Dr. paed. habil. Edith Müller-Rieckmann, Dipl.-Rehabilitationspädagogin, Entwicklungspsychologin, Rostock, langjährige Erfahrung in Kinderkliniken auf dem Gebiet der Frühdiagnostik, Frühförderung und Elternberatung von neugeborenen und frühgeborenen Risikokindern. In der Vergangenheit Wahrnehmung von Lehraufträgen an den Universitäten Bielefeld und Rostock, sowie Mitarbeit an der HMT Rostock/Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik.
Titelfoto: |
|
Ein Frühgeborenes im Inkubator. |
|
29+3 SSW: |
Das Kind wurde nach 29 Schwangerschaftswochen plus 3 Tagen geboren. |
1050 g GGW: Das Geburtsgewicht betrug 1 050 g. |
Hinweis
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
ISBN: 978-3-497-02952-5 (Print)
ISBN: 978-3-497-61320-5 (PDF-E-Book)
ISBN: 978-3-497-61321-2 (E-PUB)
6., aktualisierte Auflage
© 2020 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München
Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Printed in EU
Satz: Bernd Burkart; www.form-und-produktion.de
Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München
Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de
Inhalt
Geleitwort von Otwin Linderkamp
Vorwort
Vorgeburtliches Leben
Frühgeburtlichkeit – Risiken und Chancen
Kann und sollte eine Frühgeburt immer verhindert werden?
Merkmale von Frühgeborenen
Zur neonatologischen Betreuung von Frühgeborenen
Frühgeborene entwickeln sich individuell
Das korrigierte Alter
Die Eltern-Kind-Beziehung
Abpumpen und Stillen – Trinken-Lernen
Gemeinsames Tun und Ruhen nach Art der Kängurus
Zur Entwicklung des Sozialverhaltens (Bindungsverhalten)
Die Entlassung nach Hause steht bevor
Essen-Lernen – schwer für alle
Schlafen?
Spielende Pflege
Die Funktionsspiele
Die Konstruktionsspiele
Das Handling
Vielfältige Entwicklung
Kind und Eltern üben „Aufrichten“
Erste Gehversuche
Kind und Eltern im Dialog
Singen, Malen, Konstruieren – musische Begegnung
Ist es altmodisch, ein Tagebuch zu schreiben?
Notizen aus Tagebuchaufzeichnungen von D. M., einem Jungen aus der vollendeten 25. SSW
Entwicklungsübersichten
Vorgeburtliche Entwicklung und angeborene Fähigkeiten
Nachgeburtliche Entwicklung im ersten Lebenshalbjahr
Entwicklung im zweiten Lebenshalbjahr
Entwicklung im dritten Lebenshalbjahr
Entwicklung im vierten Lebenshalbjahr
Entwicklung im fünften und sechsten Lebenshalbjahr
Der Beobachtungsbogen
Beobachtungsbogen zur differenzierten Erfassung von Entwicklungsmerkmalen von Frühgeborenen
Entwicklungshabilitation für Frühgeborene
Kinder mit Frühgeborenen-Retinopathie
Unreife Frühgeborene können durch Zerebralparesen behindert sein
Störungen durch Lungenunreife
Frühgeborene mit Mehrfachbehinderungen – zur Entwicklung eines Mädchens aus der 23. SSW
Zu schwach, um leben zu können
Übungen mit frühgeborenen Kindern – ausgewählte Beispiele
Bewegungsförderung im Wasser
Aktivierung körpereigener Funktionsspiele
Anbieten von Greiflingen
Hör-Greif-Übung mit selbst gebauter Spielstange
Übungen zum Essenlernen
Übung zum Ballspielen
Wählen eines Lieblingsspielgegenstandes
Übungen zum Turmbau
Anbahnung des Rollenspiels
Übungen zur Schwerkraftempfindung
Hand-Hand-Koordinationsübungen und Greifübungen
Übungsprogramm Händewaschen
Übungsprogramm Händeabtrocknen
Übungsprogramm Malen
Übungsprogramm Farben ordnen
Förderung rhythmisch-musikalischer Bewegungsfähigkeiten
Eltern können viel tun
Entwicklungsberatung für Niklas
Was wurde aus meinen Kindern? – Ein Nachwort
Fachbücher, die helfend weiterführen können
Fremdworterklärungen und Abkürzungen
Literatur
Geleitwort
Die Zahl der frühgeborenen Kinder hat in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich auf über 9% der Neugeborenen zugenommen. Da – glücklicherweise – nur noch wenige Frühgeborene sterben, sind bei etwa 790.000 jährlich geborenen Kindern jedes Jahr weitere 70.000 Frühgeborene allein in Deutschland zu erwarten. Die Frühgeborenenmedizin ist daher zum wichtigsten Bereich der klinischen Kinderheilkunde geworden.
Das frühgeborene Kind verlässt den schützenden Körper seiner Mutter mit unreifen Organen, die noch nicht auf ein selbständiges Leben vorbereitet sind. Die Intensivmedizin unterstützt wichtige Organfunktionen, von denen das Überleben des Kindes abhängt. Hierzu gehören Atemhilfen, künstliche Ernährung, Wärmezufuhr und spezielle Hautpflege. Das Gehirn wird vor allem als empfindliches Organ betrachtet, das z.B. infolge von Blutungen schwere neurologische Störungen davontragen kann. Dabei wird häufig übersehen, dass das Gehirn wie andere Organe beim Frühgeborenen unreif ist und seine Reifung von Anfang an gefördert werden muss, um Entwicklungsstörungen des Kindes zu vermeiden.
„Leichte“ oder „mittlere“ Entwicklungsdefizite wie Lern- und Verhaltensstörungen werden bei jedem zweiten Frühgeborenen beobachtet. Dies gilt auch für relativ reife Frühgeborene, die 3–5 Wochen zu früh geboren wurden, wie eine Studie der Universitäts-Kinderklinik Heidelberg zeigt. Entwicklungsdefizite können bereits im Kindergarten zu Isolierung führen und langfristig den Schulerfolg und die Teilhabe am Berufsleben begrenzen. Präventiv wirksame Frühförderung muss daher bereits während der Intensivbehandlung als entwicklungsfördernde und familienzentrierte Betreuung beginnen und nach der Entlassung aus der Klinik konsequent fortgesetzt werden.
Anfang der 1990er Jahre gehörte Dr. Edith Müller-Rieckmann gemeinsam mit W. Ernest Freud und Marina Marcovich zu den ersten Autoren im deutschen Sprachraum, die einen Paradigmenwechsel in der Behandlung Frühgeborener hin zu einer kind- und familienzentrierten Betreuung Frühgeborener forderten. Kinderkliniken, die diese neuen Konzepte einführten, erlebten eine überraschend deutliche Abnahme der Sterblichkeit und gleichzeitig eine wesentliche Verbesserung der langfristigen Entwicklung der überlebenden Frühgeborenen.
Selbst Mutter von zwei frühgeborenen, heute erwachsenen Kindern, weiß die Autorin um die Sorgen, Ängste und die alltäglichen Probleme der betroffenen Familien. Sie erkannte frühzeitig, dass sich nicht nur die akute Frühgeborenenmedizin ändern muss, sondern auch die über viele Jahre notwendige besondere Nachsorge der Kinder. 1984 begann Edith Müller-Rieckmann in einer Universitäts-Kinderklinik Familien mit frühgeborenen Kindern zu beraten. Durch sorgfältige Beobachtung der Kinder und ihrer Mütter entdeckte sie Besonderheiten im Verhalten beider und entwickelte hieraus ein Konzept der Frühförderung, die bereits während der Klinikbehandlung beginnt und nach der Entlassung fortgeführt wird. Dabei kommt den Eltern in der Klinik und daheim die entscheidende „Therapeutenrolle“ zu.
Das Buch von Dr. Müller-Rieckmann, das seit 1993 bereits in der 6. Auflage erscheint, ist aktueller denn je, da zunehmend erkannt wird, wie wichtig frühe Präventionsmaßnahmen zur Vermeidung von Entwicklungsstörungen und Rehabilitationsmaßnahmen zur Behandlung bereits eingetretener Störungen sind. Im ersten Teil des Buches beschreibt die Autorin die Grundlagen der Entwicklung Frühgeborener, gefolgt von detaillierten Empfehlungen zu Ernährung und Stillen, Kängurupflege, Mutter-Kind-Interaktion und erstem Spielen im Inkubator. Die Vorbereitung der Entlassung des Kindes bildet einen besonderen Schwerpunkt. Es wird deutlich, dass die Betreuung des Frühgeborenen eine gemeinsame Aufgabe der Eltern und Fachleute sein muss. Der zweite, längere Teil enthält zahlreiche Übungen zur Förderung der Entwicklung des Kindes nach der Entlassung aus der Klinik vom Kleinkind- bis zum Schulalter. Abgeschlossen wird das Buch durch eine Zusammenstellung der wichtigen auf Frühgeborenenstationen häufig verwendeten Fremdwörter und Abkürzungen sowie ein ausführliches Literaturverzeichnis.
Die Autorin hat ein äußerst informatives und für die Praxis hilfreiches Buch geschrieben, das Eltern und allen, die Frühgeborene beruflich betreuen, Rat während des Klinikaufenthaltes und nach der Entlassung gibt. Aus jeder Seite dieses Buches spricht die jahrelange Erfahrung der Autorin mit Frühgeborenen.
Prof. Dr. Otwin Linderkamp
Emeritierter Ärztlicher Direktor der Klinik für Neonatologie
Universitätsklinikum Heidelberg
Anmerkungen:
Im Jahre 2018 wurden laut statistischem Bundesamt in Deutschland 787.523 lebend geborene Kinder registriert.
Im gesamten Buch wird für sämtliche Berufsbezeichnungen aus Gründen der besseren Lesbarkeit jeweils nur die männliche Form verwendet (z. B. Ärzte, Pädagogen). Weibliche Fachkräfte sind selbstverständlich auch immer mitgemeint.
Vorwort
Als ich 1984 in einer Universitäts-Kinderklinik begann, Familien mit frühgeborenen Kindern zu beraten, musste ich manches Mal daran zurückdenken, wie es war, als meine Kinder geboren wurden:
Karla
Am 27. April 1961 wurde sie in der 34. Schwangerschaftswoche spontan geboren. Eine Nachbarin konnte gerade noch schnell genug einen Krankenwagen rufen, der mich in die Frauenklinik brachte. Auf dem Wege dorthin ahnte ich zunächst nur, dass dieser Apriltag schon der Tag sein sollte, dass ich Mutter, wir Eltern würden. Nach vier Stunden wurde mein erstes Kind zu früh geboren. Rasch wurde meine Tochter in die Kinderklinik verlegt. War sie gesund? Täglich durfte ich die Frühgeborenenstation anrufen. Nach einiger Zeit wurde Karla gelb; eine Blutaustauschtransfusion wurde nötig. Von Anfang an konnte sie gut trinken. Als sie 2 500 Gramm wog, konnten wir sie mit einem Kinderwagen nach Hause holen. Es war unser erster gemeinsamer Spaziergang als Familie.
Albrecht
Morgens gegen 4.00 Uhr am 20. Juni 1965 kündigte sich 10 Wochen zu früh die Geburt meines Sohnes an. Langsam gingen mein Mann und ich zu Fuß in die Klinik. In Sorge wegen des sehr frühen Geburtstermines trennten wir uns. Um 12.00 Uhr wurde Albrecht spontan mit einem Geburtsgewicht von 1 500 Gramm geboren. Atemnot und Trinkschwierigkeiten machten eine Intensivtherapie erforderlich. Nach etwa drei Monaten Klinikbetreuung hatte er sein Entlassungsgewicht von 2 500 Gramm erreicht. Mit dem Kinderwagen seiner Schwester holten wir ihn nach Hause – endlich. Bis dahin hatten wir unseren Sohn nur hinter Glasscheiben gesehen.
Heute dürfen Eltern so früh wie möglich Kontakt zu ihrem Kind aufnehmen. Sie lernen ein Stück Leben der Intensivstation mit seiner Ernsthaftigkeit und Hektik kennen. Wird das Kind in die elterliche Obhut entlassen, ist es ihnen schon vertrauter, längst ist es kein Neugeborenes mehr. Nun beginnt der Alltag.
Vorgeburtliches Leben
Mit der Vereinigung von männlichen Samenfäden und den weiblichen Eizellen beginnt die Verwandlung des einen wie des anderen. Es beginnt die Umformung der Eizelle in etwas Neues – die erste Phase der vorgeburtlichen menschlichen Entwicklung, die Entwicklung eines Embryos. Später, im Verlauf der fortgeschrittenen vorgeburtlichen Entwicklung, wird der Embryo Fötus genannt. Die vorgeburtliche Reifung und Entwicklung vollzieht sich nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten, und doch bilden sich schon im Mutterleib, unbeeinflusst von der Außenwelt, spezifische Anlagen für dieses eine neue Wesen.
Frühe embryonale Organfunktionen wie z. B. die der Lunge bereiten Atembewegungen als Voraussetzung für die tiefen ersten Atemzüge des Neugeborenen vor. Die ersten Atemmuster sind ein außerordentlich guter Ausdruck dafür, ob zwischen der körperlichen Aktivität des Neugeborenen und dem Leben außerhalb des Fruchtwassers eine angepasste Abstimmung eingesetzt hat. Schreck, Wut, Angst, Wohlbefinden bestimmen den Zustand der Atmung.
Auch ein frühembryonales Wachstumsgreifen kann bei einem 2,55 mm großen menschlichen Embryo als erste frühe Greifbewegung angenommen werden. Die Hand- und Armanlage an der jeweiligen seitlichen Körperwand des Embryos, die während des allmählichen Wachsens einsinkt, bewirkt ein Vorkippen der Armanlage. Die Handanlage beginnt sich vorzustrecken und dem Greifen ähnliche Bewegungen auszuführen. Allmählich wachsen aus den häutigen Rändern der Hand die Finger. Die Bewegungen werden zu Vorläufern der späteren Fähigkeit des Neugeborenen, unwillkürlich klammern und greifen zu können.
Saugbewegungen und vorgeburtliche Greifbewegungen sind in ihrem Entwicklungsgeschehen eng miteinander verbunden. An Frühgeborenen wurde beobachtet, dass sie beginnende greifende Fingerbewegungen nur dann ausführten, wenn bereits kräftige Saugbewegungen vorhanden waren.
Über das Sinnessystem bahnen und entwickeln sich Befindlichkeiten (Emotionen) des wachsenden ungeborenen Kindes. Ohren und Hören (auditives System), Gleichgewichtssystem (vestibuläres System) sowie die Haut und das Tasten (taktiles System) vermitteln dem Kind in der Gebärmutter Reize aus der intra- und extrauterinen Umwelt. Diese vorgeburtlichen Wahrnehmungsprozesse bewirken Kopfbewegungen, Augenbewegungen und große Körperbewegungen. Schwerkrafterleben, Sicherheitsgefühle, Sprachverständnis, Sprechvermögen, spielerische zwischenmenschliche Beziehungen werden durch intrauterine Empfindungen und Wahrnehmungen vorbereitet. Dieses Wahrnehmen von Signalen, Informationen, Reizen ist vom jeweiligen Reifeprozess des Gehirnes abhängig: In der 2. – 12. Schwangerschaftswoche (SSW) bildet die Struktur der vorhandenen Nervenzellen das Fundament des Reifens. Danach beginnt mit der 13. SSW das Wachstum der langen (Axone) und kurzen (Dendriten) Nervenfortsätze, um zu den Schaltstellen (Synapsen) gelangen zu können. Unzählige Nervenzellen stehen nun in Verbindung miteinander. In diese 2. Phase fällt mit der 22. SSW z.B. die Ausreifung der Vertikalisation – die Fähigkeit des Menschen des aufrechten Lebens. In der 26. SSW beginnt das Ungeborene Fruchtwasser zu trinken. Ein Zeitpunkt, zu dem die langen Fortsätze im Zentralnervensystem (ZNS) und im Rückenmark von einer stark fetthaltigen Substanz spiralenförmig umhüllt werden. Das Mark oder Myelin, eine weiße Substanz, wird für eine störungsfreie Weiterleitung der ankommenden Impulse zu den Nervenzellen (graue Substanz) benötigt. Mit der 29. SSW ist eine dritte Etappe des Reifeprozesses erreicht (Keller/Simbrunner 2007). Die Myelinisierung ermöglicht nun eine Impuls-Auswahl mit Verknüpfungen zu einem komplexen Netzwerk. Druck, Schmerz und Kälte können z. B. nun vom Ungeborenen wahrgenommen werden (s. Tabelle Übersicht zur vorgeburtlichen Entwicklung). Die Myelinisierung vollzieht sich bis über das 25. Lebensjahr hinaus (Kleinfeld/Köhler 2011). Dies ist sehr wichtig zu wissen und zu bedenken, um nicht zu früh negative Prognosen zu Entwicklungsfragen zu stellen. Werden diese Zusammenhänge tiefgründig bedacht, so wird aber doch auch sehr deutlich, dass für zu Frühgeborene mit einem Gestationsalter vor der vollendeten 24. Schwangerschaftswoche wenig Chancen für eine gute Lebensqualität bestehen. Das Fundament für Reifung und Entwicklung außerhalb der Gebärmutter ist zu schwach (Ramsauer 2012).
Mit der Geburt verfügt das Neugeborene über die Fähigkeit, Gefühle haben zu können (Emotionalität). Angeborene emotionale Sensibilität zu erhalten, ist eine wesentliche Voraussetzung für den Säugling zu lernen, Bindungen mit Eltern und anderen Menschen einzugehen, also menschliche Lebensweise zu erlernen. So trifft es auch für Frühgeborene zu. Auch für sie ist der Übergang vom Leben in der Begrenztheit der Gebärmutter in die Außenwelt (von intrauterin zu extrauterin) die Geburt. Zentrales Erlebnis des Geborenwerdens aus der wärmenden, schützenden und nährenden Lebenssituation in einer fein abgestimmten Interaktion mit der Mutter ist das Verlassen des Dunklen in das Helle der Welt. Die Geburt wirkt wie ein Schock auf die angeborenen Temperamentsbesonderheiten und vorgeburtlich erlernten Fähigkeiten des Frühgeborenen. Anpassungsschwierigkeiten können die Folge sein.
Das zu früh geborene Kind verfügt jedoch über körperliche und seelische Kräfte aus der vorgeburtlichen Entwicklung, die ihm helfen, außerhalb der Gebärmutter tüchtig zu werden. Diese Ressourcen, die das Kind mitbringt, sollten uns ermutigen, auch extrem unreifen Frühgeborenen entsprechende Hilfe und Liebe angedeihen zu lassen.
Frühgeburtlichkeit – Risiken und Chancen
Je früher ein Kind geboren wird, desto näher befindet es sich noch in seinem körperlichen Wachstum (Reife), seiner Erlebens- und Fähigkeitsentwicklung dem Zustand der Vorgeburtlichkeit, dem pränatalen Zustand. Welches Kind ist ein zu früh geborenes?
Zur Berechnung des Geburtstermines eines Kindes werden vom vermutlichen Zeitpunkt der Befruchtung an 40 Schwangerschaftswochen zugrunde gelegt. Als zu früh geboren bezeichnet man diejenigen Kinder, die vor vollendeten 37 Schwangerschaftswochen lebend geboren werden. Folgende Reifegrade werden unterschieden: Extrem früh Frühgeborene mit weniger als 28 SSW, sehr frühe Frühgeborene bis zur 31. SSW und Frühgeborene ab der 32. bis zur vollendeten 36. SSW. Umstände, die zur Frühgeburt führen, können mannigfaltig sein und sind zu trennen in Ursachen vonseiten der Mutter und vonseiten des Kindes:
I. Mütterlicherseits:
Allgemeinkrankheiten, z. B.
Infektionen
Gestose (krankhafte Schwangerschaftsstörungen, die meist mit erhöhtem Blutdruck einhergehen)
Anämie (zu wenig rote Blutkörperchen)
Herzerkrankungen
Lungenerkrankungen
Diabetes (Zuckerkrankheit)
Hyperthyreose (Überfunktion der Schilddrüse)
das Hellp-Syndrom (haemolysis, elevated liver functiontest, low plated counts)
Psychosoziale Belastungen, z. B.
Stress
schwere Arbeit
alleinstehend
Nikotinmissbrauch
Alkoholmissbrauch
sonstiger Drogenmissbrauch (eingeschlossen Medikamente)
Unterernährung der Mutter
Anomalien und Erkrankungen der Gebärorgane, z. B.
Uterus myomatosus (gutartige Geschwulstbildungen in der Gebärmutter)
Uterus bicornis (Fehlbildungen der Gebärmutter)
Placenta praevia (Mutterkuchen sitzt vor Uterusausgang)
Zervixinsuffizienz (Schwäche des Gebärmuttermundes)
vorzeitiger Blasensprung
Mehrlingsschwangerschaft
Alter der Mutter
unter 16 Jahre
über 35 Jahre
II. Kindlicherseits:
Infektionen
Fehlbildungen aller Art, insbesondere in Verbindung mit einem Polyhydramnion (zu viel Fruchtwasser)
Rh-Inkompatibilität
Nabelschnurstörungen
Alle genannten möglichen Ursachen können Indikationen für den Geburtshelfer sein, die Entbindung vorzeitig einzuleiten. Die unverhoffte Frühgeburt meist unklarer Ursache betrifft etwa 4 % aller Geburten. Versehentlich kommen zu frühe Geburtseinleitungen durch falsche Terminberechnungen vor.
Kann und sollte eine Frühgeburt immer verhindert werden?
In Deutschland werden z. Z. jährlich etwa 70 000 Kinder zu früh geboren. Was kann getan werden – was wird getan: Besonders wichtig wäre eine bessere Betreuung aller Schwangeren. Aufsteigende Infektionen vom Genitalbereich her könnten frühzeitiger behandelt werden. Die Krankheitserreger dringen vor bis in die Gebärmutter und bewirken oftmals einen vorzeitigen Blasensprung. Wehenhemmende Mittel können die einsetzende zu frühe Geburt häufig nicht mehr aufhalten, was bei schweren Infektionen auch nicht sinnvoll wäre. Je rascher, z. B. mit Antibiotika, Kind und Mutter behandelt werden können, desto geringer ist die Gefahr, dass das Ungeborene Schaden nehmen könnte. Droht eine Sepsis, muss so früh wie möglich und nötig der Kaiserschnitt vollzogen werden. Noch bedrohlicher wird ein plötzlich auftretendes HELLP-Syndrom (HELLP steht für Haemolysis, Elevated Liver enzyme levels, Low Plated count; auf Deutsch: Zerfall des Blutes, Anstieg der Leberwerte, Abfall der Thrombozyten). Nur die rasche Operation kann den Tod der Mutter verhindern.
J. W. ist ein Mädchen, geboren in der 23. SSW per Kaiserschnitt mit einem Geburtsgewicht von 490 Gramm. Sie ist das zweite Kind der Familie. Das erste Kind war eine Totgeburt bei sich entwickelndem HELLP-Syndrom der Mutter. Zu rasch folgte die erneute Schwangerschaft mit J., sodass es in der 23. SSW wiederum zu schwersten Zeichen eines HELLP-Syndroms kam und dazu auch noch rasant verlaufend als Trias. Eine Massenblutung konnte gerade noch verhindert, das Leben der Mutter gerettet werden. Sehr lange dauerten Heilungs- und Erholungsprozess (s. a. Frühgeborene mit Mehrfachbehinderungen).
In Heidelberg wurden Erfahrungsberichte von Schwangeren gesammelt, die, zur Vermeidung der Frühgeburt, einige Wochen in Ruhe liegend in der Frauenklinik verbringen mussten. Ihre persönliche Einstellung, mitbewirkt durch einfühlsame und aufklärende Gespräche mit Ärzten und Schwestern, dem Partner und der Familie, half ihnen oftmals, die Schwangerschaft noch um einige Wochen, manchmal leider auch nur um wenige Tage, zu verlängern. Aber was ist mit all den Frauen, denen es nicht so gut geht, einen liebevollen Partner, eine stützende Familie zu haben? All den Männern und Frauen, die kämpfen müssen, sich von der Sucht nach Nikotin, Alkohol, Medikamenten und Drogen zu befreien? Dann wird unverzüglich die Hilfe durch Experten notwendig, um z.B. ein Fetales Alkoholsyndrom (FAS) zu vermeiden oder gering zu halten, beispielsweise im FAS-Zentrum der Charité Berlin unter der Leitung von Dr. med. Hans-Ludwig Spohr.
Merkmale von Frühgeborenen
Wenngleich ein allgemeiner Rückgang der Frühgeburtlichkeit zu beobachten ist, so ist dennoch deutlich mit einer erheblichen Zunahme der sehr unreifen Frühgeborenen zu rechnen, also jenen Kindern, die vor der vollendeten 28. Schwangerschaftswoche lebend geboren werden. Wenn das Gestationsalter (Alter in Schwangerschaftswochen) des Frühgeborenen nicht bekannt ist, wird der Reifegrad nach der Geburt, z. B. mit dem neuen Ballard-Test oder dem Test von Dubowitz-Farr, durch Ermittlung von äußeren, körperlichen Merkmalen und durch Bestimmung der neuromuskulären Reife geschätzt. Deutlich unterscheidet sich das Frühgeborene von reifgeborenen Kindern:
Frühgeborene sind kleiner und leichter. Jedoch scheint es so, als würden derzeit Frühgeborene mit höheren Geburtsgewichten in den jeweiligen Schwangerschaftswochen geboren.
Fettpölsterchen fehlen.
Die Haut ist durchsichtig und leicht gerötet und gewährt fast Einblick in den kleinen Körper.
Finger- und Zehennägel haben die Kuppen noch nicht ganz erreicht.
Der Körper kann mit feinen, wolligen Haaren (Lanugo) bedeckt sein.
Manchmal fehlen die Augenbrauen.
Unregelmäßiges Atmen kann auftreten.
Die Körpertemperatur kann schwanken.
Eine kräftige Faust mit eingeschlagenem Daumen kann an den Händen zu sehen sein.
Suchen mit dem Mund, Saugen und Schlucken sind schwächer ausgebildet und können Schwierigkeiten bereiten.
Beim Schreien werden Bewegungen streckender, eckiger.
Greifende Bewegungen und Saugbewegungen sind bei sehr unreifen Frühgeborenen aneinander gekoppelt.
Koordinierte Mund-Hand-, Mund-Daumen-, Ohr-Kopf-Bewegungen sind gut zu beobachten.
Frühgeborene haben einen rhythmischen Wechsel von Ruhe und Aktivität.
Eine geglättete Stirn zeigt Ruhe und Wohlbehagen an.
Steil aufgestellte Stirnfalten drücken Unmut aus. Frühgeborene sind häufig berührungs-, licht- und lärmempfindlich.
Sie zeigen Differenzierungen zu Geschmack, Druck und Schmerz an.
Charakteristische Bewegungsmuster von Frühgeborenen:
Kleine feine Bewegungen
– Koordinierte Saug- und Atembewegungen
– Kopfbewegungen (Kopf-Ohr-Koordination)
– Räkeln
– Gähnen
– Mund-Hand-Koordination
Große Bewegungen
– Arm- und Beinbewegungen in Beugehaltung
– Kleine Ausladungen
– Schreitbewegungen
– Seltener auch Rumpfbewegungen
Charakteristik der Spontanmotorik (nach Hadders-Algra):
1. Lebenswochen writhing-movements
tight writhing (kleine Ausladungen in Beugehaltung)
loose erithing (locker werdend)
ab 8 Lebenswochen tritt eine grundlegende Änderung der Spontanmotorik in drei charakteristischen Bewegungsmustern ein
Spontanmotorik von extrem unreifen Frühgeborenen um die 8./9. Lebenswoche:
Unregelmäßige, wackelnde, pendelnde Bewegungen werden eher an den Armen beobachtet als an den Beinen
Pendelnde Armbewegungen
Perlende, unruhig-nervöse Bewegungen (fidgety-like movements); kleine, runde irreguläre Bewegungen, die tanzartig am ganzen Körper auftreten können, aber auch hüpfende Zick-Zack-Bewegungen sein können
Zeitgleich treten schnelle Bewegungen der Arme und Beine auf i. S. von winkend-klatschenden Bewegungen (Aufklatschen) bei Wohlbefinden des Kindes
Anhand von Perzentilen (kurvenförmige Messlatte) kann geprüft werden, ob entsprechend der erreichten Schwangerschaftswoche das richtige Verhältnis von Tragezeit zu Körpergröße und Geburtsgewicht besteht. Ein Frühgeborenes, geboren mit 27 Schwangerschaftswochen, sollte beispielsweise ein Geburtsgewicht von 800–900 Gramm haben. Je unreifer ein zu früh geborenes Kind ist, desto komplexer und gravierender sind seine klinischen Probleme. Die amerikanische Ärztin Virginia Apgar führte ein Untersuchungsschema zur Prüfung des klinischen Zustandes – den Apgar-Test – in die Perinatologie ein. Geprüft werden die Hautfarbe, die Atmung, der Herzschlag, die Muskelspannung (Muskeltonus) und Antwortreaktionen auf das Absaugen der Nase und/oder auf ein Fingerschnippen an der Fußsohle. 7–10 Punkte kann ein Kind erhalten, wenn es gesund ist, keine Startschwierigkeiten nach der Geburt hat. Die Haut ist rosig, das Schreien setzt unregelmäßig bis regelmäßig ein. Der Herzschlag liegt über 100 pro Minute, mehr oder weniger kräftige Bewegungen an Armen und Beinen sind beobachtbar. Die Antwortreaktionen können Grimassieren, Schreien und Husten sein.
In der nachfolgenden Übersicht sind die wesentlichsten klinischen Probleme Frühgeborener dargestellt: