Für Leonie & Taneeh
Best friends are the therapists you can drink with.
Thea
Thea saß am Tresen, während ihre Finger auf das glatt polierte Holz trommelten. Ihr Blick lag finster auf dem Bildschirm hinter der Bar. Die Abendnachrichten liefen und gezeigt wurde niemand Geringeres als Mr Thomas Clark. Medienmogul, Unternehmer und seit heute ein freier Mann. Thea fügte dieser Liste gedanklich noch die Worte Arschloch, Heuchler und Mörder hinzu. Missmutig verzog sie das Gesicht.
Thea blickte auf, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte. Sie begegnete den vertrauten Augen von Cassidy, die sie mitleidig ansah. »Thea, es tut mir so leid. Dieser Mistkerl sollte im Knast verrotten und nicht von der Presse für seinen unverdienten Sieg gefeiert werden.«
Thea nickte knapp. »Das sahen die Geschworenen offenbar anders.«
Ihre Stimme klang heiser, als sie sich zwang ihre unvergossenen Tränen und die unbändige Wut, die in ihr schlummerte, zurückzuhalten. Zu gerne hätte sie jetzt getobt und gebrüllt, aber wenn sie ehrlich war, hatte Thea mit diesem Prozessausgang gerechnet. Der Staatsanwalt hatte ihr zwar versichert, dass er für die Verurteilung von Clark alles in seiner Macht Stehende tun werde, aber auch er konnte nichts gegen die Eliteanwälte der Verteidigung und bestochene Geschworene ausrichten. Ihr als Nebenklägerin waren die Hände gebunden gewesen. Ihr Anwalt hatte ihr sogar nahegelegt gar nicht erst an der Verhandlung teilzunehmen. Nach langem Überlegen war Thea diesem Ratschlag gefolgt. Und nun stand sie hier und sah Clarks triumphierendes Grinsen auf dem Fernsehbildschirm.
Dieser Mann hatte ihre Eltern getötet, ihre gemeinsame Zukunft geraubt und Thea mit einem Schicksal zurückgelassen, das keine Neunzehnjährige tragen sollte. Statt dafür ins Gefängnis zu kommen, so wie Clark es verdient hätte, hatte er nur eine horrende Geldstrafe zahlen sowie alle Verhandlungskosten übernehmen müssen. In Theas Augen war das weit entfernt von einer gerechten Bestrafung.
Ihr wurde übel und sie überlegte, ob sie ihre Schicht im Devels nicht absagen und stattdessen nach Hause in ihr Bett gehen, ihr Gesicht in die Kissen drücken und den Tränen der vergangenen Wochen freien Lauf lassen sollte. Das schmerzende Gefühl in ihrer Brust sprach für diese Idee und wenn sie sich nicht dem Monatsende nähern würden, wäre sie diesem Drang schon längst nachgegangen. Doch Thea hatte Rechnungen, die bezahlt werden wollten.
Anstatt also nach Hause zu laufen und sich hinter verschlossenen Türen zu verstecken, drückte Thea den Rücken durch. Sie zwang sich ein Lächeln aufs Gesicht, mit dem sie hoffte nicht so verzweifelt auszusehen, wie sie sich in Wahrheit fühlte, und nahm ein Tablett mit Longdrinks von der Barkeeperin entgegen. Heute war nicht der Tag, an dem sie zerbrechen würde. Nicht heute. Das sagte sie sich seit Wochen. Dieses Mantra allein hatte sie an manchen Tagen davon abgehalten.
Es war gerade einmal zehn Uhr abends, aber im Devels – dem derzeit angesagtesten Club in Los Angeles – spielte die Zeit keine Rolle. Das Devels war ein Ort des Luxus. Betrat man den Club, fühlte man sich, als würde man zur High Society von L. A. gehören, selbst wenn man nur eine gewöhnliche Studentin oder Kellnerin war.
Durch einen Flur, dessen Wände goldenes Mosaik zierte, in dem sich gedämmtes Licht spiegelte, gelangte jeder Gast in den großen Hauptraum. Eine Empore bot einen Ausblick über das Geschehen: Springende Körper tummelten sich auf der Tanzfläche und unzählige Gäste standen in kleinen Gruppen zusammen. Links und rechts von der Empore führten zwei Treppen hinunter auf die Ebene der Bar und des Dancefloors. Sitzgruppen, bestehend aus cremefarbenen Ledersofas, luden zum Verweilen ein und boten die Möglichkeit, sich die Tänzerinnen in Ruhe anzusehen, die auf einer kleinen Bühne ihre Show vorführten.
Das Devels erinnerte Thea an einen Burlesque-Club im alten Hollywoodflair, gemischt mit modernen Akzenten. Da gab es zum Beispiel die großen Retro-Glühbirnen, die an der Wand gegenüber der Bühne angebracht worden waren. Der Name des Clubs strahlte jedem Gast von dort aus entgegen. Thea arbeitete zwar erst seit wenigen Wochen hier – seit sie selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen musste und das Geld dringend brauchte –, dennoch hatte die lebhafte Atmosphäre sie direkt in ihren Bann gezogen.
Sie balancierte das Tablett mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit zu einer der Sofagruppen, an denen gerade ein Junggesellenabschied gefeiert wurde. Der arme Bräutigam trug ein T-Shirt bedruckt mit Penissen, während seinen Begleitern Jeans und Hemd gestattet waren. Als die Männer sie erblickten, grölten sie laut. Thea tat ihr Bestes, um die Getränke nicht zu verschütten und halbwegs freundlich zu wirken, auch wenn ihr ganz anders zumute war.
»Sag mal …«, begann einer der Männer und gaffte ihr dabei ungeniert auf die Brüste, über denen ihr Namensschild angebracht war. »Thea, uns wurde gesagt, dass es hier eine heiße Show gebe. Stimmt das?«
Scheinbar kamen diese Männer nicht aus Los Angeles. Denn inzwischen wusste hier jeder, dass das Devels für seine aufreizenden Tanzeinlagen bekannt war. Mit hochgezogener Augenbraue musterte Thea die Gruppe. Vermutlich kamen sie aus einem der unzähligen Vororte, vielleicht Rossmoor oder Topanga. Ortschaften, in denen das Nachtleben nicht mit dem von Downtown L. A. zu vergleichen war. Viele kamen für eine oder auch mehrere Nächte in die Stadt, um mal richtig einen draufzumachen.
»Das stimmt«, sagte Thea betont freundlich. »Wir sind kein Stripclub, falls ihr das denkt, aber Ausziehen ist bei Tracy und ihren Mädels auch unnötig. Sie heizen der Menge auch ein, ohne alle Hüllen fallen zu lassen.« Thea zwinkerte in die Runde. Erneut wurde lauthals gegrölt. »Allerdings müsst ihr euch noch etwas gedulden, die Auftritte kommen erst später.«
Thea nahm die Kreditkarte des Trauzeugen entgegen und steckte sie in ihr Lesegerät. Dieser Abend würde die Jungs einiges kosten, aber ihr konnte es nur recht sein.
»Lust auf eine weitere Runde? Immerhin müsst ihr irgendwie die Wartezeit überbrücken.«
Feixend sah Thea die Jungs an. Es würde leicht werden, diese Männer abzufüllen. Und betrunkene Kerle gaben mit Abstand das beste Trinkgeld. Eine ganz einfache Regel. Alkohol plus nackte Haut plus ein freundliches Lächeln ergab viel Extrakohle, was eine glückliche Thea und einen weiteren Monat Miete bedeutete.
»Wie wäre es mit Shots?«, fragte sie mit zuckersüßer Stimme. Thea sah in die Runde der Männer und erntete heftiges Nicken. Sie verteilte die Longdrinks und nahm das Tablett wieder an sich. »Dann also Shots. Bin gleich wieder da.«
Auf ihrem Weg zur Bar hörte sie die Männer ausgelassen lachen. Schön, dass wenigsten die ihren Spaß hatten.
Thea legte das Tablett zurück auf den Tresen und atmete tief durch. Sie würde diesen Tag überstehen. Immer weitermachen, das war ihr Motto. Nichts und niemand würde sie davon abhalten, egal wie scheiße es ihr auch gehen mochte.
»Hey, Thea«, erklang eine melodische Stimme hinter ihr. Sie drehte sich um und erblickte Tracy. Die Tänzerin trug bereits ihr Kostüm für den bevorstehenden Auftritt: ein silbernes Glitzerkleid mit Fransen am Saum. Die Gäste standen auf diesen Look und auch Thea musste zugeben, dass Tracy und die anderen Tänzerinnen darin mehr als gut aussahen.
»Ich habe das mit dem Prozess eben auf Twitter gelesen. Scheiße, wie das gelaufen ist. Ich hoffe, irgendwann bekommt dieser Kerl, was er verdient.« Die hübsche Rothaarige lächelte ihr aufmunternd zu.
»Danke, Tracy. Das hoffe ich auch«, erwiderte Thea leise.
Inzwischen glaubte sie nicht mehr wirklich daran, dass der Mörder ihrer Eltern seine gerechte Strafe erhalten würde, aber insgeheim würde sie dieser Hoffnung wohl für immer nachjagen. Nur lagen Hoffnung und Wirklichkeit meilenweit auseinander und waren in der Realität leider nicht kompatibel. Zumindest nicht in Theas Welt.
»Wenn ich dir irgendwie helfen kann, dann sag Bescheid, ja?« Tracys Stimme klang ungewöhnlich sanft.
Es war seltsam. Sobald etwas Schlimmes im Leben geschah, bemerkten die Menschen erst, dass man existierte, nur um einen im nächsten Moment schon wieder zu vergessen. Im Grunde waren sie und Tracy keine Freundinnen. Arbeitskolleginnen, ja, aber darüber hinaus hatten sie bisher nicht viel miteinander zu tun gehabt. Die Tänzerinnen dieses Clubs beachteten die Bedienungen nur dann, wenn sie etwas zu trinken haben wollten. Ansonsten waren sie für sie unsichtbar. Hier gab es eine eindeutige Hierarchie, in der die Tänzerinnen sehr weit über den Kellnern standen, nur weil sie bei Weitem mehr verdienten und eine andere Aufmerksamkeit genossen.
»Mir geht’s gut, aber danke für das Angebot.«
Thea zwang sich zu einem Lächeln, das Tracy vermutlich gar nicht mehr sah, denn sie hatte sich bereits abgewandt und war gegangen. Was hätte sie auch sonst erwidern sollen? Eine Fremde um Hilfe zu bitten kam für Thea nicht infrage. Niemals würde sie ihre Sorgen und Probleme mit einer Frau besprechen, die sie kaum kannte. Auch wenn sie von Tracy mehr nackte Haut gesehen hatte als von den meisten Kerlen – zumindest in den letzten Monaten.
Für Dates oder Verabredungen im Allgemeinen hatte Thea nach dem Tod ihrer Eltern der Kopf gefehlt. Auch wenn Cassidy ihr geraten hatte, dass körperliche Nähe zu einem anderen Menschen ihr vielleicht helfen würde, hatte Thea sich auf nichts dergleichen einlassen können. Beerdigungsinstitute und Gerichtssäle waren nicht der richtige Ort, um einen Typen klarzumachen oder überhaupt erst kennenzulernen, es sei denn, man stand auf Nekrophilie. Bei der Arbeit fiel dieses Thema sowieso flach, auch wenn manche ihrer Kolleginnen das ganz anders sahen – allen voran Tracy. Sie flirtete auf Teufel komm raus mit jedem männlichen Gast. Für Thea war es schlichtweg keine Option, einen Kollegen oder Kunden zu daten. Arbeit und Privatleben gehörten für sie getrennt.
Thea strich sich ihre braunen Haare hinters Ohr. Sie waren gerade so lang, dass sie ihre Schultern berührten. Das schwarze, enge Oberteil, das ihre Brüste betonte, und die ebenso schwarzen Hotpants, die an ihr klebten wie eine zweite Haut, gehörten im Club zur Kleidervorschrift für Kellnerinnen. Genauso wie die Stilettos an ihren Füßen. Jedes Mal nach Schichtende war Thea froh diese Dinger wieder ausziehen zu können. Aber das Outfit brachte ihr gehöriges Trinkgeld ein, auf das sie nicht verzichten konnte. Zumindest nicht, wenn sie irgendwann vorhatte studieren zu gehen.
Sie lächelte Cassidy zu, die gerade dabei war, die Shots für den Junggesellenabschied zu füllen, die Thea zuvor bei ihr bestellt hatte. Cassidy war die einzige weibliche Barkeeperin im Devels und eine Meisterin ihres Fachs. Sie mixte Cocktails wie keine Zweite und Thea liebte es, nach ihrer Schicht gemeinsam mit ihr zu trinken, auch wenn beide es offiziell noch nicht durften. Im Devels interessierte sich keiner für ihr Alter, solange sie pünktlich zur Arbeit kamen und einen guten Job erledigten.
»Hier, bitte schön.« Cassidy reichte ihr das Tablett, welches Thea dankend entgegennahm. »Mach weiter so und du wirst heute Abend mehr Kohle verdienen als Tracy.«
Die blonde Barkeeperin zwinkerte ihr zu. Thea lachte, auch wenn sie das stark zu bezweifeln wagte. Niemand bekam mehr Trinkgeld als Tracy und das war auch in Ordnung so. Immerhin musste Thea nicht an einer Stange tanzen, damit zusätzliche Kohle auf ihrem Konto landete. Nicht dass sie das gekonnt hätte. Sie und Poledance passten absolut nicht zusammen. Sie hatte es vor einigen Jahren gemeinsam mit ein paar Freundinnen ausprobiert und war kläglich gescheitert. Wer hätte auch angenommen, dass man dafür Muskeln brauchte, und zwar nicht zu wenige? Thea jedenfalls nicht. Daher gab sie sich mit dem Kellnerjob zufrieden.
Cassidy wandte sich neuen Kunden zu, was Thea als Aufforderung sah, den Jungs endlich ihre Getränke zu bringen.
Als sie sich mit dem Tablett in der Hand umdrehte, stieß sie jedoch unerwartet mit einer verdammt breiten Schulter zusammen. Die Schnapsgläser kamen gefährlich ins Wanken und die bunten Inhalte drohten überzuschwappen. Während Thea versuchte das Tablett auszubalancieren, um nichts zu verschütten, kippte eines der kleinen Gläser über den Rand des Tabletts und sein Inhalt verteilte sich auf ihrem Shirt.
Thea stieß einen Fluch aus. Sie hatte nichts zum Wechseln dabei und würde nun den gesamten Abend mit einem eingesauten, klebrigen T-Shirt arbeiten müssen. Na super! Sie sah zu dem Mann hoch, den sie versehentlich angerempelt hatte. Was musste er sich auch direkt hinter sie stellen?
Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als er sich zu ihr umdrehte. Ihre Blicke trafen sich und das Erste, was Thea an ihm auffiel, waren seine faszinierenden Augen. Dieser Typ hatte so hellblaue Iriden, dass sie fast farblos wirkten. Unheimlich, wie aus einem Vampirroman, schoss es Thea durch den Kopf. Seine blonden Haare waren akkurat gestylt. Skeptisch schaute er auf sie herab.
»Du solltest aufpassen, wohin du läufst«, kam es barsch aus seinem Mund. Der Typ musterte sie von oben bis unten.
Thea schnaubte verärgert. Was war das denn für ein Arsch? Würde sie nicht das Tablett mit beiden Händen festhalten, hätte sie in diesem Moment empört die Arme in die Hüften gestemmt. So beschränkte sie sich lediglich auf einen bösen Blick.
»Und du solltest aufpassen, wie du mit anderen sprichst. Wäre schade, wenn man dich sofort als schnöseligen Idioten entlarven könnte«, gab sie mürrisch zurück. Heute sollte sich besser niemand mit ihr anlegen.
Die Lippen des Mannes hoben sich und Thea kam nicht umher ihn unter Beibehaltung ihrer finsteren Miene zu mustern. Er trug ein weißes Hemd, das wie maßgeschneidert an seinem Oberkörper saß. Dazu eine Anzughose und sehr teuer aussehende Schuhe. Ein angehender Geschäftsmann also. Die trieben sich an einem Freitagabend häufig im Devels herum.
»Das würde allerdings voraussetzen, dass ich ein schnöseliger Idiot bin.«
Seine seltsamen Augen ruhten unbeirrt auf ihr, was Thea mehr als seltsam fand. Sie hatte nicht vor hier eine Szene zu machen. Für gewöhnlich entschuldigte sie sich sofort bei den Gästen, wenn sie jemanden gestoßen oder angerempelt hatte. Das gehörte sich schließlich so. Aber dieser Kerl ging ihr mit seiner selbstgefälligen Art gehörig auf die Nerven. Wirklich schade, dass die Gutaussehenden sich immer als Idioten entpuppten.
»Mir scheint es jedenfalls so.«
Thea wusste nicht, was sie auf seine Aussage sonst noch erwidern sollte. Also schob sie sich samt Tablett an ihm vorbei, nicht ohne ihn noch mal empört anzufunkeln und leise zu schnauben. Mit schnellen Schritten ging sie zur Sofagruppe der feiernden Junggesellen, doch sie spürte die Blicke des Fremden im Nacken.
Los Angeles war voll von mysteriösen und absolut durchgeknallten Menschen. Thea versuchte diese Begegnung wieder zu vergessen, als sie den Männern ihre Schnäpse brachte. Sie scherzte noch kurz mit ihnen, bevor sie zurück an die Bar ging. Tracy war inzwischen mit ihren Mädels am Tanzen, sodass die Aufmerksamkeit der Gäste auf ihnen lag.
Jede von ihnen räkelte sich auf einem Caféstuhl. Gerade lagen sie mit dem Rücken auf der Sitzfläche, ihre Beine nach oben gestreckt und so weit gespreizt, dass Thea bereits Schmerzen beim Zusehen bekam. Die anderweitig fokussierte Aufmerksamkeit der Gäste war ihr in diesem Moment nur recht. So hatte sie Pause, wenn auch nur kurz.
Sie nippte gerade an einer Coke, als Hannah, eine Neue unter den Tänzerinnen, sich zu ihr gesellte.
»Wie kommt es, dass du nicht mittanzt?«, fragte Thea neugierig.
Hannah warf einen Blick über ihre Schulter und betrachtete die anderen Mädels auf der Bühne. »Wenn diese Nummer dran ist, brauchen sie uns Neue nicht. Wir könnten da vermutlich auch nicht mithalten.«
Sie nahm ein Glas vom Barkeeper entgegen, der sie freudestrahlend anlächelte. Hannah zwinkerte ihm zu. Die Tänzerin ließ ihren Blick durch den Raum schweifen und riss plötzlich die Augen auf.
»Ich fasse es nicht. Was hat sie doch für ein Glück.«
Thea folgte ihrem Blick und sah eine liebäugelnde Cassidy mit ebenjenem Kerl, mit dem sie selbst vor wenigen Minuten zusammengestoßen war.
Der blonde Typ lehnte lässig an der Wand seitlich der Bar, auf direktem Weg zur Bühne. In einer Hand ein Whiskyglas, die andere war in der Hosentasche vergraben. Cassidy warf gerade lachend die blonden Haare zurück und wirkte alles andere als schüchtern. Thea kannte die Gesten ihrer Freundin nur zu gut: das schiefe Lächeln, das Klimpern der Wimpern, das rein zufällige Berühren seines Arms. Ihre beste Freundin flirtete mit diesem Kerl, und das nicht gerade subtil.
»Du kennst den Typen?« Thea betrachtete Hannah, die gerade von ihrem Wasser trank, aber das Paar dabei nicht aus den Augen ließ.
»Ja und nein. Ich kenne nur die Geschichten über ihn. Sein Name ist Diamond Balcoin. Und wie man sieht ist er super heiß.«
Thea zog die Stirn kraus. Balcoin. Der Name sagte ihr etwas. Die Balcoins tauchten häufiger in den Nachrichten und dem Fernsehen auf. Sie waren eine der wohlhabendsten und mächtigsten Familien in Los Angeles, wenn sie sich nicht irrte. War ja klar, dass dieser Kerl aus vermögendem Hause kam, reicher Schnösel stand ihm förmlich auf die Stirn geschrieben.
»Und was will er hier?«, fragte Thea genervt.
Hannah fuhr zu ihr herum und sah sie mit großen Augen an.
»Wie, was will er hier? Den Balcoins gehört dieser Club. Sag bloß, das wusstest du nicht.«
Thea war vollkommen perplex. Nein, das hatte sie nicht gewusst. Woher auch? In ihrem Arbeitsvertrag stand das Devels als eigenständiges Unternehmen. Da war nicht mit einer Silbe der Name Balcoin erwähnt worden.
Hannah lachte leise. »Liebes, du hast keine Ahnung, wer diese Leute sind, oder?«
Theas wurde rot. »Doch, schon. Ihnen gehören haufenweise Immobilien und sie haben Aktienanteile bei den meisten Konzernen dieser Stadt.«
Das war aber auch schon alles, was Thea über diese Familie bekannt war. Es war das, was jeder über die Balcoins wusste. Unter dem belustigten Blick von Hannah kam Thea sich dämlich vor. Sie verkehrte nicht in solch hohen Kreisen, dass sie sich Gedanken über die Mitglieder der High Society machen musste. Sie war nur froh gewesen überhaupt so schnell eine Arbeitsstelle gefunden zu haben.
»Ihnen gehört Balcoin Traffic, das wohl umsatzstärkste Unternehmen der Stadt. Weißt du, was sie da tun?«
Thea zuckte mit den Schultern. »Nein, keine Ahnung. Hat vermutlich was mit Gastronomie zu tun, wenn ihnen ein Club gehört.«
Hannah belächelte sie nur. »Ihnen gehören auch eine Bank, ein Casino und eine Hotelkette und trotzdem sind sie weder Banker noch Spieler oder Hotelmanager. Nein, sie sollen dafür bekannt sein, dass sie ungeahnte Dinge ermöglichen können. Zumindest wenn man ihnen den richtigen Preis dafür zahlt.«
Die Stimme der Tänzerin hatte einen verschwörerischen Klang angenommen und Thea beugte sich neugierig in ihre Richtung.
»Was denn für Dinge?«
Eigentlich sollte es Thea nicht interessieren, immerhin hatte es nichts mit ihr zu tun, aber sie konnte sich die Frage nicht verkneifen.
Hannahs Augen blitzten auf. »Alles, was du dir vorstellen kannst.«
»Ich kann mir bei diesem Typen wirklich einiges vorstellen, doch nichts davon spricht für ihn«, presste Thea hervor. Für sie klang es viel mehr so, als würde dieser Kerl eine billige Show abziehen, um Frauen in sein Bett zu bekommen.
»Geht mir ähnlich. Ich habe jedenfalls gehört, dass sie ihren Kunden Gefallen gewähren. Mehr weiß ich auch nicht.«
Thea war nun mehr als verwirrt. Welche Art von Gefälligkeiten mochte dieses Unternehmen seinen Klienten erweisen? Für dieses Geschäft fehlte es Thea eindeutig an Vorstellungskraft.
»Sie ermöglichen Gefallen? Klingt ja fast wie bei der Mafia.«
»Das stimmt wohl. Erinnert mich auch daran.« Hannah zuckte mit den Schultern. »Ich habe einmal mitbekommen, wie Tracy von ihm gesprochen hat.«
Bei diesen Worten wurde sie hellhörig.
»Tracy kennt ihn?« Thea wusste nicht einmal, warum sie das gerade wunderte. Tracy schien jeden zu kennen, der sie im Leben weiterbringen konnte.
»Wenn ich es richtig verstanden habe, hat er ihr diesen Job verschafft. Diesen Job und einige Auftritte in bekannten Musikvideos. Sie hat dadurch enorm an Bekanntheit gewonnen.« Hannah zuckte wieder mit den Schultern, doch ihr Blick lag weiterhin auf Cassidy und ihrem Flirt.
»Auch das scheint mir wie eine billige Masche, um sie rumzukriegen.«
Die Tänzerin nickte entschieden. »Mit Sicherheit. Ich habe einige Gäste dabei belauscht, wie sie von ihm und seinen Fertigkeiten im Bett geschwärmt haben. Und er hängt jeden Abend mit einer anderen rum. Dieser Mann hat einen ganz schönen Verschleiß, was Frauen angeht.«
Thea starrte den mysteriösen Typen, der Cassidy gerade eine blonde Haarsträhne hinters Ohr schob, unverfroren an. Die Barkeeperin schien hin und weg von ihm zu sein. Und rein optisch konnte Thea ihr das nicht verdenken. Dieser Diamond sah – wenn man mal seinen offensichtlich bescheidenen Charakter außen vor ließ – wirklich gut aus. Groß, muskulös und auf eine gewisse Art durchtrieben.
»Ich frage mich, was Cassidy sich von ihm erhofft«, sagte Hannah leise.
Thea verzog das Gesicht. »Egal was es sein wird, es geht vermutlich mit Herpes einher.«
Hannah fing neben ihr an zu lachen. »Könnte durchaus passieren. Obwohl er vermutlich jeden Herpes dieser Welt wert wäre.«
In ihrem Blick lag etwas Träumerisches, während Thea nur skeptisch dreinschaute. Sie wagte das stark zu bezweifeln. Dennoch konnte sie ihren Blick nicht von ihrer Freundin und dem mysteriösen Typen abwenden, der angeblich einem Menschen jeden Gefallen seiner Wahl erweisen konnte.
Diamond
Die Nacht versprach erfolgreich zu werden. Ein Deal war bereits im Kasten und er war gerade im Begriff, einen weiteren einzugehen. Dieses Mal handelte es sich sogar um etwas Vernünftiges. Wie oft hatte Diamond schon Wünsche erfüllt, die mit Geld, Berühmtheit oder Macht einhergingen? Belangloser Unsinn, von dem nur einfach gestrickte Menschen träumten. Dieses Mal ging es erfrischenderweise um Bildung. Diamond war beinahe beeindruckt – aber auch nur beinahe.
»Stanford also?«, fragte er mit kehliger Stimme.
»Ja«, kam es prompt zurück.
Der Bass der Musik dröhnte in seinen Ohren, als Diamond Cassidy dabei zusah, wie sie sich auf die Unterlippe biss. Sie flirtete mit ihm, das war nicht schwer zu erkennen. Und Diamond tat erst gar nicht so, als würde es ihn kaltlassen. Wieso auch? Die Barkeeperin war hübsch. Und ganz offensichtlich klug. Warum sonst sollte sie nach Stanford gehen wollen oder auch nur die Chance sehen, an dieser Universität angenommen zu werden?
»Was ist das Problem?«, fragte er neugierig.
Er legte den Kopf schief und sah sie an. Cassidy strich sich den Pony aus der Stirn und wirkte bei seiner Frage genervt.
»Ich habe die Zusage bereits vor Wochen erhalten und auch ein Stipendium in Aussicht gehabt. Doch nun wurde das Stipendium zurückgezogen und allein kann ich mir die Studiengebühren nicht leisten.«
Diamond nickte. Welcher normale Mensch konnte sich schon ohne weitere Bedenken ein Studium in Stanford leisten? Nur jemand, der viel Geld besaß. So wie Diamond und seine Familie.
»Das, was du dir am meisten wünschst, ist also Geld?«
Es war ein einfacher Test. Er liebte es, seine Kunden vor einem Handel zu testen. Die meisten versagten, doch das war Diamond egal, denn so bekam er ein Gefühl für den jeweiligen Menschen. Er bekam so oder so, was er wollte.
Cassidy sah ihn stirnrunzelnd an und schüttelte dann den Kopf. »Nein, ich will das Stipendium, das mir versprochen wurde.«
Er lächelte vergnügt. Kluges Mädchen. Diese Cassidy gehörte nach Stanford, wenn sie jemandem wie ihm standhalten konnte. Das schafften nur die wenigsten Menschen. Besonders Frauen wurden in seiner Gegenwart schnell unvorsichtig. Die meisten fühlten sich zu ihm hingezogen und dies führte oftmals zu unbedachten Äußerungen.
»Das sollte kein Problem sein«, sagte Diamond leichthin.
Nein, nicht für ihn. Für ihn war das ein Kinderspiel. Ein verdammt leichter Auftrag, der ihn keine zwei Tage kosten würde. Es war eine schnelle Bearbeitung, und das bei dem gleichen Gehalt, denn so oder so würde ein weiteres Seelenfragment auf sein Konto fließen, ohne dass jemand Schaden nahm. Eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten und damit ein Deal ganz nach seinem Geschmack.
»Löst du die Probleme von anderen immer so schnell?«
Cassidy sah aus ihren blauen Augen mit den langen Wimpern zu ihm auf. Sie war eindeutig an mehr als seinen geschäftlichen Diensten interessiert. Und wenn Diamond ehrlich war, dann war auch er nicht abgeneigt. Wenn eine schöne Frau einem ihr Interesse schenkte, dann sagte ein Mann wie er nun einmal nicht Nein. So etwas gehörte sich schlicht und ergreifend nicht.
»Das hängt von dem Problem ab. Und meiner Motivation.«
Er grinste wie ein kleiner Junge. Nun musste er sie nur noch dazu kriegen, den Vertrag zu unterzeichnen. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.
»Bist du denn motiviert?«, fragte ihn Cassidy leise. Ein verführerischer Tonfall schwang deutlich in ihrer Frage mit.
»Sobald der Handel abgeschlossen ist, lautet die Antwort Ja.«
Cassidy kicherte und fuhr ihm mit der Hand über den Arm.
»Und wie läuft das ab? Was bekommst du als Gegenleistung? Ich meine, du hilfst mir doch nicht aus reiner Herzensgüte.«
Diamond lachte heiser. Nein, das tat er ganz bestimmt nicht. Das Wort Güte war ihm fremd. Hier ging es lediglich ums Geschäft. Doch die Frage nach der Gegenleistung missfiel ihm jedes Mal. Die meisten seiner Kunden nahmen ihren Teil der Abmachung auf die leichte Schulter. Dabei gaben sie Diamond mit ihrer Unterschrift einen Teil ihrer Seele. Nur ein winziges Stückchen. Für Menschen kaum der Rede wert, doch für jemanden wie ihn war dieses kleine Fragment sehr kostbar. Unbezahlbar, könnte man sagen, und unglaublich machtvoll.
»Tut mir leid, Liebes. Nicht einmal für dich würde ich einen Deal ohne Gegenleistung abschließen. Alles, was du dafür tun musst, ist mir einen Teil deiner Seele zu schenken – so verrückt das auch klingt.«
Er fuhr mit dem Daumen über den Rand seines Glases. Cassidy sah ihn irritiert an, ihr Blick folgte der Bewegung seines Fingers.
»Ist das dein Ernst? Meine Seele?«
Diamond seufzte, nickte dann aber. »Ich weiß, wie das klingt, aber keine Sorge: Ich bin weder Sektenmitglied noch ein religiöser Fanatiker. Und ich verarsche dich auch nicht.«
Sie sah ihn ungläubig an, doch Diamond störte sich nicht daran. Sie wäre dumm, träte sie ihm nach einer solchen Aussage nicht mit Misstrauen entgegen. Skepsis war die erste Reaktion, die einem die Menschen zeigten, wenn von ihrer Seele die Rede war. Doch dieser Argwohn verflog, sobald sie hörten, was Diamond ihnen ermöglichen konnte. Wen interessierten schon seine merkwürdigen Forderungen, wenn die Menschen heutzutage nicht einmal mehr daran glaubten, dass sie überhaupt im Besitz einer unsterblichen Seele waren? Da spielte es keine Rolle, einen Teil davon zu verkaufen.
»Und was willst du mit meiner Seele?«, fragte Cassidy belustigt.
Eine interessante Frage, die Diamond jedes Mal gestellt bekam und niemals mit der vollen Wahrheit beantworten konnte.
»Im Grunde genommen gar nichts. Zumindest wenn wir uns beide an den Handel halten. Erst wenn du es nicht tust, wird es interessant. Aber das wollen wir natürlich nicht hoffen.«
Dass allein dieser kleine Teil ihrer Seele ihm seine Macht und seine Kräfte sicherte und ihn noch dazu jung und stark hielt, konnte er ihr ja schlecht erzählen. Die Menschen der heutigen Zeit hatten den Glauben an das Übernatürliche längst verloren. Dank Buffy, Twilight oder wie sie alle hießen, betrachteten sie seinesgleichen viel mehr als Gegenstand der Fiktion.
Cassidy biss sich auf die Unterlippe. »Nehmen wir einmal an, ich glaube dir: Was passiert mit mir, sobald ich unterschrieben habe? Lande ich dann in der Hölle?«
Diamond fuhr sich mit der freien Hand über den Mund und schmunzelte.
»Nein, wirst du nicht. Es passiert rein gar nichts mit dir. Sobald du unterzeichnest, gehört ein Bruchteil deiner Seele Balcoin Traffic, doch dieser Teil ist so winzig, dass es dir nicht einmal auffallen wird. Du nimmst keinen Schaden dadurch. Im Gegenteil, denn du erhältst ja etwas dafür.«
Cassidy trat von einem Fuß auf den anderen und lachte dann verhalten.
»Irgendwie glaube ich dir das nicht. Das muss ein Scherz sein. Welche Firma handelt denn bitte mit Seelen?«
»Die meiner Familie. Und seien wir ehrlich, jeder in dieser Stadt kennt uns. Wie, denkst du, sind wir an die Spitze der Gesellschaft gelangt? Der Handel mit Seelen – ob man daran glaubt oder nicht – ist sehr lukrativ.«
Eine Seele war jedoch nicht gewinnbringend in Form von Geld. Sie glich vielmehr einer unersättlichen Energiequelle für seinesgleichen.
Diamond beobachtete die Barkeeperin dabei, wie sie mit gerunzelter Stirn zur Seite blickte. Er konnte spüren, wie sich ihre Gedanken überschlugen. Sie schien genauestens über seine Worte nachzudenken, das Für und Wider abzuwägen.
»Wenn du dafür sorgst, dass ich ab Herbst an der Stanford University studiere, soll mir alles recht sein. Dann kannst du sogar noch mehr haben als meine Seele.«
Ihr sexy Grinsen zeigte ihm deutlich, was dieses Mehr sein würde. Es war ein Angebot, das er nicht zu selten von weiblichen Kundinnen erhielt.
Er zog seine Karte aus der Hosentasche und reichte sie ihr. Die Visitenkarte war schwarz. Auf der einen Seite war das geschwungene B von Balcoin Traffic zu sehen, auf der anderen Seite standen sein Name und seine Handynummer. Sie würde ihn anrufen, das wusste er.
»Überleg es dir …«
Cassidy nickte. »Weißt du, als Tracy mir von dir und den Dingen, die du ermöglichen kannst, erzählt hat, hielt ich sie für verrückt, dabei hat sie mir den Teil mit den Seelen sogar verschwiegen.« Sie stieß ein unsicheres Lachen aus. »Doch sie wünschte sich eine Tanzkarriere und sieh sie dir an. Sie hat genau das bekommen, was sie haben wollte.«
Diamonds Blick wanderte zu Tracy. Ihre roten Locken flogen durch die Luft, als sie gemeinsam mit den anderen Mädchen auf der Bühne performte. Ihr Deal lag bereits einige Monate zurück, doch da sie im Club seiner Familie arbeitete, war sie ihm in Erinnerung geblieben. Sie und ihre Beweglichkeit. Die beiden hatten Spaß miteinander gehabt, doch eine solche Beziehung war nie von Dauer. Zumindest nicht für Diamond. Dass die Tänzerin Cassidy nichts von dem Teil des Deals erzählt hatte, bei dem es darum gegangen war, ein Fragment ihrer Seele aufzugeben, wunderte Diamond nicht. Immerhin sorgte er höchstpersönlich dafür, dass seine Kunden diesen Part des Handels wieder vergaßen, sobald sie den Vertrag unterschrieben hatten.
»Sie wollte Ruhm, Geld und die Möglichkeit zu tanzen. Und genau das hat sie bekommen.« Nicht mehr und nicht weniger. Die Verträge von Balcoin Traffic waren sehr deutlich und Diamond überschritt niemals die vorgeschriebenen Richtlinien. Auch er musste sich an den Handel halten. Für einen Menschen konnte der Bruch eines Deals sehr gefährlich werden.
»Ja, das hat sie. Und deswegen brauche ich auch keine Zeit, um darüber nachzudenken.« Cassidy griff nach dem Notizblock an ihrer Hüfte und kritzelte etwas darauf. Dann reichte sie ihm den Zettel. Name, Telefonnummer, Anschrift und eine E-Mail-Adresse standen darauf.
»Schick mir den Vertrag an die Adresse oder bring ihn persönlich vorbei. Ganz wie du möchtest. Ich arbeite heute bis spät in die Nacht, wenn du dann noch hier sein solltest, können wir auch nach meiner Schicht alles Weitere klären.«
Sie zwinkerte ihm zu, drehte sich um und lief mit wiegenden Hüften zurück zur Bar.
Diamond lehnte noch immer an der Wand, das Whiskyglas in der Hand. Zwei Deals an einem Abend. Das war eine gute Quote. Er würde den Wettstreit diesen Monat mit Sicherheit gewinnen, wenn er so weitermachte. Und Diamond liebte nichts mehr, als zu gewinnen. Besonders wenn es sich bei seinem Preis um mehr Macht, schöne Frauen und ihre Seelen handelte.
Thea
Als Thea zwei Tage später eine Stunde vor Eröffnung das Devels betrat, war die gesamte Mannschaft am Tresen versammelt. Partygirlanden, bunte Hüte und eine Torte standen darauf verteilt. Jeder ihrer Kollegen hielt ein Sektglas in der Hand und eine aufgeregte Cassidy wimmelte durch die Menge.
»Was ist denn hier los?«
Thea war neben Hannah stehen geblieben, die grinsend den Kopf schüttelte. Sie führte das Sektglas an die Lippen und nahm einen großzügigen Schluck.
»Wir feiern Cassidys Aufnahme in Stanford.«
Thea schlug sich die Hand vor den Mund und stieß ein überraschtes Keuchen aus. »Was? Aber ich dachte, das hätte sich erledigt.«
»Scheint wohl so, als könnte Balcoin Traffic wirklich Wünsche wahr werden lassen.«
Thea sah Hannah stirnrunzelnd an. »Glaubst du wirklich, dass die dabei ihre Finger im Spiel hatten?«
So richtig konnte Thea sich das nicht vorstellen. Vielleicht hatte Cassidys Tante doch zugestimmt die Studiengebühren zu übernehmen oder die Organisation, die ihr ursprünglich das Stipendium angeboten hatte, hatte ihr doch noch eine Zusage erteilt. Es gab Dutzende Möglichkeiten, wie Cassidy an diesen Studienplatz gelangt war. Das hieß noch lange nicht, dass ausgerechnet die Balcoins etwas damit zu tun haben mussten.
»Hältst du es für reinen Zufall, dass sie vor zwei Tagen mit Diamond Balcoin gesprochen hat und jetzt doch nach Stanford kann?«, fragte Hannah und warf ihr einen prüfenden Blick zu.
Thea runzelte die Stirn. Das war ein gutes Argument. Diese Familie verfügte vermutlich über ein Netzwerk, von dem die meisten nur träumen konnten.
Cassidy kam freudestrahlend auf sie zu und zog sie in ihre Arme. »Schön, dass du endlich da bist.« Sie reichte Thea ein Glas und prostete ihr zu.
»Wie kommt es, dass ich als Letzte von deiner Annahme in Stanford erfahre?« Thea war nicht sauer, ganz im Gegenteil, aber es wunderte sie doch, dass Cass sie nicht gleich angerufen hatte.
Doch die Blondine zuckte nur mit den Schultern. »Ich wollte es dir sofort sagen, als ich die Zusage bekommen habe, aber da waren so viele Formulare und Dokumente, die ich ausfüllen musste, da habe ich es verpennt. Tut mir leid.«
Ein Lächeln stahl sich auf Theas Gesicht. Sie konnte Cass ohnehin nicht lange böse sein.
»Meinen Glückwunsch, dass es doch noch geklappt hat.« Sie zog ihre Freundin erneut in eine Umarmung, die bereitwillig erwidert wurde.
»Ja, nicht wahr? Wer hätte das noch erwartet?« Das selige Grinsen auf ihrem Gesicht ließ bei Thea die Alarmglocken läuten.
»Wie kam es denn jetzt dazu?« Einen Versuch war es wert nachzufragen. Thea war neugierig und diese Neugierde wollte gestillt werden. Sie fuhr sich beiläufig durch die schulterlangen Haare und sah sich nach der Person um, der Balcoin Traffic bereits geholfen hatte. Tracy stand etwas abseits von ihren feiernden Kollegen und betrachtete ihre Fingernägel.
»Das glaubst du mir nie.« Cassidy warf lachend den Kopf in den Nacken.
Thea sah ihre Freundin erstaunt an. »Wieso nicht?«
Wenn sie bei Balcoin Traffic einen Vertrag eingegangen war, musste sie das doch nicht vor ihr verheimlichen. Was konnte dieses Unternehmen schon von ihr verlangt haben? Schlimmstenfalls hatte sie eine ihrer Nieren verkauft oder sich Herpes bei diesem Diamond eingefangen. Wobei Thea nicht wusste, was davon die weniger furchtbare Alternative wäre.
Cassidy zog sie zu einem der Barhocker und wies ihr an sich zu setzen.
»Vor zwei Tagen hat mich Tracy einem Typen vorgestellt. Sie sagte, er könne mir vielleicht bei meinen Problemen helfen.« Cassidy lachte, als würde sie sich an etwas Lustiges erinnern, bevor sie weitersprach. »Jedenfalls dachte ich, sie meinte meine Sexflaute, worüber wir noch am Tag zuvor gesprochen hatten. Und als sie mir dann den Kerl vorstellte, dachte ich wirklich, es ginge um Sex, immerhin sah der Typ unverschämt gut aus. Aber dem war nicht so.«
Thea neigte den Kopf zur Seite. So wie Cassidy diesen Kerl allem Anschein nach angegraben hatte, konnte sie sich nicht vorstellen, dass da gar nichts gelaufen war.
»Ich habe ihm von Stanford erzählt und dass ich ohne Stipendium das Studium vergessen könne. Noch am selben Abend habe ich einen Deal mit ihm abgeschlossen. Und siehe da, heute Morgen kam die Zusage für ein volles Stipendium.«
Thea musterte ihre Freundin eingehend. »Und was hat er im Gegenzug von dir verlangt?«
Genau in diesem Moment rauschten ihr Bilder von Cassidy und dem Balcoin-Sprössling durch den Kopf, wie sie sich gemeinsam in den Laken wälzten.
Cassidy lehnte sich weiter zu ihr vor. Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, während ihr Blick durch den Raum huschte, bevor er wieder auf Thea landete. »Ich schulde ihm laut Vertrag nun einen Gefallen seiner Wahl.«
Thea starrte Cassidy mit offenem Mund an. Sie blinzelte mehrmals, öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder. Das war doch jetzt ein Scherz, oder?
»Bist du verrückt, Cass?! Du kennst diesen Typen doch überhaupt nicht! Wie konntest du dich darauf einlassen?«
»Inzwischen kenne ich ihn schon etwas besser. Aber glaub mir, Thea, da ist nichts dabei. Es ist nur ein einfacher Gefallen, mehr nicht.«
Thea schnaubte. »Nur ein Gefallen? Dieser Kerl kann alles Mögliche von dir verlangen und du bist nun vertraglich dazu verpflichtet, ihm das zu gewähren!«
Es war absolut verrückt, wenn Thea ehrlich war. Wer ging denn einen Handel ein, bei dem man einem Wildfremden einen Gefallen schuldig war? In Theas Ohren klang das nicht nur leichtsinnig, sondern auch gefährlich. Sie war sich nicht sicher, ob Cassidy sich bewusst war, worauf sie sich da eingelassen hatte. Vermutlich handelte es sich bei diesem Vertrag um einen schlechten Witz und der Typ hatte ihre Freundin nur ins Bett bekommen wollen. Und weil sie so gut gewesen war, hatte er daraufhin seine Beziehungen spielen lassen.
»Ich weiß das alles, Thea. Das war nicht meine beste Idee, aber ich vertraue Diamond. Schau dir an, was passiert ist. Ich studiere ab Herbst in Stanford. Er hat seinen Teil des Deals eingehalten. Da ist es mir relativ egal, was er im Gegenzug von mir verlangen könnte.«
Thea biss sich auf die Unterlippe. Wie konnte ihr das egal sein? Diamond Balcoin hatte nun die Möglichkeit, alles von ihr einzufordern. Thea wollte sich lieber nicht vorstellen, um was es sich dabei handeln könnte. Eine gemeinsame Nacht? Ein Drogendeal? Oder doch eher Cassidys erstgeborenes Kind?
Balcoin Traffic mochte sich seinen Stand in der Gesellschaft durch Gefälligkeiten erkauft haben, allerdings wäre Thea bei einem solchen Deal vorsichtig. Man konnte nie wissen, worauf man sich da wirklich eingelassen hatte.
»Cass, bist du dir sicher, dass du diesem Kerl vertrauen kannst? Das wirkt alles etwas surreal auf mich.« Theas Stimme klang unsicher. Sie würde es ihrer Freundin wünschen, aber diese Geschichte klang doch zu schön, um wahr zu sein.
»Hast du den Kerl oder das Unternehmen wenigstens vorher gegoogelt?« Nicht dass das wirklich etwas geändert hätte, aber es würde Thea zu einem gewissen Grad beruhigen.
Cassidy legte die Stirn in Falten. »Nein, ich habe ihn nicht gegoogelt. Weshalb auch? Jeder in L. A. kennt Balcoin Traffic.«
Da mochte sie recht haben, aber Thea biss sich dennoch auf die Unterlippe. Ihr waren dieses Thema und der Typ keinesfalls geheuer.
Cass stieß ein Seufzen aus. »Was hat dein Vater immer gesagt? Glaube nicht alles, was dein Auge sieht. Auch Zucker und Salz sehen auf den ersten Blick gleich aus.« Sie zwinkerte Thea zu, doch das nahm ihr nicht ihre Sorgen. »Hör auf immer nur das Salz zu sehen. Zucker schmeckt viel besser.«
Ja, das waren die Worte ihres Vaters. Es war seine Einstellung gewesen, wenn er einen neuen schwierigen Fall erhalten hatte, den das Jugendamt schon abschreiben wollte. Ihr Vater hatte immer an zweite Chancen geglaubt.
Stellte sich nur die Frage, was dieser Diamond für Cassidy war.
Die Erinnerungen an ihren Vater sorgten dafür, dass Thea an den Prozess und Clark denken musste. Dieser Mann war wieder auf freiem Fuß, obwohl Thea sich geschworen hatte ihn seiner gerechten Strafe zuzuführen. Was wäre, wenn die Lösung des Problems ihr gerade auf einem Silbertablett geliefert worden war? Der Gedanke, dass Balcoin Traffic womöglich auch ihr helfen konnte, ließ Theas Herz vor Aufregung höherschlagen und ihre Hände feucht werden. Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar.
»Cass, glaubst du …?« Sie traute sich kaum die Frage laut auszusprechen, doch das war auch gar nicht nötig.
»Ja«, unterbrach Cassidy sie sofort.
Erstaunt sah Thea zu ihrer Freundin auf, die sie mit ernster Miene betrachtete.
»Ich habe doch noch gar keine Frage gestellt. Woher willst du wissen, um was es geht?«
Cassidy schnalzte mit der Zunge, warf die blonden Haare zurück und nahm daraufhin einen großzügigen Schluck ihres Sekts.
»Meine liebe Thea, ich bin doch nicht blöd. Du willst mich entweder fragen, ob Balcoin Traffic auch bei deinem Problem die Lösung sein könnte, oder das ist dir bereits bewusst und du möchtest mich lediglich um den Kontakt bitten. In beiden Fällen wäre die Antwort Ja.«
Thea schluckte. »Glaubst du wirklich, er kann mir helfen?« Noch war sich Thea nicht sicher, ob sie eine solche Hilfe wirklich wollte. Ein Vertrag mit Balcoin Traffic war absurd. Auch wenn Cassidy keine Gefahr darin vermutet hatte, sah Thea das vollkommen anders. Sie wollte diesen Leuten keinen Gefallen schuldig sein, egal wie klein er auch sein mochte.
Die Blondine sah sie eindringlich an, bevor sie seufzte. »Grundlegend bin ich der Meinung, dass dieses Unternehmen bei allen Problemen die Lösung sein kann. Aber es kommt vermutlich darauf an, was du dir von einem Vertrag erhoffst. Was genau sollen sie für dich tun?«
Thea spürte Cassidys besorgten Blick auf sich ruhen, doch sie ignorierte ihn. Sie wusste nicht genau, um was sie Balcoin Traffic bitten sollte. Sie war wütend, verletzt und absolut allein. Balcoin Traffic konnte vielleicht Wünsche erfüllen, aber sie waren nicht allmächtig. Ihre Eltern konnten sie ihr nicht zurückbringen. Sie konnten ihr auch nicht dabei helfen herauszufinden, was Thea mit ihrem Leben anfangen sollte. Demnach blieben ihr noch folgende Möglichkeiten: Geld und Rache.
Zwei Wege, die sehr gefährlich sein konnten. Ihr Vater, der als Sozialarbeiter tätig gewesen war, hatte ihr immer eingebläut, dass der Pfad der Rache einsam und dunkel sei. Wer ihn einmal eingeschlagen hatte, verlor dabei nur sich selbst.
Sie hatte sich damals einen Anwalt gesucht, weil sie nicht gewollt hatte, dass Thomas Clark einer anderen Familie dasselbe antun konnte wie ihrer. Kein Kind sollte das durchmachen müssen, was sie in den letzten Monaten durchgestanden hatte. Schon gar nicht wegen eines Mistkerls wie Clark. Dieser Mann hatte es verdient, sein Leben hinter Gittern zu verbringen. Doch wo war er stattdessen? Wieder auf freiem Fuß, vielleicht um ein paar Millionen Dollar ärmer, doch bei seinem hohen Kontostand dürfte ihm das nicht einmal aufgefallen sein. Nein, dieser Mann verbrachte seine Tage seelenruhig in seiner Villa in Beverly Hills oder Malibu.
Und wo war sie? Um die Rechnungen des Anwalts zu begleichen und für die Beerdigung und ihren Lebensunterhalt zahlen zu können, hatte sie nach ihrem Highschoolabschluss angefangen zu arbeiten, anstatt irgendwo studieren zu gehen, wie alle ihrer Freundinnen es getan hatten. Nicht dass sie schon eine Universität, geschweige denn eine Fachrichtung ausgewählt hatte, aber Thomas Clark hatte ihr durch sein Handeln auch diese Entscheidung genommen.
»Ich will Gerechtigkeit«, sagte Thea dann mit fester Stimme. Sie spürte Cassidys Hand auf ihrem Unterarm.
»Bist du sicher, dass es Gerechtigkeit ist und keine Rache?«
Nein, da war sie sich nicht sicher. Der Pfad zwischen dem Wunsch nach Vergeltung und dem Verlangen nach Rache war schmal. Gefühle der Trauer und Wut waren noch zu stark in ihrem Herzen verankert, als dass Thea eine klare Entscheidung hätte treffen können.
»Er ist betrunken und vermutlich high Auto gefahren und hat meine Eltern getötet. Und was hat das Gericht entschieden? Er wurde für unzurechnungsfähig erklärt, weil er angeblich unter Depressionen leidet und ihm das Zeug, das er schluckt, irgendein Arzt verschrieben hat. Die Tatsache, dass er zwei Leben auf dem Gewissen hat, hat in diesem Gerichtssaal niemanden interessiert. Wer über das dickere Konto verfügt, gewinnt. Das hat Thomas Clark bewiesen.«
Thea hatte sich in Rage geredet. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt und ihre Fingernägel hinterließen halbmondförmige Abdrücke auf ihren Handflächen.
»Ich weiß, Thea, und ich widerspreche dir auch nicht. Ich habe mich nur gefragt, ob es nicht sinnvoller wäre, sich mit der Zukunft zu befassen, anstatt in der Vergangenheit zu schwelgen. Sie könnten dir die Schulden erlassen oder dir einen Job geben, der besser bezahlt wird als das Kellnern im Devels. Verstehst du, was ich meine?«