Impress
Die Macht der Gefühle
Impress ist ein Imprint des Carlsen Verlags und publiziert romantische und fantastische Romane für junge Erwachsene.
Wer nach Geschichten zum Mitverlieben in den beliebten Genres Romantasy, Coming-of-Age oder New Adult Romance sucht, ist bei uns genau richtig. Mit viel Gefühl, bittersüßer Stimmung und starken Heldinnen entführen wir unsere Leser*innen in die grenzenlosen Weiten fesselnder Buchwelten.
Tauch ab und lass die Realität weit hinter dir.
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Larissa Schira
Love me faster
**Liebe auf der Überholspur**
Als Selina ungebremst einem anderen Autofahrer die Vorfahrt nimmt, rechnet sie mit dem Schlimmsten. Doch sie kommt mit einem Schrecken davon und kann es nicht fassen, als sich ihr Unfallgegner als Daniel Breuning entpuppt – der aufgehende Star der Rennfahrer-Szene. Und obwohl sein teurer Wagen einen üblen Schaden davongetragen hat, scheint ihn das überhaupt nicht zu interessieren. Stattdessen lädt er sie und ihren Bruder Alex zu seinem Rennen nach Belgien ein. Kurz darauf tut die sonst so vorsichtige Tiermedizin-Studentin etwas, das überhaupt nicht zu ihr passt. Sie reist mit ihrem Formel-1-begeisterten Bruder nach Spa und folgt Daniels funkelnden braunen Augen in eine Welt voller Glamour und schneller Autos. Aber ein Leben im Scheinwerferlicht hat auch seine Schattenseiten …
Für meinen Mann, der das Talent hätte, der beste Rennfahrer der Welt zu werden
Nürnberg, Deutschland
»Wie viel hast du dem Fahrprüfer gegeben?«, fragt Alex, tastet nach dem Griff über der Beifahrertür und krallt sich mit beiden Händen daran fest. Idiot. Würde das Fahren nicht meine volle Konzentration fordern, hätte er schon längst meine Faust in der Seite.
»Vielleicht liegt mangelndes Fahrtalent ja in der Familie. Wer von uns hat sein erstes Auto nach zwei Wochen zu Schrott gefahren?«
Er wirft mir einen vernichtenden Blick zu, ich muss mir aber ein Grinsen verkneifen.
»Das war ein Rennunfall, okay? Das wäre mir nie passiert, wenn ich so lahm durch die Stadt schleichen würde wie du.«
Sofort trete ich das Gaspedal weiter nach unten. Meine Vernunft schlägt Alarm, doch sein entsetztes Keuchen ist das Risiko definitiv wert.
»Rot! Rot heißt bremsen!«
Ich gebe erneut Gas und nutze die letzten Meter. Dann lege ich eine Vollbremsung hin. Das Quietschen der Reifen lässt mein Herz eine Etage tiefer rutschen. Das Auto kommt jedoch einige Meter vor der Haltelinie zum Stehen.
Ich grinse zu Alex hinüber, dessen Gesicht den gleichen Weißton angenommen hat wie sein Shirt.
»Siehst du? Ich habe alles unter Kontrolle.«
Er schnaubt und schüttelt kaum merklich den Kopf.
»Wenn du so weitermachst, schaffst du es nächste Woche nicht mal bis zur Autobahn. Im Ernst, ich kann dich so nicht bis nach München fahren lassen. Du wirst dich umbringen.«
Ich rolle mit den Augen, doch seine Worte versetzen mir einen Stich. Auch wenn ich es nicht zugeben werde: Er hat recht. Mit dem Fahrlehrer an meiner Seite und dem Wissen, dass im Notfall sofort jemand eingreift, war alles einfacher. Aber es hilft nichts. Ich nutze die kurze Rotphase, um meine Überforderung hinunterzuschlucken. Nachdem ich all meine Ersparnisse in diese Karre gesteckt habe, kommt es nicht infrage, plötzlich doch jedes Wochenende mit dem Zug zu pendeln. Und wenn ich nicht übe, werde ich mich nie sicherer fühlen. Mit meinem Bruder an der Seite ist das allemal besser als alleine.
Die Ampel springt auf Grün. Ich würge den ersten Gang rein und fahre mit einem Ruckeln an.
»Lassen wir es lieber langsam angehen. Da vorne rechts. Im Wohngebiet kannst du nicht viel falsch machen.«
»Stimmt. Höchstens ein paar Kinder oder Katzen überfahren«, murmle ich, setze jedoch den Blinker.
Als wir in die Tempo-30-Zone einbiegen, lockern sich meine Muskeln sofort. Die von Eichen gesäumte Straße ist menschenleer. Hier kann ich mich nur auf mein Auto konzentrieren, ohne ständig die anderen Irren beobachten zu müssen.
Ich werfe Alex einen Seitenblick zu. Er klammert sich immer noch verzweifelt am Griff fest.
»Hast du das von Anfang an gekonnt? Ich meine … hast du dich bei deinen ersten Fahrten nicht auch unwohl gefühlt?«
Er schenkt mir ein sanftes Lächeln.
»Um ehrlich zu sein, nein. Aber bei mir ist das auch was anderes. Es ist normal, nicht sofort perfekt zu fahren und ein paar Fehler zu machen. Dafür passen ja hoffentlich die anderen …«
Sein plötzliches Stocken lässt meine Glieder einfrieren.
»Scheiße! Brems doch!«
Bevor ich verstehen kann, was passiert, schnellt mein rechter Fuß wie von selbst aufs Bremspedal. Zu spät. Ein silberner Schatten taucht in meinem Blickfeld auf.
Mein eigener Schrei übertönt beinahe den Knall. Dann schneidet sich der Sicherheitsgurt in meine Schulter. Scheiße. Das war’s. Ich kneife die Augen zusammen und halte die Luft an. Warte auf den Moment, in dem sich Splitter in meine Haut bohren, mein Kopf auf das Lenkrad knallt und alles schwarz wird. Warum bin ich in dieses verdammte Auto gestiegen? Ich wusste von der ersten Sekunde an, dass das nur schiefgehen kann.
»Verdammte Scheiße, schon mal was von rechts vor links gehört?!«
Ich blinzle ungläubig zur Beifahrerseite. Wir stehen. Alex durchbohrt mich mit seinem Blick und hat offensichtlich kein anderes Problem, als mich anzuschreien. Vorsichtig richte ich mich im Sitz auf und sehe an mir hinunter. Meine Hände zittern unkontrolliert, doch ich kann nirgendwo Blut entdecken. Alles in Ordnung.
Ich stoße die angestaute Luft aus und zwinge mich, tief durchzuatmen. Ruhig bleiben. Es ist nur ein bisschen Blech. Uns geht es gut.
Als ich aus dem Beifahrerfenster blicke und mir langsam dämmert, was ich angerichtet habe, überkommt mich jedoch der Impuls, mich unter dem Sitz zu verstecken. Die silberne Motorhaube in der Seitentür sieht teurer aus als alles, was ich jemals besitzen werde.
Ein Klopfen am Fahrerfenster lässt mich zusammenzucken. Ich reiße den Kopf herum und blicke in das Gesicht eines jungen Mannes. Er kann kaum älter sein als ich. Was mich jedoch noch mehr überrascht als sein Alter ist das Schmunzeln, das auf seinen Lippen liegt. Hat er getrunken oder ist er nur vollkommen bescheuert? Immerhin habe ich gerade seine Luxuskarre geschrottet. Wie kann man bei diesem Anblick lachen?
Ich wende mich hilfesuchend an Alex, doch sein wütender Gesichtsausdruck spricht Bände.
»Das kannst du schön alleine ausbaden. Ich komm hier sowieso nicht raus«, brummt er und deutet auf den Sportwagen, der seine eingedellte Tür blockiert.
Mit klopfendem Herzen taste ich nach dem Türgriff und kämpfe mich aus dem Auto. Der Kerl tritt einen Schritt zurück und legt den Kopf schief. Dabei fällt ihm eine Strähne seiner dunklen, verwuschelten Haare in die Stirn. Sein Blick trifft mich mit einer solchen Intensität, dass ich am liebsten wegsehen würde. Doch ich straffe die Schultern und trete auf ihn zu.
Sein Schmunzeln weitet sich zu einem Grinsen.
»Bremsen ist nicht so deine Stärke, hm?«
Das Blut steigt mir in die Wangen. Ob es an seiner Unterstellung liegt oder den kleinen Grübchen, die sich beim Sprechen auf seinen Wangen bilden, kann ich jedoch nicht sagen.
»Bei einem Auto, für das man einen sechsstelligen Betrag hinblättern muss, würde ich auch erwarten, dass die Bremsen besser funktionieren«, grummle ich und laufe an ihm vorbei, um mir den Schaden genauer anzusehen.
Er zuckt mit den Schultern und folgt mir.
»Vielleicht war ich auch ein bisschen zu schnell.«
Ich drehe mich zu ihm um und runzle die Stirn.
»Ein bisschen? Du bist da rausgeschossen, als wärst du in einer Verfolgungsjagd.«
Statt einer Antwort zieht er sein Handy hervor und macht einige Fotos vom Unfall. Als ich die eingedrückte Tür und die Motorhaube des Sportwagens genauer betrachte, lässt der Schock langsam nach. Alles nicht so schlimm. Die Tür wird man nicht mehr retten können. Aber beide Autos sehen noch fahrbereit aus und die Versicherung wird das hoffentlich regeln.
Erst jetzt fällt mir auf, dass ich nicht die geringste Ahnung habe, was ich machen muss. Fotos sind schon mal nicht schlecht. Und dann? Die Polizei holen? Mir seinen Ausweis zeigen lassen? Doch diesem Kerl gegenüber, der eine so unerschütterliche Ruhe und Souveränität ausstrahlt, will ich nicht zugeben, dass ich mich nicht auskenne.
»Hol doch schon mal deine Sachen«, schlägt er vor und kehrt zu seinem eigenen Wagen zurück.
Ich stocke. Habe ich mich gerade verhört? Meine Sachen holen?
»Einer Fremden in die Seite zu fahren und sie dann zu bitten, mit dir irgendwohin zu fahren, ist echt eine seltsame Anmache.« Kaum sind die Worte aus mir herausgesprudelt, beiße ich mir auf die Zunge. Das Lachen, das er zu unterdrücken versucht, verrät mir, dass ich ihn vollkommen falsch verstanden habe. Verdammt. Wie blöd will ich mich heute eigentlich noch anstellen? Er muss mich sowieso schon für minderbemittelt halten.
Peinlich berührt wende ich mich ab und betrachte konzentriert die Spitzen meiner dunklen Sneakers. Mein Gehirn rattert. Doch der Druck ist zu groß. Mir fällt kein cooler Spruch ein, um meine Aussage wie einen Scherz dastehen zu lassen.
»Oh, ich würde dich liebend gerne mitnehmen. Aber da hätte dein Freund sicher was dagegen.« Er deutet mit dem Kopf zu Alex hinüber. »Ich habe eher deine Versicherungsunterlagen und den Fahrzeugschein gemeint.«
Die Temperatur in meinen Wangen erreicht ihren Höchstpunkt und mein Kopf sieht garantiert aus wie ein kandierter Apfel. Er meint es ernst. Meine Gedanken überschlagen sich. Die Vorstellung, in seinen Wagen zu steigen und mit ihm ins Nirgendwo zu fahren, gefällt mir viel zu gut.
»Bruder. Nicht Freund«, antworte ich und nutze die Gelegenheit, um ebenfalls zur Fahrerseite zurückzukehren. Ich muss mich beruhigen, bevor noch mehr Blödsinn aus meinem Mund kommt.
»Gib mir mal die Mappe aus dem Handschuhfach.«
Mit einer Geste bedeute ich Alex, sich zu beeilen. Doch er reagiert nicht. Statt das Fach zu öffnen, starrt er mich mit großen Augen an.
»Heilige Scheiße. Weißt du überhaupt, wer das ist?« Er fährt sich durch die Haare und schüttelt ungläubig den Kopf.
»Du kennst ihn? Ein Studienkollege von dir?«, rate ich, obwohl es mich eigentlich nicht interessiert. Die Situation ist schon unangenehm genug. »Gibst du mir jetzt die Papiere oder muss ich auf deinen Schoß klettern und sie mir selbst holen?«
Er lacht auf. »Das ist Daniel Breuning, verdammt. Er fährt in der Formel 3 um den Titel.«
Ich ziehe die Brauen nach oben. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen steht dort draußen ein Star vom Kaliber Brad Pitts. Der Name sagt mir jedoch überhaupt nichts und ich kann mich nicht erinnern, diesen Kerl jemals irgendwo gesehen zu haben.
»Also ein drittklassiger Rennfahrer? Wow, was für eine Ehre. Besonders gut fahren kann er offensichtlich trotzdem nicht.«
Genervt beuge ich mich über ihn und will mir die Mappe selbst besorgen. Alex greift aber nach meinem Arm und hält ihn fest.
»Er gehört zur Weltspitze. Das hat nichts mit drittklassig zu tun. Es wird gemunkelt, dass er für die nächste Saison einen Deal in der Formel 1 abgeräumt hat.«
Nun werde ich doch hellhörig.
»Du verarscht mich.«
»Was denkst du denn, warum er mit 21 Jahren einen McLaren 600LT fährt?«
Ich schlucke. Der letzte Rest Selbstbeherrschung, den ich bis gerade eben noch aufrechterhalten konnte, verflüchtigt sich augenblicklich. Scheiße. Und ich bin ihm auch noch so respektlos gegenübergetreten. Hätte Alex das nicht gleich sagen können? Er hat bestimmt den teuersten Anwalt des Landes und wird mich am Ende noch wegen fahrlässiger Körperverletzung anzeigen. Und obwohl ich das Ziehen in meiner Brust zu ignorieren versuche, muss ich mir eingestehen, dass es nicht nur das ist, was mich aus dem Konzept bringt. Insgeheim hatte ich gehofft, er könnte seine Aussage ernst gemeint haben. Dass er mich wirklich gerne mitnehmen und vielleicht auf einen Kaffee einladen würde. Wie lächerlich, überhaupt darüber nachzudenken. Natürlich war das nur ein blöder Spruch.
Eilig angle ich die Papiere aus dem Handschuhfach und lasse den kreidebleichen Alex alleine im Auto zurück.
Der Motor des McLaren gibt beim Anlassen ein tiefes Röhren von sich. Vorsichtig manövriert Daniel seinen Wagen rückwärts aus meiner Seitentür hinaus. Das Blech knackt lauter als beim Aufprall, als sie sich schlagartig wieder nach außen biegt. Die Kratzer und Dellen sind jedoch nicht zu übersehen.
Alex springt sofort aus dem Wagen und zupft sein Shirt zurecht.
»Ach, jetzt willst du mir plötzlich doch helfen? Ganz uneigennützig?«
Er wirft mir einen mahnenden Blick zu, zieht mir die Mappe aus der Hand und schlendert betont lässig zum Sportwagen hinüber, der nun auf der Gehsteigkante parkt. Als Daniel wieder aussteigt, stolpert er jedoch beinahe über seine eigenen Füße. Das macht die Situation nicht besser. Verlegen reibt er sich den Nacken.
»Hey … tut mir echt leid um das tolle Auto. Meine Schwester hat erst seit ein paar Wochen ihren Führerschein und …«
Daniel winkt sofort ab.
»Kein Stress. Ist nur ein bisschen Blech, lässt sich wieder ausbeulen.«
»Wie jetzt? Das juckt dich gar nicht? Bei diesem Geschoss? Ich …«, stottert Alex und weiß offensichtlich gar nicht, was er mehr bestaunen soll: Idol oder Traumauto. Ich trete hinter ihn und klopfe ihm auf den Rücken.
»Eigentlich wollte er dich nur fragen, ob er ein Foto mit dir machen darf oder du auf seinem Hintern unterschreibst.«
Dafür ernte ich einen Ellbogenstoß in die Nieren, doch das ist es mir wert. Daniels dunkle Augen leuchten auf und er hat offensichtlich Mühe, ein Lachen zu unterdrücken. Mit einem unschuldigen Lächeln reiche ich ihm die Unterlagen.
»Wenn er meine Rennen fleißig verfolgt, kennt er sich mit Fahrtechniken auf jeden Fall besser aus als du«, verteidigt er Alex. Unter anderen Umständen hätte ich mich beleidigt gefühlt. Doch sein schelmisches Grinsen entschädigt mich für seinen dummen Spruch und zeigt mir, dass ich ihn nicht allzu ernst nehmen sollte.
Er zieht meine Fahrzeugpapiere und Versicherungsunterlagen aus der Mappe und reicht mir im Gegenzug seine Papiere. Ich tue es ihm gleich und fotografiere alles ab. Dann schiebt er mir noch eine Hochglanz-Visitenkarte zu.
»Wenn du es auch lernen willst, ruf an, Selina.« Beim Klang meines Namens aus seinem Mund läuft mir ein wohliger Schauer über den Rücken und ich starre verlegen auf das Kärtchen. Schon wieder weiß ich nicht, ob er es ernst gemeint hat oder mir seine Nummer nur gibt, um über den Unfall im Austausch bleiben zu können.
Alex rettet mich. Er räuspert sich und streckt Daniel vorsichtig sein Handy entgegen.
»Könnten wir wirklich ein Foto machen? Wär richtig cool.«
»Na klar.«
Daniel nimmt es, reicht es aber sofort an mich weiter.
»Würdest du schnell eins machen?«
Ich nicke. Seine Finger streifen beiläufig meine Hand, als ich es entgegennehme und hinterlassen ein Kribbeln auf meiner Haut. Verdammt, warum benimmt sich mein Körper plötzlich wie der eines Teenagers? Hätte ich nicht mit einer alten Frau zusammenstoßen können? Dann wäre das alles viel einfacher gewesen.
Die beiden stellen sich näher zusammen und legen den Arm umeinander. Auf den ersten Blick könnte man denken, sie wären seit Jahren beste Freunde.
Ich schieße drei Fotos, dann gebe ich das Handy an Alex zurück, der übers ganze Gesicht strahlt.
»Cool, danke, Mann!«
»Nichts zu danken. Verlink mich gerne, falls du es postest, dann kann ich es teilen.« Er streckt Alex die Hand entgegen, der enthusiastisch einschlägt. So gerne ich Daniel auch als rücksichtslosen Raser abstempeln würde, komme ich nicht umhin, seine Geste zu bewundern. Sein Erfolg scheint ihm nicht zu Kopf gestiegen zu sein und er schafft es mit so wenigen Worten, uns das Gefühl zu geben, Alex wäre sein Kumpel, nicht ein Fan.
Ich werfe einen Blick auf mein Handy.
»Wir müssen weiter. Du hörst von meiner Versicherung.« Meine Stimme klingt kälter als beabsichtigt.
Alex runzelt die Stirn. Natürlich ist das Quatsch und es tut mir leid, ihm die Möglichkeit auf eine Unterhaltung mit einem seiner Idole zu nehmen. Aber ich muss hier weg. Endlich wieder einen klaren Kopf bekommen, bevor dieser Kerl mich noch mehr in Verlegenheit bringen kann.
»Kannst mir gerne mal wieder reinfahren. So schöne Unfälle habe ich selten.«
Habe ich mir das gerade eingebildet oder hat er mir zugezwinkert? Er wendet sich ab, eilt zu seinem Wagen und winkt uns nochmal zu, bevor er sich auf den Fahrersitz schwingt. Verunsichert winke ich ebenfalls und beobachte, wie er mit donnerndem Motor die Straße hinunter verschwindet. Unwillkürlich muss ich schmunzeln. Der Unfall hat ihn scheinbar nicht dazu bewegt, in Zukunft langsamer zu fahren.
Ich kehre mit Alex ebenfalls zum Auto zurück. Die Anspannung fällt langsam von mir ab. Unzählige Gedanken strömen auf mich ein.
Als ich einsteigen will, legt Alex die Hand auf meine Schulter und hält mich zurück.
»Danke für das Erlebnis … aber das ist keine gute Idee. Lass mich weiterfahren, Würmchen.«
Ich wünschte, mein Blick könnte töten. Er weiß genau, wie sehr ich diesen Spitznamen hasse. Er sieht mich jedoch nicht mal an, zieht mir den Autoschlüssel aus der Hand und drückt sich vorbei. Ich spare mir die Mühe, zu protestieren. Es stimmt ja. Ich wäre gerade nicht mehr in der Lage, konzentriert zu fahren.
Während wir uns auf den Heimweg machen und Alex aufgeregt auf mich einredet, ziehen seine Worte wie leere Hüllen durch meinen Kopf. Ich kann ihm nicht zuhören. Der Unfall lässt mich nicht mehr los. Genauso wenig wie Daniels Lächeln.
Nürnberg, Deutschland
Trotz Alex Tetris-Strategie passt der letzte Karton nur noch auf den Beifahrersitz. Die Aussicht, ihn während der gesamten Fahrt auf dem Schoß balancieren zu müssen, lässt mich seufzen. Auf Unterwäsche und Socken kann ich aber leider nicht verzichten.
»Neunzehn Jahre in einem Auto«, murmelt er und reibt sich die geröteten Hände. Ich nicke knapp und versuche mich an einem Lächeln, doch meine Mundwinkel verkrampfen. Schweigend folge ich ihm durch den Vorgarten zurück ins Haus. Dabei wird mir jedoch nur noch schmerzlicher bewusst, dass ich gerade einen Lebensabschnitt hinter mir lasse: meine Kindheit. Wenn ich das nächste Mal durch diese Haustür trete, werde ich nur noch ein Besucher sein. Mein Herz schlägt einen trägen Takt. Plötzlich bin ich mir nicht mehr sicher, ob es eine gute Idee ist, wegzuziehen. Denn ich ziehe immerhin nicht nur ein paar Straßen weiter, sondern gleich in eine fremde Stadt.
Ich werde mich zurechtfinden. Die anfängliche Einsamkeit macht mir allerdings Angst. Wie sehr werde ich das hier vermissen: Alex, meine Eltern, meine Freunde, mein Zuhause? Bisher habe ich es vermieden, darüber nachzudenken. Doch nun kann ich die Sorgen nicht länger zurückhalten, die sich wie kleine Nadelstiche in meinen Kopf bohren.
Nicht einmal der Duft der Ziegenkäse-Quiche kann meine Laune heben. Mama stellt die dampfende Form auf den Esstisch und winkt uns energisch zu sich. Ich nehme gegenüber von Papa Platz, auf dessen Gesicht sich meine eigenen Emotionen spiegeln.
»Hast du deinen Stundenplan schon ausgedruckt? Vergiss nicht, die Raumnummern dazuzuschreiben. Sonst kommst du schon zur ersten Vorlesung zu spät.«
»Montag 9.30 Uhr, Einführung in die Zoologie, Raum 1.107«, gebe ich zurück und reiche Mama meinen Teller. Sofort entspannen sich seine Züge.
»Mach dich nicht verrückt. Sie schafft das. Und sie kann dich ja jederzeit anrufen, wenn sie so hilfreiche Tipps braucht.« Mama schiebt mir ein riesiges Stück zu und tätschelt Papa die Schulter. Ihr ironischer Unterton entlockt mir ein Grinsen. Verdammt, auch wenn sie anstrengend sind, ich werde die beiden vermissen.
Trotzdem zweifle ich nicht an meiner Entscheidung. All die Stunden, in denen ich mich in meinem Zimmer verbarrikadiert und gelernt habe, statt mit Marie und meinen anderen Freundinnen durch die Straßen zu ziehen, sollen schließlich nicht umsonst gewesen sein. Mein Traum, zum Tiermedizinstudium zugelassen zu werden, hat sich erfüllt. Dafür hätte ich viel mehr als einen Umzug nach München in Kauf genommen.
Während ich mein Mittagessen genieße, zerpflückt Alex die Quiche mit der Gabel. »Hättest du nicht wenigstens in eine Hälfte etwas Speck reinschmeißen können?«
Mama wirft ihm einen vorwurfsvollen Blick zu.
»Wenn du in zwanzig Jahren ausziehst, macht Mama dir bestimmt auch ein Abschiedsmahl – einen ganzen Berg Fleisch und Speck, nur für dich allein.«
Ich rechne mit einem Tritt von der Seite, doch auch er scheint mir angesichts des nahenden Abschieds nicht böse sein zu können und schiebt sich wortlos einen Bissen in den Mund.
Das Mittagessen ist ungewohnt still. Außer dem Kratzen der Gabeln auf den Tellern traut sich niemand, einen Laut von sich zu geben. Zum Glück versucht Mama nach einer Weile, die Stimmung mit Anekdoten über die Nachbarskinder zu heben. Ich bin ihr dankbar für die Ablenkung, das mulmige Gefühl in meinem Magen bleibt allerdings. Obwohl die Quiche perfekt ist, bin ich bereits nach einem kleinen Stück satt. Wird Zeit, dass wir loskommen. Wenn ich erst einmal weg bin und den Abschied hinter mir habe, wird es mir besser gehen.
Auch Alex scheint es eilig zu haben. Kaum hat er den Teller in die Küche getragen, schlüpft er in seine Schuhe.
»Hopp jetzt. Hab keine Lust, nachmittags in die Staus zu kommen.«
Schweren Herzens mache ich mich ebenfalls fertig. Dann atme ich durch, schließe die Augen und nehme den Duft meiner Heimat tief in mir auf, als könnte ich ihn dort für immer festhalten.
»Wir fahren!«, ruft Alex in die Küche und verschwindet nach draußen. Ich dagegen bleibe verunsichert im Flur stehen, warte auf Mama und Papa und lasse mich von beiden in die Arme schließen.
»Einen guten Start ins Studentenleben, mein Schatz«, haucht Mama mir ins Ohr. Das Zittern ihrer Stimme lässt meine Augen feucht werden. Aber ich reiße mich zusammen und winde mich aus ihrer Umarmung.
»Nicht heulen. Wir sehen uns doch alle zwei Wochen.«
Mama kneift die Lippen zusammen und nickt.
Bevor die Situation noch schlimmer werden kann, wende ich mich ab und will mich auf den Weg machen.
»Warte, das hätte ich fast vergessen!«, ruft Papa jedoch und eilt ins Wohnzimmer. Er kehrt mit zwei Briefen in der Hand zurück.
»Die waren heute Morgen für dich im Briefkasten. Sieht aus, als wären sie von der Versicherung. Solltest du nicht zwei Wochen hier liegen lassen.«
Er drückt sie mir in die Hand und ich nicke ihm dankend zu. Nichts wie raus hier.
Als ich mich mit dem Karton auf dem Beifahrersitz eingerichtet habe, startet Alex den Motor. Ich schließe die Augen und zähle die Sekunden, bis wir die Straße verlassen haben. Geschafft. Jetzt bin ich offiziell von Zuhause ausgezogen.
Je näher wir der Autobahn kommen, desto mehr werden meine wehmütigen Gedanken von Vorfreude und Aufregung abgelöst: ein neues Leben, neuer Alltag, neue Freunde, neue Möglichkeiten. Ich habe es selbst in der Hand. Und ich werde etwas Grandioses daraus machen.
Alex dreht das Radio auf und summt die fröhliche Melodie leise mit. Ich stimme mit ein und reiße nebenbei den ersten Brief auf, der vom Karton zu rutschen droht.
Er ist tatsächlich von der Versicherung. Angesichts der Summe, die unter dem Kostenvoranschlag der gegnerischen Partei prangt, wird mir übel. Scheiße. Da habe ich ja einen ordentlichen Schaden verursacht. Sofort taucht Daniels lockeres Lachen wieder vor mir auf. Ob er beim Werkstattbesuch immer noch so cool geblieben ist? Verstohlen werfe ich einen Blick auf mein Handy. Doch auch dieses Mal zeigt das Display keine neue Nachricht an. Natürlich nicht. Ich sollte aufhören, überhaupt daran zu denken, er könnte mir schreiben. Das ist lächerlich. Und wenn, dann würde er das wohl nur tun, um sich bei mir zu beschweren. Warum sollte er sich unter all den schönen, reichen und erfolgreichen Frauen dieser Welt ausgerechnet für mich interessieren?
Ich denke kurz darüber nach, Alex von der Summe zu berichten, verwerfe den Gedanken allerdings sofort wieder. Das darf ich mir sonst den Rest meines Lebens anhören – immer dann, wenn ich es gerade wieder vergessen habe.
Stattdessen öffne ich den zweiten Brief und bete, dass sich darin nicht noch mehr Schadensberichte befinden. Ein leeres Blatt Papier, nur mit meinen Daten adressiert, rutscht mir entgegen. Wie umständlich. Ich falte es auf. Und erstarre.
Zwischen den Seiten liegen schwarze Pässe mit roten Bändchen. Mein Puls beschleunigt sich so plötzlich, dass ich ihn in meinem Hals spüre. Ich muss dreimal lesen, was darauf steht. Ungläubig drehe ich sie in meinen Händen. Sie sind echt.
Alex dreht die Musik leiser.
»Was ist das?«
Ich öffne den Mund, doch es dauert einige Sekunden, bis meine Stimme mir wieder gehorcht.
»Zwei VIP Tickets für das Rennen in Spa nächste Woche.«
Er reißt den Kopf herum und der Wagen schlingert auf die rechte Spur, die zum Glück leer ist.
»Du verarscht mich.«
Ich halte ihm einen der Pässe vor die Nase. Zuerst reagiert er nicht. Dann übertönt sein aufgeregter Schrei den Fahrtwind.
»Er hat dir Tickets geschickt? Wusstest du das? Habt ihr geschrieben?«
Ich schüttle den Kopf und drehe das Papier in meinen Händen. Nichts. Doch im Kuvert werde ich fündig. Ein kleiner, quadratischer Zettel. Die Handschrift ist so schwungvoll und krakelig, dass ich sie kaum entziffern kann. Meine zitternden Hände machen die Situation nicht besser. Ich hole tief Luft und reiße mich für einen Augenblick zusammen. Vielleicht ist das nur ein Scherz. Auf jeden Fall ist es kein Grund durchzudrehen. Mit stockender Stimme lese ich vor:
Damit du mal siehst, wie das mit dem Fahren funktioniert ;) Die Zugtickets und die Hotelreservierung kommen per Mail, sobald du mir den Namen deines Bruders verraten hast. Das zweite Ticket ist für ihn. Ich freu mich auf euch!
Danny
Spa-Francorchamps, Belgien
Dreizehn. Der Helm bohrt sich in meinen Nacken, als ich aus der Kurve heraus beschleunige: links anfahren für Nummer 14, neunzig Grad. Die Muskeln in meinen Oberarmen brennen bereits. Das hält mich jedoch nicht davon ab, den Wagen an seine Grenzen zu bringen. Ich bremse an, halte das Lenkrad fest umschlossen und leiste den Fliehkräften Widerstand, die es mir entreißen wollen. Die Curbs rattern unter den Reifen und katapultieren mich beinahe aus dem Sitz. Ich schalte in den vierten Gang.
»Guter Run. Komm rein, genug für heute.«
Ich ignoriere die schnarrende Stimme in meinem Ohr. Jetzt nicht. Wenn ich morgen was reißen will, muss ich noch ein bisschen die Limits austesten und abspeichern, welche Bewegung zu welchem Zeitpunkt perfekt ist. Die Einfahrt zur Boxengasse fliegt an mir vorbei. Dann beschleunige ich auf der kurzen Geraden. Die Menge zu meiner Linken verschwimmt zu einem undeutlichen, bunten Meer. Doch das lenkt mich schon lange nicht mehr ab.
»Verdammt, Danny! Kannst du nicht einmal deinen Sturkopf ausschalten und auf das hören, was ich sage! Schluss jetzt, bevor die Rennleitung mir die Bude einrennt. Die warten nur noch auf dich. Ich warne dich, wenn du nicht sofort reinkommst und den Zeitplan für beide Rennklassen durcheinanderbringst, dann …«
»Meine Fresse, ja, ich komm rein«, knurre ich ins Mikro. Ganz toll. Die letzte Runde muss er mir mit seinem Gemotze auch noch versauen. Ich nehme Tempo heraus und nutze sie wenigstens, um mir jeden Zentimeter der Strecke einzuprägen. Durch die unzähligen Stunden im Simulator kommt sie mir aber bereits so vertraut vor, dass die Anspannung von mir abfällt. Startplatz zwei sollte mindestens drin sein. Den Rest regle ich beim Rennen.
Als ich den Wagen in die Boxengasse steuere und neben den Mechanikern zum Stehen komme, steht Matthias bereits wild gestikulierend vor mir. Seinen Anpfiff kann er sich sparen. Ich weiß genau, welche Leier er wieder auspackt. Betont langsam nehme ich das Lenkrad ab, ziehe den Helm ab und hebe mich aus dem Auto. Leider geht mein Plan nicht auf. Er nutzt die Sekunden nicht, um durchzuschnaufen, sondern reißt mir das Lenkrad aus der Hand und ist kurz davor, es in die Ecke zu donnern.
»Nächstes Mal fliegst du, das schwöre ich dir. Ich wünschte, ich hätte das schon längst gemacht. Wenn du nur nicht so verdammt schnell wärst. Du schaffst es jedes Mal, Unruhe im Team zu stiften und uns in Schwierigkeiten zu bringen. Kannst du nicht ein einziges Mal mit uns arbeiten statt gegen uns?« Die Ader an seiner Schläfe pulsiert mit jedem Wort stärker.
»Bleib cool. Ist nichts passiert, oder? Ihr könntet mir ja auch mal die eine Runde mehr gönnen, ein wenig hinter mir stehen und euch nicht vor der Rennleitung in die Hosen scheißen.«
Während die Mechaniker mein Auto in die Garage schieben, dränge ich mich an ihnen vorbei, um der Standpauke zu entkommen.
Matthias kann es jedoch nicht lassen und folgt mir.
»Es geht nicht nur um uns. Mit diesem unprofessionellen Verhalten wirst du auch nie ein Angebot aus der Formel 1 bekommen, egal, wie viele Pokale du abräumst.«
Abrupt bleibe ich stehen. Meine Hände ballen sich wie von selbst zu Fäusten. Er weiß genau, welche Karten er ausspielen muss, um mich zu kriegen. Dieser Mistkerl! Am liebsten würde ich mich umdrehen und ihm meinen Mittelfinger vor die Nase halten. Aber ich kenne die Grenzen.
Stattdessen atme ich tief durch und bemühe mich um einen sanften Tonfall. »Es tut mir leid, okay? Wir reden später. Ich hab jetzt zu tun.«
Ein Seufzen ist die einzige Antwort, die ich erhalte. Endlich lässt er mich in Frieden. Auf der Suche nach einem Anzug und einer Glatze inmitten des Teams marschiere ich durch die Box. Peter muss hier irgendwo stecken. Wird höchste Zeit, dass ich ihn losschicke. Obwohl der Druck des Trainings normalerweise schnell von mir abfällt, werde ich nun immer unruhiger. Die Strecke und die Techniken, die ich mir unbedingt merken wollte, haben sich ins hinterste Eck meiner Gedanken verkrochen. Heute gehen mir ganz andere Dinge durch den Kopf. Und ich bereue es jetzt schon, dieser Schnapsidee nachgegeben zu haben. Ich hätte wissen müssen, dass es mich meinen letzten Rest Ruhe und Konzentration kosten würde.
Endlich entdecke ich Peter neben der Tür. Er ist wie immer in sein Handy vertieft und bemerkt nicht, dass ich ihn zu mir winke. Ich stecke zwei Finger in den Mund und pfeife in voller Lautstärke.
»Kannst du zur Terrasse hoch und die beiden abholen?«
Er schiebt das Handy in die Tasche seiner Anzughose. Er trägt blau-weiße Streifen, das seltsamste Outfit im ganzen Rennstall. Aber es ist eine Garantie für gute Laune. Mir entlockt seine ausgefallene Art, sich zu kleiden, jedes Mal ein Grinsen.
Er quetscht sich zu mir durch, muss im Gewusel aber trotzdem fast schreien, damit ich ihn verstehe.
»Da war ich doch schon längst.«
Irritiert runzle ich die Stirn. Was soll das heißen? Sie sind nicht gekommen? Sofort wird mein Herzschlag träge. Quatsch. Natürlich sind sie hier, er hat nur nicht richtig nachgesehen. Und selbst wenn keiner da ist, juckt mich das doch nicht.
»Und du hast niemanden gefunden? Dann schau ich selbst nochmal schnell.«
Ich will sofort nach oben rennen. Bevor sie weg sind. Immerhin ist es schon zehn Minuten nach der vereinbarten Zeit. Peter hält mich aber an der Schulter fest.
»Sie warten vor der Tür. Konnte sie nicht mit reinnehmen. Wollte Matthias nicht. Könnten ja Spione von Prema sein oder was durcheinanderbringen.«
Meine Laune schießt sofort in die Höhe. Na wer sagt’s denn. Mein Gefühl hat mich nicht getäuscht. Die Freude in ihrer Mail von letzter Woche war echt. Und auch, wenn ich lieber cool bleiben würde, kann ich es kaum erwarten, sie wiederzusehen und durch die Boxengasse zu führen.
Ich bedanke mich bei Peter und folge ihm nach draußen.
Als wir den gut gesicherten Durchgang zur Boxengasse passieren, muss ich nicht lange suchen. Mein Blick wandert wie von selbst in ihre Richtung. Vielleicht ist es Selinas Strahlen, das den ganzen Vorplatz aufzuhellen scheint. Augenblicklich nimmt es meine volle Aufmerksamkeit ein. Unsere Blicke treffen sich und ein Lächeln huscht über ihre Lippen. Ich dagegen grinse wie ein Idiot vor mich hin. Mein Gott, reiß dich zusammen. Sie ist nur eine ganz normale Frau, die dir deinen Wagen zu Schrott gefahren hat. Kein Grund, sich so anzustellen.
Trotzdem entgeht mir keine ihrer Bewegungen. Mit federnden Schritten läuft sie auf mich zu. Ihre dunklen Locken hüpfen dabei auf und ab.
»Hey.« Eine unkreativere Begrüßung hätte mir auch nicht einfallen können.
»Hey, Alter, ich kann es immer noch nicht fassen, dass du uns eingeladen hast. Danke, Mann!« Alex ist mindestens genauso aufgekratzt wie bei unserer ersten Begegnung. Er streckt mir die Hand entgegen. Dankbar für die Initiative schüttle ich sie.
»Klar, warum nicht, wenn ich euch eine Freude damit machen kann? Hat alles geklappt bei der Anreise?«
»Da konnte nichts schieflaufen. Ich bin ja nicht gefahren«, erwidert Selina trocken und ich kann nicht anders, als zu grinsen. Diese Selbstironie hätte ich nicht von ihr erwartet, doch mir gefällt ihr lockerer Umgang mit dem Thema.
»Meinen Manager habt ihr ja schon kennengelernt.« Ich deute auf Peter, der einen Schritt hinter mir steht, bevor ich mich wieder Selina zuwende. »Er sieht vielleicht nicht so aus, aber er ist ein Kontrollfreak.« Ein Klaps trifft mich am Hinterkopf »Also wundert euch nicht, wenn er uns verfolgt. Er will nur sichergehen, dass ihr nichts anzündet oder mitgehen lasst.«
»Keine Sorge, ich hab nicht vor, noch mehr zu zerstören« Sie sieht mich nicht einmal an, während sie mit mir redet. Ihr Blick wandert an mir vorbei in Richtung der Securitys.
»Können wir jetzt endlich reingehen? Ich ertrage Alex’ Gezappel keine Sekunde länger«, sagt sie und läuft an mir vorbei, bevor ich etwas erwidern kann. Unglaublich. Was ist mit ihr passiert? Das schüchterne Mädchen, das auf den Boden gesehen hat, als ich mit ihr geflirtet habe, hat sie heute offensichtlich Zuhause gelassen. Umso besser, Gedanken lesen war noch nie mein Ding.
***
Während ich die beiden durch die Boxengasse führe, fällt mir erneut auf, dass ihr ähnliches Aussehen darüber hinwegtäuscht, wie unterschiedlich sie sind. Alex löchert mich ununterbrochen mit technischen Fragen. Es macht Spaß, mit ihm über meinen Trainingsrun zu fachsimpeln. Er hat wirklich was drauf. Selina dagegen hält sich im Hintergrund. Sie lauscht meinen Erklärungen aufmerksam und sieht sich alles interessiert an. Dabei kommt allerdings kein Mucks über ihre Lippen. Wahrscheinlich hatte sie bisher nicht viel mit Rennsport am Hut. Umso geehrter fühle ich mich, dass sie den weiten Weg auf sich genommen hat, um mich wiederzusehen. Oder hat sie das nur ihrem Bruder zuliebe gemacht?
Mein Auto interessiert sie jedenfalls. Mit großen Augen nähert sie sich den Mechanikern, die gerade kontrollieren, ob nach meinem Trainingsrun noch alles in Ordnung ist. Andächtig läuft sie um das Fahrzeug herum und ist kurz davor, sich zwischen die Arbeiter zu quetschen, um einen Blick ins Cockpit werfen zu können. Ich halte sie jedoch zurück. Immerhin arbeiten die Männer konzentriert und Besucher sind hier sowieso nicht gerne gesehen.
»Ich würde euch ja anbieten, eine Runde mit mir zu drehen … aber in einem Einsitzer ist das eher unpraktisch.«
Selina nickt verständnisvoll und wendet sich ab. Alex dagegen hält die Hand vor den Mund und tut so, als würde er mir etwas zuflüstern wollen.
»Ist auch besser so. Mich würdest du nicht mehr rausbringen und Selina würde dir alles vollkotzen.«
»Das war nur das eine Mal! Tu nicht so, als wäre das keine Absicht gewesen. Kein normaler Mensch driftet acht Runden durch den Kreisverkehr.«
Die Neckereien der beiden bringen mich zum Schmunzeln. Ein Wunder, dass sie freiwillig miteinander verreisen, ohne sich die Köpfe einzuschlagen.
Gleichzeitig wittere ich aber eine Chance. Die Chance, ein paar Minuten mit Selina alleine zu haben. Über etwas anderes als Rennsport mit ihr zu quatschen. Alex ist ein super Kerl. Doch solange er danebensteht, kann ich mich nicht dazu überwinden, seine Schwester anzusprechen. Auch wenn es völliger Quatsch ist. Ich habe ja keine bösen Absichten. Trotzdem hemmt mich seine Anwesenheit.
Im selben Moment, in dem ich die Worte ausspreche, weiß ich schon, dass ich sie später noch bereuen werde.
»Nicht der beste Ersatz für ein Formel-Auto … Mit ein bisschen Glück kann ich dir aber einen Platz im Safety-Car besorgen.«
Sein Mund klappt auf.
»Mann, krass … wegen mir musst du dir keine Umstände machen, aber es wäre schon richtig geil. Da sage ich nicht Nein!«
Hitze kriecht meine Brust hinauf. Plötzlich fällt mir auf, dass ich noch immer in meinem Rennanzug stecke. Ich zerre den Reißverschluss bis zur Hüfte auf, zwänge mich aus den Ärmeln und verknote sie vor mir.
»Dann werde ich mal sehen, was sich machen lässt. Aber heute klappt es nicht mehr. Eher morgen«, murmle ich, während sich in meinem Inneren schon die Gedanken überschlagen. Mist. Wie soll ich das anstellen? Unter anderen Umständen hätte ich Matthias angehauen. Als Teamchef hat er Kontakte zu allen Funktionären und somit auch die Möglichkeit, einen Gast auf einer Vorbereitungsrunde im Safety-Car mitzuschicken. Mit meinem besten Freund hat das letztes Jahr schließlich auch geklappt. Heute ist er aber garantiert nicht gut auf mich zu sprechen. Da kann ich mir das Fragen gleich sparen. Eher würde er mich auf der Motorhaube festbinden als mir diesen Gefallen zu tun. Peter, der mein großkotziges Angebot mitgehört hat, runzelt die Stirn und schüttelt hinter Selinas Rücken den Kopf. Auf ihn kann ich also auch nicht zählen.
Ich will mir jedoch nichts anmerken lassen. Schnell wechsle ich das Thema und führe die beiden zum Presseraum.
Spa-Francorchamps, Belgien
Die Atmosphäre in der Lounge über der Rennstrecke setzt diesem Tag ein Krönchen auf. Ich kann die unzähligen, neuen Eindrücke kaum verarbeiten. Alles zieht wie in einem Traum an mir vorbei. Die herausgeputzten Kellner, die zwischen den Tischen entlangwuseln, der Duft der teuren Köstlichkeiten, der in der Luft liegt, die prominenten Gäste, die sich an den Nebentischen verwöhnen lassen. Was habe ich zwischen ihnen verloren?
Zum Glück habe ich noch daran gedacht, ein schickes Sommerkleid einzupacken. Für diesen Anlass ist es zwar immer noch zu schlicht, gegenüber der Alternative Jeans und T-Shirt aber vertretbar. Ich habe nicht erwartet, dass ich es brauchen würde. Im Gegenteil. Während Alex von Einblicken in die Kommandozentrale und Partys mit den Formel-1-Fahrern geschwärmt hat, bin ich davon ausgegangen, Danny nur kurz über den Weg zu laufen und die restliche Zeit auf der Tribüne zu verbringen. Umso mehr frage ich mich nun, was er sich dabei gedacht hat, uns hierher einzuladen. Hier sitzen an jedem Tisch vornehme junge Frauen, die so viel besser in seine Welt passen würden als ich. Denkt er, ich bin eine von denen, die sich von seinem Reichtum einfach um den Finger wickeln lassen? Oder ist seine Freigiebigkeit zwei armen Fremden gegenüber eine Strategie, um sich ein besseres Image in der Öffentlichkeit zu erarbeiten?
»Selina?«
Ich schrecke aus meinen Gedanken hoch. Erst jetzt bemerke ich den Weinkellner neben mir. O nein. Warum habe ich nicht zugehört, was Danny und Peter eben mit ihm geredet haben? Von Wein habe ich ungefähr genauso viel Ahnung wie von Motorsport.
»Äh …«
»Sie nimmt den Chardonnay.« Danny ist meine Rettung. Ich nicke eifrig und schiebe dem Kellner mein Glas entgegen. Der füllt es jedoch nur einen Finger breit. Verwirrt ziehe ich es wieder zu mir.
»Ja, danke«, stammle ich. Alle Blicke am Tisch sind auf mich gerichtet. Warum verschwindet der Typ denn nicht?
»Du musst probieren«, flüstert Danny und ich stoße ein verlegenes Lachen aus. Ist das peinlich. Ich schwenke das Weinglas, wie ich es aus Filmen kenne und beobachte die Flüssigkeit, als könnte ich irgendwas erkennen. Dann nippe ich daran. Ja, eindeutig: Es ist Wein.
»Der ist perfekt, danke!« Ich bedeute dem Kellner, das Glas aufzufüllen.
»Eine gute Wahl.« Er schenkt nach und verzieht keine Miene, obwohl er garantiert gemerkt hat, dass ich nicht die geringste Ahnung habe. Peter, Alex und die beiden Kollegen von Danny nehmen ihr Gespräch wieder auf und ich kann durchatmen. Erfolgreich eine totale Blamage abgewendet.
»Sorry, wollte dich nicht überrennen. Kannst ruhig auch eine Cola bestellen, wenn dir das lieber ist.«
Wohlige Wärme breitet sich in meinem Bauch aus. Ob das am Wein liegt oder an Dannys zuvorkommender Geste?
»Nein, schon okay.« Ich nehme einen weiteren Schluck. »Der ist wirklich ganz gut. Die Weine, die ich bisher probiert habe, waren so bitter, dass es einem den Mund zusammenzieht.«
»Deswegen der Chardonnay. So süß wie du.«
Ein Grinsen stiehlt sich auf meine Lippen, während sich die Wärme in meinem Magen zu einem Feuer entwickelt. Heute bin ich mir sicher. Er hat es genau so gemeint, wie er es gesagt hat.
»Täusch dich da mal nicht. Wenn es nach Alex geht, bin ich alles andere als süß.«
»Das finde ich lieber selbst heraus.«
Eine weitere Bedienung taucht neben uns auf und serviert eine Antipastiplatte, obwohl ich mir von der Karte nur eine Hauptspeise ausgesucht habe. So spare ich mir die Antwort, kann den Anblick der Speisen aber nicht mehr genießen. Seine Anspielung hängt immer noch zwischen uns in der Luft und zaubert mir Bilder in den Kopf, die ich mir in den letzten Tagen nicht zu träumen gewagt hatte. Nur seine direkte Art ist mir noch nicht geheuer. Solche Sprüche kenne ich nur von den aufgeblasenen Jungs aus meiner Abiklasse. Von denen, die Mädchen wie Trophäen gesammelt und es bei jeder probiert haben. Ist Danny einer von ihnen? Oder kann ich meinem Gefühl trauen?
Mein Magen blubbert verdächtig und ich widme mich der Platte. Andächtig belade ich den Teller mit einer kleinen Portion Gemüse und Unmengen an Käse. Ein himmlischer Anblick.
Danny gibt mir einen weiteren Tipp, damit ich mit dem Essen beginnen kann. »Von außen nach innen.«
Ich hebe den Kopf und lächle ihm dankbar zu. Er erwidert es mit einer Wärme, die mich völlig aus dem Konzept bringt.
»Du musst den Serrano probieren. Der ist der absolute Wahnsinn!«, sagt er mit vollem Mund und deutet auf den fein aufgeschnittenen Schinken.
Ich bin kurz davor, dankend abzulehnen. Alex klinkt sich allerdings schneller in unser Gespräch ein, als mir lieb ist. »Keine Chance. Sie ist Vegetarierin.«
»Oh, das wusste ich nicht …« Danny fährt sich peinlich berührt durchs Haar und räuspert sich. Da hat Alex es also tatsächlich geschafft, ihn in Verlegenheit zu bringen.
»Woher auch?«, erwidere ich und esse unberührt weiter, »Ich bin keine von denen, die es jedem ungefragt unter die Nase reiben. Also denk dir nichts dabei.«
Er atmet auf und ich grinse in mich hinein. Macht er sich wirklich so viele Gedanken um mich? Oder gehört das auch nur zu einer Masche, die ich noch nicht durchblickt habe?
»Soll ich … ich meine … dir lieber eine eigene Vorspeise bestellen? Stört es dich?«
»Ich glaube kaum, dass mein Gemüse sich in eine tote Kuh verwandelt, nur weil es auf demselben Teller lag.«
Eine Sekunde lang mustert er meinen todernsten Gesichtsausdruck. Dann prustet er plötzlich los. Mit seinem unkontrollierten Lachen steckt er mich sofort an. Die Aubergine in meinem Mund fliegt beinahe in hohem Bogen über den Tisch. Nur meine Hand vor den Lippen kann mich noch vor der nächsten Blamage bewahren.
***
Nach der Hauptspeise entschuldige ich mich auf die Toilette. Alex hat alle am Tisch erfolgreich um den Finger gewickelt und amüsiert sie mit seinen peinlichen Anekdoten, die ich mir nicht zum hundertsten Mal anhören will. So muss ich mir aber immerhin keine Sorgen machen, ihn ein paar Minuten alleine zu lassen. Ich prüfe mein Make-up und kämme mir die Haare mit den Fingern durch. In neuer Frische verlasse ich die Toilette und kehre zum Saal zurück.
Hinter der Tür kommt mir Danny entgegen. Mein Körper richtet sich automatisch auf. Er läuft jedoch nicht an mir vorbei, sondern legt die Hand auf meinen Arm. Was? Schlagartig sind alle Gedanken in meinem Kopf wie ausgelöscht. Gähnende Leere. Überfordert starre ich auf die gepflegten Finger auf meiner nackten Haut.
»Komm mit. Ich will dir was zeigen.«
Danny führt mich quer durch das Gebäude, bis wir einen zweiten Speisesaal erreichen. Außer vereinzelten Lachern, die von dort zu uns hinüberwehen, herrscht hier jedoch Stille: Stühle lehnen an den Tischen, die Beleuchtung ist ausgeschaltet. Lediglich die letzten Sonnenstrahlen werden von der Glasfront reflektiert und tauchen den Saal in ein sattes Orange.
Ich weiß sofort, wohin Danny mich bringen will.
Wir durchqueren den Raum und er schiebt die riesige Terrassentür auf. Mit einem Blick über die Schulter winkt er mich durch. Mich beschleicht das Gefühl, dass wir hier gar nicht sein dürften. Doch wenn Danny bereit ist, das Risiko einzugehen und sich Ärger einzuhandeln, werde ich nicht die Spaßverderberin spielen.
Ich lehne mich aufs Geländer und recke die Nase der Abendsonne entgegen. Die Anspannung des Tages fällt langsam von mir ab und wird von einer ziehenden Schwere in meinen Gliedern abgelöst. Ich könnte problemlos im Stehen einschlafen.
»Und, was sagst du?« Danny deutet mit einer weiten Geste über das Gelände. Ich hebe meine trägen Lider und lasse den Blick über die Rennstrecke schweifen. Der Asphalt, über den vor wenigen Stunden noch die Rennwagen gerast sind, glänzt im Abendlicht. Die Rufe der Zuschauer und die dröhnenden Ansagen aus den Lautsprechern sind verstummt. Während die Sonne die Kurven und die Wälder in schillernden Farben bemalt, erkenne ich die Umgebung kaum wieder. Doch es ist nicht nur Idylle. Spannung liegt in der Luft, denn die Ruhe trügt. In wenigen Stunden wird dort unten der nächste Kampf ausgetragen werden. Ich sauge die Stimmung in mir auf und kann mich nicht an dem Ausblick sattsehen.
»Es ist magisch.« Ich luge zu Danny hinüber, der ebenfalls in die Aussicht versunken ist. »Sieht aus, als würdest du es genießen. Aber ist es für dich überhaupt noch was Besonderes? Du siehst so was doch jeden Tag.«
Er stützt die Arme aufs Geländer und nickt langsam.
»Es wird immer etwas Besonderes bleiben.« In seiner Stimme liegt so viel Ruhe und Kraft, dass mir ein wohliger Schauer über den Rücken läuft. »Als ich klein war, bin ich auf Bäume geklettert, um von dort aus die Tracks überblicken zu können und habe bei Wind und Wetter an Provinzstrecken auf billigen Steintribünen gesessen. Während ich die Rennen beobachtet habe, stellte ich mir vor, selbst dort im Auto zu sitzen und um den Sieg oder die schnellste Runde zu fahren. Und ich habe mir vorgenommen, dafür zu kämpfen. Nicht aufzuhören, bevor ich hier stehe.«
Der Schauer in meinem Nacken breitet sich zu einer Gänsehaut aus.
»Und es sah verdammt oft nach einem irren Traum aus. Aber ich hab es durchgezogen, während meine Freunde daran gescheitert sind. Heute stehe ich hier, kann es aber meistens nicht genießen. Es ist wie eine Sucht. Man muss immer weiterkämpfen und die Zähne noch härter zusammenbeißen. Bis man es an die Spitze geschafft hat.«
»Aber das hast du doch. Du führst Woche um Woche das Feld an.«
Er schnaubt und sein bitteres Lachen löst etwas in mir aus.
»Ich wünschte, ich könnte damit glücklich sein. Es ist mehr, als ich jemals hätte verlangen können. Aber das reicht mir nicht. Ich will in die Formel 1. Ich will Weltmeister werden. Und ich habe eine Scheißangst, dass das nicht klappt. Was mache ich dann? Immerhin hab ich mein ganzes Leben lang darauf hingearbeitet.«
Wow. Ein solches Geständnis hätte ich nicht erwartet. Nicht, nachdem wir uns erst ein paar Tage kennen und bisher nur wenige Worte miteinander gewechselt haben. Doch seine Worte lösen ein Ziehen in meiner Magengrube aus. Es kommt mir lächerlich vor, seine Situation mit meiner zu vergleichen, doch ich weiß, was in ihm vorgeht. Er fühlt sich genauso wie ich. Hat er das gespürt und sich mir deshalb anvertraut?
Je länger er zur Strecke hinunterblickt, desto weicher werden seine Züge wieder. Sofort schleicht sich eine Frage in meinen Kopf.
»Du genießt es aber doch. Ich sehe es.«
Er zuckt mit den Schultern. »Heute schon.«
Mein Herz vollführt einen unregelmäßigen Trommelschlag. Aber ich lasse mich davon nicht irritieren und spreche meine Frage aus. »Warum ausgerechnet heute?«
Er wendet sich mir zu. Die Trommelschläge geraten völlig außer Kontrolle. Der Dämmerschein verleiht seinen braunen Augen einen intensiven, warmen Glanz. Jeder Zentimeter meines Körpers scheint sich mit Licht zu füllen. Was ist das? Es erschreckt mich, doch gleichzeitig will ich dieses Gefühl nie wieder loslassen. Ich will nie wieder wegschauen, in das Funkeln seiner Augen eintauchen und mich dort verlieren.
Ein absurder Gedanke schießt mir durch den Kopf. Ob es an mir liegen könnte?
Er öffnet den Mund. Schließt ihn wieder.