Reitemeier / Tewes · Strandgut
Strandgut
PENDRAGON
Übrigens…
wir freuen uns natürlich, wenn Sie diese Geschichte glaubwürdig finden. Aber man kann es gar nicht oft genug sagen: Die Handlung ist frei erfunden, alle Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Prolog
Die Hinrichtung fand am 2. Juni 1666, dem Samstag vor Pfingsten, in aller Frühe zwischen vier und fünf Uhr unter dem Regenstor statt.
Der ungewöhnliche Ort und die ungewöhnliche Zeit, wodurch die Öffentlichkeit weitgehend ausgeschlossen war, sollte vermutlich Aufsehen vermeiden.
Dichter Frühnebel ließ das zaghaft aufkommende Tageslicht kaum durchdringen. Alles war feucht, selbst auf dem Schwert des Henkers glänzten Wassertropfen. David Claus war zu dieser Zeit Scharfrichter in Lemgo und verstand etwas von seinem Handwerk. Er stammte aus einer alten Scharfrichterdynastie, sowohl väterlicherseits als auch mütterlicherseits. David Claus war der Henker der Hexenprozesse in der finstersten Zeit der alten Hansestadt Lemgo, damals die mit Abstand größte, reichste und bedeutendste Stadt der Grafschaft Lippe. Und die für mehr als ein Vierteljahrhundert gefährlichste Stadt des Landes. Jede Frau musste befürchten, die nächste zu sein, die dem „Directore des Peinlichen Processus contra die Unholden und Hexen“ verdächtig vorkam. Für David Claus gab es viel zu tun.
Sorgfältig wischte er das lange Schwert mit seinem Mantel trocken. Dabei blickte er den Anwesenden der Reihe nach in die Augen. Er mochte sie nicht, die fetten und selbstgefälligen Ratsherren. Am wenigsten mochte er den Bürgermeister, den blutrünstigsten Menschen, den er jemals kennen gelernt hatte. Und das wollte in seinem Beruf etwas heißen. Hermann Cothmann verbreitete Angst und Schrecken. Jahrelang hatten Bürgermeister und Scharfrichter eng zusammengearbeitet, hatten, bei allen Standesunterschieden, voneinander profitiert. David Claus hatte ein gutes Einkommen, Hermann Cothmann konnte darauf zählen, dass die Hinrichtungen professionell abliefen. Da der Scharfrichter auch für die „Tortur“, die Folterung verdächtiger Personen zur Wahrheitsfindung, zuständig war, erfuhr er so manches über die Begleitumstände eines Verfahrens. Er wusste, wie die Aussagen zustande gekommen waren. Er wusste auch, welche Summen die Verwandten der Frauen bezahlt hatten, um sich für die Zukunft von der Verfolgung freizukaufen. Cothmann konnte auch hier auf die Diskretion seines Scharfrichters zählen.
Vor drei Monaten hatte sich alles verändert. David Claus hatte schon vor langer Zeit erste Zweifel daran verspürt, seine Tätigkeit im Rahmen einer göttlichen Order zu verrichten. Als vor drei Monaten der Mann, dessen Kopf abzuschlagen er jetzt angetreten war, festgenommen und unter Folter befragt worden war, hatten seine Zweifel zugenommen. Dieser Mann hieß Andreas Koch und war ein Priester! Ein richtiger, mit Priesterweihe und allem, was dazu gehörte. Nicht einer dieser verwahrlosten Wanderprediger, die im Zuge des großen Krieges durch das verwüstete Land zogen und den Leuten die letzte Kupfermünze abschwatzten. Grässliches Volk, fand Claus und zog verächtlich die Nase hoch. Dieser Andreas Koch war anders. Der hatte sich mit ihm unterhalten wie mit seinesgleichen. Seit diesen Gesprächen war für den Scharfrichter nichts mehr so, wie es vorher war. Seine Wertewelt war tief erschüttert worden. Nie zuvor hatte er auch nur eine Sekunde daran gezweifelt, dass die Hexenprozesse etwas anderes waren als der gerechte und notwendige Kampf des Guten gegen das ewige Böse. Keinen Gedanken hatte er daran verloren, dass Bürgermeister Cothmann etwas anderes sein könnte als der von Gott persönlich in die Welt geschickte Vollstrecker seines Willens. Daran konnte David Claus nun nicht mehr glauben. Die Gespräche mit dem Priester hatten in ihm erste Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verfahrens gesät. Bis zu der Erkenntnis, dass die armen Frauen unter der schweren Folter alles gestehen, was von ihnen verlangt wird, war es nur ein kleiner Schritt. Und ein weiterer kleiner Schritt war es, Cothmann als das zu erkennen, was er war: Ein gewalttätiger Eiferer, bei dem religiöser Fundamentalismus in Verbindung mit übersteigertem Ehrgeiz, bizarrer Geltungssucht und einer schier grenzenlosen Geldgier eine hochgefährliche Mischung ergab. Er war eine Gefahr für alle in der Stadt Lemgo. Nicht nur für die Frauen. Nein, jeden konnte sein Terrorregime erreichen. Wenn schon Priester hingerichtet werden sollten, dann war niemand mehr sicher. Auch kein Ratsherr. Und auch kein Scharfrichter. Vor allem, wenn dieser bereits durch unkluge Äußerungen das Vertrauen des Bürgermeisters verloren hatte. Das wusste Claus und hatte schon vor einigen Tagen beschlossen, Lemgo zu verlassen. Nur noch diese Hinrichtung, dann würde er in aller Stille verschwinden. Sein Plan stand fest.
Nun stand Hermann Cothmann, durch einen prächtigen Mantel vor der feuchten Kälte geschützt, die üppige Bürgermeisterkette um den Hals, im Kreis der Ratsherren und wartete ungeduldig darauf, dass der Scharfrichter endlich sein Werk vollzog. Claus hob das Schwert und spannte die Muskeln an. Ändern konnte er an dem Todesurteil nichts mehr. Wenn er es nicht machte, würde ein anderer freudig seine Rolle übernehmen. Es schnell und schmerzlos durchzuführen war das Einzige, was er für den armen Priester noch tun konnte.
Als zwei seiner kräftigen Knechte den Verurteilten in die richtige Position gebracht hatten, ging alles sehr schnell. Nachdem einer der Schergen den Kopf des Verurteilten aufgehoben und ihn den Ratsherren präsentiert hatte, löste sich die Runde auf. Cothmann unterschrieb dem Scharfrichter das Hinrichtungsprotokoll und wandte sich dann wortlos von ihm ab. Kein Schulterklopfen mehr, wie sonst. Kein anerkennendes Wort. Es würde höchste Zeit für David Claus, die Mauern der Stadt Lemgo weit hinter sich zu lassen.
Er ließ seine Helfer mit dem Toten und den Reinigungsarbeiten allein und strebte hastig seinem Haus in der Neuen Straße zu. Seine Frau Agnesa hatte bereits alles vorbereitet. Viel Besitz hatten sie nicht mitzunehmen. Es passte alles auf den Leiterwagen, der bereits fertig gepackt im Stall stand. Das Haus gehörte dem Bürgermeister und war ihm nur als Dienstwohnung zur Verfügung gestellt worden. Es musste nicht veräußert werden. Eine nicht unerhebliche Geldsumme hatte David Claus bereits vor Tagen aus der Stadt bringen lassen. Eine weitere, kleinere Summe und einige wertvolle Gegenstände hatte er gut versteckt. Geld, von dem selbst seine Frau nichts ahnte. Von dem nur der Bürgermeister und einige wenige Auserwählte Kenntnis darüber hatten, woher es kam. Claus wusste, dass da, wo dieses Geld herkam, noch sehr viel mehr war. Enorm viel mehr! Aber nur der Bürgermeister hätte sagen können, wo es versteckt war. Nur er allein verwaltete das Lösegeld, welches reiche Lemgoer Familien entrichtet hatten, um ihre unter Verdacht geratenen Familienangehörigen frei zu kaufen. Ein Geschäft mit der Angst, betrieben von einer Handvoll schweigsamer Männer unter der Leitung des obersten Anklägers, des Bürgermeisters. Eine runde Sache! Der Scharfrichter war zu einem kleinen Teil in das Geschäft einbezogen, denn ohne sein Mitwirken hätte das System nicht funktionieren können. Selbstverständlich bekam er nur Krümel vom großen Kuchen, auch ließ man ihn nicht hinter die Kulissen der Vereinigung schauen. Aber er hatte so einiges mitbekommen, hatte dem Bürgermeister so manchen Dienst geleistet, hatte dabei immer die Augen aufgehalten und erkannt, dass Cothmann seine Mitverschworenen hinterging und den größten Teil des erpressten Geldes für sich abgezweigt hatte.
Dieses Wissen machte ihn für den Bürgermeister noch gefährlicher. Es war aber auch ein Mittel, um Cothmann erheblich zu schaden. Er musste sein Wissen nur den anderen Männern mitteilen. Schriftlich, nach seiner Flucht. Von dem Priester hatte er sich ein entsprechendes Schriftstück in lateinischer Sprache heimlich abschreiben lassen. Dieses Schriftstück wollte David Claus gerade aus seinem Versteck holen, als er hörte, wie die Haustür aufgerissen wurde. Einer seiner Knechte stand atemlos in der Tür. Der Scharfrichter erfuhr, dass der Bürgermeister Männer entsandt hatte, um ihn festzunehmen und er sofort, ohne jede weitere Verzögerung, fliehen müsse. Seine Frau hatte das Pferd bereits vor den Wagen gespannt, David Claus fasste seinen Reisesack und wollte sich auf den Bock schwingen, als ihm das brisante Schriftstück einfiel. Doch es blieb keine Zeit mehr, er musste los! Mochte das Schriftstück bleiben, wo es war. Er gab dem Pferd die Peitsche und blickte sich erst wieder um, als er außerhalb der Stadtmauern war.
Raub, Arnsberg das Zentrale Dezernat Rauschgift. Die neu geschaffenen Schwerpunktdezernate von Köln und Düsseldorf fielen ihm gerade nicht ein.
Alter Wein in neuen Schläuchen, dachte Schulte, und dann solche schwachsinnigen Schwerpunktzuordnungen! Arnsberg und Drogenbekämpfung! Als wenn die Sauerländer alle kiffen würden. Die saufen doch eher. Ostwestfalen war demnach die Hochburg der Tötungsdelikte, sozusagen die Bronx des Landes NRW. Solche Zuteilungen konnten sich auch nur Leute ausdenken, die von Polizeiarbeit keine Ahnung hatten, zum Beispiel Politiker. Doch über eines war sich Schulte im Klaren: Die Landräte als Chefs der Kreispolizeibehörden würden sich so schnell nicht in die Suppe spucken lassen. Die Kreisfürsten würden den Landespolitikern schon einheizen, dessen war er sich sicher.
Der Polizist ließ seinen Blick durch das Schlafzimmer streifen. Auf dem Ziffernblatt des Weckers verweilte er kurz. Er fluchte. Viertel vor sieben. Scheibenkleister! Er hatte die Zeit vertrödelt. Hastig warf Schulte die Decke zur Seite und schwang sich aus dem Bett. Eine beißende Kälte griff nach ihm. Zitternd langte er nach einem alten Frotteebademantel, schlüpfte hinein und stürmte zum Bad. Die Tür war verschlossen. Besetzt! Er würde schon am ersten Tag zu spät kommen. Verärgert über sich selbst stürmte er zurück in sein Schlafzimmer und zog sich an. Na gut, dann eben ungewaschen zum Dienst fahren. Das brachte ihm wieder einen Zeitvorsprung von zehn Minuten. Er stürmte in die Küche. Schenkte sich eine Tasse Kaffee ein, verbrannte sich die Zunge und rief dann über die Schulter:
„Ich muss los!“, und stürmte aus dem Haus.
Auf der Treppe hatte sich Eis gebildet. Schulte kam ins Rutschen. Seine Tasse mit heißem Kaffee flog durch die Luft. Im Schnee erschien augenblicklich eine braune Spur des heißen Getränks. Die weiße Pracht dämpfte den Aufprall des Kaffeebechers. Er blieb heil. Gleichzeitig mit dem Eintauchen der Tasse in den frischen Schnee krachte Schultes Steißbein mit einem widerlich knirschenden Geräusch auf die Kante der Treppenstufe. Vor Schmerz schrie er auf und blieb fast zehn Sekunden liegen. Tränen schossen ihm in die Augen. Er tastete nach dem Treppengeländer und zog sich daran hoch. Humpelnd schleppte sich Schulte zu seinem Auto. Sein neuer Job in Bielefeld stand anscheinend unter einem schlechten Stern. Mit schmerzverzerrtem Gesicht wuchtete er sich in seinen VOLVO, einen ehemaligen Leichenwagen. Der Anlasser drehte sich nur langsam. Es war wohl in absehbarer Zeit eine neue Autobatterie fällig. Schulte betete:
„Lieber Gott! Bitte! Lass die Kiste anspringen!“
Ein Vibrieren durchzog das gesamte Auto. Schwarzer Rauch wurde durch den Auspuff ausgestoßen. Dann drehte der Motor. Schulte atmete erleichtert durch. Er legte den Gang ein und der schwere Wagen pflügte sich durch den Schnee, der auf der Einfahrt lag, Richtung Straße.
Schulte kam wieder ins Grübeln. Wieso sollte unbedingt er der neue Dezernatsleiter werden? Ausgerechnet er, der nie ein Mann des Schreibtisches und der Verwaltungsvorgänge gewesen war. Seine Aktenführung hatte schon so manchen Kollegen in den Wahnsinn getrieben. Er konnte sich des Verdachts nicht erwehren, dass das Projekt „Experimentelle Polizeibehörde NRW“ zum Scheitern gebracht werden sollte. Mit Sicherheit hatte Erpentrup ihn ausgewählt, um ihn loszuwerden.
Er dachte über die Anfangsbesetzung des Dezernates nach. Er selbst, der Verwaltungschaot, Margarete Bülow, mit Sicherheit hoch kompetent, aber seit mehr als sechs Jahren blind. Zu Muffen und Walburga Stolle konnte er nicht viel sagen. Die beiden waren nach seiner Einschätzung solide Arbeiter und Muffen auf seine Weise sicherlich auch ein Freak.
Schulte fluchte über die anscheinend kaltblütige Berechnung, mit der ein paar Politiker und Verwaltungsleute ein vielleicht sinnvolles Projekt durch geschicktes Strippenziehen von Anfang an zu einem „tot geborenen Kind“ machen wollten.
In Schulte erwachte der Kämpfer. Der König der Dezernatsverwaltung würde er nie werden, aber leicht wollte er es den Gegnern der Reform auf keinen Fall machen. Im Grunde war sie ihm egal, doch wenn man ihn für Spielchen missbrauchte, konnte er ekelig werden.
Während die Gedanken kreisten, hatte Schulte die Zeit vergessen. Denn plötzlich stand er vor dem Polizeigebäude an der Kurt-Schumacher-Straße in Bielefeld und wusste nicht, wie er dort hingekommen war. Er parkte sein Auto und ging zum Eingang. Hier stellte er sich vor und bekam umgehend das Gefühl, eine unerwünschte Person zu sein. Unfreundlich nannte ihm der uniformierte Kollege in der Zentrale die Zimmernummer seines neuen Büros. Der Hauptkommissar machte sich auf den Weg. Als er in das genannte Arbeitszimmer eintrat, saß Margarete Bülow schon an ihrem Platz. Ihr Hund Kalle begrüßte Schulte herzlich. Das war aber auch das einzige Freundliche in diesem Raum. Er war voll gestellt mit Schreibtischen und Regalen. Es gab keine Blume, keinen Aktenordner, kein Bild. Alle Zeichen standen auf Neuanfang. Schulte würde ab heute in einem Gemeinschaftsbüro arbeiten müssen. Schon jetzt war ihm klar, dass sein Ordnungssinn für Dynamik sorgen würde.
„Wie sieht es aus mit Kaffee?“, fragte er und setzte sich mit aller Vorsicht auf einen der freien Stühle. Der Sturz vor seinem Haus machte ihm erheblich zu schaffen.
Margarete Bülow zuckte mit den Schultern.
„Uns fehlen noch die Utensilien, die man braucht um ein solches Gebräu ansetzen zu können. Wo hier im Haus ein Automat ist, kann ich dir auch nicht sagen. Aber die Bielefelder Kollegen werden ja gleich kommen.“
In diesem Moment öffnete sich die Tür und ein kleiner rundlicher Mann mit einer auffälligen Hakennase betrat den Raum. Bekleidet war er mit einer Trachtenjacke. Unter dem Arm hatte er sich eine Ministereoanlage geklemmt. Er grüßte freundlich und sah sich mit einer auffälligen Geste im Raum um.
Musik würde er hier wahrscheinlich nicht so oft hören, dachte er und stellte die Anlage auf einen der herrenlosen Schreibtische.
„Gemütlich wie in der Bahnhofshalle“, bemerkte er. Dann gab er Margarete Bülow und Schulte die Hand.
„Ich glaube, ich kümmere mich erst mal um Kaffee“, grinste Muffen und verließ mit hektischen kleinen Schritten wieder das Zimmer.
Da saßen sie nun, Schulte und Margarete Bülow, wie bestellt und nicht abgeholt.
Der Hauptkommissar ergriff zuerst das Wort.
„Sag mal Margarete, hast du dir schon einmal Gedanken darüber gemacht, warum ausgerechnet wir in diesem Experimentellen Dezernat sitzen?“
„Warum ich hier sitze, ist mir schon klar! Heiner Schmitz, der Paderborner Polizeichef, hat endlich eine Möglichkeit gefunden, um mich los zu werden. Er war nie unfreundlich zu mir. Hat mich auch immer höflich und zuvorkommend behandelt. Aber es war ihm nie so ganz geheuer, eine Polizeidirektorin als Untergebene zu haben, noch dazu blind. Auch die Tatsache, dass ich mit Potthast, der so etwas wie ein Freund für ihn ist, so einträglich zusammengearbeitet habe, rückte mich für ihn in den Bereich der Unberechenbarkeit. Da kam ihm diese Möglichkeit, mich wegzuloben, gerade recht. Ich nehme ihm das nicht übel, aber ein bisschen weh tut es doch. Auch wenn ich es anfangs nicht geglaubt hätte, mir hat es in Paderborn sehr gefallen.
Und was glaubst du, warum du hier bist, Jupp?“
Schulte kratzte sich am Kopf.
„Ich denke auch, Erpentrup wollte mich ebenfalls los werden“, sagte er mit verbittertem Gesichtsausdruck.
„Und Leiter dieses Dezernats bin ich geworden, weil alle wissen, dass ich verwaltungstechnisch eine Null bin. Da sitzen die Gegner dieser Reform schon wie die Geier auf den Bäumen und warten darauf, dass wir scheitern.“
Margarete von Bülow hatte so offene Worte von Schulte nicht erwartet. Sie schwiegen wieder und warteten auf Muffen und den Kaffee.
2
„Es ist jetzt schon viertel nach drei und mich hat immer noch keine geküsst!“
Oliver Hartel war fassungslos. Als er an diesem Donnerstag zur Arbeit gegangen war, hatte er mit einem aufregenden Tag gerechnet. Er hatte sich herausfordernd eine besonders grelle Krawatte umgebunden. Eine Krawatte, die nun wirklich nicht zu übersehen war. Und was war passiert? Nichts! Die Krawatte hing noch immer an derselben Stelle, völlig unversehrt. Seine Frisur war nicht zerzauselt worden, er hatte keine Lippenstiftflecken auf der Backe. Nichts war so, wie es sein sollte. Weiberfastnacht in Lippe! Oliver Hartel zerbiss einen Fluch. Wo war er nur gelandet? In seiner Heimatstadt Düsseldorf tobte jetzt der Mob der wilden Weiber, die unschuldige Männer umzingelten, ihnen Alkohol aufzwangen, ihnen Krawatten abschnitten, ihnen ungefragt brennende Küsse auf die Wangen drückten. Das alles war schaurig, war schrecklich, war schön! Und für einen echten Kerl wie ihn war es einer der Höhepunkte des Jahres.
Und dann Detmold!
Wie konnten all diese Menschen so unaufgeregt, so nüchtern, so stur ihrer Arbeit nachgehen? Einfach so tun, als gäbe es Karneval gar nicht! Hartel schüttelte den Kopf. Lag es daran, dass es hier im Lippischen so viel regnete? Lag es daran, dass diese Region erst Jahrhunderte später zivilisiert worden war als das Rheinland? Würde man hier in achthundert Jahren auch endlich Karneval feiern?
Er hatte sich wahrhaftig nicht danach gedrängt, von der Metropole am Rhein ins beschauliche Detmold versetzt zu werden. Aber manchmal muss man eben Opfer bringen, um den nächsten Karrieresprung nicht zu gefährden. Vor allem, wenn man gerade mal einunddreißig Jahre alt ist und frisch gebackener Kommissar. Er hatte noch Großes mit sich vor! Kommissar würde er nicht bleiben. Es würde nur ein Jahr dauern, höchstens zwei, hatte sein Düsseldorfer Chef ihn getröstet. „Da müssen Sie durch, Hartel! Seien Sie tapfer!“ Der hat gut reden, dachte Hartel. Dem hat heute am frühen Morgen ein ganzes Rudel geschminkter und völlig enthemmter Weiber das Präsidium gestürmt und ihn selbst sexuell belästigt, bis er der wüsten Meute zermürbt die Schlüssel des Polizeipräsidiums ausgehändigt hat. So gehörte sich das! So und nicht anders!
Oliver Hartel beugte sich zerknirscht über die Akte, die ihm sein neuer Chef, Polizeirat Klaus Erpentrup, wärmstens ans Herz gelegt hatte. Der Extertalbahn waren Oberleitungen gestohlen worden. Wer klaut denn so was? Ah ja, die Dinger bestanden aus Kupfer und waren rund 150.000 Euro wert. Trotzdem, das war doch alles nichts Richtiges. Die Ermittlung der wirklich spannenden Fälle, Mord und Totschlag, wurde neuerdings von Bielefeld aus koordiniert. Für ihn und seine Kollegen in Detmold blieben nur die staubigen Akten, die deprimierenden Routinearbeiten. Apropos Kollegen. Totale Landeier! Wie die schon gekleidet waren. Allertiefste Provinz! Da war zum Beispiel Bernhard Lohmann: Glatze und Bierbauch, redet nur über Fußball und Enkelkinder, steinalt, steht kurz vor der Pensionierung. Trägt im Büro Hausschuhe! Dann Axel Braunert: Okay, der kleidete sich wenigstens anständig. Aber dafür war er bekennender Schwuler. Der sollte ihm bloß von der Pelle bleiben! Auf so was stand Oliver Hartel gar nicht. Und Maren Köster? Zugegeben, die mochte vor zehn Jahren mal ein scharfer Feger gewesen sein, aber jetzt, mit ihren 39 Jahren, war doch längst der Lack ab. Eine ganz normale alte Schachtel! Nur sein Chef, der Polizeirat Klaus Erpentrup, passte in sein Weltbild. Der war immer wie aus dem Ei gepellt, der ließ sich nie gehen, war kompetent, pünktlich und strebte ebenfalls nach höheren Weihen. Mit seinem Chef war Oliver Hartel zufrieden, die Kollegen waren ein kompletter Ausfall! Dabei hatte er den Schlimmsten noch gar nicht kennen gelernt. Dauernd redeten die anderen von einem gewissen Jupp Schulte, der aber seit kurzem nach Bielefeld versetzt worden war. Dieser Schulte musste ja ein totaler Chaot sein. Was über den so erzählt wurde. Gut, dass der nicht mehr hier war. Ein Landei weniger!
3
„Gerade erst bezogene Büros haben etwas Trostloses“, dachte die Kommissarin Walburga Stolle, als sie die Räume der neu gegründeten Abteilung Zentrales Dezernat Gewaltverbrechen betrat.
Sie kam gegen neun Uhr. Die allein erziehende Mutter hatte mittlerweile ihre zwei Kinder in Schule und Tagesstätte gebracht. Jetzt saß sie in der Runde des neu zusammengewürfelten Kollegenteams. Doch sie war abwesend. Ihre Tochter hatte bitterlich geweint, als sie in der Tagesstätte zurückgelassen wurde. Der Eindruck, den das verzweifelte Kind auf sie als Mutter gemacht hatte, hing ihr noch in den Kleidern. Die Gespräche rauschten an ihr vorüber. Nur Wortfetzen drangen in ihr Bewusstsein.
„Um elf Uhr, also in einer Stunde, kommen die Vertreter des Ministeriums“, hörte sie gerade Margarete Bülow sagen.
Walburga Stolle schrak auf! Ministerium? Sie zwang sich zur Aufmerksamkeit.
„Kennst du jemanden aus der Delegation, die aus Düsseldorf zu Besuch kommt?“, fragte Schulte.
„Ja, mit dem Staatssekretär hatte ich früher öfter zu tun. Es wundert mich sowieso, dass die ausgerechnet heute kommen. Schließlich ist ja Weiberfastnacht, da ist der Kollege an sich immer in der ersten Reihe dabei gewesen, wenn es darum ging, ein paar jungen Frauen an den Hintern zu fassen. Entweder ist er mittlerweile in einem Alter, wo ihn solche Möglichkeiten nicht mehr reizen, oder es gibt einen anderen Grund dafür, dass er heute nach Ostwestfalen muss. Könnte es etwa sein, dass er bei den neuen Herren in Ungnade gefallen ist? Oder gibt es andere, einflussreiche Leute im Innenministerium, denen Düsseldorfer Brauchtumspflege nicht wichtig ist?“, sinnierte Margarete Bülow.
„Wie auch immer, glücklich werden die Kollegen über den Besuch hier nicht sein. Wahrscheinlich sind die schneller wieder weg, als sie gekommen sind. Sollten unsere Besucher also wirklich in Eile sein, um möglichst rasch wieder ins närrische Treiben der Landeshauptstadt eintauchen zu können, sollten wir die Gunst der Stunde nutzen.“
Alle Augen richteten sich auf Margarete Bülow.
„Ich bin der Meinung, dass unsere Raumausstattung großzügiger bemessen sein sollte. Wir brauchen noch einige Büroräume, eine Sachbearbeiterin oder einen Sachbearbeiter und zwei Laptops. Fällt euch noch etwas ein?“
Fast jeder hatte ein bis zwei Wünsche und so hatten sie schnell eine ansehnliche Liste fehlender Notwendigkeiten und Annehmlichkeiten zusammengetragen.
„Mal sehen, was wir noch nachverhandeln können“, sagte Margarete Bülow mehr zu sich selbst.
Die Zeit waberte dahin. Jeder war mit sich selbst beschäftigt. Als plötzlich jemand an die Tür klopfte, drehten sich alle Köpfe wie auf Befehl in die Richtung, aus der das Geräusch kam.
Schulte fand zuerst das richtige Wort:
„Herein!“, donnerte er das Wort geradezu in den Raum.
Drei korrekt gekleidete Herren betraten den Raum. Sie vermittelten den Eindruck, als hätten sie alle ihre Anzüge beim gleichen Herrenausstatter gekauft. Die Männer aus Düsseldorf umgab eine Aura von Arroganz. Ein unangenehmes Gefühl breitete sich im Büro aus.
Der zuerst eingetretene, große, grauhaarige Mann musterte die Anwesenden unverhohlen. Dann erkannte er Margarete Bülow. Er räusperte sich und ging auf sie zu.
„Frau Doktor“, sagte er. „Ich habe Sie lange nicht gesehen, wie geht es Ihnen?“
„Gut, ich komme zurecht.“
Die blinde Polizistin bewegte sich in Richtung eines Besprechungstisches. Für alle anderen eine Aufforderung, es ihr gleich zu tun.
Anschließend hielt Hohof einen langweiligen Vortrag über das Projekt: „Experimentelle Polizeibehörde NRW“. Viel diskutiert wurde im Anschluss daran nicht. Dies schien den Gästen aus Düsseldorf nicht unangenehm zu sein. Anscheinend bestand eine Chance schnell wieder die Heimreise anzutreten. Nur weg aus der Provinz, schienen sie zu denken. Sie rutschten unruhig auf ihren Stühlen und begannen die Schreibutensilien, die sie vor sich auf den Tischen liegen hatten, zu ordnen. Als nächstes würden sie diese in ihren Lederkoffern verschwinden lassen. Da ergriff Schulte das Wort. Er wedelte dabei mit einem beschriebenen Blatt Papier.
„Ich hätte da noch ein paar Kleinigkeiten zu besprechen, die nötig sind, damit unser modernes, neu gegründetes Dezernat, auf das alle Welt blickt, auch arbeitsfähig wird.“
Der Polizist trug die zusammengefassten Wünsche vor.
Hohof unterbrach ihn und meinte:
„Das muss doch nicht heute besprochen werden.“
Seine beiden Düsseldorfer Kollegen nickten zustimmend und scharrten mit den Füßen. Sie wollten zurück zur Weiberfastnacht, die in der Landeshauptstadt tobte.
„Oh doch!“, pflichtete Frau Dr. Bülow bei. „Es muss nicht nur besprochen werden, sondern ich bin fest entschlossen, auch Nägel mit Köpfen zu machen! Ich will Zusagen!“
Die Düsseldorfer wirkten von Minute zu Minute genervter. Einer blickte demonstrativ auf die Uhr. Hohof griff nach der Liste, mit der Schulte wedelte. Er überflog sie.
„Also, in Gottes Namen! Sie sollen Ihre Nachbesserungen haben.“
Er erhob sich um zu gehen.
„Dann hätte ich gern Ihren Friederich Wilhelm darunter, Herr Staatssekretär!“, entgegnete Frau Bülow.
„Was soll denn das Misstrauen? Haben ich Ihnen dazu jemals Grund gegeben, Frau Doktor?“
„Wollen Sie darauf wirklich eine Antwort, Hohof?“
Der Grauhaarige wedelte mit der Hand in der Luft herum, als wollte er eine Fliege verscheuchen. Dann griff er in die Innentasche seiner Jacke, zog einen silbernen Kugelschreiber hervor, setzte unter die Liste das Wort: „Genehmigt“ und seine Unterschrift. In Richtung Frau Bülow fragte er verärgert:
„Zufrieden?“
Sie nickte schmunzelnd, was nicht zur Aufhellung seiner Laune beitrug. Er steckte den Stift zurück in die Jackentasche. Nur wenige Minuten später verließen drei mit dunklen Mänteln bekleidete Herren das Polizeipräsidium an der Kurt-Schumacher-Straße. Mit hochgeklappten Kragen stürmten sie durch einen gerade einsetzenden Schneeschauer in Richtung eines wartenden Taxis.
4
Schrecklich! Nirgendwo in diesem Haus gab es einen rechten Winkel, alles war schief und krumm. Der Blick auf die Wasserwaage trieb ihm Tränen in die Augen. Wenn er mit dem Fingerknöchel prüfend gegen eine Wand klopfte, dann bröselte der mürbe Lehmputz. Auf was hatte er sich da eingelassen? Ausgerechnet er, der niemals Hausbesitzer werden wollte. Leben mit kleinem Gepäck, dass war Michael Grafenbergs Maxime. Mit nichts wollte er sich belasten, weder Familie noch Haus, weder Auto noch Hund. Er wollte sich die Freiheit bewahren, jederzeit alles hinwerfen zu können, um völlig unbelastet neue Horizonte anzusteuern. Für die Zeitgenossen, deren Lebensinhalt die Maximierung ihres Besitzes zu sein scheint, hatte er nur ein verächtlich geschnaubtes „Spießer!“ übrig.
Das hatte auch wunderbar funktioniert. Zumindest bis vor kurzem. Aufgewachsen war Grafenberg in Detmold, hatte dort 1981 das Abitur mehr schlecht als recht geschafft. Für ein Studium seiner Wahl reichte der Notendurchschnitt nicht aus, Kompromisse waren nicht seine Sache, also ließ er es ganz bleiben. Als Berufsausbildung kam für ihn allenfalls der Zimmermann in Frage, aber das wollten damals fast alle und so nahm sich Michael Grafenberg selbst aus dem Wettbewerb und verzichtete zugunsten anderer generös auf eine Berufsausbildung. Als seine frustrierten Eltern ihn danach aus dem Haus warfen, blieb ihm aber nichts anderes übrig, als irgendwas zu arbeiten. Seine damalige Freundin riet ihm: „Du siehst gut aus, du redest gerne, du schläfst morgens gerne lange – du bist der geborene Schauspieler!“ Grafenberg zweifelte keine Sekunde an der Qualität dieses Rates und bewarb sich beim Landestheater um eine Komparsenrolle. Die bekam er auch, machte seine Sache gut und beschloss danach, Schauspieler zu werden und zu bleiben. Da er aber auch hier nicht den Ehrgeiz aufbrachte, eine solide Ausbildung zu machen, reichte es immer nur zu Nebenrollen. Doch seine Ansprüche waren äußerst bescheiden. Die Schauspielerei machte ihm Spaß und er konnte sich ernähren. Zumindest, solange er bei einer seiner vielen Freundinnen übernachten durfte. Miete hätte er sich nicht leisten können. Zum Glück gab es immer mindestens eine Frau in seinem Leben. Erstaunlicherweise waren das fast immer gut aussehende, sehr gepflegte und beruflich erfolgreiche Frauen, die eigentlich gar nicht zu ihm passten, sich aber vom ihm angezogen fühlten. Dabei tat er gar nichts dafür. Seine blonden Haare standen struppig in alle Richtungen, er war immer schlecht rasiert, trug einen Ohrring, kleidete sich schlampig und war auch sonst in keiner Weise schwiegermutterkompatibel. Aber er sah gut aus, trotz der etwas zu langen Nase, und war mit seinen 1,85 m und seiner kräftigen, sportlichen Statur nicht unauffällig. Was die Mädels aber besonders schätzten, war seine unbefangene, fröhliche Lebensart. In Zeiten, in denen selbst Altersgenossen, die bereits seit fünfundzwanzig Jahren gut verdient haben, sich Sorgen um ihre Altersversorgung machten, hätte jemand mit seinen Rentenperspektiven eigentlich nur der Depression verfallen können. Nicht so Michael Grafenberg. Das würde sich schon irgendwie regeln! Bisher hatte sich alles immer irgendwie geregelt. Bisher! Bisher hatte er auch immer von sich selbst als dem „einsamen Wolf“ gesprochen. Aber als er Ende Oktober seinen 44. Geburtstag feierte, formte seine damalige Lebensgefährtin diese Metapher für ihn unvorteilhaft um: „Mach dir nichts vor! Mit Mitte Dreißig wirkst du vielleicht wie ein einsamer Wolf, wenn du allein durch die Straßen läufst – mit Mitte Vierzig eher wie ein begossener Pudel!“
Vieles hatte sich verändert seit diesem Geburtstag. Es kam Schlag auf Schlag! Um Weihnachten herum hatte er vorübergehend keine Unterkunft und musste sich selbst notgedrungen bei seiner Cousine mit ihren drei Kindern und ihrem reaktionären Ehemann als Festtagsbesuch einladen. Furchtbar! Silvester hatte er zum ersten Mal in seinem Leben einen Hexenschuss und fühlte sich zwei Wochen lang völlig hilflos, während er bei einem alten Kumpel in einer Dachkammer wohnte. Mitte Januar kam der Brief vom Amtsgericht Detmold. Seine Tante Magda aus Lemgo war gestorben! Die Tante väterlicherseits hatte er kaum gekannt, hatte sie auch nicht gemocht, und sie ihn vermutlich auch nicht. Aber er war, nachdem sein Vater schon vor einigen Jahren gestorben war, ihr nächster Verwandter. Da die Tante kein Testament hinterlassen hatte, ging ihr Erbe an ihn. Die Erbschaft bestand aus einem Haus in der Lemgoer Altstadt. Es musste eines der ersten Häuser dort gewesen sein, es war einige hundert Jahre alt – und das sah man dem Haus auch an. Die Tante hatte es schon vor dreißig Jahren vorgezogen, das Haus nicht mehr selbst zu bewohnen. Sie bezog eine Mietwohnung in feiner Adresse und vermietete ihr Haus an, wie es damals hieß, Gastarbeiter. Fünfzehn Jahre später zog sie in ein Altersheim um und finanzierte dies unter anderem mit den Mieteinnahmen aus dem Haus. Bei den Einnahmen blieb es aber – sie steckte keinen Pfennig in die Erhaltung des Gebäudes. Vor zwei Jahren fand sich auch kein Neubürger aus Anatolien mehr bereit, hier zu hausen und dafür auch noch Geld zu bezahlen. Seitdem stand das Haus leer.
Noch vor einem Jahr hätte Michael Grafenberg ein solches Erbe als viel zu belastend abgelehnt. Ein Klotz am Bein! Aber die jüngsten Erfahrungen hatten ihn nachdenklich gemacht, hatten ihn auch verunsichert. War es jetzt, nachdem er die statistische Lebensmitte schon um einige Jahre überschritten hatte, vielleicht wirklich an der Zeit, sein Leben anders zu gestalten? Im Theater lief es in letzter Zeit nicht mehr so gut, an allen Ecken und Enden musste gespart werden. So hatte er angefangen, sich ein zweites Standbein aufzubauen. Er war ein so genannter Comedian geworden. Jemand, der auf Veranstaltungen auftrat, ein paar Witze und Anekdoten erzählte, mit Vorliebe über das schwierige Verhältnis von Mann und Frau. Die Frauen mochten ihn und klatschten, die Männer fanden ihn langweilig und plapperten rücksichtslos miteinander, während er auf der Bühne die alleinige Aufmerksamkeit gebraucht hätte. Erst als er sein Programm umgestellt und endlich zu seinem künstlerischen Alter Ego gefunden hatte, zu Leo, der letzte Lipper, lief es besser. Er gab nun skurrile Geschichten, teils wahr, teils frei erfunden, aus der Region zum Besten, stellte diese Geschichten teilweise auch szenisch dar, hatte etwas Gesangsunterricht genommen und würzte seine Darbietungen seit neuestem auch mit Liedern, von denen er einige sogar selbst geschrieben hatte. Leo kam gut an, Grafenbergs Einkommen stieg langsam und hätte im letzten Monat beinahe Hartz IV-Niveau erreicht. Alles in allem aber noch lange nicht ausreichend, um anders als von der Hand in den Mund leben zu müssen.
An diesem Sonntag hatte er sich bereits früh an die Arbeit gemacht. Früh, das hieß bei ihm um 9 Uhr aufstehen, in Ruhe frühstücken, und dann langsam zu überlegen, wo er anfangen sollte. Es war locker halb zwölf, als er zum ersten Mal den Vorschlaghammer hob, um eine überflüssige Wand in Schutt und Asche zu legen. An dieser Stelle wollte Grafenberg einen Durchbruch machen. Er drosch drauflos, was Muskeln und Material hergaben. Nach einer Stunde stand er in einer dichten Staubwolke, aber die Wand war weg. Er sprühte etwas Wasser in die unerträgliche Luft, damit sich der Staub absetzte, hustete ausgiebig und ging danach in einen anderen Raum, um sich eine Zigarette zu drehen. Als er zurückkam, hatte sich die Luft wieder etwas geklärt und er freute sich über die Ausmaße seines künftigen Wohnzimmers. Jetzt erst fiel ihm auf, dass der hintere Raum nicht die gleiche Breite hatte wie der Raum, von dem aus er sich vorgearbeitet hatte. Obwohl doch die Wand, die beide Räume auf der linken Seite begrenzte, laut Architekt eine tragende Wand war. Seit wann beschreibt eine tragende Wand einen Winkel? Oder hatte jemand in früheren Zeiten noch eine zusätzliche Wand eingezogen? Wenn ja, was mochte dann zwischen der tragenden Wand und der zusätzlichen sein? Das konnte er nur herausfinden, wenn er diese zusätzliche Wand auch einschlug. Wieder hob er den schweren Hammer und legte los. Die Wand war dünn und gab sofort nach. Aber nicht auf voller Breite. Rechts blieb eine Art Erker stehen. Hier war massiv gebaut worden. Ein alter Kamin? Grafenberg begann damit, den Lehmputz von der Ecke abzulösen, indem er mit einem kleinen Hammer daraufschlug. Plötzlich, etwa auf Augenhöhe, drang die Hammerspitze tiefer in den Putz ein und blieb stecken. Grafenberg drehte den Hammer und konnte leicht ein faustgroßes Loch erzeugen, als er ihn wieder herauszog. Es roch muffig, aber es fehlte die für alte und versottete Kamine typische herbe Duftnote und die Zugluft. Außerdem stieß der Hammer auf keinen Widerstand mehr. Also war hier ein Hohlraum in der Wand und nicht der Durchbruch zu einem Kamin. Neugierig begann er, das Loch zu vergrößern, bis sein Hammer ein hohles Geräusch erzeugte, das nicht vom Mauerwerk stammen konnte. Er zog sich einen Arbeitshandschuh über und fuhr, nicht ohne Widerwillen, mit der rechten Hand in das dunkle Loch. Als er etwas Eckiges spürte, griff er zu und zog ein kästchenförmiges Etwas heraus, überzogen mit Staub, Spinnweben und wer weiß was sonst noch alles. Grafenberg wischte den gröbsten Dreck vorsichtig mit dem Handschuh weg und konnte nun erkennen, dass es sich um ein etwa backsteingroßes Holzkästchen handelte. Er nahm es mit in den einzigen warmen Raum des Hauses, die Küche. Dort stellte er das Kästchen auf den Tisch, drehte und wendete es, ohne so recht zu wissen, wie er nun vorgehen sollte. Mit so was hatte er nie gerechnet. Keine Ahnung, wie man so ein Ding öffnet, ohne es zu zerstören. Also tat er erst einmal das Naheliegende – er drehte sich eine weitere Zigarette und starrte rauchend auf sein merkwürdiges Fundstück. Das Kästchen hatte kein Schloss, wurde nur durch einen breiten Ledergurt gesichert. Selbst für Grafenberg keine unlösbare Aufgabe. Sekunden später konnte er den Deckel hochklappen und entdeckte ein mehrfach gefaltetes Stück Papier. Nein, kein Papier. Es war sehr feines Leinen. Grafenberg konzentrierte sich und entnahm mit aller ihm zur Verfügung stehenden Vorsicht das Leinen. Er entfaltete es und strich es auf dem Küchentisch etwas glatter. Es handelte sich um ein Schriftstück! Auf dem noch sehr gut erhaltenen Leinen war mit schwarzer und roter Tusche ein Text in, soweit Grafenberg dies beurteilen konnte, lateinischer Schrift aufgetragen worden.
5
Schon wieder dieser Nebel! Keine zehn Meter konnte man sehen. Die ganze Welt war zusammengeschrumpft auf die Größe eines Wohnzimmers. Seit vier Tagen war er jetzt auf der Insel. Seit drei Tagen war sie in Watte gepackt. „Lüttje Welt“, wie die Insulaner dies nannten. Die feuchte Kälte kroch in seine Kleidung und biss sich in seinem wehrlosen, verweichlichten Körper fest.
Hans-Hermann Blumenkamp war nicht besonders robust, auch wenn sein Äußeres dies vermuten ließ. Er war ein kleiner, aber recht stämmiger Mann um die Sechzig, mit einem mächtigen, bärtigen Kinn, mit lebhaftem und manchmal herausforderndem Blick, mit großen und kräftigen Händen, die unentwegt fuchtelten, wenn er mit der ihm innewohnenden Leidenschaft sprach. Nun fror er. Schon auf der Mole in Norddeich hatte ein feuchtkalter Wind ihm die Laune verdorben. Auf Norderney selbst war es am ersten Tag dann sogar ein sonniger, wenn auch kühler Märztag geworden. Dann kam der Nebel.
Wäre er gefragt worden, was er nun frühmorgens um 6 Uhr auf einer kleinen, heftig schwankenden Motoryacht im Busetief, der Meerenge zwischen Juist und Norderney zu suchen habe, hätte er Mühe gehabt, eine zufrieden stellende Antwort zu finden. Er hatte sich überreden lassen.
Am Abend zuvor war er in der schicken Kneipe Cinema mit zwei jungen Männern ins Gespräch gekommen. Die beiden hatten sich zu ihm an die Theke gesetzt und entpuppten sich als lippische „Landsleute“. Sie waren wohl Söhne wohlhabender Eltern, denn im Norderneyer Hafen lag eine kleine Motoryacht, mit der sie vor zwei Tagen von Greetsiel gekommen waren. Klar, kein normaler Mensch würde zu dieser kalten Jahreszeit mit einem kleinen Schiff unterwegs sein. Aber normal seien sie eben nicht, lachten sie. Außerdem war der Wind in den letzten Tagen kein Problem, es war immer genug Wasser unterm Kiel und das bisschen Nebel… kein Hindernis für die beiden. Blumenkamp war leidenschaftlicher Hobbysegler, den Schiffe aller Art geradezu hypnotisierten. Einer Einladung zu einer Fahrt mit der Motoryacht konnte er keinen Widerstand entgegensetzen. Es sollte hinausgehen durch das Busetief auf die offene See. Unterwegs wollte man versuchen, etwas zu angeln. Blumenkamp war begeistert. Und so hatte er sich an diesem kalten Freitagmorgen früh um halb fünf aus dem Bett gequält und war ohne Frühstück zum Hafen gelaufen. Die beiden jungen Männer waren bereits dabei, die Yacht klarzumachen, und kurz darauf steuerten sie das kleine, aber feine Schiff aus dem Hafen heraus und ließen es Richtung Steuerbord gegen den Druck der auflaufenden Flut ankämpfen. Blumenkamp war seefest und hatte mit den heftigen Auf- und Abwärtsbewegungen des Schiffes keine Probleme. Im Gegenteil. Abgesehen davon, dass er nicht warm genug gekleidet war und vor Kälte bibbernd neben dem Steuer stand, fühlte er sich prächtig. Die Kälte war auch der Grund, warum er seinen Ostfriesennerz auszog und sich eine der Schwimmwesten anlegte. Es hatte weniger mit Vorsicht zu tun, aber als er das gelbe Ölzeug über die Schwimmweste gezogen und geschlossen hatte, war ihm erheblich wärmer.
Die Motoryacht kam trotz des gegenläufigen Flutstromes gut voran und nach einer Viertelstunde hatten sie den Westkopf der Insel umschifft. Sie befanden sich nun ziemlich genau zwischen den beiden Inseln Norderney und Juist. Von der nahe liegenden Stadt Norderney zu ihrer Rechten konnten sie nichts erkennen, sie war vom dichten Nebel verschluckt worden. Links von ihnen lag das Kalfamer, die einsame, flache Ostspitze von Juist. Auch in dieser Richtung betrug die Sicht maximal zehn Meter. Das Wasser hatte seinen Höchststand erreicht. In wenigen Minuten würde der Ebbstrom einsetzen. Die Yacht würde bei der Rückfahrt also wiederum gegen den Strom ankämpfen müssen.
Da die Gezeiten nun kippten, wurde die See zunehmend kabbeliger. Wäre der junge Mann, der das Schiff steuerte, weiter volle Fahrt geradeaus gefahren, hätte dies nicht viel ausgemacht. Doch zu Blumenkamps Erstaunen reduzierte er die Motorleistung und schaltete schließlich auf Leerlauf. Das Fahrzeug begann, hilflos auf den Wellen zu tanzen. Als Blumenkamp den Steuermann fragte, warum er nicht weiterfuhr, grinste der nur und sagte, man wolle noch etwas warten.
„Warten? Worauf wollt ihr denn warten?“
Der zweite Mann, der am Abend zuvor stets der Wortführer gewesen war, und der sich ihm als Martin vorgestellt hatte, kam aus der Kajüte empor und stellte sich direkt vor Blumenkamp. Er war fast einen Kopf größer als der ältere Herr und hatte urplötzlich sein joviales Lächeln verloren. Blumenkamp war irritiert. Was ging hier vor? Der Mann am Steuer schaute interessiert zu den beiden herüber.
„Hat es dir eigentlich gut gefallen auf Norderney?“, fragte Martin ohne den Anflug eines Lächelns.
Blumenkamp schluckte. Das in Anbetracht des Altersunterschiedes etwas respektlose „Du“ war in Ordnung, schließlich hatten sie am Abend zuvor zusammen gezecht. Aber es war der Tonfall, der ihm nicht gefiel. Hier war ganz plötzlich Aggression im Spiel.
„Was ist denn mit euch los?“, fragte Blumenkamp streng zurück. Er war ein altgedienter Politiker und noch nie einem Streit aus dem Wege gegangen. „Wenn ihr diesen Seegang nicht vertragt, dann legt euch in die Kajüte. Ich mache das bisschen hier oben schon!“
Martin grinste nun wieder, aber freundlich wirkte das nicht.
„Meine Frage war ernst gemeint. Eigentlich war sie der Grund, warum wir dich mitgenommen haben. Wir wollten mal mit dir in Ruhe plaudern.“
„Das hättet ihr gestern Abend einfacher haben können!“
„Gestern Abend? Nein, da waren wir ja nicht unter uns. Hier plaudert es sich doch viel freier!“
Blumenkamp, dem nun doch etwas mulmig zumute wurde, wollte einen Schritt zurückweichen, trat aber dabei gegen den Eimer mit den Fischködern. Scheppernd fiel dieser um und Blumenkamp kam ins Straucheln. Er wäre gestürzt, wenn der Mann namens Martin ihn nicht am Arm gefasst und wieder in die Senkrechte gezogen hätte.
„Na, wer ist denn hier seekrank?“, kommentierte er seine Hilfeleistung.
Und dann, in plötzlich weitaus aggressiverem Tonfall:
„Hast viel rumgeschnüffelt hier auf der Insel, stimmt’s? Hast die Leute aufgehetzt, was? Bist uns in die Quere gekommen, mein Lieber. Hättest beinahe alles verpfuscht. Warum hast du denn das Geld nicht genommen und bist einfach verschwunden? War es nicht genug?“
Blumenkamp stand der Mund vor Staunen offen.
„Welches Geld?“ Dann, nach ein paar Sekunden, fiel der Groschen. „Ach, das war von euch? Ihr beiden wart das? Ihr habt versucht, mich zu bestechen? Über diesen lächerlichen Herrn Hauenbrock? Jetzt weiß ich auch, was ihr nun von mir wollt. Ihr seid also…!“
Er brach ab und lachte, doch das Lachen klang nicht eben entspannt. Dann fuhr er fort:
„Wollt ihr wissen, was ich mit dem Geld gemacht habe? Ich habe es gespendet! Es ist genau dahin geflossen, wo es euch schadet. Glaubt bloß nicht, dass ihr mich kaufen könnt!“
Nun war es der junge Mann, der lachte.
„Wir haben dir ein Angebot gemacht, dass man eigentlich nicht abschlagen konnte. Du hast es abgeschlagen. Aber jetzt reicht es! Du störst unsere Geschäfte nicht mehr!“
Plötzlich verstand Blumenkamp die Konsequenz aus diesem Satz. Der Erkenntnis folgte blitzartig ein eisiger Schauer.
„Ihr werdet doch nicht…“, er konnte den Satz nicht mehr zu Ende bringen, denn hinter ihm tauchte nun der Steuermann auf. In der hoch erhobenen rechten Faust hielt er einen zylinderförmigen Gegenstand, der nun herabsauste und laut krachend auf Blumenkamps Hinterkopf traf.
Die beiden jungen Männer griffen schnell nach dem zusammensackenden Mann, hoben ihn empor und warfen ihn mit Schwung über Bord. Sekunden später, Blumenkamp war noch nicht wieder aufgetaucht, startete die kleine Motoryacht mit voller Maschinenleistung, drehte bei und fuhr zurück zum Norderneyer Hafen. Der an dieser Stelle enorm starke Ebbstrom hatte bereits eingesetzt. Er würde den leblosen Körper schnell auf das offene Meer hinausziehen. Auf Nimmerwiedersehen!