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DIE 100 BEDEUTENDSTEN ENTDECKER

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Jacques Cartier

Jacques Cartier

DIE ENTDECKUNG KANADAS

Aus dem Französischen und Englischen übersetzt von Alexandra Maria Linder und Niels-Arne Münch

Herausgegeben und eingeleitet von Udo Sautter

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Und so wird es Euch gefallen, dies Buch zu betrachten, in dem in reichhaltiger Weise alle Dinge enthalten sind, die es würdig sind, festgehalten zu werden. Dinge, die wir auf der genannten Seereise und bei unserem Aufenthalt in den Euch genannten Ländern und Landschaften gesehen haben und die uns begegnet sind.

Jacques Cartier

INHALT

EINLEITUNG

von Udo Sautter

ERSTE REISE

Bericht über die Reise, die Kapitän Jacques Cartier im Jahr 1534 nach Kanada unternommen hat

ZWEITE REISE

Kurzer Bericht und knappe Erzählung der 1535 und 1536 von Kapitän Jacques Cartier durchgeführten Seereise

DRITTE REISE

Kapitän Jacques Cartiers dritte Entdeckungsreise im Jahre 1540

Die Reise des Jean-François de La Rocque de Roberval

ZEITTAFEL

AUSWAHLBIBLIOGRAPHIE

ABBILDUNGSNACHWEIS

EINLEITUNG

I. DER HISTORISCHE KONTEXT

Mitte der 1530er Jahre entdeckte der Bretone Jacques Cartier an der nordamerikanischen Küste den Sankt-Lorenz-Golf und fuhr als erster Europäer den Sankt-Lorenz-Strom hinauf und stieß damit bis tief ins Innere des nordamerikanischen Kontinents hinein. Auf insgesamt drei Reisen, über die zum Teil sehr detaillierte Berichte angefertigt wurden, sammelte er Erkenntnisse über Geographie, Fauna und Flora des Landes, die uns heute anders nicht erhältliche Einsichten in dessen damaligen Zustand vermitteln. Wie kam es hierzu?

Um die Gründe und Voraussetzungen für Cartiers Unternehmung zu verstehen, ist es hilfreich, sich einige Gegebenheiten im Europa des ausgehenden 15. Jahrhunderts ins Gedächtnis zu rufen. Unter anderem hatten der Hundertjährige Krieg, die schwarze Pest oder die Flagellanten die Bevölkerung in weiten Strichen traumatisiert. Wirtschaftliche Entwicklung, einsetzende Verstädterung und anderes mehr brachten die Vorahnung mächtiger Staaten und Fürsten.

In Frankreich war ein Aspekt dieser Entwicklung der Kampf zwischen dem Haus Valois und dem Herzogtum Burgund, der schließlich 1477 durch die Eliminierung Karls des Kühnen zum Vorteil der französischen Krone entschieden wurde. In England gingen 1485 die Tudor aus dem Gemetzel der Rosenkriege siegreich hervor; und in Spanien vollendete Ferdinand von Aragon 1492 die Reconquista mit der endgültigen Vertreibung der letzten Mauren von der iberischen Halbinsel. Die Renaissance hatte nun in Europa freies Feld.

Die Wirren jener Jahrzehnte stellten Vieles in Frage.

Nationalität wurde ein Unterscheidungsmerkmal. Vorrangstellungen, die bis jetzt unhinterfragt akzeptiert worden waren, wurden nun angefochten. Die Verbreitung des Buches nach der Erfindung des Buchdrucks löste Diskussion aus. Die Kirche konnte ihr Dogma nicht mehr unbestritten vertreten, und schließlich spaltete sich die Christenheit in zwei einander wenig versöhnlich gegenüber stehende Blöcke. Noch einige Jahrzehnte zuvor hatte in strittigen Fragen die Entscheidung Roms genügt; jetzt mussten Erfahrung und Vernunft jene Aussagen beweisen, die seit alters wiederholt worden waren und nicht zuletzt einem christianisierten Aristoteles zugeschrieben wurden.

Die Bourgeoisie suchte sich schließlich durchzusetzen gegenüber einem Adel, dessen Privilegien nicht mehr den geleisteten Diensten entsprachen. Es gelang ihr umso besser, als damals eine außerordentliche wirtschaftlich-geographische Entwicklung stattfand, deren hauptsächliche Nutznießerin sie wurde.

Die Kreuzzüge hatten den Warenverkehr zwischen Europa und Asien anwachsen lassen, sehr zum Profit einiger italienischer Meeresanrainer. Allerdings zog der letztliche Misserfolg der Kreuzzüge dann einen plötzlichen Mangel an den asiatischen Produkten nach sich, an die sich Europa inzwischen gewöhnt hatte. Die Einnahme Konstantinopels 1453 durch die Türken verstärkte diese Knappheit.

Man musste somit einen neuen Weg finden, um zu den fabelhaften Traumländern Cathay (China) und Cipango (Japan) zu gelangen. Als erste Möglichkeit bot es sich an, Afrika zu umschiffen, um nach Indien zu kommen. Portugal lag hierfür am günstigsten. Prinz Heinrich der Seefahrer forcierte die Reihe der Expeditionen nach Süden, die schließlich 1498 zur Ankunft Vascos da Gamas in Calicut an der indischen Malabarküste führten.

Die Suche nach diesem Weg hatte sich als lang erwiesen, und auch dieser selbst erforderte gewaltige Mittel. Bestünde nicht andererseits auch Aussicht auf Erfolg, wenn man sich schlicht nach Westen wandte? Schon Platon hatte im Timaios von einem dortigen ehemaligen Kontinent gesprochen. Schreiber wie Ptolemäus oder noch im 15. Jahrhundert der französische Kardinal Pierre d’Ailly in seiner Imago Mundi hatten an Land im Westen glauben wollen.

Die Westfahrt der Wikinger um das Jahr 1000 war unter anderen Voraussetzungen erfolgt und Episode geblieben. Ähnlich verhielt es sich auch noch mit den Zügen der Fischer, deren Gegenwart im Sankt-Lorenz-Golf von der Mitte des 15. Jahrhunderts an bezeugt ist. Vor allem aus Frankreich kommend, aber auch aus England, Spanien und Portugal, interessierten sie sich nur für die dortigen reichen Kabeljau- und Lachsvorkommen. Die Fischausbeute war ihr Anliegen, nicht Erkundung des Territoriums oder gar eine Landnahme.

Von diesen früheren Aktivitäten wusste Kolumbus ohnehin kaum etwas oder nichts, als er 1492 in den Bahamas Land betrat. Zwar wurde sein Irrtum zu glauben, in Indien zu sein, allmählich aufgeklärt. Aber seine Entdeckung der Karibik konnte doch als Bestätigung der Existenz eines Westwegs nach Asien verstanden werden, und eine Legion von Abenteurern und Konquistatoren begab sich nach ihm auf die Suche nach dem letzten Abschnitt der Route zu den Ländern der Gewürze, der Seiden und Juwelen. Der Portugiese Ferdinand Magellan setzte 1519 zur Weltumrundung an und fand dabei den Weg um Südamerika herum.

Gleichzeitig erwies sich die von Kolumbus gefundene Region als außerordentlich rentabel für die spanische Entdeckermacht, und vielleicht gab es auch in der westlichen Hemisphäre noch mehr zu entdecken? Da Spanien fortan die Karibik und ihre Umgegend beherrschte, suchten andere europäische Monarchen weiter außerhalb ihre Chance. Konnten Goldländer nicht auch im Norden des amerikanischen Kontinents existieren? Wenn die amerikanische, nun von Florida bis Feuerland erforschte Kontinentalbarriere eine Öffnung im Süden besaß, warum sollte dann im Norden nicht auch eine ähnliche zu finden sein? Sie mochte sich sogar als sehr profitträchtig herausstellen, wenn ihr Kap keine so unendliche Fahrt wie das von Magellan umfahrene erforderte.

Der englische König Heinrich VII., Sieger in den Rosenkriegen, beauftragte daher den Italiener Giovanni Caboto, einen Weg durch den amerikanischen Nordwesten zu finden. 1497 erreichte dieser ein nicht mehr zu bestimmendes Territorium, wohl Neufundland, Labrador oder die Prinz-Eduard-Insel. Eine zweite Reise führte zu keinem uns bekannten Ergebnis. Sich anschließende britische Versuche, dem Glück im Norden Amerikas nachzuspüren, so diejenigen Frobishers, Davis’, Hudsons oder Baffins, brauchen uns hier nicht weiter zu interessieren.

Näher kamen andere der dann von Cartier erkundeten Region. Der misslungene Versuch Cabotos ärgerte Portugal, da man in Lissabon glaubte, Anspruch auf das von Caboto bereiste Gebiet zu haben. Im Abkommen von Tordesillas, geschlossen auf Betreiben Papst Alexanders VI., hatte Portugal 1494 alle Ländereien östlich einer etwa am 46. Längengrad (West) verlaufenden Linie zugesprochen bekommen und Spanien die hiervon westlich gelegenen. Nach (geographisch falscher) portugiesischer Auffassung hatte daher Caboto mit seinen Reisen portugiesische Belange gefährdet. Um auf jeden Fall zu retten, was zu retten war, segelten daher 1500 und 1501 die portugiesischen Brüder Gaspar und Miguel Corte Real über den Atlantik und fuhren an Labrador, Neufundland und Neuschottland entlang. Sie kamen allerdings nicht mehr zurück. Ein anderer Portugiese, João Álvares Fagundes, unternahm 1520-1521 verschiedene Expeditionen nach Neufundland und Neuschottland, hinterließ dabei aber keine bleibenden Spuren. Nach diesen Misserfolgen konzentrierte sich Portugal auf seine Interessen anderwärts.

Die Entwicklung der spanischen Kolonien und ebenso die von Magellan gefundene Route faszinierten auch den französischen König Franz I. 1524 segelte der Italiener Giovanni da Verrazano in französischem Auftrag die Atlantikküste von North Carolina bis Neuschottland und Neufundland entlang, um eine Route in Richtung Pazifik zu finden. Erfolg hatte er hierin nicht, aber er ergänzte immerhin die geographische Kenntnis der befahrenen Küsten. Franz I. war danach mehr denn je überzeugt, dass eine Durchfahrt nach Westen existieren müsse.

Franz’ I. Missgeschick bei Pavia 1525 und die anschließende Gefangenschaft in Madrid hinderten ihn zunächst, seine Idee weiter zu verfolgen. Auch galt es vorerst noch, das durch den Vertrag von Tordesillas aufgeworfene Problem zu klären. Rechtlich fühlte sich der französische König durch denselben zwar nicht gebunden, aber angesichts der spanischen Macht erschien es ihm doch ratsam, hier Klarheit zu schaffen. Die Gelegenheit kam schließlich im Oktober 1533, als Papst Clemens VII. bei einem Besuch in Marseille versicherte, dass die in Tordesillas getroffene Regelung nur die damals schon bekannten Kontinente beträfe und nicht die später von anderen Mächten noch entdeckten. Solchermaßen abgesichert konnte die inzwischen angepeilte nächste Expedition nach Übersee ohne Bedenken unternommen werden.

II. JACQUES CARTIER

Der Entschluss des französischen Hofes zu einer weiteren Erkundungsreise nach Nordamerika reifte ab 1532, zumal man zuversichtlich sein konnte, mit dem Bretonen Jacques Cartier einen brauchbaren Expeditionsleiter gefunden zu haben. Heute ist über dessen Leben von seiner Geburt bis zum Antritt seiner ersten hier vorgestellten Reise im Jahre 1534 nicht mehr viel bekannt. Geboren wurde er in Saint-Malo, einer wohlhabenden Hafenstadt an der Kanalküste der Bretagne. Jahrhundertelang hatten Fischfang, Schiffsbau und auch Piraterie zum Aufschwung der Stadt beigetragen. Seefahrt lag ihren Söhnen im Blut. Cartiers Taufakte ist nicht auf uns gekommen, und im Register der Stadt Saint-Malo fehlen die Angaben von 1472 bis 1494. Manche Indizien deuten jedoch auf 1491 als sein Geburtsjahr hin. Während seiner Jugend, so ist wohl anzunehmen, absolvierte er, wie weithin üblich in seiner Heimatstadt, eine Lehre als Schiffsjunge und Matrose.

Anfang April 1520 jedenfalls heiratete Cartier die junge Catherine des Granches, eine Tochter aus vornehmer Familie, was seine gesellschaftliche Stellung beträchtlich gehoben haben muss. Mancherlei Zeugnisse finden sich für Cartiers Bemühen daraufhin, seine Geltung in seiner Umgebung zu pflegen und zu mehren. Er fungierte vielfach als Pate, war Mitglied der distinguierten Confrérie de Saint-Jean-Baptiste und interessierte sich für Rechtsfragen, weshalb er häufig als Zeuge oder Geschworener vor Gericht erschien.

Kein Dokument informiert uns über Cartiers Werdegang zum Schiffskapitän. Doch er muss eine entsprechende Ausbildung genossen haben, denn sonst hätte man ihn nicht 1534 mit der Leitung der Nordamerikaexpedition betraut. Gelegentlich trifft man auf die Annahme, dass er an den Expeditionen Verrazanos teilgenommen hat, als dieser in den 1520er Jahren die Ostküste Nordamerikas abfuhr. Als Hinweis hierauf könnte dienen, dass man den Aufenthalt Cartiers während der Reisen Verrazanos nicht kennt und auch, dass er auf seinen eigenen Erkundungsfahrten dort ankam in Nordamerika, wo Verrazanos Reisen endeten. Doch dies sind reine Spekulationen. Cartier kann sich in den 1520er Jahren durchaus auch leicht irgendwo anders aufgehalten haben. Außerdem hatte Verrazano seine Heimatbasis in Dieppe in der Normandie, und es fällt schwer anzunehmen, dass sich der Bretone Cartier damals in die Dienste normannischer Reeder begeben hätte. Und weder wird Verrazano in den Berichten über Cartiers Reisen erwähnt, noch taucht der Name des letzteren in den Verlautbarungen des ersteren auf.

Mehrere Historiker vertreten die Ansicht, dass Cartier in den 1520er Jahren vermutlich auf einem der Fischerboote nach Neufundland fuhr, da die Bänke um die Insel ja schon seit Jahrzehnten von baskischen und bretonischen Kabeljaufischern besucht wurden. Manche meinen auch, dass er möglicherweise an einer der Explorationsreisen an die brasilianische Küste teilnahm, finden sich doch in den Berichten über seine Reisen Vergleiche mit den Indianern Neufrankreichs und Brasiliens; und er beherrschte zumindest einigermaßen das Portugiesische, denn nachdem er sich zur Ruhe setzte, agierte er bei mehreren Gelegenheiten als Dolmetscher.

Wie immer er auch seine seefahrerische Expertise erworben hatte, anfangs der 1530er Jahre muss Cartier einen soliden Ruf als gut ausgebildeter und fähiger Schiffsführer genossen haben. Als solchen stellte ihn 1532 Jean Le Veneur, Abt des Benediktinerklosters Mont Saint-Michel und Bischof von Lisieux, dem französischen König Franz I. bei dessen Pilgerbesuch in dem Kloster vor und pries ihn als einen Mann, der zur Leitung einer Expedition zur Erkundung von Ländern in der Neuen Welt befähigt sei. Der künftige Kardinal bot sogar an, notfalls selbst einen Teil der Mittel bereitzustellen. Dass dieses Vertrauen gerechtfertigt war, bewies Cartier in der Folge sichtbar genug. Er wusste seine Schiffe adäquat auszurüsten, segelte monatelang ohne Schaden für dieselben in bekannten und unerforschten Gewässern, und er besuchte dabei als erster über drei Dutzend hafenartige Buchten mit möglicherweise unbekannten Klippen und Untiefen.

III. DIE REISEN

Erste Reise

Franz I. zeigte sich jedenfalls willens, Cartier mit der geplanten Reise zu beauftragen. Das Dokument mit dem entsprechenden Text wurde bisher nicht aufgefunden, aber eine erhaltene Order des Königs aus dem März 1534 klärt auf über den Sinn des Unternehmens. Es gelte, heißt es darin, „zu entdecken gewisse Inseln und Länder, von denen gesagt wird, dass man dort große Quantität von Gold und anderen wertvollen Dingen findet“. Im Bericht über die zweite Reise ist später noch von einem weiteren Zweck die Rede: Man bemühte sich, eine Route nach Asien ausfindig zu machen. Ob darüber hinaus auch noch der Missionsgedanke eine Rolle spielte, wie manchmal angenommen wird, lässt sich weder belegen noch verneinen. Ein Indiz, dass solches zumindest nicht im Vordergrund stand, kann aber wohl darin gesehen werden, dass die Schiffsbesatzungen augenscheinlich keine Priester zählten.

Cartier stach von Saint-Malo aus am 20. April 1534 mit zwei Schiffen und 61 Mann in See. Gutes Wetter verhalf zu einer kurzen Überquerung des Atlantik, und schon nach 20 Tagen befand man sich vor Neufundland. Die Fahrt der Küste entlang nach Norden führte an bereits bekannten, mit Namen versehenen Plätzen vorbei. Dann segelte Cartier durch die Meerenge von Belle-Isle in den Sankt-Lorenz-Golf. Nach etwa 15 Kilometern kam er zu dem Brest genannten Hafen, wo sich sommers die Kabeljaufischer mit Wasser und Holz bevorrateten. Weitere 150 Kilometer westlich der Belle-Isle traf er auf ein Schiff aus La Rochelle, das sich verirrt hatte und dem er den Weg in den Atlantik zeigen konnte. Bis dahin war Cartiers Expedition noch nicht in unbekanntem Gebiet angekommen. Doch er vergab bereits freizügig Namen an prominente geographische Punkte, von denen heute noch der eine oder andere Bestand hat, so etwa der des Hafens Saint-Antoine (Saint Anthony) oder später diejenigen der Île de Brion oder des Cap du Dauphin. Für die felsige, unfruchtbare Gegend, die er nun sah, hatte der Bretone nur souveräne Missachtung übrig. Sie erschien ihm als „das Land, das Gott Kain gegeben hat“.

Vom 15. Juni an fuhren die zwei Schiffe in unbekannte Gewässer ein und folgten nun der Westküste Neufundlands nach Süden. Hierbei fanden sie nicht viel von Interesse außer Fische im Überfluss: In weniger als einer Stunde zog eine der Schiffsbesatzungen mehr als hundert Kabeljaue an Bord. In der Gegend der Meerenge zwischen Neufundland und der Prinz-Eduard-Insel, heute Cabot-Straße genannt, erahnte Cartier, dass dies eine Durchfahrt zum Atlantik war. Doch er verfolgte diesen Gedanken nicht weiter, sondern drehte nun vielmehr nach Westen.

Die Fahrtrichtung nun dem Zufall überlassend, traf Cartier auf Inseln, deren Vegetation er im Vergleich mit derjenigen auf Neufundland recht üppig fand. Auf der eben genannten Île de Brion errichtete er möglicherweise ein Kreuz, und am 26. Juni erreichte er die Magdalenen-Inseln, hielt sie allerdings irrtümlicherweise für den Beginn des Festlandes. Drei Tage später tauchte ein anderes Land am Horizont auf, das sich bei näherer Inspektion offensichtlich „besten Klimas … und großer Wärme“ erfreute. Es war die Prinz-Eduard-Insel; ihr Inselcharakter blieb ihm allerdings verborgen.

Bei der Weiterfahrt öffneten sich Buchten, die anfangs eine Möglichkeit für ein Durchstoßen nach Asien erwarten ließen. Sie verengten sich jedoch bald und schlossen sich endlich vor den Hineinfahrenden. Paradebeispiel hierfür war die Chaleur-Bucht, deren Südspitze Cartier den Namen Cap d’Espérance verlieh „in der Hoffnung, dass wir dort die Passage finden“. Fünf Tage lang, vom 4. bis zum 9. Juli, fuhr man die Küste methodisch ab, nur um letzten Endes die Vergeblichkeit dieser Bemühung einsehen zu müssen.

Aber schließlich ereignete sich Verwertbares. Man nahm Verbindung auf zu einer Gruppe von Ureinwohnern, was sich auf die Dauer als durchaus nützlich erwies. Es waren nicht die ersten Indianer, die Cartier und seine Mannschaft zu Gesicht bekamen. Am 12. oder 13. Juni hatten sie im „Land Kains“ einige erblickt. Etliche „mit Tierfellen bedeckte Wilde“ waren aus dem Inneren Neufundlands gekommen, um an der Küste zu fischen; es handelte sich wohl um Angehörige des inzwischen verschwundenen Algonkin-Volks der Beothuk. Anderen Indianern, vermutlich Micmac, war man an der Küste der Prinz-Eduard-Insel begegnet. In keinem Falle zeigten sich die Indianer sehr erstaunt über das Auftauchen der Weißen. Begegnungen mit Europäern waren ihnen offensichtlich nichts Neues. Hierauf deutete auch ihre willige Bereitschaft hin, Pelze und Lebensmittel gegen europäische Gegenstände einzutauschen.

Im Juli kam es zu einer noch wesentlich folgenreicheren Begegnung. Bei der Gaspé-Halbinsel traf man auf Irokesen, die in großer Zahl von ihren stromaufwärts gelegenen Wohngebieten gekommen waren, um hier ihrem Jahresfischfang nachzugehen. Wohl zweihundert Indianer fuhren in vierzig Kanus an die in der Gaspé-Bucht ankernden französischen Schiffe heran. Sie akzeptierten freudig kleine Geschenke, und bei Tänzen und ausgelassener Stimmung schloss man eine Art Allianz. Am 24. Juli ließ Cartier daraufhin seine Mannschaft nahe der Ostspitze der Gaspé-Halbinsel ein fast zehn Meter hohes Holzkreuz aufrichten und mit dem Wappen des Königreichs Frankreich versehen. Kreuze, die er früher hatte aufstellen lassen, waren hauptsächlich als Orientierungspunkte gedacht gewesen. Nun aber war das Kreuz höher und bedeutungsvoller, wie auch die feierliche Einweihung erkennen ließ. Sie bedeutete die Besitznahme des Landes im Namen des französischen Königs. Die Irokesen schienen die Dreistigkeit dieses Vorgehens zu erahnen. Sie protestierten, woraufhin Cartier sie mit der Versicherung zu beruhigen bemühte, dass es sich auch hier nur um die Aufstellung einer Orientierungsmarkierung handele.

Cartier trieb seine Unverfrorenheit sogar noch weiter. Mit einem Trick brachte er den Häuptling Donnacona dazu, an Bord des Schiffes zu steigen. Dort überredete er ihn, ihm seine beiden Söhne nach Frankreich mitzugeben, damit sie zu Dolmetschern ausgebildet werden konnten. Dies gelang. In gutem Einvernehmen schied man danach voneinander, und die Schiffe verließen am 25. Juli die Bucht.

Die französischen Schiffe hätten nun nach Westen drehen können, was ihnen die Entdeckung des Sankt-Lorenz-Stromes beschert hätte. Doch Cartier vermutete, dass der Raum zwischen der Gaspésie und der Anticosti-Insel nur eine weitere Bucht darstellt und wandte sich deshalb wieder nach Osten. Er fuhr um die Südspitze von Anticosti herum, das er für eine Halbinsel hielt, und dann entlang des Nordufers. Noch einmal war er ganz nahe der Entdeckung des Stromes, doch schlechtes Wetter nahm ihm Mut und Laune. So wendete er vor dem Ende der Insel nach Norden und folgte dann der Küste Labradors ostwärts. Nach einer Begegnung mit Montagnais-Indianern fuhr er schließlich wieder auf Neufundland zu und begann von dort am 15. August die Rückreise.

Cartier hatte als erster Europäer die Küsten des Sankt-Lorenz-Golfs abgefahren. Es ist natürlich möglich, dass Caboto, einer oder beide der Brüder Corte-Real oder Fagundes den Golf sahen. Aber dokumentarische Hinweise hierauf haben sich nicht erhalten. Cartier jedoch zeichnete die Karte des Golfs und sah Teile des Hinterlands. Sicherlich blieben seine geographischen Kenntnisse beschränkt: Er erkannte die Möglichkeit der Durchfahrt zwischen Neufundland und der Cap-Breton-Insel nicht; er hielt die Magdalenen-Inseln für das Festland; und er nahm den aus dem Inneren kommenden Sankt-Lorenz-Strom nicht wahr. Für ihn besaß der Golf nur einen einzigen sicheren Ausgang, nämlich die Enge zwischen Neufundland und Labrador bei Belle-Isle, und möglicherweise einen anderen nördlich der Anticosti-Insel. Letzteren zu prüfen hatte er jedoch nicht die Muße gefunden.

Aber trotz solcher Einschränkungen konnte man insgesamt von gutem Erfolg sprechen. Die Entdeckung des Golfes, der Beginn der Erkundung eines neuen Landes, eine Art Allianz mit den aus dem westlichen Inneren kommenden Ureinwohnern, die künftige Hilfe durch zwei kommende Dolmetscher — all dies rechtfertigte offensichtlich eine weitere Expedition, und dies, obwohl Cartier noch gar keine edlen Metalle oder Mineralien gefunden hatte. Am 5. September 1534 nach Saint-Malo zurückgekehrt, erhielt er deshalb schon am 30. Oktober einen neuen Explorationsauftrag, um seine Entdeckung zu gutem Ende zu führen.

Jacques Cartiers erste Expedition 1534

(1491-1557)

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Zweite Reise

Bei der ersten Reise im Jahre 1534 hatte Cartier zwei Schiffe. Nun verfügte er über drei, die Grande Hermine, die Petite Hermine und die kleine Émerillon, mit zusammen 110 Mann Besatzung, darunter einige Noble sowie Verwandte von ihm und seiner Frau. Auch hier wissen wir nicht, ob Geistliche mitkamen; das zweimal auftretende Wort »Dom« vor anderen Vornamen könnte auf solche hindeuten, war dies doch damals eine Bezeichnung für Weltpriester; aber es könnte auch die Abkürzung für Dominique gewesen sein. Gelegentlich ist auch vage vom Lesen einer Messe die Rede. So gut wie sicher ist jedenfalls, dass auch diesmal eine missionarische Absicht nicht im Vordergrund stand, denn sonst wäre dies bei Beauftragung und Berichterstattung zweifellos prominent erwähnt worden. So war das Reiseziel essentiell das Gleiche wie bei der ersten Reise.

Am 19. Mai 1535 startete die zweite Expedition, wiederum von Saint-Malo aus. Die Überfahrt dauerte bei widrigem Wetter mit 50 Tagen diesmal beträchtlich länger. Die drei Schiffe verloren einander wegen der schlechten Segelbedingungen, doch vereinigten sie sich wieder am 26. Juli in der Enge der Belle-Isle. Am 10. August fuhr man in eine kleine Bucht an der Küste gegenüber der Anticosti-Insel ein, und Cartier benannte sie nach dem heiligen Lorenz, dessen Namenstag man gerade beging. Dies war das erste Mal, dass Cartier Lorenz in einem Ortsnamen verwandte. In der Nähe, beim heutigen Natashquan, ließ er wieder ein Kreuz aufrichten zur Wegmarkierung. Auf einen Hinweis seiner beiden jungen indianischen Führer hin erreichten die Schiffe am 15. August einen entscheidenden Punkt, an dem sich Cartier die Geographie des zu erkundenden Landes endlich erschloss. Er sah, dass hier „der Weg und der Beginn des großen Stroms von Hochelaga und der Weg nach Kanada“ waren. Die Franzosen fuhren nun in den Sankt-Lorenz-Strom ein. Die Ufer kamen einander näher, und das bisher salzige Wasser wurde allmählich süß. Wie die Urbewohner sagten, strömte es von so weit her, dass nach aller Erinnerung noch kein Mensch seine Quelle jemals gesehen hatte. Cartier erkannte hier nun endlich die Passage nach Westen, die er so lange gesucht hatte.

Stromaufwärts fahrend, bemerkten die Franzosen zur Rechten einen tiefen und rasch in den Sankt-Lorenz strömenden Fluss, den Saguenay. Dieser war nach Aussage der jungen indianischen Führer der Weg zum Königreich Saguenay, wo Kupfer und, wie Donnacona später flunkerte, noch ganz andere wundervolle Dinge zu finden seien. Am 7. September erreichten die Schiffe die Inselgruppe mit der Hauptinsel d’Orléans, was, wie man Cartier bedeutete, „der Beginn des Landes Kanada“ war. Schiffsbesatzung und Indianer feierten, und Cartier wählte als Ankerplatz eine Stelle aufwärts der Mündung des Flusses Sainte-Croix (des heutigen Saint-Charles). Gegenüber erhob sich das Kap Stadacona, an dessen Fuß Donnaconas Ortschaft Stadacona am Wasser lag (und sich heute die Altstadt von Quebec City befindet).

Nach dem Wiedersehensgelage mit den Indianern wollte Cartier sich den Sankt-Lorenz-Strom hinauf zum vielgepriesenen Hochelaga begeben, aber man ließ ihn nicht ohne weiteres abreisen. Ganz offensichtlich wollte Donnacona das Monopol des sich allmählich entwickelnden Handels für Stadacona sichern und dadurch Hochelagas Einfluss drosseln. Die Franzosen wurden beschenkt, und man inszenierte allerhand Zauberei. Doch Cartier fuhr unbeeindruckt am 19. September mit einem Teil seiner Mannschaft auf der kleinen Émerillon weiter stromaufwärts, bis sich die Wasserfläche meilenweit zu einem See (heute Lac-Saint-Pierre) verbreiterte. Das Wasser wurde seicht, und man musste in die Boote umsteigen. Etwa 30 Leute kamen am 2. Oktober in Hochelaga an.

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Karte von Hochelaga aus dem Jahre 1556