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Thubano
Kleine Flügel bringen Abenteuer
Alexandra Bauer
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Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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Originalausgabe (Taschenbuch) erschienen 2010
Illustrationen + Covergestaltung: Petra Rudolf
ISBN: 978-3-940367-69-3 - Taschenbuch
ISBN: 978-3-86196-954-9 - E-Book (2020)
Lektorat: Redaktions- und Literaturbüro MTM
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Langeweile
Steinwurf zur Freiheit
Die Perle der Luft
Der Sehende Wald
Die singenden Berge
Xira
Der Pakt
Bruder gegen Bruder
Elfenschnüre
Blutschwur
Das Golemorakel
*
Thubano und Lato saßen auf einem Felsvorsprung in den Steilwänden des Drachentals und ließen ihre Füße in die Tiefe baumeln. Wie jeden Tag waren sie den Berg hinaufgestiegen, um den Morgen zu begrüßen. Sie hielten ihre Köpfe in die frische Morgenluft und warteten schweigend darauf, dass die aufgehende Sonne ihre Gesichter mit warmen Strahlen liebkoste.
Lato blinzelte seinen Freund an. Zwei Monate waren ins Land gezogen, seit der kleine Drache seine Flughilfen von der Heilerin Masu bekommen hatte. Doch er war nur wenig geflogen. Das lag sicher daran, dass sein bester Freund ein Halbelf war und selbst nicht fliegen konnte, dessen war sich Lato sicher.
Die beiden hatten sich kennengelernt, als Thubanos Flügel noch zu klein zum Fliegen waren. Damals waren Lato und Thubano lange zusammen gereist und hatten einige Abenteuer erlebt, ehe sie die Heilerin Masu fanden, die eine Lösung für die viel zu kleinen Flügel des Drachens auftrieb. Aus ein paar Holzleisten und jeder Menge feinstem Leder hatte sie dem Drachen künstliche Schwingen gezimmert, die er nun über seinen eigenen kleinen Flügeln trug. Lato hörte noch immer die fröhlichen Schreie seines Freundes im Ohr, als er zum ersten Mal geflogen war, und er hatte noch immer das glückliche Strahlen von Thubanos Mutter vor Augen, als sie zurück ins Drachental gekommen waren. Der Halbelf hatte damals auf dem Rücken von Thubanos Vater reisen dürfen. Darüber war er sehr stolz gewesen.
Für Lato waren die Wochen im Drachental wie im Fluge vergangen. Er war im ganzen Tal das einzige menschenähnliche Wesen, und trotzdem von allen als Freund geachtet. Das lag wohl nicht zuletzt an seiner elfischen Herkunft und daran, dass Drachen und Elfen ein altes Band der Freundschaft einte. So hatte Lato viel von den weisen Drachen, die sich hier auf ihre alten Tage niedergelassen hatten, lernen können.
Krowál, Thubanos Vater, hatte Lato in den Kreis der Familie aufgenommen. Schließlich war es nicht zuletzt der Verdienst des Halbelfen gewesen, dass sein Sohn endlich fliegen konnte. So hatte Lato hier gefunden, was er seit dem Tod seiner Elfenmutter und seiner Vertreibung aus der Elfenstadt Silbermond immer vermisst hatte: eine Familie und eine Heimat. Halbelfen waren nämlich seit einem Krieg mit den Menschen nicht mehr geduldet im Elfenland Tirana.
Da! Endlich hatte es die Sonne geschafft, über die hohen Berge des Drachentals zu klettern. Thubano öffnete die Augen und lächelte Lato an. „Es ist jeden Morgen ein neues Gefühl.“
Lato lächelte ebenfalls. „Da hast du recht.“
Sie saßen eine Weile genussvoll in der Morgensonne, da sprach Thubano in die Stille hinein: „Ich will das Drachental verlassen. Es wird Zeit, dass ich auf die Drachenreise gehe.“
Seine Worte trafen Lato wie ein Schlag ins Gesicht. Er fuhr herum und sah Thubano entgeistert an.
Der hielt noch immer die Nase in die Luft. „Es war ja ganz nett, wieder bei meinen Eltern zu sein, aber auf die Dauer wird es langweilig. Ich will meine Flügel benutzen und Abenteuer erleben.“
Lato lachte abwehrend: „Unsere letzten Abenteuer waren dir wohl nicht Aufregung genug?“
Thubano strahlte seinen Freund an. „Wieso? Es ist doch alles gut gegangen!“
Lato nickte nachdenklich. Die Entscheidung des Drachen stimmte ihn traurig. „Hast du es schon deinen Eltern gesagt?“
„Noch nicht. Aber sie werden es verstehen. Die Zeit der Erkundung ist eine alte Drachentradition. Jeder junge Drache muss die Welt erkunden. Es war doch klar, dass wir hier nicht ewig bleiben.“
„Mir gefällt es hier!“, entgegnete Lato kleinlaut.
Thubano blickte seinen Freund erstaunt an. „Willst du etwa nicht weg?“
Lato zuckte verlegen mit den Schultern und flippte einen Stein in die Tiefe.
„Das verstehe ich nicht. Hier ist es doch so langweilig!“
„Aber hier hast du deine Familie und hier ist dein Zuhause“, entgegnete Lato.
„Ja, und hier leben nur die Alten und die Kinder. Würdest du gerne unter Kindern und alten Elfen leben wollen?“
„Das ist immerhin besser, als irgendwo alleine zu sein“, antwortete Lato.
Thubano legte die Pranke auf Latos Oberschenkel. „Aber das bist du doch gar nicht. Du hast doch mich!“
Lato lächelte müde.
Thubano sprang auf. „Außerdem gehen wir doch nicht für immer weg! Wir erkunden nur die Welt, und wenn wir damit fertig sind, kommen wir wieder zurück.“
Lato blickte zu seinem Freund auf und lachte beherzt. „Du meinst also, wir kommen zurück, wenn du ein alter Drache bist und dich hier zur Ruhe setzen willst.“
Thubano gab seinem Freund einen Knuff. „Zwischendurch sollten wir schon herkommen und eine eigene Familie gründen.“
Lato kicherte. „Was? Na das ist dann erst langweilig!“, rief er amüsiert und wurde ein bisschen fröhlicher. Er verstand seinen Freund. Thubano hatte schon viel zu lange damit gewartet seine Flügel zu gebrauchen. Es wurde höchste Zeit. „Los, lass es uns deinen Eltern erzählen!“
„Juhu!“, brüllte Thubano und hüpfte vom Felsvorsprung herunter.
Lato sah in die Tiefe hinunter. „Es wäre lieb, wenn du mich mitnimmst!“, rief er dem Drachen hinterher.
Mit einem Mal flog Thubano vor ihm. „Es wird wirklich Zeit, dass du dir auch ein paar Flughilfen von Masu besorgst“, scherzte der Drache, während er landete und Lato sich um seinen Hals klammerte.
„Ich werde darüber nachdenken“, entgegnete Lato.
Thubano kletterte den Berg hinab. Auf der Wiese angekommen liefen sie um die Wette bis hin zur Drachenhöhle der Eltern. Thubano schummelte und gewann das Rennen, da er seine Flügel benutzte. Lato bedachte ihn mit einem tadelnden Blick. Der Drache schmunzelte ertappt. „Aber dafür sind die Flügel schließlich da.“
„Wie gut, dass du jedes Mal eine Ausrede parat hast.“ Lato schlang die Arme um Thubanos Hals und der Drache kletterte die Felswand zur Höhle der Eltern hinauf.
Wie Lato erwartet hatte, waren sie wenig begeistert vom Vorhaben ihres Sohnes.
„Das ist Drachentradition! Meine Geschwister sind auch schon alle fort“, erinnerte Thubano aufgebracht und wechselte dabei immer wieder den Blick von Vater zu Mutter.
„Das ist doch etwas völlig anderes“, erwiderte Molda verzweifelt.
„Wieso ist das etwas anderes?“, fragte Thubano und schlug wütend mit der Faust in die Luft.
Krowál beäugte seinen Sohn achtsam. „Du hast deine Flügel noch nicht sehr lange. Bist du dir sicher, dass sie halten werden?“
„Ich wusste es doch!“, grollte Thubano. „Ihr behandelt mich noch immer wie einen kleinen Drachen!“
„Aber Thubano“, seufzte Molda. „Wir verstehen deinen Wunsch. Aber lass uns wenigstens unsere Bedenken äußern.“
„Ich will endlich behandelt werden wie die anderen Drachenkinder!“, schimpfte Thubano. „Ich lasse mich nicht aufhalten. Ich gehe auf jeden Fall!“
Krowál setzte sich, verschränkte die Arme vor der Brust und blickte Lato prüfend an. „Gehst du mit und bleibst du bei ihm?“
Lato war erstaunt über die Frage. „Natürlich. Thubano ist mein Freund.“
Krowál nickte abwesend. Diese Antwort hatte er hören wollen, aber sie beruhigte ihn kaum. Er machte sich Sorgen um seinen Sohn. Obwohl er jetzt fliegen konnte, war er nicht wie die anderen Drachen, auch wenn Thubano das dachte.
Molda lächelte mild. „Thubano ist mehr als dein Freund. Er ist dein Bruder. Du gehörst schließlich zu unserer Familie. Und nun, ihr beiden, wird euch euer Vater auf die Reise schicken. So wie jeder Drachenvater eines Tages seine Kinder losschickt, damit sie die Welt erkunden.“
Krowál sah seine Gefährtin erstaunt an.
Molda trat vor. Sie war nicht glücklich mit Thubanos Entscheidung, aber sie war vernünftig genug, um zu wissen, dass sie ihren Sohn nicht aufhalten durfte. Er war alt genug, um auf eigenen Füßen zu stehen.
Krowál baute sich räuspernd vor den beiden Reisefiebernden auf. Er wollte seinen Sohn nicht auf die Drachenreise schicken, aber es wäre ohnehin zwecklos gewesen, Molda zu widersprechen. Außerdem wusste er genau, dass er Thubano sowieso nicht aufhalten konnte.
„Seid wachsam“, sprach er feierlich. „Seid stark. Seid wissbegierig und lernt. Seid hilfsbereit und freundlich. Nehmt euch in Acht vor Wesen der Dunkelheit und beschützt diejenigen, die auf der Seite des Lichts stehen, denn ihr seid Geschöpfe des Lichts. Habt Mut.“ Er schloss die beiden in die Arme. „Und vergesst nicht Post zu schicken“, sagte er weniger feierlich, lachte laut und entließ die beiden aus der Umarmung.
Molda schüttelte amüsiert den Kopf. „Er kann es nicht lassen.“ Sie breitete die Arme aus. „Jetzt kommt schon, ihr beiden. Ich möchte euch auch noch einmal drücken.“
Sie wiegten sich eine Weile in der zärtlichen Umarmung der Drachenmutter. Dann sagte Molda: „Es ist jetzt an der Zeit.“ Und zu Lato gewandt sprach sie: „Krowál wird dich über die Berge bringen. Vom Fuße des Drachentals aus könnt ihr eure Reise leichter beginnen.“
Noch einmal sah der Drachenvater zu seiner Gefährtin. Das war heute schon das zweite Mal, dass sie über seinen Kopf hinweg entschied. Er teilte ihr seinen Missmut brummend mit.
Lato war über Krowáls Reaktion sehr erschrocken. Augenscheinlich wollte Thubanos Vater ihn nicht über die Berge bringen.
„Ihr müsst das nicht tun“, sagte Lato rasch.
„Darum geht es gar nicht“, lächelte Krowál dem Elfenjungen zu. „Ich bringe dich gerne zum Fuß des Drachentals. Molda weiß, wie ich es gemeint habe. Steig auf!“
Lato kletterte vorsichtig auf den Rücken des Drachens. „Bis bald, Molda“, sprach er zur Drachenmutter gewandt und ein wenig Wehmut überfiel ihn.
„Ich werde deine Rückkehr mit Freude erwarten“, erwiderte Molda zum Trost und lächelte dem Jungen gütig zu.
Thubano lief noch einmal zu seiner Mutter und drückte sie liebevoll.
„Nun los!“, rief Krowál, faltete seine Flügel auseinander und ließ sich vom Vorsprung der Drachenhöhle gleiten.
„Dann los!“, rief Thubano und sprang seinem Vater hinterher.
Molda ging zum Höhlenausgang und winkte ihnen mit einem Schnupftuch nach. Sie tat es aber nicht des Winkens willen, sondern vielmehr, weil Krowál das Tuch vergessen hatte.
Sie flogen eine ganze Weile über die schroffen Berggipfel hinweg, bevor sie am Fuß der Felswand landeten. Schon einmal war Thubano an dieser Stelle auf die Reise gegangen. Er schmunzelte, als er daran dachte, wie er hier, am Rand des weitläufigen Waldgebietes, den Fisch Noktus getroffen hatte. Plötzlich fragte er sich, weshalb sein Vater ihn nicht schon damals bis hierhin getragen hatte.
Lato sprang von Krowáls Rücken. „Danke. Ich glaube, selbst in meinen Elfenschuhen wäre es keine Freude gewesen, diese Berge zu überwinden.“
Als Lato das erste Mal das Drachental überflogen hatte, war es Nacht gewesen. Aus dem Tal heraus war nicht auszumalen, dass die Drachen sich einen derart sicheren Ort gesucht hatten. Das Tal lag inmitten eines vulkanähnlichen Kraters. Schroff, lebensfeindlich und unüberwindbar wurde es von den mächtigen Felsen umschlossen.
Krowál lachte laut. „Nein. Wahrlich nicht, Lato, und so soll es auch sein.“ Er sah liebevoll zu seinem Sohn, der neben ihm stand und in den Wald blickte. „Vergiss nicht, dass du noch immer die Zauberwurzel um deinen Hals trägst“, sagte er eindringlich. „Weißt du noch den Spruch?“
Thubano nickte und sprach die drei Worte, die seinen Vater herbeirufen würden, wenn er in aussichtslosen Schwierigkeiten steckte. „Akurim nalim dialinum.“
„Gebrauche sie nur im Notfall“, mahnte der Vater.
„Ja, ich weiß“, antwortete Thubano nervös. Er wollte endlich los und hatte keine Lust auf die Belehrungen seines Vaters.
„Und hüte dich vor den Menschen. Höre auf Lato. Er kennt sich aus“, fuhr Krowál unbeeindruckt fort und wedelte mit einer Klaue vor dem Gesicht seines Sohnes.
„Das werde ich“, antwortete dieser leicht genervt.
Krowál überging Thubanos Verhalten. Er nickte zufrieden. Noch einmal nahm er Lato und seinen Sohn in die Arme, ehe er sich auf den Weg zurück ins Drachental machte. Thubano sah seinem Vater schweigend nach.
„Und jetzt?“, fragte Lato gelangweilt, die Hände in den Taschen und mit den Füßen wippend.
Thubano wirbelte herum und machte einen Freudensprung. „Jetzt? Jetzt erkunden wir die Welt!“, rief er euphorisch.
„Deine Entzückung in Ehren, aber hier gibt es nichts Interessantes zu erkunden“, grunzte Lato mit einer allumfassenden Handbewegung.
Thubano gluckste amüsiert und strahlte seinen Freund an. „Quatsch! Die ganze Welt liegt uns zu Füßen. Wir gehen einfach drauf los und suchen das Abenteuer.“
„Du sollst die Welt erkunden und nicht Kopf und Kragen riskieren“, mahnte Lato fast genau so wie Krowál.
„Dann warten wir eben, bis die Abenteuer zu uns kommen“, kicherte Thubano. „Aber Abenteuer werden wir erleben!“
„Eine Reise ohne Ziel. Wirklich großartig. Dann lass uns mal spazieren gehen“, murmelte Lato lakonisch und lief los. Thubano hopste neben seinem Freund her.
Nach einer Weile des Weges verkündete er: „Weißt du noch? Hier ganz in der Nähe haben wir uns kennengelernt.“
„Ja, ich erinnere mich. Das war keine angenehme Begegnung. Du hattest Ärger mit einigen Raufbolden.“
„Nicht alle Menschen sind schlecht“, erwiderte Thubano sofort. „Was hast du eigentlich damals hier gemacht?“
„Das weißt du doch. Ich war auf der Suche nach einer Heimat“, erwiderte Lato.
„Willst du nicht versuchen, wieder nach Tirana zurückzukehren? Vielleicht haben die Elfen inzwischen ihre Meinung geändert und sie stoßen dich nicht mehr aus, nur weil dein Vater ein Mensch war.“
Lato schüttelte den Kopf. „Ich wage nicht einmal, davon zu träumen, dass ich wieder den Fuß nach Tirana setzen darf. Elfen werden so alt wie ihr Drachen. Sie vergessen nicht. Sie werden niemals ihren Stolz brechen und die Verbannung aufheben. Es war ein Beschluss des Hohen Rates. Ich kann nie wieder in meine Heimat zurück.“
Thubano nickte traurig.
Lato blieb stehen und lächelte seinen Freund an. „Im Übrigen habe ich jetzt eine Heimat und eine Familie“, erinnerte er.
Thubano zeigt alle Zähne auf einmal. Keine Nachricht hatte ihn jemals glücklicher gemacht – von seiner Flughilfe mal abgesehen. „Wirklich? Du willst keine anderen Halbelfen mehr finden und bei ihnen leben?“
Lato lachte. „Thubano! Eine Familie wechselt man doch nicht wie ein Paar Schuhe. Wir beide gehören zusammen und nichts wird uns jemals voneinander trennen!“
Thubano nickte froh. „Nichts wird uns trennen.“
Sie spazierten gemächlich weiter und machten Rast, als es Nacht wurde.
„Morgen früh werde ich ein Dorf aufsuchen und mir Proviant für die nächsten Tage besorgen“, sagte Lato, nachdem er sich in das weiche Moos des Waldes gebettet hatte.
Thubano saß in aufrechter Haltung neben seinem Freund. „Darf ich da mit?“, fragte er begeistert.
Lato schüttelte den Kopf. „Das ist ein Menschendorf“, antwortete er kurz und glaubte, damit die Erklärung gegeben zu haben.
Aber der kleine Drache war damit nicht zufrieden. „Es müssen doch keine bösen Menschen sein. Nicht alle Menschen sind schlecht“, erinnerte er. „Wenn sie böse sind, fliege ich einfach davon.“
Lato richtete sich auf und sah seinen Freund streng an. „Vielleicht ist das aber auch das Dorf, aus dem die Raufbolde stammen, die damals deine schuppige Haut haben wollten. Du wirst dir dein Mittagessen jagen und ich besorge meinen Proviant.“
„So viele Schuppen hab ich gar nicht“, trotzte Thubano.
Lato zog nur die linke Augenbraue hoch und sah seinen Freund schief an.
Thubano zuckte mit den Schultern. „Na gut. Wenn du meinst“, schnappte er beleidigt.
Lato lächelte. „Du willst doch nicht schon nach einem Tag deine Zauberwurzel benutzen müssen“, brachte er geschickt an.
„Nein. Machen wir es eben so“, raunte Thubano einsichtig und rollte sich neben Lato zusammen.
Den nächsten Morgen verbrachte Lato damit, einem Bäcker dabei zu helfen, gemahlenes Mehl von einer im Nachbardorf stehenden Mühle in seine Backstube zu schleppen. Dafür bekam er ein warmes Mittagessen, zwei Brotlaibe und ein großes Stück Käse. Das war zuerst mehr, als der Halbelf erwartet hatte. Im Nachhinein fand er die Bezahlung jedoch mehr als gerechtfertigt. Die Arbeit war hart und anstrengend gewesen. Müde kehrte er zum Treffpunkt zurück, an dem Thubano schon ungeduldig wartete.
Als der Drache den gefüllten Beutel seines Freundes sah, lächelte er. „Du warst erfolgreich“, erkannte er.
„Ja“, antwortete Lato und ließ sich erschöpft ins Moos plumpsen.
Thubano sah seinen Freund vorwurfsvoll an. „Ich denke wir wollen weiter?“
„Ich mache jetzt Pause“, wehrte Lato ab. „Mir fliegt das Essen leider nicht in den Mund, während ich meine Kreise am Himmel ziehe.“
Thubano ließ sich neugierig neben seinem Freund nieder. „Erzähl. Wie machst du das mit deinem Essen.“
Lato runzelte die Stirn. „Das weißt du doch!“
„Ja, aber ich höre es so gerne“, entgegnete Thubano.
Lato seufzte. Er rekelte sich gemütlich und legte den Kopf auf seine zusammengefalteten Hände. „Ich habe natürlich immer ein wenig Gold- und Silberstücke bei mir“, erzählte er, als würde er es dem Drachen zum ersten Mal erzählen. „Aber das spare ich mir für Notfälle auf. Wenn ich Brot brauche, frage ich bei einem Bäcker nach, ob er Arbeit für mich hat und mich dafür mit seinem Backwerk entlohnt. Oder ich helfe einem Bauern auf dem Feld und bekomme dafür Kartoffeln, Butter und ein paar Eier. Je nachdem, was sie übrig haben.“
„Ich würde das auch gerne mal machen“, sagte Thubano träumerisch.
Lato lachte. „Ich glaube, die hängen zu sehr an ihrem Federvieh, als dass sie es dir zum Essen überlassen.“
„Na, ich würde natürlich auch ein Brot wollen“, entgegnete Thubano.
Lato gähnte. „Ich weiß nicht. Aber wenn wir mal einen Bauern treffen, der keine Angst vor Drachen hat, können wir es ja mal versuchen. Ich schlafe jetzt noch ein bisschen. Dann können wir meinetwegen weiter“, sprach Lato und war auch schon eingeschlafen.
*
*
Sie reisten mehrere Wochen ohne Ziel durchs Land. Die ersehnten Abenteuer blieben allerdings aus. Erst als Lato eines Morgens unerwartet früh aus einer Stadt wiederkehrte, änderte sich das schlagartig.
„Was ist los? Konntest du keine Arbeit finden?“, fragte Thubano, der wie immer im Wald zurückgeblieben war.
„Nein. Halt dich fest.“ Lato war so aufgeregt, dass er gar keine Ruhe fand, sich zu setzen. Er tänzelte um den Drachen herum und gestikulierte wild mit den Händen. „Dreimal darfst du raten, auf wen ich in der Stadt getroffen bin. Auf Trotorio! Den Zirkusdirektor, der dich damals gefangen genommen hatte und der aus dir eine Attraktion machen wollte! Ich bin ihm fast in die Arme gelaufen.“
Thubano sprang auf. „Was? Um Himmels willen! Da hast du noch mal Glück gehabt. Ich denke nicht, dass er uns die Flucht und die Zerstörung der beiden Zirkuswagen verziehen hat.“
Thubano verfolgte den umhertänzelnden Lato mit seinen Augen, der Halbelf mochte sich kaum beruhigen.
„Mir ist das Herz in die Hose gerutscht. Aber warte ab, was noch viel ungeheuerlicher ist: Seine Ausrufer verkünden in der ganzen Stadt, dass sie eine Sylphe zur Schau stellen.“
Thubano setzte sich wieder. „Eine Sylphe? Du meinst diese Luftgeister? Ich glaube, ich habe schon einmal von ihnen gehört.“
„Sylphen sind Naturgeister“, sagte Lato bedeutungsvoll und blieb für einen Moment stehen. „Und deshalb sind sie Freunde der Elfen. Sie sind menschenähnlich. Sie haben große Flügel mit silberweißen Federn, sie tragen lange, wehende Gewänder und sie schweben immer über dem Boden. Deshalb weiß niemand so genau, ob sie feste Körper haben. Sie sind etwa so groß wie ich. Sie kümmern sich um die Luftströmungen. Eigentlich musst du sie kennen. Niemand ist ihnen näher als ihr Drachen. Sie fliegen immerzu durch die Luft. Sie umspielen die Bäume und Pflanzen und regen sie zum Wachsen an.“
„Trotorio scheint ständig auf der Suche nach einer Attraktion für seinen Zirkus zu sein“, brummte Thubano gereizt.
„In was für einer Welt leben wir, in der so etwas gestattet ist?“, schimpfte Lato. „Erst Isis, der Zwerg. Dann du und ich und jetzt auch noch eine Sylphe!“
„Der ganze Kontinent ist wahnsinnig geworden“, sagte Thubano schulterzuckend. „Das ist ja der Grund dafür, dass sich die Drachen zurückgezogen haben.“
Lato ballte die Fäuste. „Du warst auf der Suche nach einem Abenteuer? Jetzt hast du eins. Wir werden die Sylphe befreien“, verkündete er entschlossen.
„Was?“, rief Thubano auf. „Bist du von Sinnen? Mit Trotorio ist nicht zu spaßen!“
Lato ignorierte Thubanos Einwand völlig. „Ich brauche eine Verkleidung. Ich werde eine von Trotorios Shows besuchen und prüfen, wie er die Sylphe gefangen hält. Sylphen sind Luftgeister. Trotorio muss sie schon hinter Glas halten, um sie einzusperren. Ein einziger Steinwurf und sie ist frei.“
„Ich glaube nicht, dass das so einfach sein wird“, erwiderte Thubano. Die Tatsache, dass sich Lato noch einmal mit Trotorio anlegen wollte, gefiel ihm ganz und gar nicht. Der Zirkusdirektor war ein böser Mann und er machte Thubano große Angst.
Lato las in den Gedanken seines Freundes wie in einem offenen Buch. „Ich verstehe deine Bedenken“, sagte er verständnisvoll. „Aber sollen wir die Augen verschließen und die Sylphe ihrem Schicksal überlassen? Wir waren auch bei Trotorio in Gefangenschaft. Niemand außer uns weiß besser, wie sich dieser Naturgeist fühlt.“