Kapitel II
Projekt Alicization
Juli 2026
Durch das Kreuz der Fenstersprossen war der blasse Vollmond zu sehen.
Der schwere Vorhang der Nacht lag über der Sylphen-Hauptstadt Swilvane im Süden Alfheims. Die meisten Geschäfte waren fest mit Rollläden verschlossen, und auf der Hauptstraße waren nur noch sehr wenige Passanten unterwegs. In der Wirklichkeit war es gerade vier Uhr morgens, um diese Zeit waren am wenigsten Leute im Spiel.
Asuna wandte ihren Blick vom Fenster zum Tisch und griff nach ihrer dampfenden Tasse. Sie nahm einen Schluck von dem dunklen Tee, dessen virtuelle Hitze ihre Zunge reizte. Sie spürte keine Müdigkeit, nur eine dumpfe Schwere in ihrem Kopf, nachdem sie die letzten drei Tage nicht mehr richtig geschlafen hatte.
Sie schloss die Augen und legte die Finger sacht an ihre Schläfe. Als das Sylphen-Mädchen neben ihr das sah, fragte sie besorgt: »Alles in Ordnung, Asuna? Du hast kaum geschlafen, hab ich recht?«
»Mir geht’s gut. Aber du warst die ganze Zeit unterwegs, Leafa. Bist du nicht erschöpft?«
»Mein echter Körper ruht sich gerade auf meinem Bett aus, alles in Ordnung.«
Als sie bemerkten, dass keine ihrer Beteuerungen sehr überzeugend klang, zogen beide Mädchen eine Grimasse.
Sie waren in der Unterkunft von Leafa, Suguha Kirigayas Charakter in ALO. Die wie Muscheln glänzenden Wände des runden Zimmers wurden sanft von einer Lampe mit wechselnden Farben beleuchtet, was eine märchenhafte Atmosphäre erzeugte. In der Mitte standen ein perlweißer Tisch und vier Stühle, von denen gerade drei besetzt waren.
Ein Mädchen mit eisblauen Haaren und dreieckigen Ohren hatte ihrem Gespräch gelauscht. Sie verschränkte ihre Hände auf dem Tisch und sagte gelassen: »Wenn ihr euch so überanstrengt, wird euer Verstand nicht arbeiten, wenn es drauf ankommt. Selbst wenn man nicht schlafen kann, macht es schon einen großen Unterschied, wenn man sich zumindest hinlegt und die Augen zumacht.«
Es war der Avatar von Shino Asada, die ihre Cait Sith vor einem halben Jahr erstellt hatte. Ihr Charaktername war Sinon, genauso wie in ihrem ursprünglichen Spiel GGO.
Asuna sah sie an und nickte. »Ja … Nach unserem Treffen werde ich mir hier eines der Betten nehmen und mich hinlegen. Ich wünschte, die Schlafmagie würde auch bei Spielern wirken.«
»Wenn mein Bruder dort im Schaukelstuhl schlafen würde, würden wir auch schläfrig werden …«, murmelte Leafa, was Asuna und Sinon zum Lächeln brachte. Aber es war ein kraftloses Lächeln.
Leafa stellte die Tasse in ihren Händen auf den Tisch. Sie atmete tief durch und setzte eine ernste Miene auf. »Also … Dann berichte ich euch erst mal, was ich heute, besser gesagt, gestern herausgefunden habe. Um es kurz zu machen, ich habe keinen konkreten Beweis gefunden, dass mein Bruder in die Uniklinik in Tokorozawa gebracht wurde. Auf dem Papier liegt er zwar in der Neurochirurgie auf dem 23. Stockwerk, aber dort sind keine Besuche erlaubt. Man kann weder das Stockwerk geschweige denn sein Krankenzimmer betreten. Außerdem gibt es keine Hinweise, dass in der entsprechenden Zeit überhaupt ein Krankenwagen dort angekommen ist. Yui hat sich in die Überwachungskameras gehackt und die Aufzeichnungen überprüft. Das ist also sicher.«
»Mit anderen Worten … Kirito ist mit hoher Wahr-scheinlichkeit gar nicht in der Uniklinik …?«, fragte Sinon, und Leafa nickte kurz.
»Es ist kaum zu glauben, dass so etwas möglich ist … Aber dass nicht einmal seine eigene Familie ihn besuchen oder auch nur kurz sehen darf, ist schon mehr als merkwürdig …«
Sie verstummte und schüttelte den Kopf. Für eine Weile senkte sich eine schwere Stille über den Raum.
Erst vor zwei Tagen, am 29. Juni, war Leafas Bruder Kirito – Kazuto Kirigaya – von Johnny Black alias Atsushi Kanamoto, einem flüchtigen Verbrecher im Fall »Death Gun«, angegriffen worden.
In der Nähe von Asunas Zuhause in Miyasaka im Setagaya-Bezirk von Tokyo hatte Kanamoto ihm auf offener Straße die gefährliche Substanz Succinylcholin injiziert. Durch dessen unmittelbar muskellähmende Wirkung hatte Kazuto einen Atemstillstand erlitten. Obwohl er im Krankenwagen künstlich beatmet worden war, war durch die unterbrochene Sauerstoffversorgung kurz danach auch sein Herz stehen geblieben. Bei seiner Ankunft im Allgemeinkrankenhaus in Setagaya war er bereits für tot erklärt worden.
Schwer zu sagen, ob es nun an den Fähigkeiten des diensthabenden Arztes in der Notaufnahme gelegen hatte, an Kazutos zäher Lebenskraft oder ob sie beide an diesem Tag unter einem guten Stern gestanden hatten. Jedenfalls waren die lebensrettenden Maßnahmen erfolgreich gewesen, und Kazutos Herzschlag war zurückgekehrt. Mit der Zersetzung des Mittels in seinem Körper hatte er auch wieder begonnen, eigenständig zu atmen. So war er wie durch ein Wunder noch einmal dem Tod entkommen. Als der Arzt die Behandlung abgeschlossen und Asuna davon berichtet hatte, wäre sie vor lauter Erleichterung fast in Ohnmacht gefallen. Doch seine nächsten Worte hatten sie daran gehindert.
Es bestehe die Möglichkeit, dass Kazutos Gehirn infolge des fünfminütigen Herzstillstands Schaden genommen habe, hatte der Arzt erklärt. Es sei denkbar, dass permanente Schäden des Denkvermögens oder der Motorik, womöglich sogar in beiden Bereichen, zurückbleiben würden. Im schlimmsten Fall werde er vielleicht nicht mehr aufwachen.
Genaueres könne man ohne die Untersuchung mit einem MRT nicht sagen, weswegen Kazuto schnellstens in ein Krankenhaus mit besserer Ausstattung verlegt werden sollte, hatte der Arzt seine Erklärung geschlossen. Während Asuna gegen eine erneute Welle der Panik angekämpft hatte, hatte sie Kazutos kleine Schwester Suguha angerufen und ihr mit Mühe und Not die Lage erklärt. Als Suguha dann herbeigeeilt war, war sie sofort wieder in Tränen ausgebrochen.
Wenig später war auch Kazutos Mutter Midori Kirigaya direkt von ihrer Arbeitsstelle in Iidabashi eingetroffen, und sie hatten die Nacht auf der Bank vor der Intensivstation verbracht.
Am Morgen des 30. Juni hatte eine Krankenschwester sie davon überzeugt, dass Kazuto nicht mehr in Lebensgefahr war. Also waren die Mädchen zu Asunas Zuhause unweit der Klinik gegangen. Derweil war Midori erst einmal nach Kawagoe gefahren, um Dinge wie Kazutos Krankenversicherungsausweis und Ähnliches zu holen.
Sie hatten geduscht und ihre Schulen über ihre Abwesenheit informiert. Danach hatten sie sich hingelegt, um zumindest etwas Schlaf nachzuholen. Sie hatten noch schläfrig ein paar Worte miteinander gewechselt und waren für ein paar Stunden in einen leichten Schlummer gefallen. Gegen ein Uhr nachmittags war Asuna von Midori Kirigayas Anruf geweckt worden.
Als sie hastig ans Handy gestürzt war, hatte Midori ihr am anderen Ende der Leitung mitgeteilt, dass Kazuto leider noch nicht wieder bei Bewusstsein sei und für eine gründlichere Untersuchung und bessere Behandlung ins Klinikum der Medizinischen Hochschule des Militärs verlegt werde, die näher am Zuhause der Kirigayas in Kawagoe lag. Ein Krankenwagen werde ihn hiernach in das Krankenhaus transportieren, und Midori selbst werde mit dem Taxi folgen, sobald sie die Formalitäten erledigt hätte. Asuna hatte ihr geantwortet, dass sie sich mit Suguha sofort auf den Weg zum neuen Krankenhaus machen werde.
Tatsächlich war der bewusstlose Kazuto an diesem Tag gegen 13:40 Uhr durch den Eingang der Notaufnahme in einen Krankenwagen befördert worden und hatte das Krankenhaus in Setagaya verlassen. Das war auch von den Überwachungskameras des Krankenhauses aufgezeichnet worden, wie Yui überprüft hatte.
Der Krankenwagen war den Akten zufolge um 14:45 Uhr desselben Tages im Universitätsklinikum in Tokorozawa eingetroffen. Kazuto war sofort in der Abteilung für Neurochirurgie im 22. Stockwerk untergebracht worden, wo er einer gründlichen Untersuchung unterzogen worden war und sein Zustand derzeit beobachtet wurde. Sowohl Asuna als auch Suguha hatten das ohne den geringsten Zweifel geglaubt. Bis ihnen vorgestern spät abends am Krankenhaus nicht nur ein Besuch in Kazutos Zimmer verwehrt worden war, sondern sie nicht einmal Bilder der Videoüberwachung hatten sehen dürfen.
Asuna dachte kurz über Leafas Worte nach und nickte.
»Kirito hat das Krankenhaus in Setagaya also verlassen, so viel steht fest. Und an der Uniklinik ist dokumentiert, dass ein ›Kazuto Kirigaya‹ aufgenommen wurde … Aber niemand hat Kirito gesehen, und von den Überwachungskameras wurde er auch nicht aufgezeichnet. Angenommen, der Krankenwagen ist mit ihm an Bord zu einem anderen Ort als der Uniklinik gefahren … und es war keine zufällige Verwechslung der Patientendaten …«
»… dann wäre es eine vorsätzliche Täuschung gewesen. Oder anders gesagt … eine geplante Entführung«, beendete Sinon mit ruhiger Stimme den Gedankengang, und ihre dreieckigen Ohren zuckten einmal heftig. »Aber hieße das nicht, dass der Krankenwagen selbst eine Fälschung war? Die Uniformen der Sanitäter sind eine Sache, aber kann man einfach so einen Rettungswagen aus dem Boden stampfen?«
Es war Leafa, die auf ihre Frage antwortete. »Recon ist ein Auto-Fan. Ich hab ihn mal unauffällig danach gefragt. Er meinte, dass Laien niemals einen Krankenwagen so fälschen könnten, dass er auch Leute vom Krankenhaus täuschen würde. Niemand konnte damit rechnen, dass mein Bruder zu dem Zeitpunkt von Kanamoto angegriffen werden und ins Krankenhaus kommen würde. Und die Verlegung in ein anderes Krankenhaus wurde nur achtzehn Stunden später beschlossen …«
»Also wäre es nach Kiritos Zusammenbruch praktisch unmöglich gewesen, ein gefälschtes Fahrzeug vorzubereiten«, sagte Asuna.
Sinon fragte weiter: »Aber heißt das, jemand hatte schon seit Langem geplant, irgendeinen x-beliebigen Patienten mit einem falschen Krankenwagen zu kidnappen, und es hat rein zufällig Kirito getroffen …?«
»Nein, das scheint nicht der Fall zu sein.« Leafa schüttelte mit schwingendem Pferdeschwanz ihren Kopf. Nach einer kurzen Pause erklärte sie: »Wenn ein Patient von einem zum anderen Krankenhaus transportiert wird, fordert das Ausgangskrankenhaus normalerweise in der Notrufzentrale telefonisch einen Krankenwagen an. Aber Yuis Nachforschungen zufolge hat an diesem Tag keiner diesen Anruf getätigt. Trotzdem ist der Krankenwagen mit perfektem Timing dort aufgetaucht. Die Mitarbeiter vom Krankenhaus sind anscheinend alle einfach davon ausgegangen, dass irgendjemand anders den Wagen angefordert hat. Allerdings wussten die Sanitäter im Krankenwagen, dass er in die Uniklinik in Tokorozawa verlegt werden sollte, und sogar seinen Namen. Die Krankenschwester am Empfang war sich da ganz sicher.«
»Also war es wirklich eine geplante Entführung, die auf Kirito abzielte…«
»Was bedeutet, der Täter konnte zum einen sofort an die Informationen über Kiritos Einlieferung ins Krankenhaus kommen und außerdem auch noch einen echten Krankenwagen für seine Zwecke losschicken«, schlussfolgerte Asuna. Einen Moment später nickten die beiden anderen.
Ihr kurzes Zögern beruhte auf der Angst, weitere Schlüsse zu ziehen. Asuna konnte es ihnen nachfühlen. Denn falls ihre Annahme der Wahrheit entsprach, hatte Kazutos Entführer einen nicht unbeträchtlichen Einfluss auf die öffentliche Einrichtung des Rettungsdienstes.
Ein Teil von ihnen hoffte noch, dass sie sich einfach zu viele Gedanken machten.
Vielleicht wurde Kazuto wirklich im Universitätsklinikum behandelt. Vielleicht hatten sie nur keine Videos von ihm sehen können, weil Kameras die empfindlichen medizinischen Geräte gestört hätten. Vielleicht gab es keine Aufzeichnungen von seiner Ankunft, weil die Überwachungskameras irgendeinen Defekt hatten … Für gewöhnlich wäre man wohl eher von diesen Begründungen ausgegangen. Tatsächlich hatte Kazutos und Suguhas Mutter Midori vermutlich keinerlei Zweifel an den Erklärungen des Krankenhauses zur gegenwärtigen Situation. Dass es sich um eine Entführung oder gefälschte Informationen handelte, war die kollektive Wahnvorstellung, die sich drei übermäßig besorgte Mädchen zusammengesponnen hatten. In Wahrheit gab es kein solches Verbrechen, Kazutos Behandlung würde gut verlaufen, und schon bald würde der Anruf kommen, dass er wieder bei Bewusstsein sei …
Doch einem Teil von Asuna, abseits ihres gesunden Menschenverstandes und logischen Denkens, war geradezu schmerzlich bewusst, dass hier etwas im Gange war. Das Gleiche spürten sicher auch Kazutos kleine Schwester Leafa und Sinon, die mit ihm dem Tod ins Auge geblickt hatte.
Es war nicht davon auszugehen, dass auch der Angriff mit Succinylcholin auf Kazuto durch den dritten »Death Gun« Kanamoto zum Plan gehörte. Allerdings hatte sich jemand diesen Vorfall zunutze gemacht, um Kazuto irgendwohin zu entführen.
»Egal ob eine Einzelperson oder eine Organisation dahintersteckt, ich sehe sie als den Feind an«, verkündete Asuna entschieden.
Sinon blinzelte verdutzt, dann lächelte sie leicht. »Ehrlich gesagt … bevor ich heute hierherkam, habe ich mir ziemliche Sorgen gemacht, dass ihr beiden am Boden zerstört sein würdet. Immerhin geht es um Leafas großen Bruder und deinen – äh – Freund, Asuna … Und er ist nicht nur bewusstlos, sondern jetzt auch noch verschollen …«
Bei dieser unerwarteten Bemerkung erkannte Asuna verwundert, dass sie tatsächlich nicht so niedergeschlagen war wie erwartet. Obwohl sie sich in der Nacht nach Kiritos Zusammenbruch noch die Augen aus dem Kopf geweint hatte …
Leafa hatte die Hände fest vor der Brust verschränkt und sagte: »Na ja … natürlich mache ich mir Sorgen. Als mir klar wurde, dass mein Bruder womöglich gar nicht im Krankenhaus ist, habe ich schreckliche Angst bekommen. Aber gleichzeitig war ich auch nicht wirklich überrascht. Bestimmt ist mein Bruder wieder in irgendeine Riesensache verwickelt … und tobt an irgendeinem Ort rum, den ich mir nicht mal vorstellen kann. So war es bei der Sache mit SAO und auch bei Death Gun … Also wird es dieses Mal bestimmt wieder so sein …«
»Ja … du hast recht«, stimmte Asuna zu, wobei ihr er-neut bewusst wurde, dass sie es mit Suguhas langjähriger Erfahrung mit Kazuto nicht aufnehmen konnte. »Kirito kämpft bestimmt wieder mal wie immer irgendwo. Also lasst uns die Kämpfe führen, die wir führen können!« Sie warf Sinon einen Seitenblick zu und ergänzte: »Shinonon, du wirkst selbst auch nicht wirklich bedrückt, oder?«
»Ach, na ja … Ich für meinen Teil bin davon überzeugt, dass ich die Einzige bin, die ihn besiegen kann, also …«, murmelte Sinon und verstummte.
Asuna tauschte einen kurzen, unbehaglichen Blick mit ihr und kam wieder zurück zum Thema.
»Wie dem auch sei … Allein die Sache mit dem Krankenwagen zeigt schon, dass der Feind ziemlich einflussreich sein muss.«
»Sollten wir es nicht lieber der Polizei melden? Wenn ein Polizist dabei ist, erlaubt uns das Krankenhaus vielleicht zumindest einen Blick auf die Überwachungskameras, meint ihr nicht?«
Sinons Vorschlag war vernünftig, doch Asuna schüttelte leicht den Kopf. »Die Zeit von Kiritos Ankunft und seiner Einlieferung in die neurologische Abteilung ist auf dem Server der Uniklinik dokumentiert. Laut den Daten ist Kirito ohne jeden Zweifel dort. Die Polizei wird nicht aktiv werden, wenn unsere einzige Begründung für eine Entführung das fehlende Videomaterial von seiner Ankunft ist. Außerdem konnten wir die Videos nur überprüfen …«
»… weil Yui ihr System gehackt hat«, murmelte Sinon grimmig lächelnd. Dann kam ihr eine Idee. »Oh … aber könnten wir uns nicht in das Netzwerk der Kameras innerhalb des Krankenhauses klinken anstatt der Überwachungskameras im Außenbereich? Wenn wir die Aufzeichnungen von Kiritos Krankenzimmer überprüfen könnten …«
»Leider hat das Netzwerk innerhalb der Klinik ein anderes Sicherheitssystem. Es wird durch eine extrem mächtige Firewall geschützt, und nicht einmal Yui konnte da hindurchkommen.« Leafa schüttelte niedergeschlagen den Kopf.
Sie hatte den gesamten gestrigen Tag damit verbracht, die Allgemeinklinik in Setagaya und das davon weit entfernte Universitätsklinikum gründlich zu untersuchen. Trotz der Hilfe der AI Yui über ihr Handy war allein die Fahrt von Ort zu Ort schon anstrengend genug gewesen.
Selbstverständlich hatte Asuna sie dabei begleiten wollen, aber da Kiritos Zustand inzwischen offiziell stabil war, war ihr nicht erlaubt worden, einen zweiten Tag in Folge in der Schule zu fehlen. Um Leafa zumindest ein wenig bei ihrer Recherche zu unterstützen, hatte Asuna ihr das gesamte Guthaben an elektronischem Geld auf ihrem Handy für die Taxikosten übertragen. Natürlich hatte sie sich im Unterricht überhaupt nicht konzentrieren können.
Der Schule war nur mitgeteilt worden, dass Kazuto wegen einer plötzlichen Erkrankung abwesend sei. Keiner ihrer Mitschüler wusste von dem Überfall, nicht einmal ihre engen Freunde Rika Shinozaki und Keiko Ayano, die sich um Kazutos Gesundheit sorgten. Das schlechte Gewissen, ihnen nicht einmal die Hälfte der Wahrheit erzählen zu können, zerriss Asuna fast das Herz.
Allerdings hatte sie sich am gestrigen Morgen mit Leafa besprochen und eine Entscheidung getroffen. Bis sich die Lage – ob Kazuto also im Universitätsklinikum war oder nicht – aufgeklärt hatte, würden sie beide und Sinon den Vorfall für sich behalten.
Nur Sinon hatten sie kontaktiert, weil sie sich noch kurz vor dem Überfall im Dicey Café gesehen hatten und sie von dem Death-Gun-Vorfall direkt betroffen gewesen war. Und jetzt war Sinons Gemütsruhe und Klugheit sehr beruhigend für sie. Mit einem Blick zu Sinon, die auch in ALO ihrer Berufung als Scharfschützin nachging, sagte Asuna: »Ich glaube, unsere beste Waffe ist, dass wir Kirito besser kennen als jeder andere. Also lasst uns noch mal einen Schritt zurückgehen und nachdenken. Wenn Kirito das Ziel des Feindes ist, was wäre dann sein Motiv?«
»Ich sag’s nicht gern, aber wenn sie es auf Lösegeld abgesehen hätten, hätten sie wahrscheinlich eher dich entführt. Es gab keine Kontaktaufnahme von den Entführern, oder?«, fragte Sinon.
Leafa schüttelte den Kopf. »Kein Anruf, keine Mail, kein Brief. Außerdem ist es für eine Lösegelderpressung viel zu aufwendig. Mein Bruder ist nicht so ein VIP, dass man extra einen gefälschten Rettungswagen vorbereiten würde, um ihn aus dem Krankenhaus zu entführen.«
»Das stimmt auch wieder … Ich möchte gar nicht daran denken, aber könnte es nicht ein Racheakt sein …? Fällt euch jemand ein, der einen Hass auf Kirito hat?«
Dieses Mal war es Asuna, die langsam den Kopf schüttelte. »Unter den Überlebenden von SAO gibt es bestimmt ein paar, die wütend auf Kirito sind, weil er sie damals in den Kerker geworfen hat, oder neidisch darauf sind, dass er das Spiel beendet hat. Aber jemand, der das Geld und die Beziehungen hätte, so etwas zustande zu bringen …«
Vor Asunas innerem Auge tauchte das Gesicht von Nobu-yuki Sugou auf, der die ehemaligen SAO-Spieler als Versuchsobjekte für seine abscheulichen Experimente missbraucht hatte, bis er von Kirito an die Polizei übergeben worden war. Aber dieser Mann saß immer noch hinter Gittern. Da er seine Flucht ins Ausland vorbereitet hatte, war auch sein Antrag auf Freilassung gegen Kaution abgelehnt worden.
»Nein, mir fällt niemand ein, der so weit gehen würde …«
»Also weder Geld noch Rache … hmm …«
Sinon senkte für einen Moment den Blick und zupfte mit den Fingerspitzen an einem ihrer Katzenohren. Dann sagte sie unsicher: »Also, das ist jetzt nur geraten … Aber wenn weder Geld noch Rache das Motiv für Kiritos Entführung war, muss das bedeuten, dass sie Kirito aus irgendeinem Grund gerade brauchen. Oder etwas an ihm. Ein bestimmtes Attribut, um mal einen Spielebegriff zu benutzen. Was fällt euch da ein?«
»Sein Können mit dem Schwert«, antwortete Asuna sofort, ohne auch nur nachzudenken. Wenn sie die Augen schloss und sich Kirito vorstellte, kam ihr als Erstes immer seine schwarz gekleidete Gestalt aus SAO-Tagen in den Sinn, wie er mit seinen zwei Schwertern in den Händen wie ein Wirbelsturm die Gegner niederstreckte.
Leafa, die mit ihm durch ALO gereist war, hatte offenbar dasselbe Bild vor Augen. Augenblicklich fügte sie hinzu: »Seine Reaktionsgeschwindigkeit.«
»Seine Anpassungsfähigkeit an das System.«
»Sein Urteilsvermögen von Situationen.«
»Seine Überlebensfähigkeit … Oh.«
Nachdem sie abwechselnd mit Leafa all diese Eigenschaften aufgezählt hatte, wurde Asuna etwas klar, und sie verstummte.
Sinon nickte zufrieden. »Richtig. All das sind VRMMO-Attribute … aus der virtuellen Welt.«
Als ihr das so deutlich vor Augen geführt wurde, grinste Asuna wie zum Trotz. »Na, der echte Kirito hat auch jede Menge gute Seiten!«
»Natürlich hat er die, er lädt uns ständig zum Essen sein. Aber auf andere Leute wirkt er wie ein ganz normaler Highschool-Schüler. Mit anderen Worten, wenn der Feind diesen irrsinnigen Plan auf die Beine gestellt hat, weil er so unbedingt an Kirito herankommen wollte, muss er es doch auf Kiritos hervorstechende Fähigkeiten in der virtuellen Welt abgesehen haben, oder nicht?«
»Du meinst doch nicht etwa … dass sie ihn zwingen, irgendein VR-Game durchzuspielen? Aber er ist doch gerade bewusstlos. Was wollen sie mit ihm in dem Zustand anfangen, wenn sie ihn weder behandeln noch untersuchen?« Leafa rang die Hände, und in ihrem Gesicht stand die Sorge um ihren großen Bruder geschrieben.
Sinon hatte den Blick auf den Tisch gesenkt. Nun verengten sich ihre stahlblauen Augen, als hätten sie ein Ziel erfasst, und sie antwortete ruhig: »Er mag bewusstlos sein … aber nur dem äußeren Anschein nach. Falls eine Maschine benutzt werden würde, die nicht auf das Gehirn, sondern seine Seele zugreift …«
»Ah …« Asuna sog scharf den Atem ein. Erschüttert fragte sie sich, warum sie bis jetzt nicht daran gedacht hatte.
»Genau. Wenn man das in Betracht zieht, sollte uns allen eine Organisation einfallen, die als Feind infrage kommt. Eine Organisation, die die einzige Maschine auf der Welt besitzt, die sich mit der Seele verbindet und vor ein paar Tagen auch noch einen Betriebstest mit Kirito als Test-Diver durchgeführt hat«, sagte Sinon.
Asuna nickte. »Also hat RATH, die den Soul Translator entwickelt haben, Kirito entführt …? Ja … wenn sie die Mittel haben, solch eine unglaubliche Maschine zu bauen, wären sie bestimmt auch in der Lage, einen gefälschten Krankenwagen loszuschicken …«
»RATH … Ihr meint die Firma, bei der mein Bruder in letzter Zeit jobbt?«, fragte Leafa.
Überrascht lehnte sich Asuna vor. »Leafa, du weißt über RATH Bescheid?«
»Ach, na ja, nichts Genaues … Nur, dass die Firma ihren Sitz in Roppongi hat.«
»Stimmt, das habe ich auch gehört. Aber Roppongi ist groß … Und die Polizei wird bestimmt nicht aktiv werden, wenn wir ihnen nur sagen können, dass RATHs Institut irgendwo in Roppongi liegt und Kirito möglicherweise dort sein könnte.«
Sinon biss sich auf die Lippe. Leafa hielt mit sorgenvoller Miene den Blick gesenkt.
Zögerlich wandte sich Asuna an die beiden. »Hört mal, ich wollte eigentlich nichts sagen, bis sich etwas ergeben hat, aber wir haben womöglich noch eine hauchdünne Verbindung zu Kirito. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie irgendwann abreißt …«
»Was meinst du damit, Asuna?«