Meiner Frau gewidmet

»So Du arm bist hier auf Erden, mußt Du die eine Hälfte Deines Lebens ein Hund sein, dann wirst Du etwa die andere Hälfte als Mensch unter Menschen weilen dürfen.«

Eremit von Amiata.

Ohne Abschied schlich Lukas Grassi aus dem finsteren alten Hause unter den Tuchlauben. Dort ließ er in der Enge einer beständig dunkelnden Wohnung seine Habseligkeiten zurück und seine letzten Knabenjahre. Da blieb auch, in Küche, Kammer und Stube, blieb in der Windung der steilen, wohlbekannten Treppe, die er nun herunterstieg, um nie wieder ihre Stufen emporzuklimmen, blieb im schmalen, düsteren Flur, den er zum letztenmal durchschritt, der einzige Ort zurück, der ihm vertraut war. Hier fanden sich auch noch vom Dasein des Vaters überall die Spuren und hielten das Erinnern wach. Der Verstorbene war hier noch irgendwie vorhanden, umgab den Sohn noch in einer nur langsam und ganz unmerklich schwindenden Lebendigkeit. Wenn Lukas sich besann, wie des Vaters Hände da auf dem Tisch geruht, dort den Fensterriegel gehoben, dann wieder sorgsam das Pergament auf das Zeichenbrett gespannt hatten, oder wie seine Gestalt des Morgens von jener Bettnische her sich aufgerichtet, wie sein blasses, stilles Antlitz im Dämmerlicht der Stube sichtbar geworden, seine sanfte Stimme im ersten Gruß und Fragen laut geworden war, um den Tageslauf neu zu beginnen, dann schien es jedesmal, als könne der Vater unvermutet wieder zur braunschwarzen, niederen Türe hereinkommen.

Lukas Grassi begriff, daß dies alles nun zu Ende sei. Er verstand, daß er keine Möglichkeit habe, länger in der alten Wohnung zu bleiben, da er doch nicht einmal genug besaß, seinen Hunger zu stillen, geschweige denn so viel, um die rückständige Miete zu bezahlen. Er hatte es auch als eine Art von Glück betrachtet, daß er an der Kärntnerbastei eine elende Dachkammer gefunden, die man ihm mit so merkwürdiger Bereitwilligkeit fast um nichts überließ. Aber jetzt, da er aus seinem alten Hause auf die Straße trat, spürte er ein kurzes schmerzhaftes Erstaunen, daß er hier hinausging wie so viele, viele andere Male in all den Jahren, gar nicht anders, und daß sich dies Fortgehen für immer so ganz ohne Abschied vollzog. Lukas Grassi war noch sehr jung und wußte nicht, wie oft und wie ahnungslos die Menschen an der Schwelle einer abgeschlossenen Vergangenheit und einer neuen Zukunft stehen, wußte nicht, wie wenig Zeit uns das beständig fortschreitende Schicksal gerade in den wichtigsten Augenblicken vergönnt, Abschied zu nehmen, er konnte auch nicht verstehen, daß darin vielleicht sogar eine Gnade sich birgt, und er war sich dessen nicht inne, daß sein kurzes, schmerzhaftes Erstaunen schon ein Abschiednehmen bedeutete.

Langsam schritt er die Tuchlauben dahin, zögernd, vom geschäftigen Treiben des Tages überholt und mitgeschwemmt, wie diejenigen gehen, die ohne Ziel und ohne Hoffen und beschwert von Sorgen sind. Ein bitteres Gefühl, das ihn seit des Vaters Tode bedrückte, nagte heute schärfer als sonst in seinem Herzen. Er hörte den Singsang der Straßenhändler nicht, hörte nicht das befehlende Rufen der Läufer, die aufsehenerregend in prächtiger Livree vor etlichen Karossen herstürmten und er achtete der Karossen nicht, die schaukelnd und knarrend an ihm vorüberrollten.

Sicherlich gab es an jenem Tage, an welchem Lukas Grassi seinem Schicksal entgegenging, in der Stadt Wien noch viele andere Menschen, die arm waren gleich ihm. Nur wenige aber empfanden die Armut so heftig als eine unerträgliche Grausamkeit wie er. In solchen Stunden, die von vergeblicher Auflehnung zerrissen waren, haßte er auch die Stadt, die ihn mit ihren Basteien und Gräben wie ein trübseliger Zwang umschlossen hielt, ihn mit ihrem Reichtum zu verhöhnen und zu peinigen schien. Er haßte den schmalen Pfad ihrer Straßen, der von altersgrauen Häusern bedrängt, lichtlos und verworren, immer wieder in sich selbst zurücklief, und er sehnte sich weit hinweg nach dem schönen hellen Lande, dessen er sich aus frühen Kindertagen noch zu erinnern glaubte. Seit er hier allein zurückgeblieben war, dachte er unablässig daran, es war als ein neues Heimweh in seiner Seele erwacht und begann sich zu regen, wie mit gebundenen Schwingen. Aber was er sah, hatte nie in seinem Gedächtnis so recht und wirklich gelebt, es haftete darin nur als ein gestaltendes Echo all der Erzählungen des Vaters. In seines Vaters Worten spiegelten sich diese frühen Kindertage, wie eine farbige Welt sich in gläsernen Kugeln spiegelt. Da waren Gärten voll Blumen, goldene Früchte im dunkeln Laub der Bäume, da waren Häuser, die vertrauend und gastlich offen standen, und deren weiße Mauern mitten im Grünen aufschimmerten wie ein Lächeln. Viele andere Kinder waren da, die ringsum auf den Wiesen spielten. Gesang scholl wehend im sanften Wind von nah und fern, und eine gütige, warme Sonne ermunterte die Menschen. Ohne daß er je ergrübeln konnte, wann und wie es geschehen war, erlosch das alles, die Gestalt der Mutter verschwand, die Gärten versanken und er sah sich mit dem Vater über Berg und Tal wandern, doch ihm schien, als sei dies erst viel später gewesen. Fremde Menschen waren mit ihnen unterwegs, fremde Frauen dabei, die sich des kleinen Jungen annahmen, aber sie hatten in der Erinnerung nur schattenhafte Umrisse und kein Gesicht. Städte, Äcker, Fluren, Hochlandswälder zogen an ihm vorüber, ohne daß er sie mit ihren Namen ansprechen konnte, das Gestade unbekannter Flüsse, eine lange, bunte Bilderreihe, bald gänzlich verblaßt, bald wieder in voller Deutlichkeit aufleuchtend. Bis sie hierherkamen in diese Landschaft, die so oft und so lange von grauen Wolken verhängt war. Blickte er zurück, dann mußte er denken, daß sein kurzes Leben von Anfang an nichts anderes gewesen sei als ein Weg aus heller Sonne in die Finsternis. Zuletzt war noch die Stadt hier vor ihm, rings um ihn her emporgestiegen, mehr und mehr lastend, mehr und mehr begriffen und geschaut, mehr und mehr beklemmend und sich zudrängend, wie die Wirklichkeit vor einem heranwachsenden Kind langsam emporsteigt.

Während er nun in der tief beschatteten Häuserschlucht des Kohlmarktes dahinging, fiel es ihm wieder einmal in den Sinn, einen der Genossen des Vaters zu suchen, um Brot und Arbeit zu erlangen. Aber er trotzte gegen diesen Gedanken und warf ihn weit fort, wie schon oft in diesen Tagen. Seines Vaters Gefährten kannte er nur wenig, sie waren dahier beschäftigt, den Palast eines großen Herrn zu bauen und zu schmücken, einige von diesen waren Bildhauer gleich dem Vater, andere Maler, und Lukas hatte von etlichen unter ihnen schon gehört, was sie ihm zu sagen wußten. Er habe nichts gelernt, meinten sie, freilich ohne sein Verschulden, denn die Dinge, auf die es ankäme, seien eben hierzulande nicht erlernbar. Er müsse fort, zurück in die Heimat, woher sie alle, woher auch der Vater sich Kunstfertigkeit mitgebracht habe. Das wäre am besten für ihn. Sonst tauge er bloß zu niedrigen Handlangerdiensten. Dazu wollten sie ihm verhelfen, damit er einstweilen sein Leben fristen könne. Lukas hungerte nach Brot, aber er verschmähte diese Art von Arbeit. Er lehnte sich auf dagegen, als gegen eine abscheuliche Bedingung, die ihm fürs Dasein gestellt wurde. Seine Gedanken liefen wieder denselben Kreis wie immer, wenn er die bittere Wahl, die ihm blieb, erwog. Es lohnte wahrhaftig nicht, Brot zu essen, um solch erbärmliche Arbeit zu verrichten. Und es war sinnlos, sich in solcher Taglöhnerfron zu erniedrigen, nur um Brot essen zu dürfen. Die ganze Kraft seiner Jugend und seines jugendlichen Anspruches an das Leben empörte sich dagegen, daß es kein anderes, keinen Ausweg geben sollte. Er blieb jedenfalls beharrlich in seinem Widerstand, er wollte sich zwingen lassen, wollte sehen, wie lange er aushalten werde, bis es der Not und dem Hunger gelang, ihn zu beugen.

An der Ecke, wo der Kohlmarkt in den kleinen Platz vor der Sankt Michaelskirche mündet, mußte Lukas plötzlich stehen bleiben. Kaiserliche Trabanten sperrten den Weg mit vorgehaltenen Hellebarden, und an der lebendigen Schranke, die sie derart bildeten, staute sich schon ein ziemliches Gewühl neugierigen Volkes. Rasch drängte Lukas sich durch bis in die erste Reihe. Er wußte sogleich, daß da irgendein höfisches Gepränge zu schauen sein werde und er liebte den malerischen Reiz dieser feierlich prachtvollen Aufzüge, liebte, ohne es zu wissen, die unbestimmte Sehnsucht, die solch ein Anblick heiß in ihm entzündete. Da wurden auch schon Fanfarenklänge hörbar; man vernahm das erregende Getrappel und Schlagen vieler Pferdehufe und aus dem Gewirre der Häuser, die der Kaiserburg den Ausgang verrammelten, quoll es nun hervor, farbig, schimmernd, von heller Musik überschmettert, eine Schar Kürassiere, ein paar schwere Wagen folgten dichtauf, hoch in ihren geschweiften Federn schaukelnd. Die Zugpferde tanzten im Geschirr, als seien sie ungeduldig und raschen Laufes begierig; die Kutscher hielten gelassen auf ihrem Sitz die Zügel, während aus den kleinen Fenstern der Wagen stolze, ernste Gesichter gleichgültig über die Menge hinwegsahen. Nun entstand eine Lücke im Zug und Lukas, der bemerkte, daß die Trabanten vor ihm sich strammer breitstellten, wußte, daß jetzt erst die Hauptperson herankomme. Eine doppelte Reihe von Läufern trat auf, leichtfüßig, mühelos, farbenbunt, mit schneeweiß wippenden Straußenfedern, wirkten sie wie Schauspieler, die ein Kunststück ausführen, erschienen wie die Ankündigung eines Festes. Jetzt stießen die Trabanten ihre Hellebarden präsentierend zu Boden und standen, Mann für Mann, zu Bildsäulen erstarrt. Und nun, von sechs hohen Schimmeln gezogen, rollte eine goldschimmernde Karosse einher. Ins Gebiß schäumend, warfen die edeln Tiere beständig ihre Köpfe hoch, nickten tief und es war in der verhaltenen Kraft ihres Ganges, in der wiegenden Anmut ihrer weißen, glänzenden Leiber eine Deklamation, die pathetisch hinreißend von Glück, von Macht und Reichtum sprach.

Lukas betrachtete dies Schauspiel mit einem widerstandslosen Entzücken und hörte dabei die Leute sagen: »Es ist der Erzherzog Ludwig, den sie nach Florenz schicken.« — »Ja, er hat’s auf der Brust und muß in die Sonne . . .« — Einer lachte: »Wegen der Sonne fährt er wohl nicht so weit fort . . . es ist eine Heirat im Gange . . .« — Andere mengten sich ein: »Warum nicht gar! Er hat eine geheime Sendung . . .« Und wieder andere flüsterten eifrig untereinander: »Aber, man kennt doch den Erzherzog Ludwig . . . man weiß doch, wie er’s treibt . . . verbannt ist er vom Hof!« — »Nach Florenz?« — »Das weiß ich nicht . . . vielleicht nach Florenz!«

Lukas vernahm alle diese Reden, und der Name Florenz fiel in sein Herz. Dies goldschimmernde Wort erregte ihn von jeher. Er mußte es leise vor sich hinsprechen, so oft es ihm in den Sinn kam. Es schwebte vor ihm wie ein Glücksstern, es rief mit einem Klang, darin wunderbare Ahnung war und schmerzhaft drängende Sehnsucht. Mit eiligen Blicken spähte Lukas zur Karosse hin. Nur flüchtig sah er den Kutscher, sah nur flüchtig die vier Lakaien, die in ihrer großartigen spanischen Livree hintenauf beisammen standen wie ein erstarrtes kleines Getümmel der Dienstbarkeit, wie menschenähnliches Gerät, das sich bloß rührt, wenn man es braucht. Dort in den Atlaskissen, saß aufrecht ein schmaler, junger Mann, in schwarzen Samt gehüllt. Ein schmales, bleiches Antlitz, von schwarzen Locken umschmiegt und vom zarten Flaum dunkeln Pelzwerks umhalst, war aufwärts gehoben, des Volkes nicht achtend, fremd und fern und durch die klaren Kristallscheiben abgeschlossen wie eine Kostbarkeit, die man wohl betrachten, aber nie erreichen noch berühren kann.

»Warum fährt er nicht stracks zum Tor hinaus, an der Burgbastei?« fragte einer aus der Menge. Ein anderer gab sogleich und mit wichtigem Ton Bescheid: »Er will noch bei den Kapuzinern ein Vaterunser beten.« Ein dritter erklärte: »Zum Burgtor hinaus wär’ gefehlt; erst vom Kärntnertor führt die Straße nach Süden.« Lukas sprach, ohne daß er’s wußte, leise vor sich hin: »Florenz . . .«

Dicht neben der Karosse des Erzherzogs trabte ein Hund. Lukas gewahrte ihn plötzlich und bewunderte auch ihn. Es war ein Hund, wie man in Wien noch wenige erblickt hatte. Hochbeinig, überschlank, mit langer, dünner Schnauze, erinnerte er an ein Windspiel, war aber um vieles größer, hatte außerdem ein langhaarig gelocktes Fell und eine buschige Rute, die einem kleinen Banner glich. Sein Rücken glänzte in einem fast blonden, tiefen Gelbbraun, seine Flanken, seine Brust und sein Hals waren wie von weißer Seide, und ein ganz schmaler weißer Strich lief ihm über die Stirn zwischen den gelben Scheiteln bis nach vorn zur Nase. Es hieß, diese neuartigen Hunde seien aus Rußland gekommen und als Hasenfänger unübertrefflich. Lukas betrachtete den Hund genau, sah, wie er in einem hochwiegenden, leichten Trab, zierlich und vornehm die dünnen, langen Beine setzte, wie er sich immer knapp beim Wagenschlag hielt und manchmal aufmerksam zu den Kristallscheiben emporschaute.

Langsam rollte die Karosse vorüber. Kürassiere folgten, nach ihnen eine Reihe hochbepackter Wagen, rasselnd, polternd, von Maultieren gezogen. Lukas wartete das Ende nicht ab, wandte sich mit einem Male wie unwillig weg, drängte fort aus dem Menschengewühl und suchte sich einen andern Weg, als habe er Eile. Werde ich immer hier gefangen sein? dachte er, immer hier allein bleiben, arm, hilflos, ohne Freude, Jahr um Jahr, bis ich zu Grunde gehe? Da zieht nun ein Haufen reicher Müßiggänger nach Florenz und ich muß dabei stehen, muß zuschauen und kann nicht von der Stelle! Sie werden frei dahinwandern über Berg und Tal, sie werden rasten, wenn sie müde sind, werden unter den Baumwipfeln der Hochwälder schlafen oder am Gestade silberner Flüsse, und eines Tages sind sie in Florenz, eines Tages gehen sie in Florenz umher, als war das selbstverständlich! Wird es ihnen etwas bedeuten, daß sie nun in Florenz sind? Oh, sie werden vielleicht finden, es sei recht hübsch, es sei recht ergötzlich und das Wetter sei recht angenehm, aber sonst wird es ihnen weiter nichts bedeuten. Gar nichts! Haben sie denn dort etwas zu tun, was sie hier nicht ebenso tun könnten, dort etwas zu suchen, was sie hier nicht gerade so finden? Aber ich muß hier bleiben. Ich habe meine Heimat dort, ich könnte meine Lehrer dort finden, die Lehrer, die es hier nicht gibt, ich könnte dort alles erfahren, was ich wissen muß, könnte malen, modellieren, zeichnen, ziselieren, könnte lernen, wie der Stein und das Metall bearbeitet wird, wie . . . ach alles könnte ich lernen und ich könnte alles mit Augen sehen, was die guten Arbeiter dort von altersher zustande gebracht haben.

Lukas war in seinem heftigen Zorn schnell gegangen, jetzt wurde er mutlos und traurig und seine Schritte waren gebunden. Ach was, seufzte er, man erfährt ja auch gar nichts, wenn man solch ein armer Teufel ist, der nie unter Leute kommt und sich mit niemandem zu reden getraut. Hätte ich gewußt, daß der Erzherzog nach Florenz reist, ich hätte mich als Diener angeboten, als Pferdejunge, als was immer, gleichviel, wenn sie mich nur mitgenommen hätten. Aber man erfährt nichts. Das ist das Unglück! Und jetzt beneide ich den Hund, der mitreisen darf, der sein Futter kriegt und sein Nachtlager und der in Florenz sein wird . . .

In leichten Flocken begann es zu schneien. Lukas sah zu dem grauen, engen Himmelstreifen zwischen den Häusern auf und fühlte an seinen Wangen die zarte Berührung des fallenden Schnees. Er raffte sich zusammen in der stärkenden Frische eines Entschlusses: wenn dieser Winter zu Ende ist, wird er nach Florenz wandern, sicherlich, das wird er tun. Wenn man nur erst wieder im Freien schlafen, wenn man wieder barfuß gehen kann, wird er zum Stadttor hinaus, immer die Straße, die nach Süden führt. Er wird betteln, was liegt daran? Er wird wandern bis ihm die Sohlen bluten und sich nachts im Walde verstecken, er wird, wenn ihn unterwegs eine Krankheit befällt, unter freiem Himmel liegen bleiben bis ihn die Sonne wieder gesund wärmt und er wird endlich sein Ziel erreichen.

Ohne es zu merken, war er mit solchen Gedanken schneller und immer schneller gegangen und stand nun auf der Bastei vor dem Haus, darin er jetzt wohnen sollte.

Unter dem engen Torbogen trat ihm eine Frau entgegen. Lukas kannte sie schon, wußte, daß sie das Weib des Pförtners sei, und war ihr dankbar, weil sie ihn freundlich aufgenommen und ihm lächelnd gesagt hatte, er brauche sich wegen der Miete für die Dachstube keine Sorge zu machen. Als sie ihn nun sah, lächelte sie wieder, geradeso wie beim ersten Mal. Sie war noch jung und von einer breiten, gleichsam aus den Kleidern drängenden Gesundheit und Frische.

»Da bin ich also . . .«, sagte Lukas.

Die Frau nickte, maß ihn mit raschem Auge und deutete leicht mit der Hand auf die Mappe, die Lukas unter dem Arm trug: »Ist das alles?«

Lukas schwieg. In der Mappe hatte er ein paar von den besten Zeichnungen seines Vaters, ein paar eigene Versuche, und das war wirklich alles, was er besaß.

Die Frau sah ihn freundlich an, als erwarte sie keine Antwort und als sei sie der Meinung, daß seine Armut nichts zu bedeuten habe. Es war ein milder, verstehender und tröstlicher Blick. Dann wies sie mit einer Kopfbewegung über ihre Schulter zurück ins Haus: »Geh’ nur. Weißt ja, wo es ist.«

Lukas schritt an ihr vorbei und wie er im Flur verschwand, sah sie ihm nach, wie jemandem, der in eine Falle geht.

Langsam stieg Lukas die gewundene, steile Treppe hinauf, von Dunkelheit so stark umfangen, daß er anfangs nur tastend einen Fuß vor den andern setzen konnte, bis er den Stein der Stufen als einen fahlen Schimmer wahrnahm. Er hatte den Blick nicht bemerkt, mit dem die Frau seinem Eintritt in das Haus gefolgt war, und er wußte auch nicht, warum man ihm die Dachkammer da oben so willig überließ, ohne nach Bezahlung zu fragen. Diese Dachkammer war freilich armselig genug, aber es stand doch ein Bett darin, ein Tisch war da und ein Stuhl, und so war sie ihm doch eine Wohnstätte, bot ihm Unterkunft und Zuflucht in einem Augenblick, in welchem er gefürchtet hatte, auf der Straße schlafen zu müssen. Das freundliche Lächeln der jungen Frau hatte ihm gleich das erstemal und eben jetzt wieder den Eindruck gegeben, man habe seine Not begriffen und wolle ihm eine Güte erweisen. Er nahm das beinahe als etwas Natürliches, dachte nicht weiter darüber nach und es fiel ihm also nicht im entferntesten ein, daß er eigentlich nur dazu benützt wurde, die Verrufenheit jener Dachkammer durch seine harmlose Gegenwart zu bannen. Lukas hatte keine Ahnung davon, daß in dem kahlen Raum, den er jetzt betrat, eine Woche vorher ein geheimnisvoller alter Mann auf eine geheimnisvolle Weise verstorben war. Viele Jahre hatte der alte Mann hier einsam gewohnt, von allen Nachbarn gefürchtet, mit stillem Grauen betrachtet und von keinem je enträtselt. Es war ein hochgewachsener blasser Mann, so mager, daß er in seinem langen, schlotternden Talar fast körperlos erschien, so bleich, als sei er längst schon tot, so schwach in jedem Schritt und jeglicher Bewegung, als könne ein Hauch ihn wegblasen, aber durch den schneeweißen Bart glühte die feine rote Schwunglinie seiner beständig geschlossenen Lippen wie unverwelkliche Jugend und der helle, gebieterische Blick aus seinen grauen Augen hatte die Kraft eines großen Lebens. Die Frau des Pförtners konnte sich seiner bis in die Tage erinnern, da sie noch ein Kind gewesen und hier auf der Bastei mit anderen Kindern gespielt hatte. Alle waren scheu vor ihm zurückgewichen, die Kleinen ebenso wie die Erwachsenen. Niemand hatte je ein Wort aus seinem Mund vernommen. Er war da, ging einsam, unnahbar und der anderen nicht achtend, an den Menschen vorbei; verschwand oft für lange Zeit und erschien plötzlich wieder, und alle hielten ihn für einen Magier. Einige Leute, welche glaubten, er sei in geheimen Künsten bewandert und könne vielleicht böse Krankheiten heilen oder beschwören, hatten seinen Beistand gesucht, aber er hatte kein Wort gesprochen, hatte ihre Fragen mit keiner Silbe erwidert, und sie waren, von der Macht seines Blickes eingeschüchtert und erschrocken, geflohen. Das war schon viele Jahre her, und von da an hatte sich niemand mehr ein Herz gefaßt, ihn anzureden. Nun war er etwa vor Wochenfrist in seiner Dachkammer als gräßlich entstellte Leiche aufgefunden worden, und die Dachkammer galt deshalb als ein Ort des Grauens, wo es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht geheuer und auch nicht geraten sei, zu wohnen. Man wollte einstweilen durch den jungen Mieter erproben, ob etwa das Gespenst des alten Mannes da oben umgehe, und gedachte dann, je nach Umständen, das Weitere zu veranlassen.

Lukas ahnte nichts von all diesen Dingen, als er nun die schmale Kammer betrat. Er legte die Mappe mit den Zeichnungen auf den Tisch, schaute flüchtig und ohne wirkliches Sehen umher und gab sich völlig seinen Gedanken hin. Es waren die Gedanken eines Menschen, der auf der Welt alles zu wünschen und nichts zu tun hat, die Gedanken eines Menschen, der mit leeren Händen dasitzt, in völlig leere Stunden blickt und in seinem Innern nur die eine Frage hört, was fange ich an? Findet sich für diese Frage eine bestimmte Antwort, dann ist die Not im Augenblick zu Ende, die Stunden, die sich gleich einer Wüste noch eben hindehnten, sind nicht mehr leer, sondern füllen sich mit Aufgaben, Plänen, Hoffnungen, ja mit Gewißheit, und die Hände empfinden die Kraft künftiger, naher Arbeit so sehr, daß sie vergessen, wie müßig sie eigentlich bisher noch sind. Allein dem Entmutigten antwortet in seinem Denken nur ein Gewirr von Einfällen, das er nicht zu entrollen vermag, ihm antworten hundert Stimmen, von denen jede gleichsam nur stotternd ansetzt und dann abbricht, bis sie alle miteinander schweigen und wieder nur die Frage übrig bleibt: »Was fange ich an?« Lange saß Lukas so in der Kammer und vernahm immer aufs neue den quälenden Klang dieser Frage. Endlich schüttelte er sich, warf diesen Gedanken ungeduldig beiseite und ergriff das Mittel aller Menschen, die ihrer Not keinen Ausweg wissen. Er begann zu träumen. Eines Tages wird ein reicher Herr zu ihm kommen und zu ihm sprechen: Du willst nach Italien und etwas Tüchtiges lernen? Brav, mein Sohn. Hier sind zehn Dukaten. Damit kannst Du ohne Sorgen deines Weges ziehen, es langt bis Florenz und weiter noch. Nimm das Geld nur ruhig an, es ist ein Geringes für mich, denn zehn Dukaten setze ich oft auf eine Karte und achte es nicht einmal der Rede wert, wenn ich sie fünf- oder zehnmal des Abends verliere. Zehn Dukaten hab ich, wie oft schon, einem jungen Mädchen für ein Lächeln geschenkt. Da sieh die Schnalle an meinem Schuh, sie ist dreißig Dukaten wert, und dennoch hab ich mich keine Minute lang geärgert, als mir die eine davon gestohlen wurde.

Sicherlich, fuhr Lukas in seinen Gedanken fort, gibt es viele gute Menschen auf der Welt. Der Vater hat es oft gesagt, und ich glaube, er hatte recht. Aber wie merkwürdig, daß man die guten Menschen erst bitten muß. Wenn sie gut sind, dann wissen sie doch, daß andere verschmachten. Und sie wissen auch, daß man oft um ein Geringes, um den Preis einer Schuhschnalle, Menschen zu retten vermag. Ist es Güte, dem Bettler an der Kirchentüre und an den Straßenecken Almosen zu geben? Er bleibt, auch mit der Gabe in der Hand, immer noch ein Bettler. Viele, sehr viele gute Menschen müssen auf der Welt vorhanden sein und viele von ihnen müssen an dem Bettler vorübergehen, damit dieser sein tägliches Brot habe. Also reicht die Güte doch nicht weiter, als bis zu diesem Stück Brot. Und viele gute Menschen bringen es nicht zuwege, daß ein Bettler nicht mehr betteln muß. Aber er wäre ja gar kein Bettler geworden, wenn man ihm geholfen hätte. Vielleicht ist es das Schlimmste auf der Welt, daß die Menschen aneinander vorübergehen.

Lukas stand auf und ging ans Fenster, angelockt von dem weiten Himmel, der sich da draußen zu öffnen schien. Es war ein kleines Dachfenster, zu dem man auf zwei groben Holzstufen emporsteigen mußte. Erfreut lehnte sich Lukas über den breiten Bord und gewahrte die schöne Fernsicht, die sich hier bot. Tief unter ihm dunkelten die Baumwipfel auf der Bastei, vor den Mauern lag das große, grüne Brett des Glacis, auf dem sich Straßen und Wege gleich weißen Zeichenstrichen kreuzten, jenseits davon waren die Häuser, Dächer und Kirchtürme der Vorstadt und noch weiter, darüber hinaus verlief die hügelige Landschaft bis fern zu dem zarten Dunst der Berge.

Mit einem rasch umfangenden Blick hatte Lukas dies Bild in sich aufgenommen, und nun er in der Lust des Betrachtens das einzelne erfassen wollte, gewahrte er auf der breiten Straße, die das Glacis zur Vorstadt hin durchquerte, einen langen Zug, der in mäßiger Eile vorwärts strebte, und der einem einzigen lebendigen Wesen glich, das sich vielbeinig mit wellig bewegtem Rücken dahin schob. Lukas betrachtete das Schauspiel zuerst ganz harmlos, bis er plötzlich erkannte, daß es derselbe Zug sei, dem er vorhin auf dem Platz vor der Michaelskirche begegnet war. Eine heftige Erregung packte ihn an. Jetzt sah er genau, trotz der Entfernung: dort ritten die Kürassiere voraus. Wie das Licht über die trabende Schar hinspielte und in ihren Helmen manchmal mit kurzem Strahl erblitzte, waren sie deutlich kennbar. Dort fuhren die Reisewagen, die jetzt aussahen wie dunkle, krabbelnde Käfer. Und hinterdrein folgte wieder ein Troß von Reitern. Lukas blickte unverwandt hinüber. Das war nun eine Gemeinschaft vieler Menschen, die von dannen zog. Dicht beisammen, bildeten sie ein Ganzes, waren schon abgetrennt von der Stadt, schon losgelöst von allen anderen, die hier am Fleck klebten und zurückblieben. Unsichtbar, weit über fremde Länder hinweg, lag ein Ziel, das sie an sich riß, sie in eine Bewegung gesetzt hatte, die nicht aufhören wird, bis das Ziel erreicht ist, bis sie eins mit ihm geworden sind. Lukas starrte hinüber. Seine Augen mußten mitwandern. Er sah das Reisen selber, und sein Herz begann stürmisch zu klopfen. »Die Glücklichen«, seufzte er, »ach, die Glücklichen!«

Der schöne Hund fiel ihm ein, der neben der Karosse des Erzherzogs einhergelaufen war. Lukas schlug mit der Faust auf das Fensterbrett und rief dabei voll Ingrimm: »Oh Gott . . . selbst diesen Hund beneide ich!« Seine Sehnsucht brach aus und er schlug bei jedem Wort mit der Faust auf das Fensterbrett: »Mit . . .! Mit . . .!« Und in einem plötzlichen Einfall rief er: »Ja, wenn ich auch nur jeden anderen Tag ich selber sein dürfte, nur jeden anderen Tag, dann wär’ ich schon zufrieden . . . meinetwegen . . . was liegt daran?. . . dann möchte ich dieser Hund sein und mit auf die Reise gehen . . .«

Im selben Augenblick lief er als Hund neben dem Wagen des Erzherzogs einher.

* * * * *

Lukas hatte, als er auf das Fensterbrett schlug, nicht bemerkt, daß da in das glatte, altersgraue Holz ein metallisch rot schimmernder Ring eingelassen war. Er hatte in seiner Erregung des heftigen Spieles seiner Hand überhaupt nicht geachtet. Daß der dünne Reif, der einen Kreis im Holz zog, aus purem Gold sei, konnte Lukas nicht wissen, am allerwenigsten vermochte er zu ahnen, daß dieser Stelle die Kraft innewohne, jeden Wunsch eines Menschen zu erfüllen, dessen Hand während des Sprechens in den Kreis griff. Lukas hatte laut gesprochen, ohne es zu wissen, seine aufschlagende Faust hatte dabei jedesmal in den magischen Kreis getroffen und so war alles geschehen. Lukas fühlte nur, daß ihn nach dem letzten Wort ein Taumel ergriff, daß es ihm vor den Augen schwindelte, als ob er in eine tiefe Ohnmacht gerissen würde. Ein Schlag zuckte durch seinen Körper, so gewaltig, daß ihm der Atem wegblieb. Aber das Ganze hatte kaum eine Sekunde gedauert, und wie nun Lukas neben dem Wagen des Erzherzogs daherlief, meinte er zu träumen.