Hundert Jahre sind eine lange Zeit. Innerhalb eines jeden Jahrhunderts genau gleich lang. Manch einer behauptet, das vergangene Jahrhundert, das zwanzigste, sei länger gewesen.

Andernfalls hätte nicht so viel geschehen können.

Man schreibt das Jahr 1900. Thomas Mann sitzt an seinem ersten Roman. Im Sommer hält Kaiser Wilhelm II. in Bremerhaven seine berüchtigte »Hunnenrede«: »Pardon wird nicht gegeben!« Felix Hoffmann sei Dank kennt man bereits Aspirin.

In drei Jahren wird Walter Gropius sein Architekturstudium an der Technischen Hochschule in München aufnehmen – und bald darauf wieder abbrechen.

In Türnow wird Martha geboren. Oben, im Schlafzimmer des großen Hauses. Unten gibt Otto den Einsatz für die Musik. Zufall oder auch nicht – Marthas Eintritt in die Welt begleitet ein Dreivierteltakt.

Kein Marschrhythmus.

Das kommt später.

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Da ist der Fluss. Und die Brücke über den Fluss. Als der Nebel sich lichtet, erscheint das Haus. Behutsam, Schicht um Schicht, enthüllen sich seine Konturen. Schimmernde Laken gleiten lautlos zu Boden.

Eine sanfte Brise bläht die Vorhänge im Schlafzimmer.

Martha liegt in ihrer Wiege, die Augen weit geöffnet. Eine frisch glänzende Münze, hineingegossen in die Welt. Wer wird sie prägen? Was gibt ihr Wert?

Elfriede ist da gewesen und hat sie gestillt. Der Duft von Milch und Mutterliebe hängt in der Luft.

Sanft schaukelt die Wiege hin und her.

Von links nach rechts.

Von rechts nach links.

Wie von Feenhand bewegt.

Im ganzen Haus hört man Musik.

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Sie haben es von jeher das große Haus genannt. Trutzig bietet es der Welt die Stirn. Zwei Dutzend Männer und Frauen leben darin, sicher wie in einer Burg.

Hauptsächlich Männer. Und nur wenige Frauen.

Zwei Kinder.

Ein Junge. Ein Mädchen.

Martha.

Vieles hängt davon ab, ob die Menschen in der Umgebung Geld haben. Und einen Anlass. Und in der Stimmung sind.

Musiker spielen nicht im luftleeren Raum. Und schon gar nicht ohne Honorar. Eine stehende Kapelle ist wie ein lebender Organismus. Dynamisch. Immer in Bewegung. Nichts bleibt, wie es ist – nur die Musik. Sie ist fest verankert. In jeder Zeit.

Otto sagt: »Wenn die Menschen keine Musik mehr hören, sind sie tot.« Das stimmt.

Andererseits bedeuten Beerdigungen für seine Kapelle und ihn eine wichtige Einnahmequelle.

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»Elfriede, wann ist das Essen fertig?« Ottos Stimme ist eines Musikdirektors würdig, dröhnt wie eine Kesselpauke, schmettert wie eine Posaune.

Jericho liegt stets um die nächste Ecke.

Geduldig verdreht seine Gattin die Augen gen Himmel. Sie ruft: »Wie immer steht das Essen um Punkt zwölf auf dem Tisch!«

Das Essen ist eine mildtätige Untertreibung. Eigentlich müsste es die Fütterung heißen. Es gibt Stampfkartoffeln mit Buttermilch. Üppig und nahrhaft. Günstig noch dazu.

Derzeit befinden sich mehr als zwanzig Musiker in Ausbildung, Kost und Logis im Hause Wetzlaff. Hinzu kommen das Dienstmädchen, der Knecht, Martha, Otto und Elfriede. Und Heinzchen.

Heinzchen ist der Erstgeborene. Er ist kurz nach der Geburt verstorben. Im Wochenbett. Hirnhautentzündung, hat der Arzt gesagt.

Für Martha sitzt er immer mit am Tisch.

Er isst allerdings nicht viel.

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Was fühlt eine Mutter, deren Kind gestorben ist? Ein Kind, das sie nicht in der Schwangerschaft verloren, sondern zweihundertachtzig endlose Tage und Nächte unter dem Herzen getragen hat. Das das Licht der Welt erblickt und sich daran entzündet hat.

Seine Haut, sein Hirn.

Elfriede ist erst nach vier Jahren Ehe schwanger geworden. Eines der wenigen Themen, zu denen Otto erschöpfend schweigt.

Bauch und Busen haben sich gerundet, ihre Wangen gerötet. Ihr Haar hat den Glanz einer Kastanie angenommen.

Nie ist Elfriede schöner gewesen.

Als Heinzchen geboren wird, zeigt er die gleichen fein gezeichneten Züge. Doch Körper und Antlitz sind blass. Erst als sein Blut brennt, bekommt seine Haut Farbe.

Heinzchens Lebensflamme erlischt stumm wie eine Kerze. Drei Tage lang verbreitet sie ihr sanftes Licht. Dann ist es vorbei. Still und leise geht er davon – ohne ein einziges Mal geweint zu haben.

Elfriedes Tränen hingegen versiegen nicht.

Bis sie erneut schwanger wird.

Genau ein Jahr und einen Tag nach Heinzchens Tod.

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Ein vertrautes Ritual am Abendtisch. Otto sagt: »Elfriede, gib dem dünnen Hansel nach. Er hat auf seinen Reisen viel Kraft gelassen.« Und mit ruhiger Hand nimmt Elfriede Wolfgangs Teller und legt ihm nach. Ihm, dessen hungrige Augen sich niemals trauen würden, etwas zu sagen.

Später, als sie allein sind, fragt Martha: »Wann bist du gereist?« Sie geht noch nicht zur Schule, ist außerstande, sich vorzustellen, jemals ohne ihn gewesen zu sein. In ihrer Erinnerung ist Wolfgang immer da, hat stets im großen Haus gelebt.

Nachdenklich mustert er sie, so lange, dass sie denkt, er habe ihre Frage vergessen.

Doch er vergisst sie nicht.

Wolfgang antwortet: »Vor deiner Geburt bin ich bei den Tänzerinnen auf Bali gewesen und habe den Trommlern in Kyoto gelauscht. Ich bin auf einen hohen Berg gestiegen, um den Klang eines Alphorns zu hören, und habe die Morin chuur der Mongolen gestrichen, deren oberes Ende ein hölzerner Pferdekopf ziert.«

Martha kann mit all diesen Namen nichts anfangen. Sie sind ihr egal. Wolfgang ist ihr nicht egal. »Warum bist du dort gewesen?«

»Ich bin der Musik gefolgt.«

»Hast du sie gefunden?«

Wieder betrachtet Wolfgang sie lange; diesmal mit dem Blick des Wanderers, der nach langem Suchen endlich sein Ziel erreicht hat. »Auf dem Rückweg aus dem Osten bin ich durch Türnow gekommen. Ich bin durstig gewesen und habe am Brunnen am Marktplatz haltgemacht. Die Frauen haben mit ihren Eimern Wasser geschöpft. Einer von ihnen bin ich gefolgt.«

»Weshalb?«

»Sie hat geweint.«

Martha runzelt die Stirn. »Und was hat das mit der Musik zu tun?«

»Ich bin der Frau vom Marktplatz bis hierhin, ins große Haus, hinterhergegangen. Ein dunkler Klang hat mich geführt.«

»Die Kapelle hat gespielt?«

»Nein. Ich habe ihn bereits am Brunnen wahrgenommen, den dunklen Klang. Elfriede hat getrauert. Um Heinzchen.«

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Der staubige Holzboden im Proberaum, der Geruch von Schuhleder und die Namen der Instrumente – ihre frühesten Erinnerungen. Wie ein kleines Tier krabbelt Martha zwischen den Beinen der Musiker und ihren Notenständern hindurch.

Unversehens wird sie unter den Achseln gepackt und hochgehoben. Plötzlich sind da Licht und freie Sicht. Sie erblickt Otto, den Taktstock in der Hand. Vor ihm zwei Dutzend Männer mit ihren Instrumenten. Hinter ihr atmet jemand sanft in ihren Nacken. Wolfgang. Es ist immer Wolfgang. Vertrauensvoll lehnt sie sich zurück.

Wolfgang sitzt am Rand. Mit dem Rücken zur Welt spielt er im Proberaum des großen Hauses Klavier. Niemand kennt seinen Nachnamen. Niemand hat ihn je danach gefragt.

Wolfgang genügt.

Otto erzählt, Marthas erstes Wort sei weder »Mama« noch »Papa« gewesen. Geschweige denn »Vater« oder »Mutter«.

»Sie hat ›Pianoforte‹ gesagt«, prustet er und wischt sich mit seinem handtuchgroßen weißen Taschentuch die Tränen aus den Augenwinkeln.

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Die Fenster zur Flussseite sind klein und schmal. In dicke Mauern hineingeschnitten.

Martha sitzt am Flussufer und lässt selbstgebaute Schiffchen zu Wasser. Rindenstücke, beladen mit Eicheln. Kurze Stöcke, denen ein abgebrochener Ast als Mastbaum dient. Große grüne Blätter bilden die Segel. Während ihr Blick dem Schlingerkurs der kleinen Flotte folgt, dringen vertraute Klänge an ihr Ohr.

Sie schaut auf.

Wie Kuchenteig, der beim Plätzchenbacken durch die Mühle gedreht wird, quillt Musik aus dem großen Haus. Durch jede Öffnung quetschen sich bunte Kringel, Schlangen, Stäbchen.

Martha lacht.

Heinzchen neben ihr lacht ebenfalls.

Sie mögen die Bewegung der Musik.

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Ein Wald voller Hosenbeine. Lange, kurze, hochgerutschte. Manchmal ein heller Streifen Haut. Mehr oder weniger behaartes Unterholz. Dazwischen schmale, dünne Stecken. Immer drei gebündelt. Winzige Indianerzelte ohne Wände. Zu eng, um durchzukrabbeln.

»Marthchen, lass die Notenständer stehen!«, ruft Otto. »Sie sollen sich nicht drehen!« Er bemerkt den Reim. Er gefällt ihm. Aus voller Kehle singt er: »Ste-hen, nicht dre-hen!«

Otto ist Musik. Laute Musik. Immer. Und überall. Und ganz bestimmt seit der Geburt seiner Tochter.

Elfriede hingegen steht für Ruhe. Für zwei starke Arme, die einen halten, drücken, in die man sich hineinschmiegen kann. Elfriede ist braune Augen und dunkles Haar, das immer ein wenig nach Karamell duftet.

Elfriede ist die Liebe der Mutter zu ihrem Kind.

Martha fühlt beides – die Liebe zu Otto und zu Elfriede.

Sie wird sie nie verlassen.

Die Liebe.

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Um sie herum Buntstifte, auf dem Boden verstreut. Die Zunge in den Mundwinkel geklemmt, führt ihre kleine Hand den Stift. Formen, Figuren, phantastische Gebilde fließen aufs Papier. Martha sieht, was sie hört, und hört, was sie sieht. Augen, Herz und Ohren weit geöffnet, folgt sie der Musik.

Als sie fertig ist mit ihrem Werk, steht sie auf und verlässt ihren Platz zu Füßen der Musiker. Sie geht nach vorn und legt Otto ihre Mitschrift vor.

»Was ist das, Marthchen?«

»Musik!«

Otto schaut. Und schaut noch einmal. »Du wolltest Noten malen, nicht wahr?«

»Nein, ich habe die Musik aufgeschrieben!«

Otto weiß, die Frauen in seinem Haushalt irren nur selten. Kleine wie große. Behutsam erkundigt er sich: »Kannst du sie singen – deine Musik?«

Martha legt den Kopf ein wenig schief und lässt Otto und die Musiker teilhaben. Teilhaben an dem, was ihr begegnet ist. In ihrem Kopf. In ihrem Bauch. Was sie in ihrem musikalischen Gedächtnis abgelegt hat.

Nach wenigen Sekunden winkt Otto verdattert ab. »Marthchen, das ist keine Melodie! Es klingt nicht einmal wie Musik. Vielleicht meinst du das?« Er singt ihr eine Tonfolge aus dem zuvor geprobten Stück vor.

Martha wiederholt, was sie gesehen hat. Diesmal in Ottos Stimme. Das Ergebnis ist das gleiche.

»Nun, wir halten fest, Marthchen«, feierlich streckt Otto den Zeigefinger in die Höhe, »eine Gießkanne verfügt über ein besseres Gehör als du!«

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Martha geht hinaus in den Garten. Frisches Grün, der Duft von Flieder. Die Natur erweist sich als wohlriechendes Labor.

Sie beugt sich über die alte, verbeulte Gartenkanne. Kalt liegt das Metall ihren Lippen an, als ihr Mund die Tülle umschließt. Sie atmet tief ein. Und aus. Laut und deutlich singt sie ein »La«. Der Klang wird fortgeleitet, wandert ins Innere der Kanne, deren Bauch einen vollen Wohlklang erzeugt.

»Laah.«

Eine Klangkugel steigt empor.

Martha besitzt nur eine vage Vorstellung vom Aufbau des menschlichen Ohres – sie denkt ihn sich wie bei einer Gießkanne. Die Töne dringen in die Tülle ein, von wo aus sie ins Innere des Ohres, sprich, in die Kanne selber gelangen.

Selbstverständlich hat Otto recht. Jede Gießkanne, die etwas auf sich hält, hat ein besseres Gehör als sie. Weil – viel größer.

Wer wollte das bezweifeln?

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Vormittags erteilt Otto den Auszubildenden Unterricht. An sämtlichen Blasinstrumenten und an Geige, Bratsche und Bass. Das ist der Grund, weshalb die jungen Leute zu ihm kommen. Sie wollen Berufsmusiker werden. Sie erlernen bei ihm ein zweites oder drittes Instrument, das Ensemblespiel sowie das präzise Beibehalten von Tempo und Rhythmus unter allen Umständen.

Darüber hinaus erarbeiten sie sich ein Repertoire, bestehend aus Walzern, Märschen, beliebten Volksliedern und einfachen klassischen Stücken. Nach drei Jahren in der Kapelle können sie die Stücke vorwärts, rückwärts, betrunken, nüchtern und mit geschlossenen Augen spielen. Bei Regen, Schnee, sengender Hitze und Sturm. In überfüllten Sälen und unter freiem Himmel.

Nach drei Jahren, in denen sie im Musikinternat Wetzlaff Kost, Logis und Unterricht erhalten und Ottos musikalischem Kollektiv ihr Talent zur Verfügung gestellt haben, sind sie Musiker.

Manche bleiben in der Kapelle, andere gehen auf Wanderschaft. Noch andere spielen in verschiedenen Combos und helfen nur noch gelegentlich aus, wenn eine große Besetzung benötigt wird.

Nur einer bleibt.

Wolfgang.

Er ist immer da.

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Am liebsten spielt Otto Bass. Kontrabass. Und Tuba. Natürlich, was sonst? Jeder sollte das Instrument spielen, das zu ihm passt. Oder zu dem er passt.

Otto ist eins fünfundachtzig groß und kräftig gebaut. Er ist definitiv kein Flötist.

Neben der Musik besteht seine liebste Beschäftigung im Kartenspiel. Geberskat mit deutschem Blatt.

»Schellen Solo!«

»Null Ouvert!«

»Grand Hand!«

Otto und seine Mitspieler treffen sich abwechselnd in der Gastwirtschaft und zu Hause. Im großen Haus sitzt Martha unter dem Spieltisch, mit einem eigenen Kartenspiel und eigenen Regeln. Fasziniert lauscht sie den Ansagen, die wie eine fremde Sprache klingen. Ab und an zuckt sie zusammen, wenn eine Karte vehement auf den Tisch gedroschen wird.

Erstaunlicherweise ist die Luft unter dem Tisch am besten. Otto und die Honoratioren rauchen dicke Zigarren, deren Qualm sich um ihre Köpfe legt. Dennoch verliert keiner den Durchblick.

Sie spielen um hohe Einsätze.

Manchmal, nach ein paar Bier und ebenso vielen Schnäpsen, erhöhen sie den Punktwert.

Dann wird es sehr still am Tisch, und Martha, darunter, hält den Atem an.

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Nachmittags, von drei bis fünf, ist Orchesterprobe. Neue Stücke werden einstudiert, alte aufpoliert. Alle ordnen sich Otto und seinem Dirigat unter. Er ist der Kapellmeister.

Nicht zuletzt dank jener Eigenschaft gilt er als angesehener Bürger Türnows. Er darf mit den Honoratioren am Tisch sitzen und Skat spielen. Dem Gutsherrn, dem Bürgermeister und Doktor Goldstein, dem jüdischen Arzt. Sie spielen zu viert. Der Geber setzt aus.

Sie spielen täglich; verfügen alle über ein Übermaß an Zeit. Zumindest tun sie so.

Eines Tages kommt Otto aus dem Wirtshaus nach Hause. »Elfriede«, ruft er und zeigt auf die Wände ringsherum, »was siehst du?«

Elfriede kennt Otto und seine Fragen, weiß, dass sie mit einem Künstler verheiratet ist. Geduldig antwortet sie: »Ich sehe die Mauern des großen Hauses.«

»Und was siehst du hier?« Otto deutet auf einen unscheinbaren weißen Zettel in seiner Hand.

»Einen nicht ganz sauberen weißen Zettel, mein Lieber.«

»Das ist richtig und falsch zugleich«, schmettert Otto. »Dieses unschuldige Stück Papier ist ein Schuldschein. Unterschrieben von Doktor Goldstein. Von nun an besitzen wir nicht nur das große, sondern auch ein kleines Haus. Ich habe es beim Skat gewonnen!« Er räuspert sich. »Wir haben vorübergehend die Einsätze erhöht.«

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Im Herbst rücken auf den abgeernteten Feldern die Stoppelgänse an. Die Bauern treiben ihr Federvieh auf die Äcker, wo es die übriggebliebenen Körner pickt. Martha weiß, die meisten Weidegänse werden in wenigen Monaten als Weihnachtsbraten oder Spickbrust enden. Sie selber isst nicht viel Fleisch; ihr Lieblingsessen sind Wruken.

Otto und die Musiker verziehen das Gesicht, sobald die hellen Knollen auf den Tisch kommen. Aber Elfriede bleibt eisern – einmal in der Woche gibt es Steckrüben. Als Beilage oder Hauptgericht; als Gemüse, Suppe und manchmal sogar gemahlen als selbstgebackenes Brot. Ihr Haushaltsbuch ist ihre Bibel. Noch nie hat sie ihren Gatten um zusätzliches Geld bitten müssen.

Marthas Augen strahlen, sobald sie die in dicke Stifte oder Würfel geschnittenen Rüben entdecken. Auch Wolfgang isst mit Appetit. Er mag gar kein Fleisch. Und keine Eier. Außerdem meidet er Wolle.

Er erklärt Otto und den anderen, einer der berühmtesten Musiker der Antike sei Orpheus gewesen. Er habe seinen Schülern Erlösung durch Reinigung und Askese versprochen.

»Das ist gut«, antwortet Otto, »aber hat er deshalb Wruken essen müssen?«

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Im Herbst werden nicht nur die Gänse auf die Felder getrieben. Für die Erstklässler beginnt die zweite Hälfte des Schuljahres. Nach den Osterferien haben sie stolz ihre neuen Ranzen aufgeschnallt, sich an den Händen gefasst und eine Kette gebildet – quer über die Straße. Sobald ein Fuhrwerk vorbeigekommen ist, sind sie auf dessen Ladefläche auf- und wenige Meter weiter wieder von ihr abgesprungen. Wenn sie eines Automobils ansichtig geworden sind, haben sie in die Hände geklatscht und laut »Oooh!« gerufen.

Es sind deutlich mehr Fuhrwerke als Automobile auf der staubigen Straße an ihnen vorbeigerattert.

Mit Hilfe ihrer Fibel hat Martha in den zurückliegenden Monaten die meisten Buchstaben und ein wenig lesen und schreiben gelernt. Papier und Bleistift sind ihr ohnehin vertraut.

Zahllose musikalische Mitschriften legen Zeugnis davon ab.

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Lehrer Pauels hat sein Bein im Krieg verloren. Erstaunt hört Martha, dass deutsche Soldaten gemeinsam mit anderen Truppen gegen störrische Boxer gekämpft haben. Pauels deutet mit seinem Gehstock auf einen Punkt auf dem großen hölzernen Globus. »Da liegt es nun und verrottet!« Ein Tier scheint ihm ins Auge geraten; er reibt es heftig.

Martha weiß nicht, wo da ist, traut sich aber nicht zu fragen.

Als Nächstes zieht Lehrer Pauels eine gewaltige Landkarte vor der Tafel herunter. Braun, grün, blau. Mit Hilfe seines Stockes zeigt er seinen Schützlingen die Heimat.

»Hier wohnen wir, im Land am Meer.«

Martha hat das Meer noch nie gesehen. Sie wird zu Hause danach fragen. Die Schiefertafeln quietschen, als die älteren Schüler zehnmal schreiben: Ich wohne im Land am Meer.

Danach steht Rechnen auf dem Stundenplan. Die Großen in der letzten Reihe lösen Textaufgaben. »Ein Bauer hat vierzig Hühner. Jedes von ihnen legt pro Tag ein Ei …«

Martha und die anderen Kleinen ziehen ab. Sie sagen nicht »weniger« oder »minus«. Sie sagen »ab«: »Vier ab zwei ist zwei.«

Martha mag Rechnen. Sie kann gut mit Zahlen umgehen. Sie erinnern sie an die geheimnisvollen Zeichen in der Musik, die sie zu Hause, im Proberaum, zu Papier bringt. Sie staunt, als Lehrer Pauels jetzt an die Tafel schreibt: Zwei ab eins ist null.

Diesmal reibt er sich durch beide Augen. Ein weiteres Tier?

Er schnäuzt sich in sein dünnes, bereits ein wenig angegriffenes Taschentuch.

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In der Schule wird gesungen. Alle singen, von der ersten bis zur achten Klasse. Gemischter Chor, ob Stimmbruch oder nicht.

Martha bekommt einen Brief mit nach Hause. Es gehe nicht an, schreibt Lehrer Pauels, dass die Tochter des Herrn Musikdirektors kein Volkslied singen könne. Gerade!, fügt er, sicherheitshalber mit einem Ausrufezeichen versehen, hinzu.

Otto ruft Martha zu sich. »Es geht nicht an«, sagt er, »dass mein Marthchen kein Volkslied singen kann. Gerade!«, fügt er, sicherheitshalber mit einem Ausrufezeichen versehen, hinzu.

Martha nickt.

Sie freut sich, als Otto erklärt, er werde von nun an mit ihr üben.

Sie gehen in den Proberaum, wo der staubige Holzboden und eine versprengte Herde Notenständer auf sie warten.

Otto setzt sich ans Klavier. »Zuerst die Tonhöhe«, doziert er mit gewichtiger Miene. Er drückt eine weiße Taste. Ein Ton erklingt. »Und nun aufgepasst!« Er drückt eine andere Taste. »Höher oder tiefer?«

Martha blickt ihn fragend an.

»Höher oder tiefer?«, fragt Otto mit Musikdirektorenstimme.

Martha versucht es mit: »Höher?«

»Noch einmal«, sagt Otto. Wieder drückt er zwei Tasten hintereinander. »Welcher der beiden Töne ist höher, Marthchen? Der erste oder der zweite?«

Diesmal entscheidet Martha sich für: »Der erste?«

»Nun ja, knapp daneben ist auch vorbei!« Otto besinnt sich auf seine pädagogischen Fähigkeiten. »Wir versuchen etwas anderes.« Er drückt drei Tasten gleichzeitig. »Klingt dieser Akkord eher traurig oder fröhlich?«

Martha findet es grundsätzlich schön, wenn Musik gemacht wird, und antwortet: »Fröhlich!«

Otto räuspert sich. »Zweiter Versuch. Fröhlich oder traurig?«

Martha bemerkt den Ausdruck in seinen Augen. »Traurig?«

Otto versieht sie mit einem tapferen Lächeln. »Du hast recht, Marthchen. Was ist schon ein Halbton unter Freunden?«

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Otto fragt Elfriede um Rat.

Allein daran spürt sie seine Not.

Neben ihr im Bett liegend, spricht er ungewohnt leise. »Niemand ist so unmusikalisch. Schon gar nicht die Tochter eines Musikdirektors. Was ist zu tun?«

Elfriede denkt nach, ihr Blick geht nach innen. »Wolfgang fragen?«, schlägt sie in sanftem Ton vor. »Er hat viel gesehen und sieht immer noch viel.«

»Recht hast du, Weib!« Die gewohnte Energie kehrt in Ottos Stimme zurück. »Wer die Mongolen kennt, kommt auch mit den Frauen zurecht. Selbst wenn sie noch klein sind.«

Elfriede schätzt Otto. Über alle Maßen. Dennoch ist sie froh, dass es im Schlafzimmer dunkel ist. So kann er ihr Gesicht nicht sehen.

Ihr Seufzen hört er ohnehin nicht.

Egal, ob hell oder dunkel.

□△

Wolfgang sitzt am Klavier. Ausnahmsweise nicht mit dem Rücken zur Kapelle, sondern zu Martha. Er schlägt eine Taste an.

»Was hörst du?«

»Musik.«

Wolfgang lächelt. »Ein guter Anfang.« Er schlägt eine weitere Taste an. »Und was fühlst du?«

»Es ist schön.«

Wolfgang oktaviert den Ton. »Merkst du einen Unterschied?«

»Er ist kleiner.«

»Wie bitte?«

»Der zweite Ton ist kleiner als der erste.«

»Woher weißt du das?«

»Das sieht doch jeder …«

Wolfgang runzelt die Stirn.

»… dass der zweite Ton kleiner ist als der erste.«

Wolfgang oktaviert erneut nach oben. »Und jetzt?«

»Noch viel kleiner.«

Er drückt eine Taste ganz weit links, im tiefen Register. »Groß?«

Martha lächelt. »Riesig!«

Wolfgangs Blick wandert in die Ferne. Auf seinen Reisen ist er Menschen begegnet, die Musik in Farben gesehen haben. Er schlägt ein C an. »Welche Farbe?«

»Nicht so wichtig …«

Schade. Es wäre interessant gewesen.

»… aber auf jeden Fall rund.«

»Was sagst du da?«

»Du hast einen Kreis gespielt.«


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