Reitemeier / Tewes · Jugendsünden

JÜRGEN REITEMEIER WOLFRAM TEWES

Jugendsünden

PENDRAGON

Ach ja,

falls Sie bei der Lektüre dieses Buches glauben, in der ein oder anderen Figur eine tatsächlich lebende Person erkannt zu haben, dann sagen Sie uns Bescheid. Wir beweisen Ihnen sofort das Gegenteil! Ob Sie es glauben oder nicht, aber die Handlung ist tatsächlich frei erfunden, alle Ähnlichkeiten sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog

Irgendwann musste doch mal Schluss sein!

Einen ganzen Abend waren sie den Paderborner Liboriberg hoch und runter gebummelt, hatten sich vom grellen Licht- und Lärmgewitter anregen lassen, hatten ihren Geldbeutel, aber auch Magen und Kreislauf in vielen Schwindel erregenden Kirmesattraktionen auf das Äußerste belastet.

Libori!

Die größte Innenstadtkirmes Ostwestfalens hatte wie immer Alt und Jung magisch angezogen. Tausende Besucher zogen an diesem warmen Sonntagabend, dem zweiten Liboritag des Jahres 1976, durch die engen und rappelvollen Budengassen, stopften sich voll mit Bratwürsten, Spießbraten und Paderborner Pils, setzten aber danach alles wieder aufs Spiel, indem sie in den zahlreichen Fahrgeschäften Dinge mit sich machen ließen, die in der Astronautenausbildung ihre Berechtigung haben mögen, von denen ein normal Sterblicher aber besser die Finger lassen sollte.

Auch die vier jungen Männer aus Warburg hatten sich berauschen lassen. Nun standen sie vor einer der Topp-Attraktionen: Schlüters Boxbude! Vor dem Boxzelt stand auf einer Art Bühne ein großer, schwarzhaariger Mann mit einem Mikro in der Hand und appellierte leidenschaftlich an den Mumm der anwesenden Männer. Es galt, einen seiner kampferprobten Boxer zu besiegen, um einen angeblich sensationellen Preis zu gewinnen. Man müsste nur sein Herz in die Hand nehmen und es versuchen. Um ihn herum tänzelten drei unterschiedlich große Männer, nur mit Boxerhosen und Boxhandschuhen bekleidet.

Mut korreliert bekanntlich mit dem Alkoholpegel und da es schon sehr spät am Abend war, waren viele der männlichen Anwesenden sehr mutig.

Einer der Boxer sah ganz harmlos aus. Den könnte man vielleicht schaffen, wird sich mancher gedacht haben. Bei der Schlägerei auf dem letzten Schützenfest waren ganz andere Kaliber dabei gewesen.

Auch die vier jungen Warburger diskutierten heftig über einen Kampfeinsatz. Power sollte es versuchen, meinten drei von ihnen und wurden immer aufgeregter bei der Vorstellung, durch eine geschickt platzierte Boxwette viel Geld zu verdienen. Der einzige, der von dem Plan nicht überzeugt war, war Power. Sicher, er war am ehesten dafür geeignet. Er war kräftig gebaut, war durchtrainiert und nüchtern! Power war Sportler mit Leib und Seele, der beste Leichtathlet seines Alters in Ostwestfalen. Ihm wurde eine große Zukunft vorausgesagt. Alles hätte er gemieden, was seinem sportlichen Erfolg hätte schaden können. Nikotin und Alkohol kamen für ihn nicht in Frage. Aber an diesem Abend hatte ihn sein Sportsgeist verlassen. Er wollte nur nach Hause. Es war Sonntagnacht und morgen früh begann für ihn und seine Freunde wieder ein anspruchsvoller Schultag. Zu allem Überfluss auch noch mit einer sehr wichtigen Klassenarbeit, die er auf keinen Fall versemmeln wollte!

Ärgerlich machte ihn, dass seine drei Freunde, die ja in derselben Situation waren wie er, sich darüber überhaupt keine Gedanken zu machen schienen. Die lebten tollkühn im Hier und Jetzt und hatten die Zukunft völlig ausgeschaltet. Außerdem hatten zwei von ihnen bereits entschieden zu viel getrunken. Sogar Andreas, ihr Fahrer, hatte sich im Laufe des Abends schon mehrere Biere gegönnt. Nein, es reichte jetzt! Schluss, aus, vorbei!

Mit deutlichen Worten machte er seinen Freunden klar, dass er sich auf gar keinen Fall in der Boxbude zum Affen machen würde, dass sie alle jetzt genug erlebt und bereits zu viel getrunken hätten, dass sie morgen ein harter Tag erwarte und sie jetzt nach Haus fahren sollten. Er schaffte es nach einer leidenschaftlich geführten Debatte auch, sich durchzusetzen. Aber zu einem hohen Preis. Auf dem langen Rückweg Richtung Maspernplatz, wo der alte gelbe VW Käfer stand, sprachen die drei kein Wort mit ihm. Vor allem Seppel, der stets voran marschierte, wenn es galt, etwas Verrücktes zu unternehmen, schien außerordentlich sauer auf ihn zu sein. Power bekam natürlich mit, dass die drei sich untereinander mit Handzeichen verständigten, dass sie hinter seinem Rücken tuschelten. Aber was sollte er machen? Diese Rolle war für ihn nicht neu. Immer war er es, der seine Freunde davon abhielt, sich restlos um den Verstand zu saufen, die Schule komplett zu vergessen, selbst den dümmsten Mädchen nachzusteigen, sofern sie nur willig waren, kurz, er verkörperte in dieser Clique halt- und perspektivloser Hedonisten die reine Vernunft. Eigentlich hätten sie ihm dankbar sein sollen! Stattdessen galt er als Spaßbremse, als Langeweiler. Man machte sich über ihn lustig. Er bekam, obwohl gut aussehend, bei Mädchen nie einen Fuß in die Tür. Diese Nervensäge Seppel hingegen, kleiner als er, absolut kein Schönling und bei weitem nicht so sportlich, räumte eine Braut nach der anderen ab.

Das Tuscheln verstärkte sich, als sie hinter dem Dom die Treppen hinabgestiegen waren. Zu Beginn der Hathumarstraße hielten die drei an und teilten dem ebenso verdutzten wie verärgerten Power mit, dass sie noch auf ein Bier in den „Sorbas“ gehen würden, damals eine der angesagten Kneipen Paderborns. Stinksauer fügte sich Power und ging mit hinein. Nun, durch diesen Teilerfolg bestärkt, führte Seppel das große Wort. Es blieb nicht bei dem einen Bier, und Seppel brachte es sogar fertig, Kiste, ihren Fahrer, zum Trinken zu bewegen. Die heftigen Proteste Powers brachten nichts. Eine volle Stunde später fuhren sie endlich los.

Den Weg durch das gut beleuchtete Paderborner Stadtgebiet, dann die Warburger Straße hoch, bewältigte Kiste erstaunlich souverän. Hinter Paderborn gab es keine Straßenlampen mehr, und er musste den Rest seiner Konzentration zusammennehmen. Eigentlich störte die laute Musik im Kassettenrecorder des Käfers nur, aber Radar Love von Golden Earring kam in ihrem Zustand sehr gut rüber. Da wollte Kiste nicht pingelig wirken. Er war kein Spaßverderber. Diese Rolle hatte standardmäßig Power inne.

Nach einem Kilometer ging es durch scharfe Kurven steil bergab in den Haxtergrund. Seppel, der auf dem Rücksitz saß, johlte vor Vergnügen, als Kiste schweißgebadet die erste Kurve nur mit quietschenden Reifen schaffte. Er forderte ihn auf, mal zu zeigen, was sein „Herbie“ so drauf habe. Power, der auf dem Beifahrersitz saß, schrie ihn an, er solle endlich sein Maul halten, was die Stimmung nur noch mehr aufheizte. Die zweite Kurve schaffte Kiste besser, was ihm wieder Mut machte. Er drückte auf das Gas. Die dritte Kurve war noch weit weg, würde es eine Links- oder eine Rechtskurve sein? Abwarten! Es war noch Zeit genug. Doch dann kam die Kurve unglaublich schnell näher, war plötzlich direkt vor ihnen, war…

1

Mein Gott, dachte Hauptkommissar Josef Schulte gerührt, wie komme ich nur zu dieser Tochter?

Wie er rein technisch dazu gekommen war, daran konnte er sich schwach erinnern. Aber war die hübsche junge Dame, die an diesem Sonntagabend mit ihm im Detmolder Café Treibsand saß, wirklich seine Tochter? Zumindest hatte Lena Wiesenthal das behauptet, als sie vor zwei Jahren einfach bei ihm hereingeschneit kam und sich für die Dauer ihres Referendariats bei ihm einquartierte. Und Schulte, der sie vorher zwar nur sehr selten, aber immerhin ein Mal pro Jahr gesehen hatte, zweifelte keine Sekunde daran. Sicher, biologisch gesehen war sie ohne Frage seine Tochter. Aber hatte sie auch irgendetwas von ihm geerbt? Nichts an ihr, weder ihre munteren blauen Augen, noch ihr langes glattes blondes Haar, weder das heitere strahlende Gesicht, noch die Art, sich zu kleiden, am allerwenigsten ihr Sinn für Ordnung, Sauberkeit und geregelte Lebensführung hatte irgendetwas „Schultisches“. Was war mit seinen Genen los? Konnten die sich nicht durchsetzen? Waren die zu schwach? Offenbar, denn neben ihm saß die perfekte Kopie von Karin, mit der er vor achtundzwanzig Jahren ganze fünfundvierzig Minuten seines Lebens liiert war. Aber die beiden hatten während des Calenberger Schützenfestes die Dreiviertelstunde sehr effektiv zu nutzen gewusst. Damals verstand die Jugend eben noch was mit ihrer Zeit anzufangen. Dass Schulte bereits wenige Stunden vorher mit Erna sehr erfolgreich in den Büschen war, hatte Karin, nachdem ihr dies zugetragen worden war, seinerzeit schockiert. Dass beide Erlebnisse zu einer Schwangerschaft führten, hatte wiederum Schulte in wochenlange Schockstarre versetzt. Zu Ina, der anderen Tochter, hatte Schulte ebenso wenig Kontakt gepflegt wie zu Lena. Als Vater war Schulte ein völliger Ausfall gewesen. Jahrelang hatte er sein Versagen verdrängt. Jetzt, wo er kurz vor dem fünfzigsten Geburtstag stand, sah er vieles anders und war glücklich darüber, zumindest zu einer seiner Töchter wieder eine einigermaßen zufrieden stellende Beziehung hergestellt zu haben. Auch wenn dies hauptsächlich das Verdienst von Lena Wiesenthal war.

Um die Mittagszeit waren Vater und Tochter zusammen im Hiddeser Heidental gewesen, um sich den Hermannslauf anzuschauen. Beeindruckend, wenn über siebentausend Menschen an einem vorbeilaufen. Erstaunlich, welch unterschiedliche Typen und Laufstile es zu sehen gibt, bei einigen scheint es unvorstellbar, dass sie bis zum Ziel in Bielefeld durchhalten. Schulte, der vor vielen Jahren selbst einmal als Teilnehmer diesen ostwestfälischen Kultlauf in voller Länge durchlitten hatte, konnte ansatzweise nachempfinden, was die zweiunddreißig Kilometer den Athleten bei dieser Wärme abfordern mussten. Unglaublich, der April des Jahres 2007! Temperaturen wie sonst im August, selbst in Lippe war kein Tropfen Regen gefallen. Die Bauern jammerten, die Inhaber von Biergärten freuten sich und der gemeine Lipper war hin- und hergerissen zwischen Gutwetter-Laune und Sorge um das Weltklima. Dass sich die Wetterverhältnisse im weiteren Verlauf des Sommers noch radikal ändern würden, war ja jetzt noch nicht abzusehen.

Das Café Treibsand war an diesem Abend proppevoll, und Schulte und Tochter hatten nur mit viel Glück einen Tisch bekommen, der eigentlich für vier Personen vorgesehen war. Das Café war nach langer Agonie vor exakt einem Jahr von einer jungen und sehr talentierten Wirtin wiedereröffnet worden. Nachdem Schulte bei seinem ersten Besuch herausgefunden hatte, dass Küche und Weinkeller echte Schätzchen boten, gehörte er mindestens einmal pro Woche zu den Gästen.

Um kurz vor elf Uhr traute Schulte plötzlich seinen Augen nicht mehr! Ein sehr gut aussehendes Paar kam zur Tür herein und schaute sich etwas hilflos nach einem Sitzplatz um. Die elegant gekleidete Frau war niemand anderes als seine Kollegin Maren Köster! Die Frau, der er selbst schon seit Jahren mehr schlecht als recht den Hof machte. Und wer war der Mann? Den hatte er schon häufiger mit Maren Köster zusammen gesehen. War das vielleicht doch mehr als ein guter Bekannter von ihr? Der Name lag ihm auf der Zunge, wie war der noch gleich? Grafenberg! Richtig, vor einem Jahr hatte dieser eine gewisse Rolle bei der Lösung eines Mordfalles gespielt. Jetzt hatte Maren Köster Vater und Tochter und somit auch die beiden freien Plätze an deren Tisch entdeckt. Sie lächelte, kam mit ihrem Begleiter direkt auf Schulte zu und fragte, ob sie sich dazu setzen dürften. Schulte konnte nun schlecht Nein sagen. Nachdem die beiden Platz genommen hatten, stellte Schulte seiner Tochter die Polizistin vor. Bei der Vorstellung Grafenbergs tat er, als könne er sich nicht an dessen Namen erinnern und überließ die Vorstellung seiner Kollegin. Lena Wiesenthal war ganz begeistert von den beiden und plauderte munter mit Maren Köster. Schulte hatte Zeit, sich den Mann an deren Seite genauer anzuschauen. Sah wirklich nicht schlecht aus, dieser Kerl, musste Schulte zugeben. Ein paar Jahre jünger als er, ein bisschen schlampig bei Frisur und Kleidung, ein Mensch mit Ecken und Kanten, kein geleckter Schönling. Eigentlich hätte er auf Schulte ganz sympathisch gewirkt, wäre er hier nicht als Begleiter ausgerechnet dieser Frau aufgetreten. Missgelaunt registrierte Schulte die kleinen zärtlichen Berührungen dieses Paares, kaum wahrzunehmen, aber vorhanden. Und die warmen Blicke der beiden, wenn sie sich in die Augen schauten, brannten tiefe Löcher in Schultes Wohlbefinden.

So ungezwungen sich die beiden Frauen unterhielten, so eisig gestaltete sich die Unterhaltung der beiden Männer. Maren Köster, die dies sehr wohl bemerkte, versuchte nach besten Kräften, eine Gesprächsklammer für beide zu finden, gab dies aber nach einigen Versuchen auf. Eine mühevolle Stunde später erklärte sie, nun gehen zu müssen und stand auf. Grafenberg, der dem Wein schon ordentlich zugesprochen hatte, verabschiedete sich sehr nett bei Lena Wiesenthal und schloss sich Maren Köster an. Schulte bekam nur ein etwas verlegenes „Tschüss!“ zu hören. Eine kurze Weile sagten weder Vater noch Tochter etwas. Dann war Lena Wiesenthal doch zu neugierig.

„Sag mal“, fragte sie vorsichtig, „was war das denn gerade? Ich dachte, du kennst diesen Mann gar nicht. Aber eure Art zu schweigen, sagte mehr als tausend Worte.“

Schulte brauste auf.

„Was reimst du dir da zusammen? Was soll das Schweigen denn ausgesagt haben, außer dass ich den Kerl nicht kannte und auch kein Interesse habe, ihn kennen zu lernen!“

Sie schmunzelte.

„So, so! Dass du an ihm kein Interesse hast, glaube ich dir gerne. Aber an ihr, oder? Ich kann mich irren, aber ich hatte so ein bisschen das Gefühl, dass du auf den Mann eifersüchtig warst. Kann das sein?“

Er schnaubte.

„Reine Einbildung! Maren ist meine Kollegin, wir kennen uns schon verdammt lange. Und du weißt doch, unter Kollegen würde ich nie…!“

„Schon klar!“, lachte sie. „Dann habe ich das wohl falsch interpretiert. Lass uns auch gehen, es ist schon Mitternacht. Um halb sieben ist die Nacht für mich zu Ende.“

2

Die ersten Sonnenstrahlen des Tages brachen sich in den Scheiben der Butzenfenster. Diese Richtungsänderung führte dazu, dass die Strahlen genau ins Gesicht von Grafenberg fielen. Trotz der geschlossenen Augenlider störte ihn die Helligkeit des Lichtes ungemein. Innerhalb der nächsten Minuten wich der Schlaf aus seinem Körper. Er öffnete die Augen, räkelte sich und sah auf die Uhr. Es war noch nicht halb sechs. Doch er wusste sofort, dass er nicht mehr einschlafen würde. Das Sommerwetter, das sich schon im April eingestellt hatte, freute und beunruhigte ihn gleichzeitig.

Grafenberg fühlte sich unausgeschlafen. Doch sollte er weiter im Bett liegen? Wissend, dass der Schlaf sich doch nicht mehr einstellen würde? Ächzend stemmte er sich hoch und hielt Ausschau nach seinen Hausschuhen. Bei dieser ersten intensiven Bewegung des Tages merkte er körperlich, dass er schon über fünfundvierzig Jahre war. Das Gefühl, alt zu werden, wurde von einem leichten Kater verstärkt, den er sich gestern Abend im Café Treibsand eingefangen hatte.

Der Wein hatte ihm geschmeckt. Grafenberg hatte die Nähe zu Maren Köster genossen, doch das Auftauchen ihres Kollegen Schulte hatte ihn verunsichert. Der Mann war nicht unfreundlich zu ihm gewesen, doch er hatte ihn auch nicht mit Achtung und Wertschätzung überschüttet. Genau genommen war Grafenberg vom Kommissar behandelt worden, als sei er für ihn nicht anwesend.

Irgendetwas war da zwischen Schulte und Maren Köster. Das konnte man geradezu somatisch wahrnehmen. Dieser Eindruck hatte nicht gerade zu einer entspannten Atmosphäre geführt. Vielleicht hatte auch die durch Schulte ausgelöste Verunsicherung dazu beigetragen, dass er ein Glas Wein mehr getrunken hatte, als es für ihn bekömmlich war.

Er durchwühlte die Schublade des Küchentisches nach einer Tablette Aspirin.

Gott sei Dank hatte Maren Köster die Zeche gezahlt. Hätte er selber seinen Anteil an der Rechnung begleichen müssen, wäre er bis zum nächsten Freitag blank gewesen. Erst an diesem Tag könnte neues Geld hereinkommen, da er auf einer Silberhochzeit mal wieder einen Auftritt als „Leo, der letzte Lipper“ haben würde. Grafenbergs Tätigkeit als Comedian brachte ihm nicht das Meiste an Einkommen. „Zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel“, hieß es bei den Bremer Stadtmusikanten. Das war auch seine Standardantwort, wenn er gefragt wurde, ob sich dieser Job lohnte.

Grafenberg musste sich unbedingt nach weiteren Erwerbsquellen umsehen, sonst würde er das gerade geerbte Haus nicht halten können. Zwar hatte er vor einiger Zeit im Fußboden seines gerade bezogenen Domizils einige Silbermünzen und etwas Schmuck aus dem siebzehnten Jahrhundert entdeckt. Der Wert dieser kleinen Kostbarkeit würde ihm unter Umständen etwas Geld einbringen. Doch die Besitzansprüche waren noch nicht abschließend geklärt. Also blieb es bei der ihm bekannten Armut.

Heute würde er in Detmold beim Arbeitsamt, genauer gesagt bei Lippe pro Arbeit vorsprechen, um sich zu erkundigen, welche Möglichkeiten es für ihn gäbe, in Lohn und Brot zu kommen. In seinem ‚hohen‘ Alter war das gar nicht so einfach, was er schon zu spüren bekommen hatte. Auch eine Erfahrung, die nicht spurlos an Grafenberg vorübergegangen war.

Maren Köster, die nur eine Straße weiter wohnte, würde ihn mit nach Detmold nehmen. So sparte Grafenberg Benzin und konnte gleichzeitig noch zusätzliche Zeit mit seiner Traumfrau verbringen. Maren Köster hielt ihn, obwohl auch sie Grafenberg sehr mochte, immer wieder auf Distanz. An dieser Frau würde er sich noch einige Zeit die Zähne ausbeißen.

Im Anschluss an den Besuch beim Arbeitsamt wollte Grafenberg den Nachbarn seiner Eltern, Hermann Rodehutskors, besuchen. Er war ihm im letzten Jahr, nach langer Zeit, wieder begegnet. Seitdem hatten sich die beiden ungleichen Männer angefreundet und trafen sich in unregelmäßigen Abständen.

In der Küche stellte Grafenberg den Wasserkessel auf den Herd. Dann ging er ins Badezimmer. Unschlüssig stand er vor der Duschwanne. Er überlegte, ob er sich wirklich unter den kalten Wasserstrahl stellen sollte. Das Nächste, was er in diesem Haus anschaffen würde, wäre fließend warmes Wasser. Dies schwor er sich jeden Morgen, wenn er den Kampf mit sich ausfocht: Kalt duschen oder nur ’ne Katzenwäsche? Auch heute entschloss er sich Wasser zu sparen.

Wenige Minuten später saß Grafenberg auf einem alten Stuhl im verwilderten Garten seines kleinen Hauses und genoss die erste Tasse Kaffee des Tages. Gerade wollte er sich eine weitere einschenken, da klopfte es an der Haustür. Maren Köster bat um Einlass. In der linken Hand hielt sie eine Tüte mit frischen Brötchen. Um ein Frühstück im Freien zu ermöglichen, stellte er schnell einen wackeligen Tisch auf die Rasenfläche und einen zweiten Stuhl.

Was für ein Tag, dachte Grafenberg, als er in seine Brötchenhälfte biss und sich dabei gleichzeitig glücklich fühlte, in das hübsche Gesicht Maren Kösters blicken zu dürfen.

Später stoppte Maren Köster ihr Cabriolet auf der Shell-Tankstelle an der Elisabethstraße. Bevor Grafenberg ausstieg, küsste er sie auf die Wange. Dann überquerte er die Straße zum Arbeitsamt.

Der Name „Agentur für Arbeit“ ändert auch nichts an der Situation der Menschen, die regelmäßig dieses Gebäude besuchen müssen, dachte Grafenberg. Und das vor einiger Zeit für viel Geld geänderte Logo, sowie die damit verbundenen Kosten für neue Briefköpfe, Visitenkarten und so weiter, hätte man auch lieber den Menschen, die keine Arbeit haben, zu Gute kommen lassen können.

Er betrat das Gebäude, in dem schon reger Betrieb herrschte. Überall standen Leute in Schlangen und warteten darauf, dass sie ihr Anliegen erledigen konnten.

Grafenberg, der heute zum ersten Mal hier war, stellte sich an das Ende einer Reihe vor der Information. Langsam rückte er weiter auf. Nach einer viertel Stunde saß er vor einem Schreibtisch und erklärte den Grund seines Kommens. Eine junge Frau von circa zwanzig Jahren erklärte ihm genervt, dass er hier total falsch sei. Grafenberg sei, wenn überhaupt, jemand, der ALG II Empfänger sei. Da müsse er zwei Etagen höher. Also ging er auf die Suche nach der, wie die junge Frau sagte, ALG II Abteilung.

Dort angekommen bemerkte er, dass es auch bei der Agentur für Arbeit Menschen erster und zweiter Klasse gab. Hier oben waren die Flure enger als in den Räumen unten im Gebäude. Sie hatten keine Fenster und die Kunden, wie man das Besucherklientel gerne nannte, saßen viel zu eng vor den Zimmern, in die sie eingelassen werden wollten. Die Luft war verbraucht und stickig.

Nach fast einer Stunde hatte Grafenberg sich durchgefragt. Er hatte den Namen eines Fallmanagers, wie die Berufsbezeichnung seines Ansprechpartners war, genannt bekommen und die Zimmernummer. Nun saß er mit anderen, die wohl ebenfalls zu dem Bediensteten mit dem Namen Hoppe wollten, vor dessen Tür und wartete beharrlich darauf, aufgerufen zu werden. Anscheinend war der Mann hinter der verschlossenen Tür der Meinung, dass die Menschen, die zu ihm kamen, keine Eile hatten, da sie ja sowieso nicht arbeiteten.

Plötzlich öffnete sich die Tür. Ein grauhaariger, etwas übergewichtiger Mann mit übellaunigem Gesicht betrat grußlos den Flur und schloss seine Bürotür von außen zu. Er beachtete die Wartenden in keiner Weise. Als er von jemandem angesprochen wurde, der nachfragte, ob das Büro jetzt geschlossen sei, sagte der Missgelaunte unfreundlich:

„Auch ich habe das Recht auf eine Pause!“ Nach dieser Antwort ging er missmutig den Flur hinunter.

Von der guten Laune, die Grafenberg noch vor wenigen Stunden beim Frühstück so reichlich hatte, war nichts mehr vorhanden. Die letzten anderthalb Stunden hatten ihn maßlos deprimiert. Er begann darüber nachzudenken, seine Suche nach einer geregelten Arbeit wieder aufzugeben. Oder war es nur eine Prüfung? Wurde hier im Arbeitsamt schon im Vorfeld geprüft, ob man wirklich bereit war etwas auf sich zu nehmen, um Arbeit zu finden? Begann hier schon der Auswahlprozess der wirklich Arbeitswilligen aus der Masse der Erwerbslosen? Zweifel und Verärgerung machten sich in Grafenberg breit. Diese Gefühlslage wurde mit jeder Minute, die er wartete, ausgeprägter. Als er sich gerade dazu entschlossen hatte sein Warten aufzugeben, kam der Griesgram, der sich Fallmanager nannte, wieder den Flur hinauf. In der Hand trug er einen Becher Kaffee. Als er an Grafenberg vorbei ging, roch dieser kalten Zigarettenrauch und säuerlichen Schweiß. Der Mann kramte in seiner Hosentasche nach dem Schlüsselbund und verschwand nach dem Aufschließen wieder in seinem Büro. Nichts passierte. Die Minuten begannen wieder dahin zu schleichen. In den Reihen der Wartenden wurde es unruhig. Einige formulierten erste Unmutsäußerungen. Ein kräftiger Mann, bekleidet mit Jeans, Sandalen und beigefarbener Windjacke, erhob sich und betrat ohne anzuklopfen das Zimmer des Sachbearbeiters. Einige Anwesende, die anscheinend länger als dieser Mann warteten, murmelten Proteste.

Weiße Tennissocken und Sandalen – geschmackloser kann man sich nicht anziehen, dachte Grafenberg. Plötzlich kam aus dem Büro ein ohrenbetäubender Knall. Die Wartenden schreckten zusammen. Im nächsten Moment wurde die Tür aufgestoßen. Grafenberg, der frontal auf die aufgestoßene Tür blickte, sah eine zersprungene Fensterscheibe. Die Glasreste, die noch im Rahmen steckten und die weiße Wand waren über und über mit Blut bespritzt. Der Sachbearbeiter saß in unnatürlicher Haltung auf seinem Bürostuhl. Er stierte den unfreiwilligen Betrachter mit weit aufgerissenen, leeren Augen an. Auf seiner Stirn war ein kleines dunkles Loch zu erkennen.

Noch bevor Grafenberg die Situation auch nur ansatzweise erfasst hatte, wurde er von dem herausstürmenden Mann am Kragen gegriffen. Im nächsten Moment drückte ihm dieser einen Pistolenlauf gegen die Schläfe. Grafenberg wurde grob über den dunklen Flur Richtung Treppenhaus gestoßen. Schreie drangen an seine Ohren. Er sah Angst in den Gesichtern der Menschen, die versuchten, den beiden Männern soweit wie möglich aus dem Wege zu gehen.

Als sie den Vorplatz des Arbeitsamtes betraten, wurde Grafenberg von der Sonne geblendet. Der Geiselnehmer drückte ihn nach rechts, Richtung Braunenbrucher Weg. Als sie die Seitenstraße neben dem Arbeitsamt erreicht hatten, wurde ohne Vorwarnung ein harter Gegenstand gegen seinen Schädel gedonnert. Grafenberg verspürte einen unglaublichen Schmerz. Ihm wurde schwarz vor Augen. Dann entglitt sein Geist ins Nichts.

3

Jetzt in aller Ruhe die Bundesligaergebnisse studieren und eine Tasse Kaffee trinken, dachte Lohmann. Und dann wollen wir mal sehen, was der Tag so bringt. Bayern hatte gegen Hamburg verloren. Das war schon mal gut! Doch Lohmanns Verein Arminia Bielefeld hatte Werder Bremen abgezogen.

Trotz der jüngsten Eskapade von Ernst Chardonnay, wie Lohmann den Trainer von Arminia seit seinem Alkoholexzess in der letzten Woche nannte, hatte die Mannschaft sich nicht beeindrucken lassen. Sie hatte gekämpft. Der Trainer jedoch war bei dem alten Arminenfan Lohmann unten durch. Er sollte sich um seine Mannschaft kümmern und nicht auf Lohmanns Kollegen losgehen, die nur ihren Job taten. Lohmann hatte sich sofort mit den Streifenpolizisten solidarisiert, die den Arminentrainer betrunken hinter dem Steuer seines Wagens aufgefunden hatten. Er fand es richtig, dass sie den besoffenen Fußballlehrer nach seinem Ausfall in Handschellen abgeführt hatten. Hätte er sich anständig benommen, wäre die Angelegenheit sicher glimpflich ausgegangen.

„Der soll erst mal eine Weile zu Fuß gehen“, hatte Lohmann gleich nach Bekanntwerden des kleinen Skandals zu Schulte gesagt. Wenn Polizisten schlecht behandelt oder auch nur abfällig über sie geredet wurde, kannte Lohmann kein Pardon.

Genüsslich nahm er einen Schluck Kaffee. In diesem Moment betrat Braunert sein Büro. Lohmann deutete auf eine Isolierkanne. „Der Kaffee ist schon fertig, musst dir nur noch eine Tasse holen“, sagte Lohmann, ohne von der Zeitung aufzusehen. Braunert nahm sich den Lokalteil der Heimatzeitung und die nächsten zehn Minuten saßen die Männer über ihrer Lektüre.

Nachdem Lohmann die Artikel über seine Mannschaft ausgiebig studiert hatte, legte er seinen Zeitungsteil zur Seite.

„Wo ist eigentlich deine Mitbewohnerin?“, erkundigte sich Lohmann.

„Die wollte noch ihren Freund abholen, dem hatte sie versprochen, ihn mit nach Detmold zu nehmen.“

„Freund? Sieh an. Das wurde aber auch mal Zeit, dass das Mädchen unter die Haube kommt. Ich dachte ja immer, dass unser Jupp irgendwann bei Maren das Rennen macht. Na, der hat sich aber auch immer zu dämlich verhalten. Verstehe ich eigentlich gar nicht, er stellt sich doch sonst nicht so dumm an. Ich dachte immer, der lässt nichts anbrennen. Aber bei unserer Maren hat er den Fuß nie in die Tür gekriegt.“ Braunert dachte daran, was wohl passiert wäre, wenn Schulte sich öfter in ihrem Haus aufgehalten und bei ihm und Maren in der Wohnung sein Chaos verbreitet hätte. Das wäre nie gut gegangen.

Da hätte Maren ihn noch so mögen können. Irgendwann wäre sie ihm an die Gurgel gegangen. Zu Lohmann sagte er: „Ist vielleicht besser so.“

„Was ist vielleicht besser so?“, fragte Maren Köster, die in diesem Augenblick das Büro der beiden Männer betrat.

Braunert winkte ab. „Nicht so wichtig. Wir reden gerade über Schulte.“

„Den habe ich gestern Abend mit seiner Tochter getroffen. Das ist echt ’ne Nette.“

Wieder spitzte Lohmann die Ohren. Tochter? Ja, erzählte ihm denn keiner was? Er wollte gerade anfangen, die ersten Fragen zu stellen, da stürzte ihr neuer Kollege Hartel ins Zimmer.

„Kannst du nicht anklopfen?“, fuhr Maren Köster ihn an. Sie hielt ihn für einen blasierten Affen und konnte ihn nicht leiden. Aus dieser Abneigung machte sie keinen Hehl.

„Im Arbeitsamt ist gerade jemand erschossen worden“, entgegnete er und überhörte den missgelaunten Ton, den seine Kollegin ihm gegenüber anschlug. „Ich muss sofort hin!“

„Du musst nirgends hin! Das machen Axel und ich. Du gehst Bernhard Lohmann zur Hand.“

„Aber, …“

„So ist es mit dem Chef besprochen worden!“, grinste sie. „Und dessen Wort ist für dich Gesetz. Komm Axel, dann wollen wir mal sehen, was da los ist.“

Hartel sah seiner Kollegin wütend nach, als sie mit Axel Braunert das Zimmer verließ. Das würde noch ein Nachspiel haben, schwor er sich.

Als die beiden Polizisten am Arbeitsamt ankamen, war hier alles in heller Aufregung. Der Krankenwagen fuhr gerade mit Blaulicht und Martinshorn vom Hof. Es schien auch noch jemand verletzt worden zu sein. Die Kollegen in Uniform versuchten den verängstigten und aufgebrachten Menschen gerecht zu werden. Und Wachtmeister Volle, der bei den meisten Kollegen den Ruf eines Volltrottels hatte, rastete gerade aus. Er schrie eine völlig verängstigte, weinende Frau an, sie solle sich nicht so anstellen. Dieser Ausraster bewirkte, dass die Besucherin des Arbeitsamtes jetzt nur noch haltlos schluchzte.

Maren Köster ging zu ihr hin und zog sie von Volle weg. Der wiederum empfand den Auftritt der Kommissarin als Entmündigung. Doch er verzog sich schweigend. Er kannte seine Kollegin in Wut. Diesen Zustand wollte er nicht provozieren. Maren Köster übergab die Frau einer jungen Polizistin die ihren Weg kreuzte mit den Worten:

„Ich glaube, hier brauchen einige Leute ärztliche Betreuung. Würden Sie so nett sein und sich darum kümmern. Es ist uns nicht geholfen wenn hier unter Schock stehende Menschen herumirren.“

Maren Köster sah sich um, sie suchte den Einsatzleiter. Als könnte er Gedanken lesen, kam Karl-Heinz Nübel auf sie zu. Er begrüßte die Kollegin und schilderte ihr in kurzen, präzisen Sätzen den Stand der Dinge.

„Es sieht alles danach aus, als wäre hier ein völlig durchgeknallter Hartz-IV-Empfänger im Arbeitsamt ausgetickt und hätte seine ganze Wut an dem Toten ausgelassen. Der ist geradezu hingerichtet worden. Der Beschäftigte des Arbeitsamtes, ein gewisser Hoppe, wurde aus nächster Nähe in den Kopf geschossen. Ich habe mir erspart, das Büro, in dem der Mord passierte, zu betreten. Jakobskrüger und Krause sind schon oben am Tatort. Der Arbeitsamtsdirektor – ich glaube, das ist ein Bayer – versucht natürlich den Schaden zu begrenzen. Ist ja klar, wenn es sich wirklich um einen Racheakt handelt, weil der Mörder hier im Amt schlecht behandelt wurde, das wirft kein gutes Licht auf die Agentur und der erste, den es trifft, ist der Direktor.

Die Tat ist zwar in den Räumlichkeiten von Lippe pro Arbeit passiert. Das ist die verantwortliche Stelle für den gesamten Hartz-IV-Bereich. Da gibt es drei Geschäftsführer. Einer vom Kreis Lippe, oder besser gesagt: Eine. Einer ist vom Netzwerk Lippe, also auch Kreis Lippe und einer von der Agentur. Der hat aber nichts zu melden. Der steht voll unter der Fuchtel vom Direktor der Agentur. Aber auch die anderen beiden halten sich natürlich erst einmal bedeckt. Für die Medien wird dieser Mord ein gefundenes Fressen sein. Ich schätze, die Reporter, Journalisten und Fernsehteams werden in den nächsten Stunden hier einfallen wie die Geier. Wir sollten schnellstens den Chef informieren und natürlich die Bielefelder. Wenn hier irgendetwas schief läuft, könnte ich mir vorstellen, dass es mächtigen Ärger gibt.“

Maren Köster nickte und ließ sich von Jakobskrüger beschreiben, wo die Bluttat begangen worden ist, dann machte sie sich auf den Weg zu dem Büro. Die Leiche sah grässlich aus. Maren Köster hatte schon einige Tote gesehen. Aber bei diesem Anblick musste sie doch schlucken. Jakobskrüger stand im Türrahmen und aß sein Frühstücksbrot. Krause hingegen war der Anblick nicht in den Kleidern stecken geblieben. Er war sichtlich blass um die Nase.

Nachdem sich die Polizistin einen Eindruck verschafft hatte, rief sie Lohmann an, um ihm den Sachstand zu berichten. Doch es meldete sich Hartel am Telefon. Als Maren Köster Lohmann verlangte, behauptete dieser, dass er ihn auch schon seit geraumer Zeit suche. Also musste sie Hartel in Kenntnis setzten.

„Wehe, du rennst zum Chef und gibst die Infos weiter bevor du sie Lohmann berichtet hast, dann wirst du hier in Detmold nicht mehr froh!“, drohte sie. „Ach ja, und Lohmann soll das Zentrale Dezernat Gewaltverbrechen in Bielefeld unterrichten. Wenn Schulte von dem Mord hier in Detmold erst durch die Aktuelle Stunde des WDR erfährt, gibt es deshalb auch noch Ärger. Wenn du an dieser Stelle Mist baust, dann wirst du mich kennen lernen!“, warnte Maren Köster den Kollegen Hartel noch einmal eindringlich.

Kaum hatte diese das Telefongespräch beendet, sah er sich noch einmal nach Lohmann um, der auf dem Weg zur Toilette wohl jemanden getroffen haben musste. Der war nicht da, und der Chef musste unterrichtet werden. Also nahm Hartel Kurs auf Erpentrups Büro.

4

Aus der unendlichen Weite des Universums hörte er Töne. Sie waren ihm nicht unbekannt, da war er sich sicher. Hörte sich so nicht ein Krankenwagen an? Bei Grafenberg setzte das Bewusstsein wieder ein. Er öffnete die Augen. Sein Schädel dröhnte und schmerzte unglaublich. Dieses unangenehme Gefühl wurde noch verstärkt, als das Auge die ersten, auf die Netzhaut treffenden Lichtstrahlen an das Gehirn weitermeldete. Grafenberg sah eine Menschentraube um sich herumstehen. Er starrte die Schaulustigen an. Tastete nach seinem schmerzenden Kopf. Fühlte seine blutverschmierten Haare. Wollte etwas sagen, doch dann sackte er zurück ins Nirwana.

Er kam wieder zu sich, als er auf einer Trage lag. Auf ihr wurde er gerade in einen Krankenwagen geschoben. Er hatte den Kopf gehoben und versuchte das Geschehen um sich herum wahrzunehmen. Es gelang ihm nicht. Die Umgebung wurde unklar. Ihm wurde schwindlig und übel. Er musste sich übergeben. Als der erste Schwall seinen Rachen verlassen hatte, hörte er einen der Rettungssanitäter fluchen. Grafenberg versuchte nicht zu erfassen was passiert war. Zu sehr dröhnte sein Kopf. Schemenhaft nahm er den Transport zum Krankenhaus wahr. Später fand er sich in einem Bett wieder. Eine Schwester oder Ärztin sprach ihn an.

„Sie haben eine Gehirnerschütterung“, sagte sie. „Und eine ordentliche Platzwunde. Wir haben sie mit zehn Stichen genäht. Dem Schädelknochen ist zum Glück nichts passiert. Ein paar Tage müssen Sie wohl hier bleiben. Sollen wir Angehörige von Ihnen benachrichtigen?“

Grafenberg nannte die Adresse seiner Mutter, die von Rodehutskors und von Maren Köster. Dann sank er wieder in die Kissen und war wenige Minuten später eingeschlafen.

Als er wieder aufwachte, saß Hermann Rodehutskors an seinem Bett.

„Ich soll dich von deiner Mutter grüßen. Sie kommt dich morgen besuchen. Sie hatte selber einen Arzttermin, den sie nicht absagen konnte. Wir alten Leute verbringen ja heutzutage die Hälfte unserer Zeit in Wartezimmern dieser Halbgötter in Weiß. Ich mache da auf jeden Fall nicht mit! Da kann sich meine Frau auf den Kopf stellen. Wenn mir in meinem Alter mal nichts mehr weh tut, bin ich tot. Solange lebe ich und zwar mit Inbrunst“, sagte Rodehutskors. Er hielt eine Tragetasche mit dem Werbeaufdruck von einem der größten Discounter Deutschlands in die Höhe.

„Deine Mutter hat mir einiges für dich eingepackt. Dann hat sie mir noch hundert Euro für dich mitgegeben. Du verdienst ja jetzt, wo du im Krankenhaus liegst, nichts, hat sie gesagt.“

Grafenberg nahm das Geld verschämt entgegen. Er konnte es gebrauchen.

„Sag mal Junge, was hast du eigentlich gemacht, dass du hier gelandet bist?“

Grafenberg erzählte Rodehutskors alles, an das er sich erinnern konnte.

Der alte Journalist hörte sich die Schilderung interessiert an.

„Riecht nach einer verdammt guten Story“, sagte Rodehutskors. „Weißt du, im Moment langweile ich mich ein bisschen. Meine Forschungen hinsichtlich der Hermannsschlacht stagnieren. Im Übrigen sind ja jetzt, so kurz vor der Zweitausendjahrfeier, Hans und Franz auf der Suche nach Hinweisen, dass die Schlacht wirklich in Lippe und nicht dahinten in Osnabrück stattgefunden hat.

Ich würde schon gerne noch ein bisschen als freier Journalist arbeiten. Nur meine Frau dürfte das nicht so mitkriegen. Sie macht sich immer Sorgen um meine Gesundheit. Sie ist der Meinung, ich sollte mal langsam etwas kürzer treten.

Gute Kontakte habe ich ja noch zu den verschiedensten Zeitungen. Ich bin aber nicht mehr so beweglich. Wenn ich einen Partner hätte, der mir einige Arbeiten abnehmen würde, ließe sich mit dem einen oder anderen Artikel bestimmt noch eine Stange Geld verdienen.

Sag mal Junge, was hältst du davon, wenn wir beiden so eine kleine Presseagentur aufmachen würden?

Wir mieten uns irgendwo ein kleines Büro, stellen ein Telefon und einen PC da rein, und dann legen wir los.“

„Wie stellst du dir das vor? Ich bin ja gerade mal dazu in der Lage eine Zeitung zu lesen. Von Journalismus habe ich keine Ahnung“, sagte Grafenberg matt.

„Das Handwerkszeug bringe ich dir schon bei. Schreiben kannst du, das habe ich schon bemerkt, deine Sketche, die du dir für den letzten Lipper ausgedacht hast, haben einen hintersinnigen Humor und sind sprachlich wirklich nicht schlecht.

Ich übernehme die Investitionen und zahle die Miete, so lange, bis das erste Geld rein kommt, und du gibst deinen Namen her und arbeitest sozusagen als Volontär bei mir. Vielleicht kriegen wir ja noch Zuschüsse vom Arbeitsamt, wenn wir unsere kleine Firma gründen. Ich frage den Doktor mal.“

Grafenberg war zu müde, um sich gegen Rodehutskors’ Argumente zur Wehr zu setzen. Er lag in seinem Krankenbett und litt.

„Das erste Geld werden wir mit dem Mord im Arbeitsamt verdienen. Das riecht verdammt nach einem amoklaufenden Hartz-IV-Empfänger. Du wirst dich wundern. Noch heute werden die Bildzeitung und einige andere Blätter bei dir antickern. Dann hältst du einfach die Klappe und gibst ihnen meine Handy-Nummer. Ich habe jetzt nämlich auch so ein Dingen.

Sag denen, ich hätte mir die Exklusivrechte, was deine Person angeht, gesichert. Wir wollen doch mal sehen, ob ich mein Handwerk nicht noch beherrsche. Ich fahre jetzt nach Hause, schreibe das, was du mir erzählt hast auf, und dann sprechen wir noch mal über alles. Also Junge, du gibst die Nummer weiter. Ansonsten hältst du die Klappe und wirst erst mal wieder gesund. Dann sehen wir weiter. Wenn was dabei raus springt, bekomme ich meine Kosten wieder rein und mit dem Rest machen wir halbe-halbe.“

Grafenberg nahm alles widerspruchslos hin. Ihm schmerzte der Kopf, und er war hundemüde. Dies schien auf irgendeinem telepathischen Wege eine energisch auftretende Krankenschwester mitbekommen zu haben. Sie rauschte ins Zimmer, komplimentierte Rodehutskors innerhalb weniger Sekunden gegen seinen Willen hinaus und sagte:

„Für heute ist Schluss mit Besuch. Sie schlafen sich jetzt gesund!“

Die Schwester schob ihm noch drei Tabletten in den Mund und hatte im nächsten Moment das Zimmer wieder verlassen.