einen wesentlichen Beitrag geleistet. Die asymmetrischen Kriege, von denen Politikwissenschaftler sprechen, sind in den westlichen Metropolen angekommen und beunruhigen – über Massenmedien verlässlich verstärkt – einen wachsenden Teil der Bevölkerung. Die Tatsache, dass ein Gutteil dieser terroristischen Akte als home grown terrorism bezeichnet werden kann, erschwert die Lage, denn damit ist gezeigt, dass die Integrationserwartungen, die an die Einwanderung geknüpft waren, sich zu einem wesentlichen Teil nicht erfüllt haben. Die späte Radikalisierung von Eingewanderten, manchmal auch erst in der zweiten oder gar dritten Generation, zeigt, dass die kulturellen Integrationskräfte der liberalen westlichen Gesellschaft erlahmt sind. Das Anpassungsbedürfnis und die Anpassungsbereitschaft der Eingewanderten war in früheren Jahrzehnten sowohl in Nordamerika als auch in Westeuropa weit stärker ausgeprägt. Oft gibt es daher in den Familien mit Migrationshintergrund einen Generationenkonflikt, bei dem Eltern die Werte und Normen der liberalen Gesellschaft, in die sie einmal eingewandert sind, gegenüber ihren Kindern verteidigen müssen. Diese verschaffen sich ein neues Selbstbewusstsein, indem sie sich von der Umgebungskultur, von der sie sich unzureichend respektiert fühlen, absetzen und oft genug radikalisieren, in seltenen, aber dann umso erschreckenderen Fällen bis hin zu terroristischer Gewaltbereitschaft.

Die erschöpfte Integrationskraft der liberalen westlichen Gesellschaften hat eine kulturelle, aber vor allem auch eine soziale Dimension. Eine kulturelle insofern, als auch die liberalen Gesellschaften des Westens ohne einen zivilen Grundkonsens der alltagskulturellen Praktiken, entgegen einer liberalistischen Illusion, nicht auskommen. Um dies an einem konkreten Beispiel zu illustrieren: Die Gleichberechtigung von Mann und Frau hat in allen westlichen liberalen Gesellschaften Verfassungsrang. Diese Verfassungsnorm schlägt sich in Antidiskriminierungsgesetzen, im Familienrecht, in zahlreichen einzelgesetzlichen Normierungen nieder. Diese sind zweifellos wichtig, um die Gleichberechtigung von Mann und Frau staatlich abzusichern. Zugleich aber kann kein Zweifel darüber bestehen, dass die Realisierung dieser Verfassungsnorm nur möglich ist, wenn sie von einer geteilten kulturellen Praxis und einem normativen Grundkonsens getragen ist. Wenn Mädchen dazu angehalten werden, ihren Brüdern gegenüber unbedingten Gehorsam zu leisten, ihr Gesicht schamhaft zu verhüllen und in Anwesenheit von Männern nicht zu sprechen, dann erfolgt dies in der Regel ohne Gesetzesbruch und ohne strafrechtliche Sanktion. Ja, eine liberale Grundordnung wird sehr zurückhaltend darin sein, Gesetzesnormen zu schaffen, die in diesen Fällen die Intervention des Strafrechts vorsehen. Das Erziehungsrecht der Eltern, die Wahrung der Privatsphäre, die kulturelle Neutralität des Staates und andere Grundnormen der liberalen Ordnung stünden hier im Feuer. Eine derartige Erziehungspraxis ist zweifellos mit der Realisierung der Gleichberechtigung von Mann und Frau unverträglich. Wenn sich die Hoffnung zerschlägt, dass die Anpassung an die kulturellen Praktiken der aufnehmenden Gesellschaft ausreicht, um eine geteilte Alltagskultur und den normativen Grundkonsens der Gleichberechtigung zu realisieren, dann erodiert die liberale Ordnung von innen heraus. Wenn die Zahlen groß genug sind, handelt es sich nicht mehr um marginale Phänomene, sondern um eine Veränderung der kulturellen Verfasstheit der Gesellschaft als ganze. Wenn es die Mädchen in den Schulen vermeiden, sich selbstbewusst und körperbetont zu kleiden, weil sie dann als »Schlampen« von Nachwuchs-Machos herabgewürdigt werden, dann ist die liberale Ordnung im Inneren gefährdet, auch wenn die Rechtsnormen selbst und ihre Durchsetzung unangetastet bleiben.

  3.Sieg und Verfall der Liberalen Weltordnung

Francis Fukuyama, der konservative, hegelianisch inspirierte Intellektuelle, hatte nach dem Ende des Kommunismus in Gestalt von Perestroika und Glasnost sowie der Auflösung der Sowjetunion ein Ende der Geschichte ganz in Hegel’schem Stile angekündigt.21 Die Menschheitsgeschichte sei nach seiner Auffassung nun in Form der Liberalen Weltordnung, einer liberalen Demokratie und eines westlich geprägten Wirtschafts- und Konsumstils an ihr Ende gekommen und habe ihr historisches Telos erreicht: In Zukunft werde es zwar nach wie vor Veränderungen geben, aber keine fundamentalen mehr. Alle Gesellschaften weltweit würden sich früher oder später eine liberale Ordnung geben, sich ihr fügen oder sie sich aneignen. Als ich dieses Buch damals las, hatte ich für diese Einschätzung nur Spott übrig, erschrak aber zugleich über die immense Wirkung in der Öffentlichkeit. Es schien, als sei hier die Selbstüberschätzung des Westens auf den Begriff gebracht worden, als fänden sich die politischen, ökonomischen und kulturellen Eliten in dieser Einschätzung wieder. Und es folgte tatsächlich eine Phase des westlichen Triumphalismus, wie sie noch wenige Jahre zuvor völlig undenkbar schien. Die Probleme, die wir heute erleben, hängen eng mit dieser Phase zusammen.

deep stateUSA