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Der Autor

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Thomas Fuchs, geb. 1958, Prof. Dr. med. Dr. phil., habilitiert in Psychiatrie und Philosophie, ist Karl-Jaspers-Professor für philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Heidelberg. Er ist Leiter der Sektion Phänomenologische Psychopathologie und Oberarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg, Präsident der Deutschen Gesellschaft für phänomenologische Anthropologie, Psychiatrie und Psychotherapie (DGAP) sowie Herausgeber der Zeitschrift »Psychopathology«. Seine Forschungsschwerpunkte bilden die phänomenologische Anthropologie, Psychologie und Psychopathologie, Theorien der Verkörperung und der Neurowissenschaften sowie zeit- und kulturdiagnostische Analysen.

Weitere Buchpublikationen u. a.:

 

•  Leib, Raum, Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie. Klett-Cotta, Stuttgart 2000.

•  Psychopathologie von Leib und Raum. Phänomenologisch-empirische Untersuchungen zu depressiven und paranoiden Erkrankungen. Steinkopff, Darmstadt 2000.

•  Zeit-Diagnosen. Philosophisch-psychiatrische Essays. Graue Edition, Kusterdingen 2002.

•  Leib und Lebenswelt. Neue philosophisch-psychiatrische Essays. Graue Edition, Kusterdingen 2008.

•  (hrsg. mit Lukas Iwer und Stefano Micali) Das überforderte Subjekt. Zeitdiagnosen einer beschleunigten Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt/M. 2018.

•  Randzonen der Erfahrung. Beiträge zur phänomenologischen Psychopathologie. Alber, Freiburg 2020

•  Verteidigung des Menschen. Grundfragen einer verkörperten Anthropologie. Suhrkamp, Frankfurt/M. 2020

Adresse:
Psychiatrische Universitätsklinik
Voßstr. 4
69115 Heidelberg
E-Mail: thomas.fuchs@urz.uni-heidelberg.de

Thomas Fuchs

Das Gehirn – ein Beziehungsorgan

Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption

6., erweiterte und aktualisierte Auflage

Verlag W. Kohlhammer

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6., aktualisierte und erweiterte Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-039464-3

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-039465-0

epub:     ISBN 978-3-17-039466-7

mobi:     ISBN 978-3-17-039467-4

Inhalt

 

 

 

  1. Vorwort
  2. Prolog
  3. Einleitung
  4. Umsturz der Lebenswelt
  5. Kampf um die Zitadelle
  6. Vom Kopf auf die Füße
  7. Teil A: Kritik des neurobiologischen Reduktionismus
  8. 1      Kosmos im Kopf?
  9. 1.1   Das idealistische Erbe der Hirnforschung
  10. 1.2   Erste Kritik: Verkörperte Wahrnehmung
  11. 1.2.1   Wahrnehmung und Selbstbewegung
  12. 1.2.2   Koextension von Leib und Körper
  13. 1.3   Zweite Kritik: Die Objektivität der phänomenalen Welt
  14. 1.3.1   Der Raum der Wahrnehmung
  15. 1.3.2   Die objektivierende Leistung der Wahrnehmung
  16. 1.4   Dritte Kritik: Die Realität der Farben
  17. 1.5   Zusammenfassung
  18. 2      Das Gehirn als Erbe des Subjekts?
  19. 2.1   Erste Kritik: Die Irreduzibilität von Subjektivität
  20. 2.1.1   Phänomenales Bewusstsein
  21. 2.1.2   Intentionalität
  22. 2.2   Zweite Kritik: Kategorienfehler
  23. 2.2.1   Mereologischer Fehlschluss
  24. 2.2.2   Lokalisatorischer Fehlschluss
  25. 2.3   Dritte Kritik: Ohnmächtiges Subjekt?
  26. 2.3.1   Die Einheit der Handlung
  27. 2.3.2   Die Rolle des Bewusstseins
  28. 2.4   Zusammenfassung: Der Primat der Lebenswelt
  29. Teil B: Gehirn – Leib – Person
  30. 3      Grundlagen: Subjektivität und Leben
  31. 3.1   Verkörperte Subjektivität
  32. 3.1.1   Der Leib als Subjekt
  33. 3.1.2   Der Doppelaspekt von Leib und Körper
  34. 3.1.3   Biologischer und personaler Doppelaspekt
  35. 3.2   Ökologische Biologie
  36. 3.2.1   Selbstorganisation und Autonomie
  37. 3.2.2   Austausch zwischen Organismus und Umwelt
  38. 3.2.3   Subjektivität
  39. 3.2.4   Zusammenfassung
  40. 3.3   Zirkuläre und integrale Kausalität von Lebewesen
  41. 3.3.1   Vertikale zirkuläre Kausalität
  42. 3.3.2   Horizontale zirkuläre Kausalität
  43. 3.3.3   Vermögen als Grundlage integraler Kausalität
  44. 3.3.4   Die Bildung von Vermögen durch das Leibgedächtnis
  45. 3.3.5   Zusammenfassung
  46. 4      Das Gehirn als Organ des Lebewesens
  47. 4.1   Das Gehirn im Organismus
  48. 4.1.1   Das innere Milieu
  49. 4.1.2   Das Lebensgefühl
  50. 4.1.3   Höhere Bewusstseinsstufen
  51. 4.1.4   Verkörperte Gefühle
  52. 4.1.5   Zusammenfassung
  53. 4.2   Die Einheit von Gehirn, Organismus und Umwelt
  54. 4.2.1   Lineare versus zirkuläre Organismus-Umwelt-Beziehung
  55. 4.2.2   Bewusstsein als Integral
  56. 4.2.3   Neuroplastizität und die Inkorporation von Erfahrung
  57. 4.2.4   Transformation und Transparenz: Das Gehirn als Resonanzorgan
  58. 4.2.5   Information, Repräsentation und Resonanz
  59. 4.2.6   Zusammenfassung: Vermittelte Unmittelbarkeit
  60. 5      Das Gehirn als Organ der Person
  61. 5.1   Primäre Intersubjektivität
  62. 5.1.1   Pränatale Entwicklung
  63. 5.1.2   Zwischenleiblichkeit und Interaffektivität
  64. 5.1.3   Zwischenleibliches Gedächtnis
  65. 5.2   Neurobiologische Grundlagen
  66. 5.2.1   Das Bindungssystem
  67. 5.2.2   Das soziale Resonanzsystem (»Spiegelneurone«)
  68. 5.3   Sekundäre Intersubjektivität
  69. 5.3.1   Die Neunmonatsrevolution
  70. 5.3.2   Der verkörperte Erwerb der Sprache
  71. 5.3.3   Ausblick: Sprache, Denken und Perspektivenübernahme
  72. 5.4   Zusammenfassung: Gehirn und Kultur
  73. 6      Der Doppelaspekt der Person
  74. 6.1   Mentales, Physisches und Lebendiges
  75. 6.2   Abgrenzung von Identitätstheorien
  76. 6.2.1   Das Problem der Einheit des Referenten
  77. 6.2.2   Diachrone Einheit der Subjektivität
  78. 6.3   Emergenz
  79. 6.3.1   Der Primat der Funktion
  80. 6.3.2   Zirkuläre Kausalität und Doppelaspekt
  81. 6.4   Schlussfolgerungen: Psychophysische Beziehungen
  82. 6.4.1   Intentionale und psychologische Bestimmung von physiologischen Prozessen
  83. 6.4.2   Verkörperte Freiheit
  84. 6.4.3   »Psychosomatische« und »somatopsychische« Zusammenhänge
  85. 6.5   Zusammenfassung
  86. 7      Konsequenzen für die psychologische Medizin
  87. 7.1   Neurobiologischer Reduktionismus in der Psychiatrie
  88. 7.2   Psychisches Kranksein als zirkuläres Geschehen
  89. 7.2.1   Vertikale Zirkularität
  90. 7.2.2   Horizontale Zirkularität
  91. 7.2.3   Zusammenfassung
  92. 7.3   Zirkuläre Kausalität in der Pathogenese
  93. 7.3.1   Ätiologie der Depression
  94. 7.3.2   Entwicklung von Vulnerabilität
  95. 7.3.3   Zusammenfassung
  96. 7.4   Zirkularität in der Therapie
  97. 7.4.1   Somatotherapie
  98. 7.4.2   Psychotherapie
  99. 7.4.3   Vergleich der Therapieansätze
  100. 7.5   Zusammenfassung: Die Rolle der Subjektivität
  101. 8      Schluss
  102. 8.1   Gehirn und Person
  103. 8.2   Die Reichweite neurobiologischer Erkenntnisse
  104. 8.3   Naturalistisches versus personalistisches Menschenbild
  105. Literatur
  106. Sachregister
  107. Personenregister

Vorwort

 

 

 

Dieses Buch entstand aus dem Bestreben, die Fortschritte der Hirnforschung in einen anthropologischen Zusammenhang zu stellen, der das Gehirn als ein Vermittlungsorgan für unsere leiblichen, seelischen und geistigen Beziehungen mit der Welt zu begreifen erlaubt – als Beziehungsorgan. Notwendig erschien mir dies insbesondere, um für das Fachgebiet der Psychiatrie und der psychologischen Medizin insgesamt eine theoretische Basis zu schaffen, von der aus reduktionistische Deutungen des Gehirns abgewiesen und durch subjektorientierte und ökologische Sichtweisen von Gehirn, Psyche und Sozialität ersetzt werden können. Wird das Gehirn von der Rolle des Weltschöpfers befreit, mit der es zweifellos überfordert ist, dann können wir seine faszinierenden Vermittlungsleistungen würdigen, ohne uns selbst, unser Erleben und Handeln nur noch als Output einer informationsverarbeitenden neuronalen Apparatur begreifen zu müssen.

Voraussetzung dafür ist allerdings, das Gehirn primär als eingebettet in den Organismus in seiner Umwelt aufzufassen. Dies wiederum macht es erforderlich, einen eigenständigen Begriff des Lebendigen wiederzugewinnen. Dass das Gehirn zunächst das Organ eines Lebewesens und nicht primär das Organ des Geistes ist, hat bislang kaum die erforderliche Beachtung gefunden. Auch die Lebenswissenschaften sind gegenwärtig weit davon entfernt, Leben als eigenständiges Phänomen zu erfassen. Erst unter dieser Voraussetzung aber gelingt es, den »Kurzschluss« von Gehirn und Geist zu überwinden, der reduktionistische Sichtweisen in der Medizin ebenso wie in anderen Fächern begünstigen muss. Dann erst kann das Gehirn auch als sozial, kulturell und geschichtlich geprägtes Organ betrachtet und in einer Kooperation von Natur-, Kultur- und Geisteswissenschaften weiter erforscht werden.

Methodisch beruht die vorliegende Untersuchung auf der Verbindung phänomenologischen Denkens mit Ansätzen der ökologischen Biologie, der Philosophie des Lebendigen und aktuellen Konzeptionen der Verkörperung und des Enaktivismus. Damit wird ein theoretischer Rahmen entworfen, in den die Erkenntnisse der Neurobiologie, aber auch der Entwicklungspsychologie und Psychiatrie eingebettet werden können. Inwieweit die Synthese so verschiedenartiger Ansätze geglückt ist, mag der Leser selbst beurteilen. In jedem Fall erscheint mir diese interdisziplinäre Auseinandersetzung heute notwendiger denn je, denn sie ist in der Lage, zu einem besseren Verständnis unserer selbst als gleichermaßen verkörperter, lebendiger und geistiger Wesen beizutragen.

Mein Dank gebührt zunächst Ruprecht Poensgen, Verlagsleiter im Kohlhammer Verlag, auf dessen Anregung die Idee zu diesem Buch zurückgeht, sowie dem Verlagslektor für Medizin, Dominik Rose. Für wertvolle Hinweise zu philosophischen Problemkreisen danke ich besonders Boris Wandruszka, Ulrich Diehl, Thomas Buchheim und Christian Tewes. Auch die Teilnehmer unseres langjährigen Heidelberger Seminars zu Philosophie und Psychiatrie, insbesondere der leider verstorbene Reiner Wiehl, haben mir in vielen Diskussionen zur Klärung wichtiger Fragen dieses Buches verholfen. Für die Anregungen, die auf die Erfahrungen mit unserer Heidelberger Mutter-Kind-Behandlungseinheit zurückgehen, danke ich dem Team der Station ›Jaspers‹ der Psychiatrischen Klinik, insbesondere Corinna Reck, die gemeinsam mit mir diese Behandlungseinheit aufgebaut hat. Danken möchte ich schließlich Christoph Mundt, dem früheren Direktor der Klinik, der mir durch eine vorübergehende Freistellung von den klinischen Aufgaben die Gelegenheit gab, mich dieser Arbeit widmen zu können. Ich hoffe meinerseits, dass sie auch weiterhin ihre Wirkung in der Psychiatrie und psychologischen Medizin nicht verfehlen wird.

Der größte Dank gebührt nach wie vor meiner Frau und meinen Kindern, die einen zeitweise von den Rätseln des menschlichen Gehirns allzusehr in Beschlag genommenen Ehemann und Vater geduldig ertragen haben.

Das Buch hat inzwischen auch in einer englischen Übersetzung (»Ecology of the Brain«, Oxford 2018) erfreulich weite Verbreitung gefunden. Für die nunmehr sechste Auflage wurde der Text erneut gründlich überarbeitet, aktualisiert und insbesondere um die Verkörperung von Emotionen und Analysen des Resonanz- und des Emergenzbegriffs erweitert.

Heidelberg, im September 2020

Thomas Fuchs

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Hans Baldung Grien, Holzschnitt aus: Omnium partium descriptio seu ut vocat anatomia, 1541

   Prolog

 

 

 

»Wüssten wir auch alles, was im Gehirn bei seiner Thätigkeit vorgeht, könnten wir alle chemischen, electrischen etc. Prozesse bis in ihr letztes Detail durchschauen – was nützte es? Alle Schwingungen und Vibrationen, alles Electrische und Mechanische ist doch immer noch kein Seelenzustand, kein Vorstellen.«

Wilhelm Griesinger1

 

In Gottfried Benns Erzählung »Gehirne« aus dem Jahr 1916 begegnen wir Dr. Rönne, einem jungen Arzt, der als Pathologe zwei Jahre lang Gehirne seziert hat. Diese Tätigkeit löst schließlich eine existenzielle Krise in ihm aus. Er verliert den Kontakt zur Wirklichkeit, und sein Grübeln kreist nur noch um die Objekte seiner Sektionen:

»Oft fing er etwas höhnisch an: er kenne diese fremden Gebilde, seine Hände hätten sie gehalten. Aber gleich verfiel er wieder: sie lebten in Gesetzen, die nicht von uns seien, und ihr Schicksal sei uns so fremd wie das eines Flusses, auf dem wir fahren. Und dann ganz erloschen, den Blick schon in der Nacht: um zwölf chemische Einheiten handele es sich, die zusammengetreten wären ohne sein Geheiß, und die sich trennen würden, ohne ihn zu fragen« (Benn 1950).

Die Erkenntnis, sich selbst einem solchen materiellen Gebilde zu verdanken, stürzt Rönne in eine radikale Selbstentfremdung: »Wo bin ich hingekommen? Wo bin ich? Ein kleines Flattern, ein Verwehen.« Er verliert den festen Boden seiner Existenz und verfällt am Ende in Wahnsinn:

»Was ist es denn mit den Gehirnen? Ich wollte immer auffliegen wie ein Vogel aus der Schlucht; nun lebe ich außen im Kristall. Aber nun geben Sie mir bitte den Weg frei, ich schwinge wieder – ich war so müde – auf Flügeln geht dieser Gang – mit meinem blauen Anemonenschwert – in Mittagsturz des Lichts – in Trümmern des Südens – in zerfallendem Gewölk – Zerstäubungen der Stirne – Entschweifungen der Schläfe«.

Die Krise des jungen Arztes resultiert aus einer existenziellen Paradoxie: Er selbst, der Beobachtende, Forschende und Denkende, scheint nichts weiter zu sein als das Objekt seiner Studien, nämlich ein Klumpen grauer Materie, die ihren eigenen Gesetzen folgt und mit der menschlichen Welt nichts zu tun hat. Und doch beruht Rönnes Krise letztlich nur auf einer Mystifikation, der er ebenso unterliegt wie viele Neurowissenschaftler heute: Denn es ist gar nicht das Gehirn, das denkt. Was Rönne in den Händen hält, oder was der Hirnforscher heute auf seinen Tomogrammen sieht, ist nicht der »Sitz der Seele«, nicht die Person selbst, ja nicht einmal ihr einziges Trägerorgan.

Diese Behauptung wird weithin auf Ungläubigkeit treffen. Ist denn nicht längst erwiesen, dass alles, was uns als Personen ausmacht, in den Strukturen und Funktionen des Gehirns besteht?2 – Nun, gewiss bestreitet niemand, dass das Gehirn inniger mit der Subjektivität und Personalität eines Menschen verknüpft ist als etwa seine Hand oder seine Milz – ohne diese wäre er immer noch die gleiche Person wie zuvor. Nach vollständigem Erlöschen aller Großhirnfunktionen jedoch würde er zwar noch leben, könnte aber nichts mehr erleben und sich in keiner Weise mehr zum Ausdruck bringen. Doch können wir deshalb eine Person mit ihrem Gehirn identifizieren?

Nun, was mich selbst betrifft, so habe ich mein Gehirn zwar noch nicht kennengelernt, aber jedenfalls ist es nicht 1,82 Meter groß, es ist kein Deutscher, kein Psychiater; es ist auch nicht verheiratet und hat keine Kinder. Das stellt meine Bereitschaft zur Identifikation mit diesem Organ bereits auf eine harte Probe.3 Aber es wird noch bedenklicher: Mein Gehirn sieht auch nichts und hört nichts, es kann nicht lesen, nicht schreiben, tanzen oder Klavier spielen – eigentlich kann es selbst überhaupt nur wenig. Es moduliert elektrophysiologische Prozesse, weiter nichts. Recht besehen, bin ich doch eher froh, nicht mein Gehirn zu sein.

Doch der Hirnforscher, dem ich dies darlege, würde nur nachsichtig den Kopf schütteln über meine Naivität und versuchen, mich aufzuklären: »Es erscheint Ihnen nur so, als wären Sie mehr oder etwas anderes als Ihr Gehirn. Alles, was Sie sind und tun, entsteht nur in ihm. Tatsächlich sehen Sie, wenn Sie mich jetzt ansehen, nur ein von Ihrem Gehirn erzeugtes Bild, nicht die Wirklichkeit. Und wenn Sie Klavier spielen, erzeugt Ihr Gehirn den Raum, in dem Sie zu spielen glauben, die Töne, die Sie zu hören meinen, und es steuert alle Ihre Bewegungen. Es bringt auch Ihren Entschluss hervor, Klavier zu spielen, ja sogar Ihr Gefühl, Sie selbst zu sein. All das können wir mit geeigneten Verfahren in Ihrem Gehirn feststellen. Deshalb ist es grundsätzlich richtig, wenn ich sage, Sie seien Ihr Gehirn.«

Von diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen belehrt, bin ich zunächst tief beeindruckt von den Fähigkeiten meines Gehirns. Sollte ich mich doch so getäuscht haben über die Welt und über mich selbst? All das wäre in Wahrheit nur das Erzeugnis eines knapp 2 Kubikdezimeter großen, blinden Organs, verborgen im Dunkel meines Schädels? – Wie den armen Rönne beginnt mich ein metaphysischer Schwindel zu erfassen. Nun, vorläufig kann ich mich damit beruhigen, dass, soweit mir bekannt, bislang noch kein Hirnforscher bei seiner Tätigkeit dem Wahnsinn verfallen ist. Doch vielleicht, so argwöhne ich, liegt dies ja nur an einer nicht genügenden Konsequenz des Denkens. Womöglich rettet sich der Hirnforscher ja nur im letzten Moment immer wieder in die Sicherheit der Lebenswelt zurück. Denn die Paradoxien, in die dieses neurowissenschaftliche Menschenbild uns stürzen könnte, sind tatsächlich schwindelerregend: Was ist Wirklichkeit, was Schein? Existiert die Welt nur in meinem Kopf? Bin ich nur ein Wachtraum meines Gehirns? Das zumindest ist die Auffassung von Gerhard Roth:

»Unser Ich, das wir als das unmittelbarste und konkreteste, nämlich als uns selbst, empfinden, ist – wenn man es etwas poetisch ausdrücken will – eine Fiktion, ein Traum des Gehirns, von dem wir, die Fiktion, der Traum nichts wissen können«

(Roth 1994, 253).

Das führt zu verwirrenden Konsequenzen. Nehmen wir an, ich würde bei Bewusstsein am offenen Gehirn operiert (was möglich ist, weil das Gehirn über keine Schmerzempfindung verfügt) und könnte während der Operation mittels eines Spiegels mein eigenes Gehirn sehen – würde dann mein Gehirn sich selbst sehen? Doch eigentlich träumt mein Gehirn ja nur eine Welt, und es träumt mich selbst. Ich aber, obgleich selbst ein Traum, träume nun auch mein Gehirn, das zugleich mich träumt … Zerstäubungen der Stirne … Entschweifungen der Schläfe …

Es wird Zeit, aus solchen Albträumen zu erwachen.

1     Griesinger 1861, 6.

2     Als Beispiel für viele Autoren sei Gazzaniga zitiert: »Diese einfache Tatsache macht klar, dass Sie Ihr Gehirn sind. Die Neuronen, die in seinem gewaltigen Netzwerk verbunden sind (…) – das sind Sie. Und um Sie zu sein, müssen alle diese Systeme richtig arbeiten« (»This simple fact makes it clear that you are your brain. The neurons interconnecting in its vast network, discharging in certain patterns modulated by certain chemicals, controlled by thousands of feedback networks – that is you. And in order to be you, all of those systems have to work properly«) (Gazzaniga 2005, 31; Hvhbg. v. Vf.).

3     Diese schöne Zuspitzung verdanke ich Kemmerling (2000).

Einleitung

 

 

 

Wenn es überhaupt einen Anlass zur Sorge gibt, dann besteht er nicht in einem Mangel an Fortschritt, sondern in der Flut neuer Daten, mit der uns die Neurowissenschaft überschwemmt, und der Gefahr, dass sie uns die Möglichkeit nimmt, noch einen klaren Gedanken zu fassen.

Antonio Damasio4

Umsturz der Lebenswelt

Seit sich das Gehirn und seine Aktivität bei geistigen Prozessen immer detaillierter beobachten lässt, schicken die Neurowissenschaften sich an, Bewusstsein und Subjektivität zu »naturalisieren«, also neurobiologisch zu erklären. Psychisches scheint sich im Gehirn lokalisieren, ja mit neuen Techniken regelrecht abbilden zu lassen. An bestimmten Orten des Gehirns findet offenbar das Wahrnehmen, Fühlen, Denken oder Wollen statt und lässt sich im farbigen Aufleuchten von Hirnstrukturen scheinbar in vivo beobachten. Bücher mit Titeln wie »Kosmos im Kopf«, »Das Gehirn und sein Geist« oder »Das Gehirn und seine Wirklichkeit« zeichnen das Bild eines informationsverarbeitenden Apparates, der in seinen Windungen und Netzwerken eine monadische Innenwelt und ein in Täuschungen befangenes Subjekt konstruiert. Gleichzeitig belehrt uns eine Flut von populärwissenschaftlichen Artikeln über die tatsächlichen, neuronalen und hormonellen Ursachen unserer Gefühle, Wahrnehmungen, Gedanken und Handlungen.

Unbestreitbar hat die Neurobiologie eine Fülle revolutionierender Erkenntnisse über die biologischen Grundlagen des Geistes, des Erlebens und Verhaltens, aber auch psychischer Krankheiten erlangt, aus denen sich fruchtbare Anwendungsmöglichkeiten ableiten lassen. Andererseits hat sie auch eine »zerebrozentrische« Sicht des Menschen begünstigt, die sich vor allem in der Medizin, Psychologie und Pädagogik ausbreitet. So bringt das neurobiologische Paradigma in der Psychiatrie die Tendenz mit sich, Krankheiten primär als materielle Vorgänge im Gehirn anzusehen und damit von den Wechselbeziehungen der Person mit ihrer Umwelt zu isolieren. Ähnlich werden in der Pädagogik schulische Lern- und Aufmerksamkeitsstörungen zunehmend auf hirnorganische Ursachen zurückgeführt.

Das neurobiologisch geprägte Menschenbild breitet sich aber auch in der Lebenswelt aus und verändert unser alltägliches Selbstverständnis. In einer schleichenden Selbstverdinglichung betrachten wir uns immer weniger als Personen, die Gründe oder Motive haben und Entscheidungen treffen, sondern als Agenten unserer Gene, Hormone und Neuronen. Auch unsere Erfahrung, selbst Urheber von Handlungen zu sein und damit unser Leben bestimmen zu können, wird von Neurowissenschaftlern in Frage gestellt. Der Wille scheint immer zu spät zu kommen, nämlich wenn die neuronalen Prozesse, welche Entscheidungen zugrunde liegen, bereits abgelaufen sind. Die Erfahrung der Freiheit wäre dann nur eine biologisch sinnvolle Selbsttäuschung des Gehirns, die uns das Gefühl von Selbstmächtigkeit und Kontrolle vermittelt, wo in Wahrheit die Neuronen längst für uns entschieden haben.

Nicht anders verhält es sich nach Meinung vieler Hirnforscher mit unserem Bewusstsein selbst: Es spiegelt nur Prozesse neuronaler Informationsverarbeitung wider, die uns als solche prinzipiell nicht bewusst werden können. Die in unserem Rücken agierende neuronale Maschinerie erzeugt nur den Schein eines dauerhaften Selbst. Längst hat man die Suche nach einem Ich-Zentrum im Gehirn, nach einer »Eintrittspforte« des Geistes aufgegeben, die Descartes noch in der Zirbeldrüse zu finden glaubte. Das Gehirn scheint seine Rechenaufgaben sehr gut ohne Wirkung eines Subjekts bewältigen zu können. In den Worten des Neurophilosophen Thomas Metzinger: »Wir sind mentale Selbstmodelle informationsverarbeitender Biosysteme … Werden wir nicht errechnet, so gibt es uns nicht« (Metzinger 1999, 284).

Wie sich zeigt, sind die Geltungsansprüche der Neurowissenschaften nicht unerheblich. Der Neurobiologe Gerhard Roth stellt ihre Erkenntnisse in eine Reihe mit den Kränkungen der Menschheit durch Darwin und Freud: »Zuerst wird durch die Evolutionstheorie dem Menschen der Status als Krone der Schöpfung abgesprochen, dann wird der Geist vom göttlichen Funken zu etwas Natürlich-Irdischem gemacht, und schließlich wird das Ich als nützliches Konstrukt entlarvt.«5 Zwar seien die Theorien der Neurobiologie streng genommen selbst nur Konstrukte des Gehirns; dennoch können sie, so Roth, mehr Plausibilität für sich beanspruchen als andere Welterklärungen wie diejenigen von »Religion, Philosophie oder Aberglaube.«6 Die Dominanz der Neurowissenschaften zeigt sich zumal in ihrer Ausbreitung als Präfix in fremde Territorien: Als »Neuro-Philosophie«, »Neuro-Ethik«, »Neuro-Pädagogik«, »Neuro-Psychotherapie«, »Neuro-Theologie«, »Neuro-Ökonomie« u. a. beanspruchen sie die Deutungshoheit über andere Wissenschaftszweige. Anstelle von subjektiven und intersubjektiven Erfahrungen setzen sie neurobiologische Termini in unsere Selbstbeschreibungen ein. Die Sprache der Lebenswelt, die immer noch von Selbstzuschreibungen und Anthropomorphismen geprägt ist, wird so Schritt für Schritt in eine objektivierende, naturwissenschaftliche Sprache umgeformt.

Kampf um die Zitadelle

Dieser Umsturz der lebensweltlichen Erfahrung liegt in der Logik des naturwissenschaftlichen Programms, das sich seit der Neuzeit etabliert hat. Dieses Programm ist seinem Prinzip nach reduktionistisch. Es zielt auf eine Konzeption der Natur, aus der alle qualitativen, ganzheitlichen, also nicht einzeln-zählbaren Bestimmungen als bloß subjektive oder anthropomorphe Zutaten eliminiert sind.7 Diesem Ziel dient die Zerlegung ursprünglich lebensweltlicher Erfahrungen in eine physikalisch-quantitative und eine subjektiv-qualitative Komponente: Die eine wird der experimentellen Erforschung und Erklärung zugänglich, die andere in eine subjektive Innenwelt verlegt. So teilt man z. B. das Phänomen »Wärme« auf in eine subjektive Empfindung einerseits und in physikalische Teilchenbewegungen andererseits. Der Naturwissenschaftler definiert also den Begriff der Wärme neu, indem er das Phänomenale von ihm abtrennt und als »Wärmeempfindung« in das Subjekt verlagert. Gleiches gilt für Farbe, Klang, Geruch oder Geschmack: Sie sind fortan nur noch subjektive Zutaten zur eigentlichen Realität. Die ursprünglich zum Zweck der Messbarkeit und Vorhersagbarkeit mechanischer Vorgänge entwickelten wissenschaftlichen Konstrukte (Teilchen, Kräfte, Felder etc.) werden der Lebenswelt unterschoben und mehr und mehr zur »eigentlichen« Wirklichkeit hypostasiert. Damit sinkt die Sphäre der alltäglichen Lebenserfahrung zum Schein herab, und zum wahren Sein wird das, was die Physik erfasst.

Bereits Galilei und Descartes waren bemüht, den Glauben an die Wahrheit der Sinne zu unterminieren, um der neuen Physik Raum zu schaffen. Nach Descartes beruht die Wahrnehmung auf einer physikalischen Teilchenbewegung, die sich von den Dingen bis ins Gehirn fortpflanzt, so dass »… wir denken, wir sähen die Fackel selbst und wir hörten die Glocke selbst, während wir nur die Bewegungen empfinden, die von ihnen ausgehen.«8 Die naturwissenschaftliche Reduktion zielt somit auf die Trennung des Subjekts vom Erkannten. Sie schneidet uns damit in gewissem Sinn von der Welt ab. Denn das Phänomen der Wärme besteht ja gerade in der Beziehung unseres Leibes mit der Umwelt, etwa der Luft oder der Sonne. Farbe entsteht in der Beziehung von Auge und Gegenstand, Geschmack in der Beziehung von Zunge und Nahrung. All diese Beziehungen, die uns die Qualitäten der Dinge selbst vermitteln, werden gekappt und in innerpsychische Zustände umgedeutet. Tatsächlich gibt es nur noch Teilchenbewegungen, Lichtwellen, chemische Reaktionen. Die Reinigung der Welt von allen subjektiven, anthropomorphen Anteilen fördert ein Skelett der Natur zutage, das sich allerdings umso leichter zerlegen, manipulieren und technisch beherrschen lässt.

Nach und nach gelang es auf diese Weise, Subjektives und Qualitatives nahezu vollständig aus der wissenschaftlich umgedeuteten Welt zu verdrängen. Auch das Leben selbst ließ sich auf biochemische Molekularprozesse zurückführen, allerdings um einen hohen Preis: Was wir mit dem Sein von Lebewesen verbinden – Empfinden, Fühlen, Sich-Bewegen, Nach-etwas-Streben – wurde aus der Erforschung des Lebendigen ausgeklammert oder wiederum in eine subjektive Innenwelt verlagert. Mit der Neurobiologie als neuer Leitwissenschaft gelangt dieses Programm nun an einen entscheidenden Punkt. Es begnügt sich nicht mehr mit der Reinigung der Natur durch Verschiebung von Qualitäten in das Subjekt. Auch das subjektive Erleben, das Bewusstsein selbst soll nun naturalisiert, auf physikalische Prozesse zurückgeführt werden. Gelänge die materialistische Aufklärung der Hirnfunktionen, dann wäre gleichsam die letzte Zitadelle des Subjektiven und Qualitativen in der physikalischen Wüste geschleift, die der Reduktionismus hinterlassen hat. Die »Entanthropomorphisierung« der Natur geht über in die Naturalisierung des Menschen.

Tatsächlich scheint die Zitadelle schon zu großen Teilen erobert. Immer mehr Plätze und Häuser sind unter Kontrolle, verborgene Gassen werden durch moderne Abbildungstechniken ausgeleuchtet. Kaum jemand zweifelt noch daran, dass das Gehirn psychische Phänomene aus rein materiellen Grundlagen erzeugt. Ein grundsätzlicher Dualismus von Körper und Geist gilt in den Neurowissenschaften ebenso wie in der analytischen Philosophie des Geistes weithin als überholt. Freilich ist der direkte Angriff auf das Subjekt, den vermeintlichen Bewohner der Zitadelle, vorläufig gescheitert. Der eliminative Materialismus, der die subjektive Erfahrung und die »mentalistische«Sprache zu vorwissenschaftlich-naiven Intuitionen erklärt, die wie der Glaube an Geister, Hexen, Äther oder Phlogiston schließlich verschwinden und einer neurologischen Sprache Platz machen würden – dieser radikale Materialismus hat sich nicht durchsetzen können.9 Die Mehrheit der analytischen Philosophen und Neurowissenschaftler vertritt heute einen eher gemäßigten Materialismus, der der Subjektivität noch ein Weiterleben gestattet – freilich nur in Identität mit den neuronalen Prozessen oder als ihre Begleiterscheinung, jedenfalls ohne eine kausale Rolle in der Welt. Daher die heftige Debatte um die Willensfreiheit: Bewusstsein ist dem Gehirn zwar nicht abzusprechen, soll aber sein Produkt und damit machtlos bleiben. Das Subjekt darf in der Zitadelle weiterleben, solange sie vom Physikalismus sicher beherrscht wird.

Vom Kopf auf die Füße

Freilich könnten sich gerade an diesem scheinbar letzten Refugium der Subjektivität die Fronten überraschend umkehren, und es könnte sich herausstellen, dass das Gehirn in Wahrheit die Achillesferse des naturwissenschaftlichen Weltbildes darstellt. Zum einen führt nämlich der bislang so erfolgreiche Weg der schrittweisen Elimination des Subjektiven an dieser Stelle in eine methodische Sackgasse. John Searle hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Abtrennung des jeweils Subjektiven von den Phänomenen nicht mehr anwendbar ist, wenn es um die Reduktion der Subjektivität selbst geht (Searle 1993, 141). Denn es gibt dann keinen Raum mehr, in den sie noch verschoben werden könnte. Man kann sie nur noch als Ganzes bestreiten, was kaum überzeugend ist, oder als Epiphänomen des Materiellen zu neutralisieren versuchen, was das Ärgernis gleichwohl bestehen lässt.

Zum anderen gerät der Reduktionismus im Falle des Gehirns in unlösbare erkenntnistheoretische Aporien. Denn erkennbar ist für uns der Voraussetzung nach nur, was bereits durch die neuronale Maschinerie hindurchgegangen ist, eine subjektive Wirklichkeit. Demnach wäre das Gehirn, das der Neurowissenschaftler erforscht, so wie alles, was er erlebt, nur das Produkt seines eigenen Gehirns. Doch wie soll das Gehirn sich selbst erkennen? Wie soll ein physikalisch beschreibbarer und lokalisierbarer Apparat in der Lage sein, die Welt der wissenschaftlichen Erfahrung hervorzubringen, in der er zugleich selbst vorkommt? – Die vermeintlich eroberte Zitadelle wäre dann selbst nur eine Fata Morgana der Eroberer, und sie können niemals mit Sicherheit wissen, ob es überhaupt eine wirkliche Zitadelle gibt, die ihr gleicht. Ebenso gut könnte es sich um ein Hirngespinst handeln.

Offenbar setzt bereits die Rede über Gehirne voraus, was angeblich von ihnen hervorgebracht werden soll: bewusste und sich miteinander verständigende Personen. Wenn es sich aber so verhält: Wenn die Hirnforschung der Abhängigkeit von der Subjektivität, der Intersubjektivität und der Lebenswelt nicht entkommt, dann können wir sie auch »vom Kopf auf die Füße« stellen. Die Neurobiologie erweist sich – ebenso wie die Naturwissenschaften insgesamt – als eine spezialisierte Form menschlicher Praxis, die der Lebenswelt entstammt, ohne jedoch einen Standpunkt außerhalb ihrer gewinnen zu können. Die alltäglich erlebte und vertraute Welt, in der wir gemeinsam leben, bleibt unsere primäre und eigentliche Wirklichkeit. Sie ist nicht das bloße Produkt einer anderen, nur wissenschaftlich erkennbaren Realität, kein Scheinbild oder Konstrukt des Gehirns, sondern die Grundlage aller wissenschaftlichen Erkenntnis. Konstrukte sind vielmehr die Entitäten der Physik oder der Neurobiologie – Elektronen, Atome, Moleküle, Aktionspotenziale, Magnetfelder oder Photonenemissionen. Ihr hoher praktischer Nutzen zur Erklärung und Prognose von Phänomenen soll nicht bestritten werden. Sie können jedoch niemals dazu dienen, die lebensweltlichen Phänomene und Erfahrungen als Illusionen zu entlarven.

Unter dieser Voraussetzung müssen wir aber auch das Gehirn ganz neu betrachten. Es bringt unsere Welt nicht wie ein geheimer Schöpfer hervor, es hat auch uns selbst weder erschaffen noch dirigiert es uns aus dem Verborgenen wie Marionetten. Das Subjekt ist in ihm gar nicht zu finden. Das Gehirn ist vielmehr das Organ, das unsere Beziehung zur Welt, zu anderen Menschen und zu uns selbst vermittelt. Es ist der Mediator, der uns den Zugang zur Welt ermöglicht, der Transformator, der Wahrnehmungen und Bewegungen miteinander verknüpft. Das Gehirn für sich wäre nur ein totes Organ. Lebendig wird es erst in Verbindung mit unseren Muskeln, Eingeweiden, Nerven und Sinnen, mit unserer Haut, unserer Umwelt und mit anderen Menschen. Sobald sich die Fata Morgana der Zitadelle auflöst und die Lebenswelt wieder in ihr Recht gesetzt wird, zeigt sich auch das Gehirn nicht mehr als isolierte Burg des Subjekts, sondern als ein weltoffener, lebendiger Handels- und Umschlagsplatz, an dem Waren und Nachrichten aller Art ausgetauscht werden, und der weitläufig mit anderen Orten vernetzt ist. Es zeigt sich als ein Beziehungsorgan.

Ein adäquates Verständnis des menschlichen Gehirns, wie es in diesem Buch in Grundzügen entwickelt werden soll, muss von der Phänomenologie unserer lebensweltlichen Selbsterfahrung ausgehen, in der wir keine Trennung von »Geist« und »Körper« erleben, sondern in einem leibliche, verkörperte und seelisch-geistige Wesen sind – also das, was wir auch als Personen bezeichnen. Erst dann können wir fragen, wie das Gehirn auf biologischer Ebene zu dieser Einheit der Person beiträgt. Die erste zentrale These der Untersuchung wird also lauten, dass alle seine Funktionen die Einheit des Menschen als Lebewesen voraussetzen und nur von ihr her zu verstehen sind. Dazu müssen wir zunächst einen adäquaten Begriff des Lebendigen entwickeln, der in den gegenwärtigen biomedizinischen Wissenschaften weitgehend fehlt. Die zweite These wird lauten, dass die höheren Gehirnfunktionen den Lebensvollzug des Menschen in der gemeinsamen sozialen Welt voraussetzen. Dazu bedarf es einer Konzeption menschlicher Entwicklung als kontinuierlicher Verankerung von Erfahrungen in den psychischen und zugleich zerebralen Strukturen des Individuums, im Sinne einer »kulturellen Biologie«.

Die Dimension des Lebendigen verankert das Gehirn im Organismus und seiner natürlichen Umwelt, die soziokulturelle Dimension verankert es in der gemeinsamen menschlichen Welt, von der es lebenslang geprägt wird, und ohne die seine spezifisch humanen Funktionen gar nicht begreiflich werden können. Beide Dimensionen vereinigen sich zu einer entwicklungs- und sozialökologischen Sicht des menschlichen Gehirns als Organ eines »zõon politikón«, eines Lebewesens, das bis in seine biologischen Strukturen hinein durch seine Sozialität geprägt ist. Das Gehirn erscheint darin zunächst als ein Organ der Vermittlung, das die vegetativen und sensomotorischen Beziehungen zwischen dem Organismus und seiner Umwelt ermöglicht, dabei aber auch so umwandelt und »verdichtet«, dass es für den Menschen zum Medium einer neuen, intentionalen Beziehung zur Welt werden kann. Damit steigern sich primäre Lebensprozesse zu seelischen und geistigen Lebensvollzügen mit zunehmenden Freiheitsgraden. Zugleich öffnet sich das menschliche Gehirn einer lebenslangen Prägung durch zwischenmenschliche und kulturelle Einflüsse: Es wird zu einem sozialen, kulturellen und geschichtlichen Organ – zum Organ der Person.

Bevor wir diese Konzeption in Angriff nehmen, soll eine Kritik verbreiteter reduktionistischer Konzeptionen des Verhältnisses von Gehirn und Subjektivität zunächst den Raum für die eigentliche Aufgabe freimachen. Ich werde diese Kritik in Teil A in zwei grundsätzlichen Schritten vornehmen: In Kapitel 1 setze ich mich mit der neurokonstruktivistischen Erkenntnistheorie auseinander, wonach die phänomenale Wirklichkeit als interne Abbildung oder Repräsentation durch neuronale Prozesse zu begreifen sei. In Kapitel 2 werde ich die Vorstellung eines »Gehirns als Subjekt« einer Kritik unterziehen und die Nicht-Reduzierbarkeit von subjektiver, insbesondere intentionaler Erfahrung darlegen.

Teil B entwickelt dann schrittweise und unter Einbeziehung verschiedener Denkansätze eine Theorie des Gehirns als Organ der menschlichen Person. Als ihre Grundlage wird in Kapitel 3, ausgehend von einem phänomenologischen Begriff der leiblichen Subjektivität, zunächst eine aspektdualistische Konzeption der Person als Einheit von »Leib« und »Körper« entworfen. Daran knüpft sich eine ökologische Theorie des lebendigen Organismus, die insbesondere eine Analyse der spezifischen Kausalität des Lebendigen einschließt. – Kapitel 4 entwickelt auf dieser Basis eine Konzeption des Gehirns als Organ eines Lebewesens in seiner Umwelt. Kapitel 5 betrachtet dann, unter Einbeziehung entwicklungspsychologischer Forschungen, das Gehirn als soziales, kulturelles und geschichtliches Organ. Kapitel 6 wird sich mit einigen Folgerungen dieser ökologischen und aspektdualistischen Konzeption für das Leib-Seele-Problem befassen. Abschließend untersucht Kapitel 7 mögliche Konsequenzen der Konzeption für ätiologische und therapeutische Konzepte in der psychologischen Medizin.

4     Damasio 1995, 341.

5     Roth 2000, 107. – Zum Motiv der Entlarvung in der Hirnforschung vgl. meinen Aufsatz »Neuromythologien« (Fuchs 2008, 206–327).

6     Ebd.

7     Man kann insofern auch von einem Programm der »Entanthropomorphisierung« sprechen.

8     Les Passions de l’Ame, I, 23 (Descartes 1984, 41).

9     Vgl. etwa Rorty 1993, Churchland 1997, Metzinger 1999.

Teil A: Kritik des neurobiologischen Reduktionismus

 

 

 

1          Kosmos im Kopf?

Übersicht. – Kapitel 1 enthält eine Kritik der neurokonstruktivistischen Erkenntnistheorie, wonach die phänomenale Wirklichkeit als interne Abbildung oder Konstruktion der Außenwelt durch neuronale Prozesse zu begreifen sei. Wie sich zeigt, liegt dieser Konzeption nach wie vor die idealistische Bildtheorie der Wahrnehmung zugrunde (image Kap. 1.1). Die Kritik betont demgegenüber den verkörperten Charakter der Wahrnehmung, die immer mit den motorisch-operativen Möglichkeiten des Leibes verknüpft ist. Um die subjektiv-leibliche Räumlichkeit als nicht nur virtuell zu erweisen, wird ihre Koextensivität mit dem Raum des objektiven Körpers bzw. des Gesamtorganismus ausführlich nachgewiesen (image Kap. 1.2). Von hier aus lässt sich nun auch, entgegen der Konzeption einer phänomenalen Innenwelt, die objektivierende Leistung der Wahrnehmung erkennen, die uns durch aktive Nachgestaltung mit den Dingen in unmittelbare Beziehung bringt (image Kap. 1.3). Schließlich wird die Behauptung der bloßen Virtualität wahrgenommener Qualitäten am Beispiel der Farben kritisiert (image Kap. 1.4).

Dass alles, was Menschen erleben, in Wahrheit eine Konstruktion oder Vorspiegelung ihrer Gehirne sei, gehört zu den gängigen Überzeugungen von Neurowissenschaftlern und Neurophilosophen. Von Schmerz oder Ärger über Farben oder Musik bis hin zu Liebe oder Glauben gibt es kaum noch ein Phänomen, das nicht im Gehirn untergebracht wird. Die nahezu selbstverständlich gewordene Ansicht, dass die Wirklichkeit im Kopf zu finden sei, »… führt zu der vieldiskutierten Frage: Wie kommt die Welt nach draußen? Die Antwort lautet hierauf: Sie kommt nicht nach draußen, sie verlässt das Gehirn gar nicht« (Roth 2003, 48). Die Wahrnehmung wird somit gewissermaßen zu einer physiologischen Illusion. Typische Beschreibungen lauten dann etwa folgendermaßen:

»Die geistige Multimedia-Show ereignet sich, während das Gehirn externe und interne Sinnesreize verarbeitet …« (Damasio 2002).

»… die Welt um Sie herum, mit ihren reichen Farben, Texturen, Klängen und Gerüchen ist eine Illusion, eine Show, die Ihnen von Ihrem Gehirn vorgeführt wird […] Wenn Sie die Realität erfahren könnten, wie sie wirklich ist, wären Sie schockiert von ihrer farblosen, geruchslosen, geschmacklosen Stille« (Eagleman 2015, 37; eig. Übers.).

»Bewusstes Erleben gleicht einem Tunnel. (…) Zuerst erzeugt unser Gehirn eine Simulation der Welt, die so perfekt ist, dass wir sie nicht als ein Bild in unserem eigenen Geist erkennen können. Dann generiert es ein inneres Bild von uns selbst als einer Ganzheit. (…) Wir stehen also nicht in direktem Kontakt mit der äußeren Wirklichkeit oder mit uns selbst (…). Wir leben unser bewusstes Leben im Ego-Tunnel« (Metzinger 2009, 21 f.).

»Unsere Wahrnehmung ist (…) eine Online-Simulation der Wirklichkeit, die unser Gehirn so schnell und unmittelbar aktiviert, dass wir diese fortwährend für echt halten« (Siefer u. Weber 2006, 259).

Nach dieser neurokonstruktivistischen Konzeption ist die reale Welt also in dramatischer Weise verschieden von der, die wir erleben. Was wir wahrnehmen, sind nicht die Dinge selbst, sondern nur Bilder, die sie in uns hervorrufen – wie die Schattenrisse an den Wänden der platonischen Höhle. Die tatsächliche Welt ist eher ein trostloser Ort von Energiefeldern und Teilchenbewegungen, bar jeder Qualitäten. Der Baum vor mir ist eigentlich nicht grün, seine Blüten duften nicht, der Vogel in seinen Zweigen singt nicht melodisch: Das alles sind nur zweckmäßige Scheinwelten, die das Gehirn anstelle nackter, materiell-kinematischer Prozesse erzeugt. Das milliardenfache Flimmern neuronaler Erregungen vermittelt mir die Illusion einer Außenwelt, während ich in Wahrheit eingesperrt bleibe in die Höhle meines Schädels, in meinem »Ego-Tunnel«.

Freilich leben auch Neurowissenschaftler oder -philosophen mit dieser Einsicht weiter in der alltäglichen Lebenswelt. Doch das Ergebnis der naturwissenschaftlichen Umdeutung ist eine schleichende Virtualisierung der Wahrnehmung – so als dürften wir unseren Sinnen grundsätzlich nicht trauen, ja wir seien in der Wahrnehmung gar nicht mit den Dingen selbst in Kontakt. Nur die Physik oder die Neurobiologie könnten uns über die wahre Natur der Welt aufklären.

1.1       Das idealistische Erbe der Hirnforschung

Woher stammen solche Konzeptionen? – Wie wir sehen werden, trägt gerade die Erkenntnistheorie der Hirnforschung immer noch die Erblast ihres größten Gegners mit sich, nämlich des Idealismus.

Bereits in der Einleitung wurde dargestellt, wie das reduktionistische Programm der Naturwissenschaften nach und nach alle qualitativen Bestimmungen aus der Natur eliminierte. Farbe, Wärme, Geruch, Geschmack, aber auch Kategorien wie die Zweckhaftigkeit oder Zielverfolgung von Lebewesen wurden als anthropomorphe Zutaten dem menschlichen Subjekt zugeschlagen. Diese Aufteilung hatte bereits der antike Atomismus vorgenommen – in den Worten Demokrits:

»Farbe gibt es nur der herkömmlichen Meinung nach, und ebenso Süß und Bitter; in Wirklichkeit gibt es nur die Atome und das Leere.«10

In der Neuzeit griff Galilei diese Lehre wieder auf:

»Nähme man die Ohren, die Zunge und die Nüstern weg, dann würden Gestalt, Zahl und Bewegungen übrig bleiben, aber nicht die Gerüche, die Geschmäcker oder die Klänge, die ohne Lebewesen, wie ich glaube, nichts als Namen sind.«11

John Locke kanonisierte diese Auffassung durch die Unterscheidung der primären und sekundären Wahrnehmungseigenschaften: Primär oder »wirklich« seien nur die quantitativen Kategorien (Volumen, Gestalt, Zahl und Bewegung), sekundär oder anthropomorph alle qualitativen Eigenschaften (Farben, Geruch, Geschmack, Klang).

Parallel dazu entwickelte sich der moderne Begriff des Bewusstseins als eines Behälters, in den alles Qualitative und Subjektive verschoben werden konnte. Mit der Umdeutung des Lebens in eine besondere physikalische Prozessform verlor das Erleben seine Einbettung in die Lebenstätigkeit und wurde in eine eigene Sphäre des rein »Mentalen« verbannt. Von Descartes als ein Refugium des Geistes angesichts der Alleinherrschaft der Physik über die materielle Welt konzipiert, war das Bewusstsein seither in der Gefahr, zu einem abgeschlossenen Innenraum, einem fensterlosen Gehäuse des Subjekts zu werden. Jeder mögliche Gegenstand des cartesischen Bewusstseins ist nämlich eine »idea« – ein Gedanke, eine Vorstellung oder ein Bild. Auch was wir sehen, sind Bilder, und nicht die Dinge selbst. Der Idealismus ist die Philosophie, die sich in der Nachfolge Descartes’ besonders aus der Bild-Theorie der Wahrnehmung entwickelt. Leibniz vergleicht den Verstand mit einem Zimmer, durch dessen Fenster die Bilder der Außenwelt hereinfallen.12 Auch für Locke, Hume und Kant sind unsere Wahrnehmungen »impressions«, »ideas« oder »Vorstellungen«, aus denen wir nur problematische Schlüsse auf die Wirklichkeit ziehen können, in der wir zu leben glauben. Der Idealist sitzt im Gehäuse seines Bewusstseins und empfängt die »ideae« als Abgesandte und Repräsentanten der Dinge, die er selbst niemals zu sehen bekommt – in Lockes Worten:13

,Denn meines Erachtens ist der Verstand einem Kabinett gar nicht so unähnlich, das gegen das Licht vollständig abgeschlossen ist und in dem nur einige kleine Öffnungen gelassen wurden, um äußere, sichtbare Ebenbilder oder Ideen von den Dingen der Umwelt einzulassen.«14

In der Kantischen Erkenntnistheorie wird die Welt konsequent in den Innenraum hereingenommen: Raum und Zeit sind Formen der Anschauung und daher im Gemüt. Die Welt ist erkennbar, aber nur weil wir nicht in ihr, sondern sie in uns ist.

»Allein Erscheinungen sind nur Vorstellungen von den Dingen, die, nach dem, was sie an sich sein mögen, unerkannt da sind. Als bloße Vorstellungen aber stehen sie unter gar keinem Gesetze der Verknüpfung, als demjenigen, welches das verknüpfende Vermögen vorschreibt.«15

Der Verstand erhält zwar alle Vollmacht, die Welt zu strukturieren, aber nur innerhalb seines abgeschlossenen Hoheitsbereichs. Dagegen hat schon Goethe mit dem untrüglichen Blick des anschauenden Naturforschers eingewandt, die idealistische Philosophie gelange niemals zum Objekt.16

Die weitere Entwicklung des Idealismus kann hier nur angedeutet werden: Fichte zeigt in der »Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre« (1794), wie die Welt aus dem Ich tatsächlich produziert werden kann; hier taucht zum ersten Mal der philosophische Begriff der »Außenwelt« auf.17 Über Schopenhauers »Welt als Wille und Vorstellung« und Nietzsches Perspektivismus führt der Weg schließlich bis zum radikalen Konstruktivismus der Gegenwart. Wie sehr die idealistische Konzeption der Wahrnehmung das aufgeklärte Bewusstsein im 20. Jahrhundert geprägt hat, illustriert René Magrittes bekanntes Bild »La condition humaine«:

Images

Abb. 1: René Magritte, La condition humaine (1933) (© VG Bild-Kunst, Bonn 2020)

Das Bild zeigt ein Gemälde mit einer Landschaft, die dem Anblick der hinter dem Gemälde liegenden realen Landschaft gleicht. In einem Vortrag von 1938 erläuterte Magritte selbst das Bild folgendermaßen:

»Das Problem des Fensters ergab ›La condition humaine‹. Ich stellte vor das Fenster, das vom Inneren des Raumes zu sehen war, ein Bild, das genau das Landschaftsstück darstellte, das von der Leinwand verdeckt war. Der Baum, der auf der Leinwand dargestellt war, verbarg den Baum, der hinter ihm außerhalb des Raumes stand. Für den Betrachter befand er sich also zugleich im Inneren des Raumes auf dem Bild und, in der Vorstellung (pensée), außerhalb in der wirklichen Landschaft. Genau so sehen wir die Welt, wir sehen sie außerhalb unserer selbst und dennoch haben wir nur eine Vorstellung (représentation) von ihr in uns.«18

Conditio Humana