Dade, Ayla Haunted Love - Perfekt ist Jetzt

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© 2019 Piper Verlag GmbH, München
Redaktion: Diana Napolitano
Covergestaltung: Emily Bähr, www.emilybaehr.de
Covermotiv: unter Verwendung von Bildmaterialien von Karuka und ANEK SANGKAMANEE / Shutterstock.com

 

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Für Jannik. Ich liebe dich so sehr.

Playlist

Better Place – Rachel Platten

Crazy – Daniela Andrade

Das Spiel – Kay One

Dear Maria, Count Me In – All Time Low

Demons – Imagine Dragons

Happier – Ed Sheeran

I Can’t Fall In Love Without You – Zara Larsson

I Hate U, I Love You – Gnash

I Knew You Were Trouble – Madilyn Bailey

I Need Your Love – Madilyn Bailey

Jar Of Hearts – Christina Perri

Just Like A Pill – Pink

Let Her Go – Passenger

Let It Go – Madilyn Bailey

Little Things – One Direction

Love Me Harder – Ariana Grande

Love Me Like You Do – Ellie Goulding

Love The Way You Lie – Rihanna ft. Eminem

Nothing Like Us – Justin Bieber

Perfect For You – Rachel Platten

Praying – Kesha

Quit Playing Games With My Heart – Backstreet Boys

Say You Wont Let Go – James Arthur

Somewhere In Brooklyn – Bruno Mars

The Pretender – Foo Fighters

Tonight – FM Static

What Makes You Beautiful – One Direction

When I Was Your Man – Bruno Mars

Wiedersehen – Kay One

 

Die Playlist auf Spotify:
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Prolog

Ich werde wach, als Mommy die Haustür öffnet. Es ist Chad. Er muss es sein, weil er Mommy jeden Abend besucht, wenn Daddy einen Film drehen muss und nicht zu Hause ist. Mommy hat mir erklärt, dass Chad dieselbe Medizin nehmen muss wie Mommy und er sie deshalb besuchen kommt.

»Hast du alles bekommen?«, höre ich Mommy fragen und rolle mich auf die Seite, um mich an meinen Teddybären zu kuscheln. Daddy hat mir und Logan denselben gekauft, aus dem großen Kaufhaus in der Stadt, als wir unser letztes Fußballspiel gewonnen haben. Ich frage mich, ob Logan seinen Teddybären auch bei sich im Bett hat.

»Ja«, antwortet Chad. Seine Stimme ist mir unheimlich. Ganz hoch und schrill wenn er lacht, und ich bekomme Angst.

Meine kleinen Finger greifen nach der Superheldenflasche auf meinem Nachttisch, und ich will einen Schluck trinken, aber es ist kein Wasser mehr darin. Mit den Füßen schiebe ich meine Bettdecke ans Ende der Matratze und setze mich in den Schneidersitz, während ich mit dem Finger den Superman auf der Flasche nachfahre. Ich habe Durst, traue mich aber nicht, Mommy um Wasser zu fragen. Wenn Chad bei ihr ist, wird sie immer so komisch. Sie ist dann gemein und böse. Ich glaube, es liegt an ihrer Medizin, trotzdem mag ich nicht zu ihr gehen. Aber ich habe Durst. Also schlüpfe ich aus dem Bett, tappe auf nackten Füßen durch mein Zimmer und laufe den dunklen Flur zum Salon entlang.

Ich höre Mommy laut lachen, als Chad etwas sagt. Bevor ich zu ihnen gehe, öffne ich die große Tür einen Spaltbreit und sehe nach, was Chad und Mommy machen. Manchmal sind sie im Schlafzimmer und geben ganz komische Laute von sich. Sie tun verbotene Dinge, das weiß ich. Aber als ich Mommy einmal gefragt habe, wieso sie das tut, hat sie mir mit ihrem Löffel, den sie für ihre Medizin braucht, ganz doll ins Gesicht geschlagen. Ich habe geweint, obwohl es mir peinlich war vor Chad. Aber es hat so sehr wehgetan. Dann hat Mommy gesagt, wenn ich Daddy etwas von Chad erzähle, habe ich keine Mommy mehr. Ich will nicht, dass ich keine Mommy mehr habe. Ich habe Mommy lieb, auch wenn sie böse ist, wenn Chad bei ihr ist und sie ihre Medizin nehmen.

Als ich die Tür ein Stück weiter öffne und in den Salon tappe, bemerken Mommy und Chad mich nicht. Sie legen gerade ihre Medizin auf ihre Löffel und pressen die Zitrone darüber aus. So ist die Medizin gesünder, sagt Mommy.

Meine Superheldenflasche rutscht mir aus der Hand, sie ist zu groß für meine kleinen Finger. Mommy und Chad sehen auf, als ich die Flasche vom Boden hebe und zu ihnen gehe.

»Du sollst schlafen!«, schreit Mommy mich an. Ihre laute Stimme erschreckt mich, und ich zucke zusammen. Schnell zeige ich ihr meine Flasche, damit sie nicht noch lauter wird oder mir wehtut.

»Ich habe Durst«, sage ich leise. Chad nimmt seinen Löffel mit der Medizin und hält sein Feuerzeug darunter, damit das Pulver flüssig wird. Er hat es mir schon oft erklärt, dabei wollte ich lieber mit Logan Fußball spielen gehen.

»Warte bis morgen«, sagt Mommy nur. Ihre blonden Locken fliegen durch die Luft, als sie ihren Kopf wendet und eine Spritze von Chad entgegennimmt. Die braucht sie, um ihre Medizin zu nehmen.

»Aber ich habe jetzt Durst«, quengle ich. Mein Mund ist ganz trocken, und ich will wieder ins Bett, deshalb soll Mommy mir schnell neues Wasser auffüllen.

Sie antwortet mir nicht, sondern zieht ihre Medizin auf die Spritze und tippt dann mit einem gelben, schmutzigen Fingernagel dagegen. Wenn Daddy nicht zu Hause ist, dann macht Mommy sich nicht mehr sauber. Chads Hand umfasst meinen Schlafanzug. Er tut mir weh, weil er so fest zieht, und plötzlich reißt der Stoff. Tränen sammeln sich in meinen Augen, als ich mit den Fingern über die kaputte Stelle an meinem Schlafanzug fahre. Es war mein Lieblingsschlafanzug, der mit den vielen Dinos.

Chad entschuldigt sich nicht. Daddy hat mir gesagt, wenn ich böse zu jemandem bin, muss ich mich entschuldigen. Aber Mommy und Chad tun das nie. Er hält mir die Spritze vor die Nase und lacht. Ich bekomme Angst.

»Hier, Kleiner. Wenn du Durst hast, musst du das trinken. Dann geht es dir besser.«

Ich spüre die Tränen über meine Wange laufen, weil sie ganz warm sind. Als ich zu Mommy herübersehe, will ich, dass sie mir hilft, aber sie lacht nur und spritzt sich ihre Medizin. Ich frage mich, warum sie nicht mit Chad schimpft. Mit mir schimpft sie immer, wenn ich etwas von ihr kaputtmache.

Schnell laufe ich aus dem Salon, zurück in mein Zimmer, wo ich die leere Superheldenflasche zurück auf meinen Nachtschrank stelle.

Es dauert nicht lange, bis es plötzlich ganz laut wird auf dem Flur vor meinem Zimmer. Ich öffne meine Tür wieder, weil ich nachsehen will, und da sehe ich Chad, der sich laut lachend über den Boden rollt. Die Arme und Beine hat er von sich gestreckt.

Mommy gackert, während sie mit Chads und ihrer Medizintasche in mein Zimmer kommt und den Wandschrank öffnet. Sie holt meinen großen Teddy heraus, den Logans Daddy mir einmal zum Geburtstag geschenkt hat. Eines Tages hat Mommy den Bauch aufgeschnitten und gesagt, sie muss ihre Medizin darin verstecken.

Manchmal kommen böse Männer in Uniformen zu uns. Sie wollen aus mir herausquetschen, wo Mommys Versteck ist, aber ich sage nie etwas. Einer von ihnen ist sehr gemein, und wenn Daddy nicht da ist, dann schüttelt er mich ganz doll. Trotzdem verrate ich ihm das Versteck nicht. Ich will nicht, dass ich keine Mommy mehr habe, auch wenn sie und Chad mir oft wehtun. Aber sie kann ja nichts dafür. Es ist ihre Medizin, die das aus ihr macht. Eigentlich will sie nicht so sein, das weiß ich.

Chad krabbelt über den Boden meines Zimmers auf mich zu, ein gruseliges Grinsen im Gesicht. Ich gehe rückwärts, bis ich mit den Kniekehlen gegen mein Bett stoße.

»Deine Mommy und ich gehen jetzt schlafen, Kumpel«, sagt er, und ich ekle mich vor ihm, weil er so stinkt. Chad nennt mich immer Kumpel, obwohl wir gar keine Freunde sind. Nur Logan ist mein Freund.

»Und da wirst du nicht stören, außer du willst sehen, was Erwachsenen Spaß macht.« Er vergräbt seine Hand in meinem Haar und reißt ganz doll daran, so lange, bis ich weine.

»Mommy«, rufe ich, aber sie tut nichts, lacht nur ganz laut. Sie schraubt meine Flasche auf und kippt die Flüssigkeit aus ihrer braunen Glasflasche hinein, und als sie mein Zimmer verlässt, lässt Chad endlich meine Haare los und geht mit ihr. Meine Kopfhaut brennt, und ich kann nicht aufhören zu weinen, zwinge mich aber dazu, leise zu sein. Ich will nicht, dass sie wiederkommen.

Als ich an meiner Flasche rieche, weiß ich, dass es kein Wasser ist. Die Flüssigkeit stinkt, und ich bekomme Bauchweh.

Leise laufe ich zur Tür, drehe den Schlüssel im Schloss herum und kuschle mich wieder im Bett ein. Ich kann nicht mehr schlafen, weil ich Angst vor Chad und Mommy habe. Als ich ihre lauten Schreie aus dem Schlafzimmer höre, drücke ich mir die Hände auf die Ohren und wünsche mir vom lieben Gott, dass Daddy ganz schnell wiederkommt.

1

Portugal hat ein Walross mit Elefantenschenkeln aus mir gemacht. Ohne Witz. Zwar hätte ich mich schon vor meinem Auslandsjahr nicht als »dünn« bezeichnet, aber jetzt sprenge ich jeden Rahmen. Na ja, zumindest meinen Rahmen. Den, der sich vor etlichen Jahren in meinem Kopf festgesetzt hat und mir meinen Körper seitdem ständig im Breitbildformat präsentiert, jedes Mal wenn ich mich im Spiegel ansehe.

Das menschliche Teenagerwesen von zwanzig Jahren, das mich gegenüber aus dem Spiegelbild heraus anblinzelt, kann unmöglich ich sein. Meine Jeans passt gerade noch so, der Knopf spannt jedoch schon gewaltig. Aber ich ertrage es, weil ich es einfach nicht über mich bringe, mir einzugestehen, dass ich wohl besser die Nummer größer aus dem Schrank holen sollte. Die Dreiviertel-Jeans von Burberry, die meine beste Freundin Grace mir vor meinem Auslandsjahr mit ein paar anderen aussortierten Kleidungsstücken geschenkt hat. Obwohl ich Grace wunderschön finde und ihre Figur stets bewundert habe, fühle ich mich schrecklich, dass mir ihre Hosengröße plötzlich passt. Verrückt, ich weiß. Es ist ein Gefühl wie bei einer optischen Täuschung: Dieselbe Hose, jedoch sieht Grace darin wunderschön und schlank aus, während ich … na ja, aus allen Nähten platze. Aber wie ich schon sagte: Mein Kopf spielt mir Streiche. Leider unschöne Streiche, die ich immer wieder glaube.

»So eine Scheiße«, murmle ich verzweifelt, kneife in meinen überquellenden Speck, der für andere vermutlich nicht einmal sichtbar wäre, und seufze, beinahe den Tränen nahe. Nach der Inquisition meines gesamten Kleiderschrankes und der Aussortierung einiger Teile, in denen ich als lebendige Presswurst durch New York watscheln würde, entscheide ich mich schließlich für ein Kleid.

Heute ist der erste Tag im neuen Semester, und ich würde meinem Kopf am liebsten ein Stoppschild vorsetzen, weil er mir unablässig eintrichtert, dass ich aussehe wie ein aufgehender Hefekloß im Speckmantel. Meine Schweinchennase ist dabei auch nicht gerade hilfreich, sie unterstreicht meine neu gewonnenen Pfunde eher noch in ironischer Weise. Fast so, als wolle mich das Schicksal ernsthaft auslachen. Am schlimmsten für mich ist jedoch der Gedanke an die ganzen Sprüche, die wahrscheinlich kommen werden. »Oh, Hazel, endlich bist du ja nicht mehr so spindeldürr!« oder »Na, wie schön, wenigstens ein wenig Fett über deinen Knochen sehen zu können.« Sie halten solche Sätze für Komplimente, wissen dabei aber gar nicht, was sie in meinem Inneren damit anrichten. Es ist ein schreckliches Gefühl.

Ein letztes Mal fahre ich mir seufzend durch meine hellblonde Mähne, ehe ich meinen Morgenmantel vom Boden hebe und über den Spiegel werfe.

Auf dem Nachttisch fängt mein Handy an zu vibrieren. Ich stolpere durchs Zimmer, bahne mir einen Weg durch die vielen Kleiderhäufchen auf dem Boden und falle schließlich über einen Stapel Schulbücher.

»Verdammt«, entfährt es mir, als ich mich gerade noch so mit den Händen an der Bettkante abstützen kann. Mein Handy landet in genau dem Moment in meiner Handfläche, als es sich, von der Vibration angetrieben, im perfekten Sturzflug mit Ziel Parkettboden befindet.

»Ja?« Oh Mann, ich höre mich an, als wäre ich gerade einen verdammten Marathon gelaufen.

»Du lebst! Um Gottes Willen, Hazel! Ein Jahr warst du verschollen, alle Welt sucht nach dir!«

Lachend verdrehe ich die Augen, den Nacken an die Matratze gelehnt. »Grace. Das ist jetzt das dritte Mal seit gestern, dass du mich begrüßt, als wäre ich die Hauptperson in einer Criminal-Minds-Folge.«

»Lass mir doch meinen Spaß.«

Seufzend hieve ich mich hoch, nur um mich wieder rücklings aufs Bett zu werfen. In einem perfekten Winkel lande ich natürlich auf meinem Rucksack, aus dessen geöffnetem Reißverschluss die fette Kante meiner Hardcover-Ausgabe von Faust I ragt und mir schmerzvoll in die Rippen sticht. Ja, ich habe mich für das Seminar deutsche Literatur eingetragen. Nein, ich bin keine Streberin. Okay, doch, vielleicht ein bisschen. Ein bisschen sehr, wenn es nach Grace ginge.

»Geht nicht«, entgegne ich abgehackt, während ich meine Tasche hinter mir wegziehe und auf den Boden schleudere. Schmerzhaft reibe ich mir den Rücken. Hätte ich mir doch bloß die dünne Softcover-Ausgabe von Reclam besorgt wie alle anderen auch. »Wir haben nämlich ein gewaltiges Problem.«

»Problem welchen Ausmaßes? Präziser bitte, beste Freundin.«

Geistesabwesend pule ich am Saum meines Quilts. »Sorry. Definitiv Stufe zehn. Notfall.«

Am anderen Ende der Leitung keucht Grace übertrieben schockiert auf. Ein Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht, als ich mir bildlich vorstelle, wie sie sich ans Herz fasst und theatralisch die Augen aufreißt. »Sag bitte, du hast dir da drüben kein Ebola oder so eingefangen.«

»Ebola ist Afrika, Grace. Ich war in Portugal.«

Grace schnalzt ungeduldig mit der Zunge. »Alles dasselbe. Nun sag schon.«

Mit einem dramatischen Seufzer, als müsste ich ihr davon berichten, dass mich eine schwere Krankheit erreicht hätte, kneife ich die Augen zusammen und verziehe das Gesicht. »Reis.«

Ein paar Sekunden herrscht Stille. Dann höre ich plötzlich etwas Scheppern.

»Pass doch auf! Ich hab dir tausendmal gesagt, dass ich das Mom erzähle!«, brüllt Grace.

»Was?« Verwirrt setze mich auf. Was hat ihre Mom damit zu tun, wenn ich wie eine Wahnsinnige Reis in mich reingeschaufelt habe? Klar, sie ist etepetete und achtet penibel auf das perfekteste Aussehen, aber … das ist irgendwie creepy.

»Sorry, war nicht an dich. Oliver, der Idiot. Er hat seine Müslischale im Auto fallen gelassen. Überall Milch auf den verdammten Ledersitzen.«

»Ach so.«

Oliver ist Graces kleiner Bruder. Vierzehn Jahre alt, übertrieben frech, verzogen und absolut unausstehlich. Gleichzusetzen mit diesem Teufelsbraten Dennis aus dem gleichnamigen Film.

Grace seufzt, und ich höre, wie Oliver im Hintergrund immer noch flucht und seiner Schwester wie verrückt Beleidigungen an den Kopf wirft. »Okay, Haze. Reis. Wie viel?«

Verzweifelt stöhne ich auf und kneife mir passenderweise in die Schenkel. »Viel zu viel! Die Portugiesen kennen scheinbar keine anderen Nahrungsmittel, kein Scherz! Jeden Tag Reis, stell dir das einfach mal vor! Die tun so, als wäre es himmlische und unverzichtbare Schokolade! Keine Mahlzeit geht da ohne Reis.«

»Verstanden, sie beten Reis an. Jetzt sag schon, wie viel hast du zugenommen?«

Anstatt zu antworten, grummle ich irgendwelche unpassenden Laute vor mich hin.

»Haze!«

»Na schön. Etwa acht Kilo oder so.«

Statt einer Antwort höre ich plötzlich ein ziemlich lautes Reifenquietschen, gefolgt von einer Hupe und mehreren unwirschen Fluchen von Grace.

»Alles okay?«, hake ich verwundert nach und hoffe, sie hat auf den unverhofften Schock nicht aus Versehen ein Auto angefahren.

»Elender… HIER IST RECHTS VOR LINKS, DU VERDAMMTER IDIOT! Kann ja wohl nicht … Bitte, was? Ich soll was? Na schön, du kleines Stinktier, dir werde ich … Haze? Sorry, muss auflegen. Sehen uns vor dem Business-Gebäude!«

Dann höre ich nur noch das monotone Tuten aus dem Lautsprecher. Ich schmunzle und werfe mein Handy in den Rucksack, bevor ich ihn mir auf den Rücken hieve.

Wie schön es doch ist, wieder zu Hause zu sein.

2

Die Sonne knallt mir gnadenlos ins Gesicht, als ich vor die Tür unseres Reihenhauses trete und mein Fahrrad aufschließe – ein rostiges altes Ding, das Mom mir vor ein paar Jahren beim Second-Hand-Shop um die Ecke kaufte, nicht ehe sie noch runtergehandelt hat und extrem stolz auf sich war. Irgendwann haben Grace und ich es zusammen babyblau lackiert (sie hatte vier Tage lang einen blauen Streifen auf der Wange, der sich nicht wegwaschen wollte, und ihre Mom ist total ausgeflippt). Jetzt sieht es eigentlich ganz süß aus.

»Hazel!«, ruft mir eine Stimme zu. Ich drehe mich um, während ich das Schloss in den Fahrradkorb werfe, und entdecke Tony, den coolsten und liebsten Nachbarn, den man sich wünschen kann. Gäbe es einen Bester-Nachbar-Award, dann würde er ihn jedes Jahr aufs Neue gewinnen. Ihm gehört die Kneipe direkt nebenan, »Tony’s«, die gar nicht so eine Spelunke ist, wie sie auf den ersten Blick scheint. Na ja, vielleicht doch, wenn man überlegt, dass ich dort mit elf mein erstes Bier probieren durfte. Immerhin nur zwei Schlucke, bis Mom mich entdeckt und es mir mit dem »Mutter-Killerblick-des Todes« aus der Hand riss. Tony hat so gelacht. Mom nicht.

»Alles klar, Tony?«, rufe ich zurück, lehne mein Fahrrad gegen die Hauswand und laufe zu ihm rüber. Der Zaun, der unsere süßen Drei-Quadratmeter-Gärten voneinander trennt, ist gerade mal einen halben Meter hoch. Wenn überhaupt.

Als ich ihn umarme, wirbelt er mich halb durch die Luft, wie er es schon immer tut, seit ich klein bin. Früher habe ich es geliebt – heute schäme ich mich, weil ich so dick geworden bin. Weil ich mich so dick fühle.

Ich drücke meine Wange gegen seine alte braune Lederjacke, die er schon hat, seit ich denken kann. Ich weiß es, weil ich ihm mit acht mal meine Tintenfischringe draufgekotzt habe. Zu meiner Verteidigung: Ich dachte, es wären Curly Fries.

»Meine Güte«, sagt er und hält mich prüfend auf Armeslänge von sich weg, während er mich ansieht. »Du warst ein Jahr in Portugal, Hazel, und bist immer noch so weiß wie Ziegenkäse! Ich dachte eigentlich, du kommst ein bisschen brauner wieder. Zwar immer noch käsig, aber knackiger. Wie frittierter Camembert oder so.«

Belustigt verdrehe ich die Augen, ehe ich meinen bordeauxfarbenen Sonnenhut richte und die Arme verschränke. »Du trägst seit ich dich kenne dieselbe Frisur und den Anchor-Bart, also erzähl du mir mal nichts von Veränderungen.« Mit dem Finger wackle ich belehrend durch die Luft, muss aber lachen.

Tony streicht sein hellblaues T-Shirt gerade und schmunzelt belustigt. »Das ist ein Rap-Industry-Standard-Bart, und der ist so was von im Trend.«

»Klar«, sage ich, schneide ihm eine Grimasse und füge anschließend hinzu: »1950 vielleicht.«

Während ich zurück zu meinem Fahrrad gehe, höre ich Tony lautstark lachen. »Holt Grace dich nicht ab?«, fragt er noch, als er auf die Straße tritt und in Richtung seiner Kneipe geht.

»Nee«, rufe ich, »die hat Oliver an der Backe!«

Tony hebt bloß noch einmal die Hand, ohne sich umzudrehen und verschwindet um die Ecke. Ich höre noch, wie er im Sing-Sang das Wort »Teufelsbraten«, zu mir rüberträllert, dann ist er verschwunden.

Das breite Lächeln in meinem Gesicht will einfach nicht verschwinden, während ich meinen roten Rucksack in den Korb werfe. Ich höre schon jetzt die gehässigen Bemerkungen über meinen fehlenden Stil und der Bitte, mich doch endlich auf Farbenblindheit testen zu lassen – von Logan zum Beispiel, den wohl arrogantesten Kerl, den der Big Apple je bei sich begrüßen durfte. Aber selbst er kann mir den Tag nicht mehr vermiesen, egal, was er auch sagen sollte, wenn ich ihn in der Uni sehe.

Portugal ist schön, keine Frage. Die Mentalität und höflichen Leute dort, die Kultur, das Wetter und Meer … aber ich schätze, kein Ort der Welt kann den ersetzen, an dem man zu Hause ist.

In Brooklyn hat sich nichts verändert, denke ich, während ich durch die Straßen fahre und schließlich die Brooklyn Bridge erreiche. Alles ist so, wie ich es seit jeher kenne: Dieselben eng aneinander gereihten Häuser, die vielen Appartements und die heruntergekommenen Bauten in den verlassenen Gegenden (durch die ich regelmäßig fahre, weil es die besten Abkürzungen sind, wie ich mit den Jahren herausgefunden habe).

Ich atme tief ein und nehme den Duft der warmen Luft in mir auf, gemischt mit dem Geruch der Sommerblumen, die ihre Blüten vom Park neben der Brücke zu mir herüberwehen. Ein älteres Pärchen lässt sich gerade auf einer ausgebreiteten Decke auf der Wiese nieder, und die Dame beginnt bereits, den Inhalt eines Picknickkorbs auszupacken.

Unwillkürlich stiehlt sich ein Lächeln auf mein Gesicht, doch ich muss schnell wegsehen, als ein kleiner Stich in meinem Herzen folgt. Mom hätte das auch verdient, denke ich. Sie sollte genauso an sonnigen Tagen mit einem Mann, der sie liebt und den sie verehrt, auf einer Wiese sitzen und picknicken. Sie sollte nach einem langen Spaziergang nach Hause kommen und sich aufs Sofa fläzen dürfen, wo ihr liebender Mann lächelnd ihre Füße massiert. Stattdessen arbeitet sie Tag für Tag von früh bis spät, während mein Dad sich noch vor meiner Geburt einfach aus dem Staub gemacht hat, als Mom ihm erzählte, dass sie schwanger sei. Er meinte, er würde sich wirklich freuen (Mom sagte, er schien tatsächlich vollkommen aus dem Häuschen), bis er dann um ein bisschen Zeit bat, alles sacken zu lassen. Tja, nach 20 Jahren – 21, wenn man die Schwangerschaft mitzählt –, hat er es wohl immer noch nicht »sacken lassen« können.

Nicht dass er mir fehlt, im Gegenteil. Er ist ein elendes Dreckschwein und soll sich zum Teufel scheren. Tony ist für mich all das, was mein richtiger Vater nie war. Auch wenn er nur mein Nachbar ist.

Meine Gedanken haben mich so eingenommen, dass ich kaum bemerkt habe, wie die letzten Minuten vergangen sind. Vor mir erscheint bereits die vertraute gläserne Halbkuppel – der Eingang der New York University Business School, wo ich Grace treffen soll.

»Home sweet Home«, murmle ich, schließe mein Fahrrad ab und hebe mir den schweren Rucksack auf den Rücken. Ich hätte wirklich lieber die Reclam-Ausgabe von Faust kaufen sollen. Ehe ich mich umdrehen kann, höre ich bereits ein hohes Kreischen.

»Hazel!«

Zwei Sekunden, dann verdeckt eine braune Haarmähne mein Gesicht, und ich rieche den Duft des teuren Apfelshampoos, das Grace seit Kindertagen benutzt.

»Oh mein Gott, du lebst!«, wiederholt sie zum gefühlt tausendsten Mal und kneift mir in jede Stelle Haut, die sie erwischen kann. »Tatsächlich, Haut und Knochen! Das gibt’s ja nicht.«

Ich kichere. »Grace, hör endlich auf mit dem Scheiß.«

Meine beste Freundin strahlt heller als die Sonne, als sie sich endlich von mir löst und mir ins Gesicht sieht. Natürlich ist sie perfekt gestylt – niemals würde ihre Mom sie aus dem Haus gehen lassen, wenn nur die kleinste Bügelfalte in ihrem Kleid zu sehen wäre. Na ja, eigentlich eher ihr Hausmädchen Norma, ihre Mom ist ja so gut wie nie da. Die Sonnenstrahlen brechen sich auf ihrem rot lackierten Schleifchen-Haarreif und blenden mir in den Augen. Hätte ich bloß meine Sonnenbrille mitgenommen.

»Du hast mir gefehlt, Grace«, sage ich schließlich und zurre meinen Rucksack ein wenig höher auf den Rücken.

Sie richtet die Krawatte ihres blauen Marinekleides und seufzt erleichtert. »Und du mir erst.« Dann packt sie mich am Arm und fügt hinzu: »Komm mit. Ich hab dir so viel zu erzählen, das glaubst du nicht. Weißt du noch Leslie Cho?«

Ich stolpere beinahe über die Beine eines Mädchens, das vor mir auf dem Boden sitzt und wie verrückt Sätze in einem Buch markiert.

»Das Streber-Mädchen, das keine Jungs angucken durfte und deshalb immer auf den Boden gesehen hat?« Grace nickt und ein diabolisches Grinsen erscheint auf ihrem Gesicht.

Oh nein, das kenne ich nur zu gut. »Was hast du getan?«, entfährt es mir sofort, und ich bereite mich mental bereits auf einen Schock vor. Beinahe hätte ich vergessen, dass die Freundschaft mit Grace bedeutet, regelmäßig Teil ihrer unglaublichen Aktionen zu sein.

»Gar nichts«, entgegnet sie verschmitzt und spitzt amüsiert die Lippen.

Mit den Schultern drücke ich die schweren Türen der Uni auf und sehe sie vorwurfsvoll an.

Grace schnalzt mit der Zunge und hebt entwaffnend die Hände in die Höhe. »Diesmal habe ich echt gar nichts damit zu tun, Hazel, so null Komma null… eins, vielleicht.«

Wir laufen die Flure entlang zu dem Raum, wo gleich ihr Management-Seminar beginnt, und ich sehe ungeduldig auf die Uhr.

»Spuck’s aus. Ich muss noch ganz rüber zum Schauspiel-Gebäude.«

Grace wirft mir einen skeptischen Blick zu, während sie zwei Jungs den Mittelfinger zeigt, die ihr gerade hinterhergepfiffen haben. »Schauspiel? Hast du in Portugal eine 180-Grad-Persönlichkeitswendung gemacht?« Sie klopft mir dreimal gegen die Stirn und sieht sich dann theatralisch im Gang um. »Hallo? Wer bist du, und was hast du mit meiner besten Freundin gemacht?« Lachend verdrehe ich die Augen. Gerade, als ich antworten will, hält sie mir einen Finger vor die Nase. »Halt. Nein. Du hast doch nicht …«

»Was?«

Ihre Gesichtszüge entgleisen, und sie verzieht angewidert den Mund. »Bitte sag mir, dass du nicht etwa einen seltsamen Traum über Logan hattest und nun der Meinung bist, du wärst in ihn verknallt? Denn ich versichere dir, das ist nur eine Illusion. Hatte ich auch mal, in der siebten. Mit Fred Miller. Gott, hatte ich Schiss, dass es nun auf ewig um mich geschehen ist. Aber als ich ihn dann nach meinem Traum sah, war alles wieder cool.«

Ich stöhne auf, packe Grace am Arm und ziehe sie weiter. »Ich bin nicht … warte, was? Fred Miller? War das nicht der Typ, der immer seine Popel gegessen hat?«

Entschuldigend verzieht sie den Mund und zuckt die Achseln. »Sag ich ja, nur eine Illusion. Keine Sorge, Schätzchen, wir biegen das wieder hin. Lass uns einfach ins Office gehen und sagen, das mit dem Schauspiel-Kurs war ein riesengroßes Missverständnis aufgrund eines irreführenden Illusion-Traumes eines arroganten, schleimigen Mistkerls und dann …«

»Grace!«, unterbreche ich sie lachend und lauter, als ich sonst mit irgendwem reden würde. »Ich muss dahin, weil ich dieses Semester das Drama-Writing-Seminar habe. Ich bin nicht in Logan verliebt, Mann, echt mal.«

»Wer ist in mich verliebt?«, ertönt plötzlich eine Stimme neben mir.

Ein genervtes Stöhnen entfährt mir, und ich verdrehe die Augen. »Das kann ja wohl jetzt echt nicht wahr sein«, murmle ich, genau in dem Moment, als Grace »… wenn man vom Teufel spricht …« sagt.

Ich funkle Logan an und sage mit dem kühlsten Ton, zu dem ich fähig bin: »Niemand.«

Seine Frisur sieht aus, als wäre er gerade erst aufgestanden, und dennoch weiß ich, dass er mindestens eine Ewigkeit daran gesessen hat, um es so hinzubekommen. Seit ich ihn kenne, frage ich mich, wieso er seine Haare nach dem Aufstehen nicht einfach so lässt, wenn er unbedingt diesen Sleepy-Look haben will.

Grace sieht von oben bis unten an ihm herab, eine Braue missbilligend hochgezogen. »Deine Krawatte ist unausstehlich. Und – ich bitte dich, Logan – rote Hosenträger zu einem blau-weiß gestreiften Hemd?«

Er lächelt sie an – ein kühles, abwertendes Lächeln. »Hallo, Grace.« Dann wendet er sich wieder mir zu. »Evans«, sagt er (mir ist schleierhaft, wieso er mich seit der Grundschule mit meinem Nachnamen anspricht, und insgeheim frage ich mich, ob er überhaupt weiß, wie ich mit Vornamen heiße) mit diesem Blick, den er immer draufhat, kurz bevor er irgendeinen dummen gemeinen Spruch loslässt. »Wie ich sehe, hast du endlich einen Grund dafür gefunden, warum du diese grässlichen Kleider tragen kannst.«

Ich sehe an meinem breiten Kleid hinab, das kurz unter den Knien endet. Na ja, eigentlich ist es kein richtiges Kleid. Meine Mom hat ein gelbes T-Shirt, das mir zu kurz wurde, an einen langen Flatter-Jeansrock genäht. Eigentlich fand ich es ganz cool, aber jetzt, wo ich drüber nachdenke, sticht es sich vielleicht doch etwas. Meine Wangen werden heiß, als ich daran denke, dass ich auch noch meinen knallroten Rucksack dazu trage.

»Was meinst du?«, frage ich und hoffe, dass mein gleichgültiger Ton überzeugend klingt. Aus den Augenwinkeln erkenne ich Grace, die ihre Stirn in Falten legt und mitleidig zu mir herüberschielt. Meine Bestätigung, dass mein tapferer Versuch kläglich gescheitert ist.

Logan setzt einen gespielt mitfühlenden Blick auf, der jedoch stark im Kontrast mit seinen karamellfarbenen Augen steht, die schadenfroh funkeln. »Na, wie ich sehe, hast du wohl gut zugenommen, oder täuschen mich meine Augen?«

Mein Kopf wird noch heißer, und ich presse die Lippen fest aufeinander. Als ich nichts entgegne, schlägt er sich theatralisch die Hand vor den Mund.

»Oh nein, du hast dich doch im Land der Reisfresser nicht schwängern lassen, oder?«

»Halt die Klappe, Logan.« Grace tritt einen Schritt vor, die Arme vor der Brust verschränkt, und ich bin ihr unendlich dankbar, dass er sich nun ihr zuwendet. Hätte er mich noch länger angesehen, wäre mein Kopf vielleicht zu einer dampfenden Lokomotive mutiert, oder so.

»Und wenn nicht?« Am liebsten würde ich ihm sein belustigtes Grinsen aus dem Gesicht wischen.

Graces Stimme ist leise, aber bedrohlich, als sie ihm antwortet. »Dann kann ich dich ja mal daran erinnern, dass deine Mutter den größten Teil ihres Lebens in Japan verbringt und dich vermutlich auch dort gezeugt hat. Bevor du also noch einmal irgendwas übers Schwängern im Land von Reisfressern sagen willst, zück besser deinen hübschen Handspiegel raus, den du immer dabeihast, und guck dich selbst an.«

Gut gekontert, aber sie spricht hier mit Logan. Der lässt sich nicht so schnell kleinkriegen.

Mit einem letzten hochmütigen Blick auf mich und mein Kleid und einem knappen »wir sehen uns auf der Gala« an Grace, zischt er so anmutig ab, wie er gekommen ist.

»Gala?«, frage ich sie, als wir weiterlaufen und die Treppe zu ihrem Seminarraum nehmen.

Sie verdreht genervt die Augen. »Ja. Wieder mal. Es soll eine Spendengala für ein neues Kinderheim auf der achtunddreißigsten sein und das finde ich eigentlich gut, wenn ich nicht wüsste, dass meine Eltern das alles nur unter dem Vorwand organisieren, eine neue Party zu schmeißen. Und das alles nur wegen ihm

Die kurzen Absätze meiner schwarzen Riemchenpumps klackern auf dem gebohnerten Fußboden. »Wem?«

Graces Blick wandert verträumt in die Ferne, und ich muss sie am Arm zur Seite ziehen, weil sie sonst gegen ein vorbeihastendes Mädchen gelaufen wäre.

»Caleb West.«

Wir sind an ihrem Raum angekommen, und ich lehne mich gegen die Wand. »Aha. Kenne ich nicht.«

Meine Freundin blinzelt verwirrt, als wäre sie aus einer Art Trance erwacht, und sieht mich ungläubig an. »Wie jetzt? Hast du das gesamte letzte Jahr auf dem Mond gelebt oder was?«

Ich sage nichts dazu, sondern sehe sie einfach nur ausdruckslos an. Mein Zeichen für sie, dass sie gefälligst mit ihrer Neckerei aufhören und stattdessen Klartext reden soll. Klar, ich kenne sie seit dem Kindergarten, und ich bin wahnsinnig froh, dass ich Logan damals gegen das Schienbein getreten habe, als er ihr die Wachsmalkreide wegnehmen wollte. Seitdem sind wir beste Freundinnen, und ich würde es jederzeit wieder tun, jedoch geht es mir gewaltig gegen den Strich, wenn sie mich wie einen Idioten fühlen lässt, nur weil ich nicht auf dem neuesten Stand bin, was die höhere Gesellschaft betrifft. Sie macht es nicht mit Absicht, das weiß ich. Wenn man wie sie das gesamte Leben lang auf Galas, Debütantinnenbällen, sonntägliche High-Society-Brunches und etliche Partys geschleift wurde, jedes Mal mit der Devise »Sitz still, und sieh hübsch aus«, kommt einem der gesellschaftliche Klatsch wohl irgendwann wie selbstverständlich vor.

Als Grace meinen Blick sieht, fängt sie sich schnell wieder und wedelt in einer unbedeutenden Handgeste durch die Luft. »Nicht wichtig. So ein neuer Schauspieler, der letztes Jahr durch eine megageile Buchverfilmung international berühmt wurde. Jedes Mädchen steht auf ihn, alles dreht sich nur noch um diesen Kerl. Wann er einkaufen geht, wo er seine nächste Frisur schneiden lässt, wie lange er auf dem Klo saß …«

»Okay«, unterbreche ich sie schnell, bevor noch Einzelheiten kommen und wechsle das Thema. »Hey, ist dir aufgefallen, dass Logan irgendwie vollere Lippen hat? Ich wette mit dir, der hat da was machen lassen. Chirurgisch, meine ich.«

Grace legt sich mit einer anmutigen Handbewegung die braunen Haare über eine Schulterseite, sieht verschwörerisch nach links und rechts und beugt sich dann zu mir vor. Ich liebe diese geheimnisvollen Insidernews, von denen sie immer zu berichten beginnt, als würde sie mir verraten, wo sich Edward Snowden versteckt hält.

»Hat er tatsächlich. Letzte Woche, glaube ich. Mein Dad hat beim Abendessen davon berichtet, dass Logans Mom zu Besuch aus Japan da war und direkt gemeint hat, dort wäre es gerade der totale Trend, sich die Lippen ein bisschen voller machen zu lassen. Daraufhin sind alle drei, also Logan, Mr. und Mrs. Cunningham los und haben sich die Spritze geben lassen.«

Ich stupse sie gegen den Arm und lache. »Wenn du es erzählst, klingt es, als hätten sie sich Heroin gespritzt oder so.«

Belustigt zuckt sie die Achseln, und ich sehe auf meine Armbanduhr. »Oh Gott, ich muss los«, sage ich und stoße mich von der Wand ab. »Treffen wir uns später bei mir?«

»Da ist er wieder«, seufzt Grace mit einem versonnenen Augenaufschlag, »der panische Unterton in der Stimme meiner Streber-besten Freundin, wenn sie zu spät zum Seminar kommt. Wie hab ich das vermisst.«

»Ja, ja«, sage ich kichernd und will schon losgehen, da drehe ich mich noch einmal um. Grace will gerade in den Raum gehen. »Du hast mir noch nicht verraten, was mit Leslie Cho passiert ist.«

Sie grinst, eine Hand auf der Türklinke. »Sie kam auf eine Party ins Verbindungshaus, weil ein Kerl sie gefragt hat. Irgend so ein heißer Typ, soll wohl eine Wette gewesen sein. Ich hab sie dort abgefüllt, und irgendwann hat sie total betrunken auf dem Tisch getanzt, die Wodkaflasche als Mikro und nur noch in Unterwäsche. Es wurden Fotos gemacht und überall in den Gängen aufgehängt und verteilt, das war so krass.«

Ich verziehe das Gesicht und schüttle den Kopf. »Ich darf dich echt nicht allein lassen, Grace Bishop.«

Sie lächelt ihr süßes Grace-Lächeln und macht einen Luftkuss. »Ach, Hazel?«, ruft sie mir noch hinterher, als ich schon die Hälfte des Flurs hinter mir gelassen habe. Ich drehe mich um.

»Ja?«

Sie sieht mich mit einem Blick an, wie man einen kleinen Welpen anguckt, der gerade seine eigene Scheiße gefressen hat. Mitleidig und gleichzeitig nachsichtig, nach dem Motto: Das muss doch jetzt nicht sein, aber ich verzeihe dir, weil du ein kleiner unwissender Scheißer bist, der noch einiges von mir zu lernen hat. »Diese Riemchenpumps gehen gar nicht.«

Ich verdrehe die Augen und schneide ihr eine Grimasse, ehe ich mich umdrehe und mich auf dem Weg zum Schauspielhaus mache. Was sie nicht mehr sieht, ist, dass mein Lächeln verblasst, sobald ich ihr den Rücken zugekehrt habe.

3

Ich werfe meinen Rucksack durch den Flur und streife meine Pumps im Gehen ab. Dabei falle ich fast vornüber und muss mich an dem Palisander-Sideboard abfangen.

»Mom?«

»Oben!«, brüllt ihre klare Stimme zurück. »Oben« ist gut. Meine Mutter ist praktisch eine Zimmernomadin. Sie wandert bestimmt hundertmal täglich von Raum zu Raum, um »ein bisschen Abwechslung in den Alltag zu bringen«. Unser Geld reicht nicht aus für ein externes Büro, deshalb macht sie schon seit Ewigkeiten Homeoffice. Manchmal ist es nervig, weil täglich irgendwelche fremden Menschen ein- und ausgehen. Gelegentlich verirren sie sich in mein Zimmer, und ich fühle mich dann wie eine automatische Maschine, die auf Knopfdruck die Wörter: »Wieder raus, den Flur links, vier Türen weiter«, aufsagt.

»Marco?«, rufe ich, während ich die hölzerne Treppe unseres kleinen Reihenhauses hochrenne. Oder eher hochpoltere.

Ihre Antwort kommt aus dem Arbeitszimmer. »Polo!«

Ich laufe über den mit Babyfotos übersäten Flur, schlittere dabei mindestens einen Meter mit dem weißen Läufer, bei dem die Rutschmatte fehlt, über das Parkett und öffne schließlich die Tür. »Hey.«

Meine Mutter sitzt hinter ihrem wuchtigen Schreibtisch und hockt über einem Stapel Unterlagen, sich mit einem Kuli im steten Rhythmus gegen die Lippen tippend. Ich erkenne bereits unzählige blaue Punkte in ihrem Gesicht, das von ihrem blonden Haar umrahmt wird.

»Gewürztes Hackfleisch mit vier Buchstaben?«

Okay, doch keine Unterlagen. Ein Kreuzworträtsel. »Äh, keine Ahnung. Mett?«

Sie zeigt mit dem Kugelschreiber auf mich. »Du bist der Wahnsinn, Hazel Evans. Ein Wörterbuch auf zwei Beinen.«

Lächelnd lasse ich mich auf den Sessel vor ihr sinken und klaue mir einen Keks vom Tisch. Es ist immer noch schwierig für mich, und während ich kaue, gehe ich bereits die Kalorien und Kohlenhydrate in meinem Kopf durch, aber ich versuche, es zu ignorieren. Ich will unbedingt an mir selbst arbeiten.

»Wie immer stolz auf deine Brut, was?« Krümel fallen mir beim Reden auf den Jeansrock, und ich wische sie zur Seite, wo sie in die Rillen des Ledersessels fallen und dort wahrscheinlich von nun an jahrelang ihr Dasein fristen werden.

Meine Mutter schreibt das Wort in die Zeitschrift, klappt sie anschließend zu und sieht mich mit ihren großen grünen Augen an. Die habe ich von ihr geerbt, keine Frage.

»Wie war’s zurück in der Anstalt für Bekloppte?«

So nennt meine Mutter die NYU seit jeher. Die Uni ist eine teure Privatschule, voll mit hochnäsigen, reichen Kindern, die alles in den Arsch gestopft bekommen. Ich bin wohl die Einzige von ihnen, die aus mittelständischen Verhältnissen kommt. Abgesehen von den Stipendien-Nerds natürlich.

Meine Mom ist Anwältin, aber nicht gerade eine von denen, die mit teuren Designeranzügen durch New York City laufen und sich an jedem zweiten Kaffeestand einen Bagel kaufen. Nein, sie reißt sich um jeden Auftrag, den sie kriegen kann. Und dann geht das meiste Geld dafür drauf, dass sie mir diese teure Uni finanziert und das Haus abzahlt. Wir leben in der teuersten Stadt der Welt und selbst die schlimmsten Bruchbuden Brooklyns kosten schon ein Vermögen.

Jeden Tag aufs Neue wünsche ich mir, mich irgendwie bei ihr revanchieren zu können. Alles, was sie tut, tut sie für mich. Eine Zeit lang war ich Zeitung austragen, aber da habe ich gekündigt, weil es einfach zu früh morgens und damit direkt vor der Schule war. Dann hat eine Freundin meiner Mom mich in ihrem Modegeschäft jobben lassen, aus dem sie mich nach einem halben Jahr aber leider wieder entlassen musste, weil die Kunden sich über meine »inadäquate Beratung« beschwert haben. Na ja, immerhin hat sie es nett ausgedrückt. Sie hätte ja auch »stillose und fürchterliche Beratung« oder so sagen können. Ich bin mir sicher, die Kunden haben sich schlimmer ausgedrückt. Eine Frau hat mich mal als maßlos unverschämt beschimpft und gesagt, ich gehöre eher in eine Nähfabrik nach Bangladesch als in ein Modegeschäft, nur weil ich ihr eine gelbe Strumpfhose mit einem geblümten Sackkleid von ROKEDISS empfohlen habe. Seitdem arbeite ich in einer kleinen Buchhandlung, die hauptsächlich Nerds und ältere Damen besuchen, aber immerhin bei denen scheine ich als kompetent genug für den Job durchzugehen. Halleluja.

Wie auch immer. Wenn es nach Mom ginge, müsste ich gar nicht arbeiten. Sie sagt immer, ich solle mich lieber auf die Uni konzentrieren, und ich gebe ihr schon alles, indem ich einfach da bin. Für mich sehr schwer vorstellbar.

»Logan hat seine Lippen aufspritzen lassen«, antworte ich mit einem verschmitzten Lächeln.

Auf dem Gesicht meiner Mom erscheint ein breites Grinsen, und sie runzelt amüsiert ihre Stupsnase. Sie liebt Klatsch. »Ist nicht wahr.«

Ich nicke belustigt. »Doch wahr. Soooolche …«, ich ziehe meine Hände weit auseinander. »Schlauchbootlippen. XXL.«

»Piek mal mit deinem Bleistift rein. Vielleicht platzen sie ja.«

Ich erhebe mich lachend. »Du bist unmöglich.«

Sie hält abwehrend die Hände in die Luft und schüttelt unschuldig den Kopf.

Vor der Tür drehe ich mich noch einmal zu ihr um. »Grace kommt gleich. Wenn was ist, wir sind im Zimmer.«

»Okay«, murmelt meine Mutter, die bereits wieder mit dem Kopf über ihre Unterlagen gebeugt ist. Arbeitsunterlagen, vermute ich dieses Mal. »Wenn ich Zeit finde, komme ich kurz und knutsche sie.«

Ich kichere, als ich den Raum verlasse. Meine Mom liebt Grace und findet sie »ganz fantastisch und herzallerliebst«. Sie sagt immer, es grenze an ein Wunder, dass sie nicht nach ihren Eltern schlage. Deshalb ist es für sie auch kein Problem, dass Grace fast täglich bei uns ist, meistens sogar bis nach dem Abendessen. Ich bin eher selten bei ihr. Die Wohnsuite von ihnen ist viel zu riesig und irgendwie so unpersönlich und kalt. Außerdem habe ich nicht das Gefühl, dass ihre Eltern mich sonderlich mögen. Sie tolerieren mich lediglich, weil sie meine Mom von der Uni damals kennen – sie alle drei waren ebenfalls auf der NYU. Mom hat mir erzählt, dass sie sogar gut mit Alice Bishop, also Graces Mom, befreundet war, bis sie mit Harold, also Graces Dad, zusammenkam, die beiden nach der Uni voll durch die Decke gingen und das Plaza Hotel plus das Four Seasons kauften. Seitdem beschränkte Mrs. Bishop die Kommunikation mit Mom, wenn sie früher Grace zu Besuch brachte, auf Küsschen links, Küsschen rechts, dabei etepetete die rechte Hand in einer scheinbar anmutigen Pose in der Luft (für mich sah es immer so aus, als hätte sie ihre Hand gebrochen) und einem »Norma holt sie dann um sieben wieder ab. Ciao, Ciao.«

Oh, und Grace hat ein Auto. Also ist sie schneller bei mir, als wenn ich mit dem Fahrrad eine Stunde bis in die siebenundfünfzigste fahre.

Als ich in mein Zimmer trete, kriege ich beinahe einen Herzinfarkt und springe erschrocken in die Luft. Ein Fremder steht vor mir und sieht so fehl am Platz vor meinem weißen Schnörkelbett aus, dass ich gelacht hätte, wenn mir das Herz nicht fast aus der Brust springen würde.

»Verzeihung«, sagt er höflich und hält beide Hände entschuldigend in die Höhe. »Ich suche …«

»Wieder raus, den Flur links, vier Türen weiter«, höre ich meine innere Aufnahmekassette sprechen, ehe der Herr auch schon freundlich nickt und mein Zimmer verlässt.

Seufzend lasse ich mich auf mein Bett fallen, während ich mich von dem Schock erhole. Man sollte meinen, nach so vielen Jahren hätte ich mich endlich daran gewöhnt. Fehlanzeige.

»Der Kerl ist total gruselig«, sage ich und halte Grace die Chipstüte hin, nach der sie gerade geschnipst hat – Sour Cream and Onion. Ich muss mir Breakfast Club mit ihr ansehen, weil ich ihr das schon versprochen habe, als ich noch in Portugal war.

Sie steckt ihre Hand in die Tüte und krümelt das halbe Bett voll. »Finde ich nicht. Das liegt nur an seinem seltsamen Mantel.«

»Wenn du meinst.«

Grace seufzt, knüllt die leere Tüte zusammen und zieht die Schüssel Popcorn zu sich heran. Ich beneide sie so sehr dafür, dass sie scheinbar essen kann was sie will und nie zunimmt. Vielleicht liegt es auch an ihrem Personal Trainer daheim, könnte natürlich sein. Und obwohl ich trotz meiner neu gewonnenen Pfunde noch ein wenig dünner als sie bin, komme ich mir stattdessen wie eine gemästete Kuh neben einer filigranen und anmutigen Ballerina vor.

»Hast du in Portugal eigentlich jemanden kennengelernt?«, fragt sie, während meine Augen noch immer ihre Figur anstarren.

Nicht das schon wieder. Ihre ewige Leier, dass ich als elende Jungfrau sterben würde. Nachdenklich lege ich den Kopf schief. »Gewissermaßen.«

Grace wendet den Kopf ruckartig zu mir, und ich habe die Befürchtung, ihr heiß geliebter Haarreif könnte ihr vom Kopf fallen. »Wen?«

Achselzuckend strecke ich die Beine aus. »Keine Ahnung, wie der hieß. War auf so einer Party. Er meinte, ihm gefällt mein Lipgloss, der würde meine Lippen so betonen.«

Grace starrt mich fasziniert an und schaufelt das Popcorn in sich rein. Der Film scheint sie plötzlich nicht mehr zu interessieren. »Und?«, hakt sie aufgeregt nach. »Was hast du gesagt?«

»Ich meinte, der Glanz wäre das Chipsfett.«

Graces Hand erstarrt mitten in der Luft, auf dem Weg zum Mund.

»Oh, Hazel. Sag, dass das nicht wahr ist, bitte.«

Unbeirrt nehme ich die Platte mit dem Gemüse von der Fensterbank neben meinem Bett. »Ich fand ihn eh komisch und außerdem …«

»Nein«, unterbricht sie mich schlagartig.

Mit gerunzelter Stirn und einer Karotte in der Hand sehe ich sie an. »Nein?«

Grace schüttelt den Kopf. »Du musst endlich damit aufhören, alle Männer für die absoluten Vollidioten zu halten. Nur weil dein Vater ein Arschloch war und deine Mom vor der Geburt verlassen hat, ist nicht jeder so.«

Ich verdrehe genervt die Augen. »Lucas hat dich mit Thomas betrogen, Grace. Einem Kerl. Und du willst mir erzählen, die Männer sind nicht alle so?«

Grace öffnet betroffen den Mund und wendet betreten den Kopf ab. Sofort bekomme ich Schuldgefühle. Ich werfe die Karotte zurück auf den Teller und lege ihr eine Hand auf die Schulter.

»Grace, ich …«

Sie lächelt aufgesetzt. »Schon gut. Du hast ja recht.«

In ihren Augen glitzern Tränen. Sie hat Lucas echt geliebt, immerhin waren sie fast sieben Jahre zusammen, bis sie ihn schließlich auf einer Benefiz-Veranstaltung im Plaza mit Thomas in einem Zimmer erwischte. In flagranti. Sie war monatelang vollkommen fertig. Fairerweise muss ich dazu sagen, dass es immerhin kein One-Night-Stand war. Die beiden Jungs sind seitdem ein Paar, und wirklich, wirklich süß zusammen, aber das könnte ich vor Grace niemals sagen. Betrügen bleibt betrügen, und was Lucas getan hat, war unter aller Sau.

»Nein«, sage ich und streiche ihr eine Strähne hinters Ohr. »Das hätte ich nicht sagen sollen. Es ist nur … Keine Ahnung, ich glaube, ich war irgendwie wütend.«

Grace streicht sich die Chipskrümel von ihrem Kleid und sieht mich mit verwirrtem Gesichtsausdruck an. Feine Tränen glitzern an den Spitzen ihrer langen dunklen Wimpern. »Aber warum denn?«

Im Hintergrund brüllt der Typ mit dem Mantel aus Breakfast Club ziemlich übel, also schalte ich die Lautstärke etwas runter und seufze. »Weiß ich nicht«, entgegne ich wahrheitsgemäß. Mein Blick bleibt auf dem Bild an meiner grauen Wand hängen und verschwimmt vor meinen Augen. Ich erinnere mich noch genau an den Tag. Es entstand an meiner Einschulung, und ich stehe dort mit dicker Brille und Schultüte in der Hand, während mein breites Grinsen eine süße Zahnlücke offenbart. Auf meinem blonden Haarschopf trage ich ein pinkes Cap, das ich mir zur Feier des Tages am Abend zuvor aussuchen durfte, und ich fühlte mich so unendlich schön damit. Als wir dann in die Klassen aufgeteilt wurden, hat Logan sie mir vom Kopf gerissen und lachend gemeint, mein Gesicht sei hässlich, ich hätte abstehende Ohren und eine Schweinenase. Dann hat er mir die Mütze wieder aufgesetzt und gesagt, das Pink passe zu mir, weil ich ein dickes Schwein sei.

Ich habe das Cap nie wieder getragen.

Seufzend lehne ich mich gegen das Kopfteil meines Bettes. »In meinem Leben war Tony bisher der einzige Mann, dem ich wirklich vertrauen konnte. Ansonsten habe ich mir immer Beleidigungen von Jungs anhören müssen, oder sie haben mich gar nicht erst beachtet. Ich meine, mein Dad wollte nicht mal etwas von mir wissen, obwohl ich noch gar nicht auf der Welt war. Sie haben einfach kein Interesse an mir.«

Grace legt betrübt den Kopf schief, so, wie sie es immer tut, wenn sie betroffen ist. »Das stimmt nicht. Das mit deinem Vater ist verdammter Mist, Hazel, aber so sind sie nicht alle. Du kannst die Männer nicht verurteilen, nur weil einer von ihnen Scheiße gebaut hat. Und außerdem hast du doch gerade gesagt, dieser Portugiese fand dich gut.«

»Jaah«, antworte ich gedehnt und pule am Saum meines gelben T-Shirts herum. »Der war aber echt komisch, Grace. Ich meine, so richtig komisch. Kam mit einem Bauarbeiterhelm auf die Party und meinte, es wäre eine Vorsichtsmaßnahme, falls er zu betrunken wäre und hinfallen würde. Und dann trug er den ganzen Abend eine Orange bei sich und hat sie nicht aus der Hand gegeben, weil sie sein Glücksbringer war, um Mädchen kennenzulernen.«

»Oh«, sagt sie und sieht mich mit ausdruckslosem Blick an, den sie scheinbar krampfhaft halten muss. Ihre Mundwinkel zucken, ich stupse sie in den Bauch und verdrehe belustigt die Augen.

»Na los, lach schon.«

Dann prustet sie los, und ich stimme lauthals mit ein, bis uns der Bauch wehtut und der komische Mantel-Typ aus dem Film draußen auf einer Wiese die Faust in die Luft streckt, fast so, als wollte er sagen: »Na, geht doch!«

4

Mit dem Finger umkreise ich den oberen Rand meines Glases, aber scheinbar will meine Cola Light heute keinen coolen Sound von sich geben. Tony steht hinter dem Tresen und putzt Gläser, dabei kann ich ganz genau erkennen, wie er mich von der Seite her beäugt. Außer mir ist bloß ein weiterer Gast da, ein kleiner untersetzter Mann mit Glatze, der einem Miniatur-Troll gleicht und mit den Lippen stumm den Foo Fighters folgt, die im Hintergrund das Lied »Pretender« grölen.

»Okay«, sagt Tony schließlich seufzend, stellt das Glas beiseite und lehnt sich mit den Ellbogen vor mir auf die Marmorfläche. »Was ist los?«