Reitemeier / Tewes · Gelobtes Land

JÜRGEN REITEMEIER

WOLFRAM TEWES

Gelobtes Land

PENDRAGON

Dieses ist das Bild der Welt,

Die man für die beste hält:

Fast wie eine Mördergrube,

Fast wie eines Burschen Stube,

Fast so wie ein Opernhaus,

Fast wie ein Magisterschmaus,

Fast wie Köpfe von Poeten,

Fast wie schöne Raritäten,

Fast wie abgesetztes Geld

Sieht sie aus, die beste Welt.

Johann Wolfgang von Goethe

1

Hastig stopfte die junge Frau ihre Kamera in die Reisetasche, ehe sie das Hotelzimmer verließ. Im schattigen Erdgeschoss hielt der weißhaarige Portier seinen Mittagsschlaf und ließ sich dabei auch nicht stören, während Noura Aziz vorsichtig hinter seinen Tresen schlich. Der alte Mann schnarchte nur etwas lauter, als sie die quietschende Tür eines Schrankes öffnete, in dem in Ermangelung eines Tresors ihr Ausweis deponiert worden war. Dann trat sie aus der kühlen Dunkelheit der Eingangshalle in das grelle Licht und die alles lähmende Mittagshitze.

Vier Nächte hatte sie in dem kleinen, wenig komfortablen Hotel im Nordwesten Libyens verbracht. Kühle Nächte, die heißen arbeitsreichen Tagen gefolgt waren. Ihre Anwesenheit hatte bei den Einheimischen nur wenig Aufsehen erregt. Vor einigen Jahren wäre das noch ganz anders gewesen. Eine junge Frau, die zwar landesüblich gekleidet, aber offensichtlich allein unterwegs war – das hätte für Gesprächsstoff unter den knapp zweitausend Einwohnern der verschlafenen Kleinstadt gesorgt. In letzter Zeit hatten sich die Leute an den Anblick von Fremden gewöhnt. Seitdem ganz in der Nähe der Flugplatz gebaut worden war, tauchten immer wieder unbekannte Gesichter in den staubigen Straßen auf.

Zu dieser Uhrzeit jedoch hätte sie auch ein prähistorisches Monster sein können – es wäre niemandem aufgefallen, da sich kein Mensch draußen in der Gluthölle aufhielt. Sie warf sich ein großes weißes Dreieckstuch über die schwarzen Locken, knotete es unter dem Kinn zusammen und ging los. Sie hatte es eilig, wollte so schnell wie möglich die Stadt hinter sich lassen. Ihr blieb nur die Flucht mit einem Auto. Über die einzige Straße, die es in jenem Bereich der Wüste gab. Sicher war auch dieser Weg gefährlich, aber ihr blieb keine Wahl. Denn der Flugplatz war für sie tabu. Dort würde man schon auf sie warten.

Hundert Meter weiter stand im schmalen Schatten eines Hauses ein uralter Renault, über den jemand eine große Decke gelegt hatte, um ihn so gut wie möglich zu verdecken. Ein junger Mann winkte, als sie in Sichtweite kam, und zog die Abdeckung vom Auto. Sie hatte den arbeitslosen Kerl, der etwa in ihrem Alter war, bereits am ersten Tag ihres Aufenthaltes für ein Taschengeld als Fahrer engagiert. Er hatte sich als zuverlässig und zurückhaltend erwiesen, weshalb sie auch weiter auf seine Dienste vertraute.

Der Mann, dessen dunklerer Teint ihn als Bewohner der südlicheren Sahararegion auswies, öffnete die Heckklappe, nahm ihr die Reisetasche aus der Hand und warf diese in den Kofferraum. Alles geschah wortlos. Die Hitze hätte jedes Wort zur Kraftanstrengung werden lassen. Außerdem gab es nichts zu reden, denn alles war bereits am Vorabend besprochen worden.

Noura schrak zusammen, als die Heckklappe geräuschvoll zufiel und die Stille zerriss. Schnell kletterte sie auf den Beifahrersitz, während der Mann sich hinter das Steuer zwängte und den Motor anließ.

Keine drei Stunden war es her, dass die Journalistin Noura Aziz hinter einem Bretterverschlag gehockt und ihre Kamera durch einen Spalt auf den palmenbestandenen Hof einer ausgedienten Karawanserei gerichtet hatte. Tagelang hatte sie Spuren verfolgt. Sie hatte Gespräche belauscht, Menschen beschattet, Schmiergeld verteilt, um Informationen zu bekommen. Und nun hatte sie den Beweis für ihre Vermutungen direkt vor der Linse gehabt, fast zum Greifen nah. Sie hatte die Videofunktion ihrer Kamera aktiviert und alles an Bild und Ton mitgenommen, was mitzunehmen gewesen war.

Die Kamera hatte emotionslos aufgezeichnet, was sich in ihren Albträumen noch häufig wiederholen würde. Nie würde sie diese Bilder aus dem Kopf bekommen. Da waren die drei Europäer, die in ihrer westlichen Kleidung schwitzend im Schatten einer Palme standen. Einer von ihnen trug einen kleinen schwarzen Koffer. Die anderen Männer, in der traditionellen Kleidung der Berber, standen ihnen erwartungsvoll gegenüber. Als einer von ihnen sich umgedreht und ein Handzeichen gegeben hatte, traten drei weitere Einheimische in den Hof. Jeder von ihnen schob einen an den Händen gefesselten Mann vor sich her. Die Gefangenen wurden nebeneinander an eine Mauer gestellt. Nun öffnete einer der Europäer den Koffer und ließ die anderen den Inhalt begutachten. Geldscheine, bündelweise. Dann wurde der Koffer wortlos an einen der Berber übergeben.

Die drei Männer, die vorher die Gefangenen auf den Hof geführt hatten, zogen nun Maschinenpistolen unter ihren Umhängen hervor. Einer der Berber hob den rechten Arm. Als er ihn wieder sinken ließ, zerfetzten die Feuerstöße aus den Maschinenpistolen nicht nur die vormittägliche Stille. Sie brannten auch unauslöschliche Spuren in Nouras Gedächtnis.

An der Stelle der Mauer, wo noch vor wenigen Sekunden drei gefesselte Männer gestanden hatten, stand nun niemand mehr. Aus der weißgetünchten Mauer war eine blutverschmierte, klebrige Kraterlandschaft geworden.

Noura war geduckt davongelaufen, so rasch sie konnte. Doch schon nach wenigen schnellen Schritten hatte jemand laut hinter ihr hergerufen. Um schneller laufen zu können, hatte sie sich wieder aufgerichtet. Sie war bereits gesehen worden, nun kam es nicht mehr darauf an. Hinter der nächsten Häuserecke stand der Renault. Zum Glück schien ihr junger Chauffeur schnell zu begreifen. Der Motor sprang an, und die Beifahrertür stand bereits offen, als Noura atemlos das Auto erreichte und mit letzter Kraft hineinhuschte. Der Wagen hatte noch keine zehn Meter Fahrt hinter sich, als die erste Maschinenpistolengarbe den Sand hinter ihnen aufspritzen ließ. Dann wirbelte das kleine alte Auto eine mächtige Staubwolke auf, die sich wie ein aufgeblähter Airbag zwischen sie und die Gefahr legte. Fürs Erste jedenfalls.

2

Die Sonnenstrahlen, die durch die Fensterscheiben der Detmolder Kreispolizeibehörde drangen, verbreiteten Wärme und eine angenehme Helligkeit. Endlich, dachte Polizeirat Schulte. Er kniff die Augen zusammen und blinzelte. Das Licht war intensiver, als er gedacht hatte. Aber es war wunderbar.

In den letzten Wochen hatte er sich mehrfach beim Nachdenken über einen Spontanurlaub auf Gran Canaria erwischt. Natürlich war das nur eine theoretische Überlegung. In der Realität wäre eine solche Aktion völlig undenkbar. Schließlich war er stets derjenige, der sich am meisten über die Sonnenanbeter mokierte. Wenn manche Kollegen und Freunde sich spätestens im Februar einem depressiven Schub zu entziehen versuchten, indem sie für mindestens eine Woche auf eine sonnenbeschiene Insel flüchteten, titulierte Schulte sie als Warmduscher und Geldverbrenner.

Inzwischen war leider auch sein Freund und Vermieter Anton Fritzmeier unter die Winterflüchtlinge gegangen. Der alte Bauer hatte gemeinsam mit seiner Freundin Elvira schon vor Monaten eine Reise nach Griechenland gebucht. Schulte hatte es nicht fassen können. Als er vor mehr als zehn Jahren auf den Fritzmeierschen Hof gezogen war, herrschten noch klare Prinzipien. In Urlaub fuhren nur die Reichen und die Städter. In diesem Punkt waren Fritzmeier und Schulte einer Meinung gewesen.

Doch es war immer das Gleiche. Jedes Mal, wenn eine Frau ins Spiel kam, bröselten die Männerfreundschaften. Heute zog der alte Bauer eine Reise mit seiner Freundin Elvira den einst für die beiden Männer so maßgeblichen Ritualen und Werten vor, die lange Zeit ihre Handlungsmaxime gewesen waren. Seit Elvira in Fritzmeiers Leben getreten war, musste Schulte sein Bier oft alleine trinken.

Er konnte sich noch genau daran erinnern, wie der alte Bauer das erste Mal nach Griechenland gereist war. Fritzmeier hatte die Reise in einem Preisausschreiben gewonnen, aber nie die Absicht gehabt, sie wirklich anzutreten. Das alte Schlitzohr wollte sie weiterverscherbeln. Erst als sich niemand bereit erklärte, ihm Geld für den Kreta-Aufenthalt zu zahlen, war er aus purem Geiz selbst gefahren.

Was war das für eine Tortur gewesen! Als Fritzmeier am Flughafen Paderborn in den Urlaubsflieger steigen sollte, hatte er den Eindruck vermittelt, als führte man ihn aufs Schafott. Schulte hatte damals dafür gesorgt, dass der alte Bauer an Bord gegangen war, allen Lamenti zum Trotz. Jetzt musste er sich eingestehen, dass es ein Fehler gewesen war. Seitdem hatte Anton Fritzmeier nämlich das Bedürfnis entwickelt, die Welt zu entdecken. Und zu allem Überfluss hatte er sich auch noch eine Partnerin zugelegt, die in dieser Frage die gleichen Interessen hatte.

Insgeheim fand Schulte es bemerkenswert, wie sich sein alter Freund Fritzmeier im hohen Alter noch auf so viel Neues einließ. Doch gleichzeitig empfand er es als Verrat, dass sein Kumpel Lebensmodelle entwarf, in denen er selbst nur eine untergeordnete Rolle spielte. War er etwa neidisch auf den alten Bauern?

Während der Polizist versonnen seinen Gedanken nachhing und in die Sonne blinzelte, schoss auf einmal ein Adrenalinstoß durch seinen tiefenentspannten Körper. Hastig sah er auf die Uhr. Er hatte sich bereit erklärt, seinen Enkel Linus abzuholen, der jetzt schon fast ein Jahr zur Schule ging. Es war der letzte Schultag vor den Ferien, und da endete der Unterricht schon um elf. Schultes Tochter Ina, die seit ein paar Jahren auch auf dem Fritzmeierschen Hof in Heidental wohnte, übte zu dieser Tageszeit ihren Zweitjob an der Hochschule in Lemgo im Fachbereich Medienwissenschaften aus.

Mist, er war schon eine halbe Stunde zu spät. Eilig griff er nach seiner speckigen Lederjacke und stürzte aus dem Büro. Doch gerade als er die Tür aufriss, baute sich sein Chef, Polizeidirektor Erpentrup, im Türrahmen auf. Schulte schob ihn ungeduldig beiseite.

„Keine Zeit!“, gab er ihm zu verstehen. „Ich muss dringend zur Bachschule, da wurde ein einsamer kleiner Junge gesichtet, der nicht weiß, wie er nach Hause kommt!“

„Äh, wieso kleiner Junge?“, hörte Schulte seinen völlig verdutzten Chef noch stammeln, während er selbst schon den Flur hinunterlief.

Unten steuerte Schulte geradewegs auf seinen alten Volvo-Leichenwagen zu. Hoffentlich springt die verdammte Karre an, dachte er. Doch schon eine Minute später schoss das ungewöhnliche Auto mit quietschenden Reifen vom Hof.

Natürlich waren die Sorgen, die er sich gemacht hatte, völlig unangemessen gewesen. Sein Enkel spielte auf dem Schulhof Fußball. Mit einer Gleichmütigkeit, die an einen buddhistischen Mönch bei der Meditation erinnerte, schoss der Junge den Ball immer wieder gegen die Hauswand. Er versuchte mit jedem Schuss genau dieselbe Stelle der Mauer zu treffen. Schulte kannte solche Spiele aus seiner eigenen Kindheit. Er konnte sich noch gut an seine Nachbarn erinnern, die damals behaupteten, er würde sie mit dem Gepöle noch in den Wahnsinn treiben. Hier in der Nachbarschaft der Schule schien es solche Menschen nicht zu geben – oder man hatte sie längst in eine Anstalt eingeliefert.

Linus schien fast ein bisschen traurig zu sein, als er seinen Opa kommen sah. Dennoch unterbrach er seine Beschäftigung, klemmte sich den Ball unter den Arm und schlenderte ihm entgegen.

„Na, wie wäre es, wenn wir zur Mensa der Hochschule gehen und was essen?“, fragte Schulte.

Der Junge nickte und trottete wortlos neben ihm her. Nach einer Schweigeminute begann Schulte sich zu wundern. Sein Enkel plapperte sonst immer munter drauflos und berichtete von dem, was er erlebt hatte. Doch heute war alles anders. Dann endlich brach Linus die Stille des Moments.

„Opa, ich habe mir was überlegt. Das mit der Schule, das ist nicht so mein Ding. Ich glaube, das, was ich weiß, reicht mir schon, und das, was ich noch lernen muss, kann mir meine Lehrerin eh nicht beibringen. Die Schule ist die reinste Zeitverschwendung. Kannst du das bitte meiner Mama erklären? Bei dir traut sie sich bestimmt nicht zu protestieren. Ich meine, du bist ja schließlich ihr Papa!“

Schulte horchte auf. Das waren ja ganz neue Töne, die sein Enkel da zum Besten gab. Bisher hatte er den Eindruck gehabt, dass Linus gern zur Schule ging. Warum wollte er plötzlich nicht mehr in seine Klasse gehen? Was war da los?

Kürzlich hatte er von einer Hauptschule gehört, in der Schüler von einer Jugendbande drangsaliert und erpresst wurden. Die Kinder mussten regelmäßig Schutzgeld zahlen, um unbehelligt zur Schule gehen zu können. Sollte sich diese Jugendkriminalität jetzt auch schon an den Grundschulen einstellen?

Vorsichtig und mit ermittlerischem Geschick versuchte er den Grund für den plötzlichen Sinneswandel seines Enkels herauszufinden. Doch ohne Erfolg – Linus wurde mit jeder Frage verstockter.

Mehr und mehr wurde dem Polizisten klar, dass er so nicht weiterkam. Daher entschied er, auch wenn es ihm schwerfiel, einen günstigeren Zeitpunkt abzuwarten, um erneut zu versuchen, hinter das Geheimnis zu kommen, das seinen Enkel bewegte.

3

Keinen Kilometer weiter hätte es der Renault geschafft. Nun stand er dampfend und röchelnd am Straßenrand. Die beiden Insassen beobachteten resigniert, wie die von den letzten Metern des Autos aufgewirbelte Staubwolke langsam zu Boden sank. Der junge Fahrer fluchte, trat noch einmal wütend gegen die Tür, dann zog er eine Reisetasche und einen Rucksack aus dem Kofferraum und hängte sich alles über die Schultern. Die junge Frau bot ihm zwar an, ihre Reisetasche selbst zu tragen, aber das lehnte er stolz ab und ging los.

Fast dreihundert Kilometer Strecke durch Wüstenlandschaft hatten Noura und ihr Fahrer zurückgelegt. Ohne Klimaanlage, ohne jeden anderen Komfort. Aber sie waren immerhin vorangekommen. Und kurz vor ihrem Ziel, der kleinen Hafenstadt Zuwara am Mittelmeer, machte das Auto schlapp. Für Noura stellte das ein kleines zusätzliches Problem dar. Für Nadir, den Besitzer des Renaults, war es jedoch eine Katastrophe. Das alte Auto war sein einziger Besitz gewesen. Seine Chance, ein wenig Geld zu verdienen.

Noura hatte ein schlechtes Gewissen, als ihr dies klar wurde. Der junge Mann war ein guter, zuverlässiger und freundlicher Fahrer gewesen, hatte sich, ohne davon zu wissen, durch sie in große Gefahr gebracht und dies klaglos akzeptiert. Nun stand er vor dem finanziellen Ruin und wurde von gewissenlosen Mördern verfolgt, die eigentlich nicht ihn, sondern sie suchten. Keine Sekunde würden sie zögern, ihn als lästigen Mitwisser zu töten. Noura wusste nicht recht, was Nadir in der Karawanserei alles mitbekommen hatte. Dass auf sein Auto geschossen worden war, hatte allerdings wenig Fragen offen gelassen. Dennoch war er weiterhin bereit gewesen, für sie zu arbeiten. Als sie aus dem Augenwinkel einen flüchtigen Blick auf ihren schwer schleppenden Begleiter warf, fühlte sie nicht nur Mitleid mit ihm, sondern auch eine sanfte Welle von Sympathie.

Es war schon Abend, als die beiden in der Hafenstadt Zuwara ankamen. Während Nadir keine Ahnung hatte, was sie hier eigentlich suchten, wusste Noura aus ihrer journalistischen Tätigkeit, dass von hier aus die Flüchtlingsboote nach Europa starteten. Europa, das hieß erst einmal Lampedusa. Diese kleine Insel, zwischen Tunesien und Sizilien gelegen, war zum Dreh- und Angelpunkt der großen Flüchtlingswellen zwischen den beiden Kontinenten geworden. Wer es hierher geschafft hatte, der war fein raus, hieß es in den Häfen Nordafrikas. Der hatte schon mal einen Fuß in Europa. Tausende riskierten dafür ihr Leben in uralten, nahezu seeuntüchtigen und meist völlig überfüllten Booten.

Noura wusste dies alles, aber hatte sie eine Wahl? Die Bilder, die sie auf der Speicherkarte gut versteckt bei sich trug, waren von einer Brisanz, die ihr ein Weiterleben in Libyen unmöglich machte. Sie musste schnell und ganz weit weg. Während ihres kilometerlangen Fußmarsches durch die staubige Hitze hatte sie ihren Begleiter so weit informiert, wie es ihr angemessen erschien. Alles musste er nicht wissen, aber sie fühlte sich für sein Schicksal mitverantwortlich. Dazu musste er eine ungefähre Vorstellung von den Gefahren haben, die auf ihn warteten, wenn er in ihrer Nähe blieb.

In der darauffolgenden Nacht war es so weit. Nadir hatte sich in ihrem Auftrag vorsichtig in der Stadt umgehört. Schließlich war er auf eine dieser Schleusergruppen gestoßen. Der Preis war allerdings so hoch, dass Nadir für sich keine Chance sah, mitzufahren. Noura beruhigte ihn, indem sie vorschlug, ihm das Geld zu leihen. Sie hatte sich vor Beginn ihrer Recherche in der Wüste mit einer größeren Menge Bargeld ausgestattet, weil sie nicht abschätzen konnte, wie lange sie unterwegs sein würde. Nadir kämpfte kurz mit seinem Stolz und nahm ihr Angebot resigniert an.

Um ja nicht aufzufallen, hatte Noura wieder das Kopftuch umgebunden, bevor sie sich zusammen mit ihrem vorgeblichen Ehemann Nadir zum Hafen begab. Nun stand sie in einem Lagerschuppen und wartete darauf, auf das Boot gebracht zu werden. Sie trug ein knielanges, einheimisches Oberteil über einer Jeans. Nadir hatte ihr in der Stadt eine dicke Sportjacke besorgt. Die sah zwar nicht gut aus, hielt aber warm. Mit ihnen warteten noch rund dreißig andere, die ebenfalls alles auf eine Karte gesetzt hatten, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Endlich kam ein offenbar schlechtgelaunter älterer Italiener zum Schuppen und winkte sie heraus.

Noura erschrak, als sie das ehemalige Fischerboot sah, mit dem sie sich auf das offene Meer wagen sollte. Es war nahezu komplett offen, nur ein Sonnensegel würde einen fragwürdigen Schutz vor der Witterung bieten. Das Gefährt war etwa zwanzig Meter lang und aus Holz. Noura hoffte, dass der Außenbordmotor am Heck tatsächlich zu gebrauchen war. Unter anderen Umständen wäre sie niemals auf diesen Seelenverkäufer gestiegen. Aber nun kletterte sie als eine der Ersten die beiden Stufen hinauf und setzte ihre Füße auf die schwankenden Planken des Bootes.

An beiden Bordseiten waren lange Sitzbänke angebracht, die sich nun nach und nach mit Passagieren füllten. Der Skipper, es war der Italiener, der sie aus dem Schuppen geholt hatte, war sichtlich nervös. Noura konnte ihm ansehen, dass er so schnell wie möglich aus dem Hafen verschwinden wollte. Jeden Moment könnte die Hafenpolizei auftauchen. Die hatte zwar das übliche Schweigegeld kassiert, aber wer konnte schon wissen, ob nicht von heute auf morgen irgendein Streber meinte, es mit den Vorschriften besonders genau nehmen zu müssen?

Noura hatte sich in der Stadt eine kleine Digitalkamera gekauft, die sie an einer dünnen Kette um ihren Hals gebunden und unter der Bluse gut versteckt hatte. Diese Kamera zog sie nun unauffällig hervor und machte ein Foto von der Szene. Nicht gezielt, mehr aus der Hüfte geschossen. Gerade als sie ablegen wollten, gab es an der Kaimauer Unruhe. Ein europäisch aussehender, kräftig gebauter Mann war aufgetaucht und wollte offenbar mitfahren. Der Skipper versuchte ihm klarzumachen, dass sie bereits jetzt überladen seien und auf gar keinen Fall noch eine weitere Person verkraften könnten. Der Europäer nahm den Skipper beiseite und redete eindringlich auf ihn ein. Noura war sich nicht sicher, aber es sah aus, als würde er dem alten Italiener ein Geldbündel zustecken. Dann kamen die beiden Männer wieder zurück und gingen an Bord. Der Skipper zeigte auf einen der dunkelhäutigen Männer und sagte etwas im Befehlston zu seinen beiden Matrosen. Daraufhin griffen die beiden bulligen Typen einem völlig verdutzten Afrikaner unter die Arme, schleppten ihn zum Bootsrand und stießen ihn auf den Kai hinunter. Der Mann stürzte auf das Pflaster und blieb kurz liegen. Als er sich wieder aufgerappelt hatte, flog ihm sein kleines Bündel Reisegepäck ins Gesicht.

Als wäre nichts weiter geschehen, nahm der Europäer seelenruhig den freien Platz ein. Herausfordernd schaute er einem nach dem anderen ins Gesicht. Noura spürte es fast körperlich, als der Blick des Mannes bei ihr stehen blieb und dort deutlich länger verharrte als bei allen anderen.

4

Feierabend! Es hatte Jahre gegeben, da hatte Schulte den direkten Weg von der Kreispolizeibehörde zur nächsten Kneipe gewählt. Eine schöne Zeit war das gewesen, dachte er. Aber als Opa mit Linus zum Fußball zu gehen, das war auch nicht schlecht. Heute Abend hatten die beiden „Männer“ wieder ihren Termin, das Training der F-Jugend Heidental!

Trainer war Lohmann – einst der gefährlichste Torjäger von Lage und über zwanzig Jahre Schultes Kollege. Linus’ Opa konnte an solchen Abenden immer zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: ein bisschen mit Lohmann quasseln und nach dem Training, in Fritzmeiers Hofladen, der nach achtzehn Uhr auch als Kneipe herhalten musste, eine Flasche Bier mit seinem alten Kollegen trinken und sich gleichzeitig um seinen Enkel kümmern. So ein Dorf wie Heidental hatte auch seine Vorzüge.

Auf dem Weg zum Sportplatz griff Linus wieder das Gesprächsthema von vorhin auf: „Du musst mit Mama reden. Du musst dafür sorgen, dass ich nicht mehr zur Schule zu gehen brauche.“

Schulte fragte sich, was den Jungen wohl auf diesen Gedanken gebracht hatte. „Hm, ich bin ja auch nicht immer gerne zur Schule gegangen. Aber in den Pausen und auf dem Schulweg war immer was los. Ist das bei euch in der Bachschule anders?“

„Nee, das ist bei uns schon genauso.“

Linus begann von den Ereignissen der letzten Tage zu erzählen und lachte sich über die eine oder andere Episode halb schlapp.

„Na, wenn du so viel Spaß in der Schule hast oder zumindest in den Pausen und auf dem Schulweg, dann frage ich mich, warum du das alles aufgeben willst?“

„Ach, weißt du, Opa, ich habe meine Gründe.“

Schulte schwieg lange. Er merkte, dass sein Enkel diese Stille auf einmal nur schwer ertragen konnte. Er wurde immer hibbeliger, bis er vor Aufregung auf einem Bein neben Schulte herumhüpfte.

„Was ist nun, Opa, redest du mit Mama oder nicht?“

„Na ja, ich befürchte, wenn ich deiner Mutter sage, dass du nicht mehr zur Schule willst, dann erklärt sie mich erst für total verrückt, und dann schmeißt sie mich raus. Und mit dir zum Fußball gehen, das wäre dann auch vorbei, weil sie glauben würde, ich hätte dir das alles eingeredet. Entweder sagst du mir, warum du nicht mehr zur Schule willst, damit ich gute Argumente nennen kann, wenn ich mit deiner Mutter rede, oder du musst selbst mit ihr sprechen.“

„Ich hab doch schon versucht, mit ihr zu reden!“, jammerte Linus.

„Und?“, fragte Schulte.

„Sie hat mir einen Vogel gezeigt.“

Mittlerweile rannen dem Jungen Tränen die Wangen herab.

So verzweifelt hatte Schulte seinen Enkel noch nie erlebt. Er litt mit seinem herzzerreißend schluchzenden Enkel, reichte ihm ein Papiertaschentuch und strich ihm über den Kopf. Hoffnungen machte er dem Jungen dennoch nicht.

„Ich glaube, mir würde sie auch einen Vogel zeigen.“

„Na gut, Opa, dann sag ich es dir, aber du darfst nichts weitererzählen.“ Linus putzte sich umständlich die Nase und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen.

Schulte nickte verständnisvoll.

„Also, Julius hat mir erzählt, dass man beim Sportstudio im Fernsehen hunderttausend Euro bekommt, wenn man den Ball sechsmal hintereinander durch so Löcher schießt. Man muss das Loch oben dreimal treffen und das unten auch.“

„Die Sendung kenne ich, und ich kann mir zwar gut vorstellen, dass du es unten schaffen könntest, aber oben, dazu hast du, glaube ich, noch nicht genug Kraft.“

„Ja, aber Julius hat gesagt, für Kinder machen sie das Tor kleiner, und man muss auch nicht so weit schießen. Also keine elf Meter.“

„Okay, aber was willst du mit hunderttausend Euro, und was hat das damit zu tun, dass du nicht mehr zur Schule gehen möchtest?“

„Erstens muss ich trainieren, damit ich es schaffe, die sechs Bälle zu versenken. Zweitens brauche ich das Geld, damit ich demnächst die Miete für die Wohnung bezahlen kann“, meinte Linus ernst.

„Wieso musst du die Miete für die Wohnung bezahlen?“

„Na ja, Mama hat doch einen neuen Freund. Das ist ein Kollege, der auch an der Hochschule arbeitet. Und der will nach Hamburg umziehen.“

„Ja, und? Was hat das mit dir zu tun?“

Linus überlegte. „Na, ich habe mir gedacht, vielleicht will Mama dann ja mit ihm dahin ziehen. Aber das sage ich dir, Opa, ich komme da nicht mit! Ich zieh nicht um! Meine Mannschaft braucht mich doch! Und du und Anton Fritzmeier auch, oder?“

5

Bei Einbruch der Nacht hatte der Wind endlich etwas nachgelassen. Doch noch immer ließ die heftig bewegte See das Boot wie ein Spielzeug auf den Wellen tanzen. Eigentlich hätten die drei Besatzungsmitglieder schon vor zwei Tagen den uralten wurmstichigen Kahn mit dem schwächelnden Außenbordmotor im Inselhafen von Lampedusa festmachen sollen. Aber der mürrische Skipper hatte fast nichts von dem geliefert, wofür er im Voraus so fürstlich bezahlt worden war.

Weder hatte es das versprochene seetüchtige Schiff gegeben noch ausreichende Verpflegung an Bord. Die hygienischen Verhältnisse waren katastrophal. Lediglich ein großer Eimer im vorderen Bereich des Bootes diente der Notdurft und wurde danach einfach an einer Kette ins Meer versenkt und ein Weile durchgespült, bevor er wieder für den nächsten zur Verfügung stand. Mittlerweile war sogar das Trinkwasser ausgegangen. In den nächsten Stunden mussten sie Lampedusa erreichen, sonst würden die ersten vor Erschöpfung zusammenbrechen. Das war der Stand der Dinge, als der Außenbordmotor plötzlich seinen letzten Kolbenschlag machte und verstummte. Hilflos trieben sie nun auf den Wellen.

Den Skipper schien das alles wenig zu belasten. Vermutlich waren diese widrigen Umstände für ihn keine neue Erfahrung, dachte Noura, während sie versuchte, nicht auf das Knurren ihres Magens zu hören. Dabei hätte der sich noch aushalten lassen. Der Durst hingegen war beinahe unerträglich. Mit Einbruch der Dunkelheit war es recht kühl geworden. So kurz vor Ostern sind auch im südlichen Mittelmeer die Nächte alles andere als mollig warm.

Nadir, der neben ihr saß, hatte schon seit einem Tag kein Wort mehr geredet. Ob er es ihr übelnahm, dass sie ihn in diese Bredouille gebracht hatte? Vermutlich, aber das konnte sie jetzt nicht mehr ändern. Mehr Sorgen machte ihr der Mann, der kurz vor der Abfahrt noch zugestiegen war und ihr schräg gegenüber auf der anderen Bordseite saß. Immer wieder spürte sie, wie sein Blick auf ihr lastete. Was wollte dieser Kerl, der so gar nicht in diese heruntergekommene Bootsgesellschaft passte, von ihr? Noura war eine schöne junge Frau und durchaus gewohnt, dass Männer sie ausgiebig betrachteten. Aber diese Blicke waren anders. Nicht lustvoll, eher kühl forschend. Sie wusste sich nicht anders zu helfen, als immer wieder den Blick abzuwenden.

In den letzten Stunden hatte es einen heftigen Sturm mit Regen gegeben, der das armselige Fischerboot arg durchgeschaukelt hatte. Zu Hunger, Durst und räumlicher Enge waren nun auch noch Übelkeit, Nässe und Kälte gekommen. Die beiden bulligen Matrosen hatten sich offensichtlich betrunken und schliefen, nur der alte, bärbeißige Skipper stand aufrecht am Ruder und blickte suchend in die Finsternis. Es waren keine Sterne zu sehen, da noch immer dichte Wolkenmassen am Himmel hingen, und Noura fragte sich, wonach der alte Mann denn wohl so intensiv Ausschau hielt.

Niemand sprach ein Wort, nur das klatschende Geräusch der Wellen, die an die Bootswand schlugen, war zu hören. Fast hätte die Szene friedlich wirken können, aber Noura wusste, dass diese Ruhe der totalen Erschöpfung aller Anwesenden geschuldet war. Es war eine Art von Ruhe, die immer intensiver werden würde, bis sie zwangsläufig im Tod ihre Erfüllung finden musste.

Plötzlich zuckte am Horizont ein Licht auf, vagabundierte suchend hin und her, kam dabei schnell näher. Es dauerte keine Minute, da war das Flüchtlingsboot in so gleißendes Licht getaucht, dass die Insassen schützend die Hände vor die Augen halten mussten, um nicht geblendet zu werden. Plötzlich waren alle hellwach und starr vor Schreck. Bevor sich die ersten aus ihrer Angststarre hätten lösen können, drang eine Lautsprecherstimme brachial zu ihnen herunter. Dann schälte sich die mächtige Silhouette eines Marinekreuzers aus der Dunkelheit heraus und legte sich backbord neben das nun lebensbedrohlich schaukelnde Flüchtlingsboot.

Noura schaute genau hin und erkannte zu ihrem Schrecken den Schriftzug FRONTEX. Dies konnte nur das vorzeitige Ende ihrer Flucht bedeuten, denn wenn Frontex, die internationale Agentur zum Schutz der europäischen Außengrenzen, sie aufgebracht hatte, dann nur, um sie wieder zu ihrem Ausgangspunkt und damit in den sicheren Untergang zurückzuschicken.

Die Lautsprecherstimme war zwar laut, aber kaum zu verstehen. Noura beherrschte ein paar Brocken Italienisch, wie viele gebildete Libyer, und langsam wurde ihr klar, dass die Anweisungen für den Skipper und seine Leute gedacht waren. Erstaunlicherweise schienen die drei von der Situation keineswegs überrascht zu sein. Sie wirkten völlig ruhig und versuchten, das Boot möglichst nahe an den Kreuzer zu bugsieren. Plötzlich sah Noura, wie eine Strickleiter an der Bordwand des Marinekreuzers herabgelassen wurde. Dann stiegen zwei Männer in militärischer Uniform herunter und betraten das Boot, das nach wie vor im kaum erträglichen Licht des Suchscheinwerfers lag. Der Skipper und seine Männer zogen sich widerstandslos zurück und überließen den Uniformierten das Wort.

Einer der beiden sprach durch ein Megafon auf Arabisch zu den Flüchtlingen: „Ihr habt keine Chance! Das Auffanglager auf Lampedusa ist vollkommen überfüllt, und sie lassen keinen von euch mehr rein. Macht euch keine falschen Hoffnungen. Ihr müsst zurück, oder …“

Nun brach der erste Protest los. Mehrere Flüchtlinge schrien dem Mann in Uniform zu, dass es ihren Tod bedeute, wenn sie mit diesem Boot wieder zurückmüssten. Dass sie lieber beim Versuch, Lampedusa zu erreichen, sterben würden, als einfach umzukehren. Während der Tumult immer heftiger wurde, gelang es Noura, unbemerkt zwei Fotos zu schießen. Wer konnte schon wissen, wofür diese Fotos einmal gut sein würden?

Der Soldat versuchte, wieder Ruhe zu schaffen. Als die Unruhe abgeebbt war, fuhr er fort: „Wir können euch helfen! Wer will, kann zu uns umsteigen. Wir bringen euch zu einem Frachtschiff, dessen Kapitän ein großes Herz für Flüchtlinge hat. Mit seinem Schiff könnt ihr weiterfahren, bis hoch in den Norden Europas. Dorthin, wo Milch und Honig fließen.“

Die Flüchtlinge blickten sich überrascht und verwirrt an. Wie war das zu verstehen? Dann prasselten die Fragen auf den Frontex-Mann ein. Der winkte ab und nahm erneut sein Megafon zur Hand: „Entweder ihr nutzt eure Chance, oder ihr bleibt in diesem jämmerlichen Boot und geht darin zugrunde. Entscheidet euch, aber entscheidet euch schnell! Wer sein Glück machen will, kann gleich bei mir zahlen. Wer nicht will, lässt es bleiben. Klar?“

Es dauerte eine Weile, bis die Ersten verstanden hatten. Noura fasste sich ein Herz und fragte erbost: „Es läuft also auf Erpressung hinaus! Entweder wir zahlen zum zweiten Mal für die Fluchthilfe, oder wir sterben hier auf dem Meer, oder?“

Der Offizier lachte. „Ich hätte es anders ausgedrückt, aber es kommt aufs Gleiche hinaus. Wie gesagt, jeder kann frei entscheiden. Keiner wird zu irgendwas gezwungen.“

„Aber Sie sind eine offizielle Organisation der Europäischen Union!“, schrie Noura ihn an. „So was können Sie doch nicht machen!“

Der Mann schaute sie verwundert an. Eine Frau, die sich so offen und so kritisch äußerte, hatte er nicht erwartet. Seine gute Laune war wie weggewischt.

„Und ob ich das kann, Mädchen“, zischte er. „Du kannst dich ja anschließend bei der Europäischen Union beschweren. Falls du jemanden dort findest, der Zeit für dich hat und dir diese verrückte Geschichte glaubt, was ich allerdings bezweifele. Also, was ist jetzt? Mitkommen oder ertrinken?“

Es dauerte nicht lange, da ging der europäisch wirkende Mitflüchtling zum Offizier und drückte ihm einen großen Geldschein in die Hand. Nun war der Bann gebrochen, und einer nach dem anderen tat es ihm, wenn auch zähneknirschend, nach. Auch Noura sah keine andere Wahl und zahlte für sich und Nadir. Jetzt war auch sie völlig mittellos. Ohnmächtig musste sie mit ansehen, wie acht ihrer Mitpassagiere im Fischerboot bleiben mussten. Sie waren einfach nicht in der Lage gewesen, ein weiteres Mal zu zahlen. Ihre Chancen, mit dem antriebslosen Boot bis zu einem Hafen zu kommen, lag beinahe bei null. Immerhin bekamen sie einige Flaschen Wasser heruntergereicht. Dann drehte der Frontex-Kreuzer den Motor hoch. Innerhalb von Sekunden war das kleine Fischerboot in der Dunkelheit verschwunden.

6

Diese verdammten Biester! Ächzend brachte sich Fritzmeier in eine aufrechte Haltung. Nachdem die Rückenschmerzen etwas nachgelassen hatten, dehnte er sich und hob den alten Eimer hoch, in dem sich an die hundert Nacktschnecken wanden und sich bemühten, das Behältnis möglichst bald wieder zu verlassen. Doch das würde Fritzmeier zu verhindern wissen.

Es war schon nach sechs. Der alte Bauer hatte Ina Schulte, die ihn im Hofladen unterstützte, versprochen, sie um achtzehn Uhr abzulösen, weil sie noch einen Termin hatte. Eilig machte er sich auf den Weg. Doch Ina war schon gegangen. Stattdessen hielten Schulte und sein Enkel die Stellung.

Fritzmeiers Mieter hatte schon die Holzplatte auf die Kühltheke gelegt. Ab jetzt diente die Kühleinrichtung als Tresen, an dem die Heidentaler ihr Bier trinken konnten. Schulte hatte sich schon eine Flasche Detmolder aufgemacht, und Linus hielt eine Flasche Bionade in der Hand.

„How do you do?“, eröffnete Schulte das Gespräch.

Seitdem er wusste, dass Anton Fritzmeier eifrig Vokabeln lernte, weil er beschlossen hatte, mit seiner Freundin Elvira im Herbst die Vereinigten Staaten zu besuchen, begrüßte Schulte ihn grundsätzlich nur noch in englischer Sprache.

„Wenne stänkern wills, kannse chleich nach Hause chehen. Quertreiber kann ich hier nich chebrauchen. Außerdem solltese ein Vorbild für den Jungen sein! Die Blagen können nich früh chenuch Respekt vor den alten Leuten lernen.“

Schulte schob Fritzmeier eine Flasche Bier über den Tisch, grinste, sah sich im Laden um und erwiderte: „Ich sehe hier keine alten Leute.“

Wortlos nahm Fritzmeier die Flasche entgegen, prostete dem Polizisten zu und genehmigte sich einen großen Schluck.

„Is denn noch keina von de Heidentaler Strategen da?“, fragte der alte Bauer. „Hier kann doch nich jeder kommen und chehen, wann er will. Wenn dat so weitergeht, mit die Unpünktlichkeit, können die Knallköppe ihr Feierabendbier woanders trinken! Dann mache ich den Laden um sechse zu und mache Feierabend. Ich bin doch nich der Hansel von die Säufern außen Dorfe.“ Fritzmeier hatte Rückenschmerzen und darum schlechte Laune.

Gerade als er zur nächsten Schimpftirade ansetzen wollte, wurde die Eingangstür des Hofladens aufgerissen, und ohne einen Gruß voranzuschicken, rief Max Kaltenbecher: „Ein Bier, Anton! Aber zackig!“

„Ich cheb dir chleich wat mit zackich!“, brummte Fritzmeier. „Bei mir heißt dat ers mal chuten Abend, und dann kann man über Bier reden.“

„Hier ist aber einem ne Laus über die Leber gelaufen“, kommentierte Kaltenbecher die allgemeine Stimmung und steuerte auf die Kühltheke zu, auf die der Alte widerwillig eine Flasche Bier stellte. In nächsten Augenblick sah der Gast den Eimer mit den Nacktschnecken.

„Boa, sind die widerlich! Sag mal, Anton, muss das denn sein, dass du diese Viecher hier direkt auf unserm Tresen stehen hast? Kannst du die nicht draußen lassen?“

„Nee, kann ich nich!“, entgegnete Fritzmeier. „In dem Eimer befinden sich Schnecken im Wert von über fünftausend Euro.“

„Wem willst du das denn erzählen?“, fragte Kaltenbecher misstrauisch.

„Keinem“, gab der alte Bauer lakonisch Auskunft, nahm den Eimer von der Theke und stellte ihn in die hinterste Ecke des Raumes.

Als Fritzmeier keine weitere Erklärung nachschob, warum die Schnecken im Eimer einen solch hohen Wert haben sollten, herrschte betretenes Schweigen. Dann bemerkte Schulte, wie Kaltenbecher immer aufgeregter wurde.

„Na, komm, Anton, jetzt sach schon, was ist an den Schnecken dran, dass sie so viel Geld wert sind?“

„Chlaubst du, dat binde ich dir aufe Nase? Nachher wirst du noch mein Konkurrent, und ich kriege nur noch die Hälfte des Cheldes für die Biester. Nee, Max, dat verchess mal, ich sage dir nix.“

Kaltenbechers Neugierde begann in Wut umzuschlagen.

„Nun komm schon, Anton“, versuchte er den alten Bauern zu überreden. „Wie soll ich denn dein Konkurrent werden? In meiner Mietwohnung gibt es keine Schnecken.“

„Hasse auch wieder Recht, Max. Aber dat, wat ich dir jetzt erzähle, dat muss unter uns bleiben, sonst ist mit den Schnecken bald kein chutes Cheschäft mehr zu machen. Dat musste mich versprechen, Max!“

Kaltenbecher nahm eine feierliche Haltung an. „Anton, du kennst mich doch! Ich schweige wie ein Grab.“

„Na, wenn dat so ist“, meinte der alte Bauer schmunzelnd und zwinkerte dabei unauffällig Schulte zu. „Also, du muss wissen, ich verkaufe die Schnecken als Potenzmittel nach China. Ich sage dir, die da unten in Asien, die sind chanz verrückt auf diese Schnecken. Damals in Chriechenland habe ich so einen Chinesen kennenchelernt. Meinen Freund Mao Tse Tung! Der hat mir davon erzählt, dat Nacktschnecken, wenn sie auf eine chanz bestimmte Art und Weise ernährt werden, die besten Potenzmittel der Welt wären. Die Tinktur, die man aus diesen Viechern herstellt, muss tausendmal besser sein wie dat Pulver aus dem großen Horn vom Nashorn. Aber et kommt auf die richtige Ernährung an. Ich hab da in den letzten Jahren bei uns im Charten dat eine oder andere Chewächs anchepflanzt, dat es da früher nich chab, und auch ein paar Blumen und Kräuter rauscheschmissen, die dem Potenzmittel schaden – und jetzt stimmt die Vegetation. Die Nacktschnecken aus diesem Garten sind die besten Potenzschnecken, die et in China je checheben hat. Ich züchte die Tierchen, und mein Freund Mao Tse Tung verkauft se in China. So haben wir beide wat davon.“

Als Linus interessiert nachfragte: „Opa, was sind Potenzmittel?“, bekam Schulte plötzlich einen hochroten Kopf und rannte aus dem Hofladen. Im nächsten Augenblick betrat Jobst Henkemeier den Laden. Bevor er etwas sagen konnte, legte Fritzmeier den Finger auf die Lippen und bedeutete Max Kaltenbecher zu schweigen. Der zwinkerte dem alten Bauern verschwörerisch zu und nickte wissend.

7

„Ich sage dir, Alu, da stimmt was nicht!“ Der junge Mann schüttelte seinen dunklen Lockenkopf und legte die Stirn in Falten.

Sein zwei Jahre älterer Bruder wiegelte ab. „Du machst dich verrückt. Wahrscheinlich taucht er morgen wieder auf, und alles läuft wie immer. Du bist ein Schwarzseher, Dschochar.“

Dschochar Bassajew schaute überrascht hoch. „Das musst du gerade sagen. Ich nehme unsere Geschäfte eben ernst und finde, dass es reichlich Gründe gibt, sich Sorgen zu machen. Aber das ist ja auch egal. Klar ist, dass wir ziemlich in der Scheiße stecken, wenn er nicht bald liefert. Die Flüchtlinge kommen spätestens in drei Tagen hier an, und wir haben immer noch keine Papiere für sie. Was willst du mit ihnen machen, falls unser Mann tatsächlich nicht mehr zur Verfügung steht?“

Alu Bassajew schaute seinen Bruder prüfend an. Dann zuckte er ratlos die Achseln. „Keine Ahnung. Erst mal in die Lagerhalle mit ihnen, und dann sehen wir weiter. Du kannst dich ja um den Deutschenmacher kümmern. Ich habe ja so meine Theorie, dass …“

„Ja?“ Dschochar war aufgesprungen. Er war sichtlich nervös – ganz im Gegensatz zu seinem bulligen Bruder, der ruhig weitersprach: „Na ja, du weißt doch selbst, dass er mehr Geld gefordert hat. Verdammt viel Geld. Wir haben ihm klargemacht, dass er sich seine Forderung in den Arsch schieben kann. Ich denke, er sucht sich nun einen anderen Blöden, der ihm mehr zahlt.“

Dschochar drehte eine Runde um den Küchentisch. „Wie meinst du das? Wer außer uns sollte ihm denn für die Papiere was zahlen?“

Alu lachte. „Hör mal, wir sind doch nicht die einzigen, die Geld damit machen, Flüchtlinge in dieses wunderbare Land zu schleusen. Wer weiß, vielleicht ist irgendeiner Konkurrenzgruppe in Hamburg oder Berlin der Boden unter den Füßen zu heiß geworden, und sie suchen sich neue logistische Wege. Meinst du nicht, dass sich unser Erfolg in der Szene herumgesprochen haben könnte?“

Dschochar nickte langsam. „Du glaubst also, dass Konkurrenten den Deutschenmacher abgeworben haben? Weißt du vielleicht mehr, als du mir sagst?“

Wieder zuckte Alu seine breiten Schultern. „Ich weiß darüber nicht mehr als du. Aber ich kann es mir vorstellen.“

Minutenlang hingen die Brüder ihren eigenen Gedanken nach. Während der Ältere ruhig am Tisch saß und immer wieder an seiner Teetasse nippte, lief der Jüngere wie ein Getriebener um den Tisch herum. Irgendwann sagte Alu ärgerlich: „Nun setz dich endlich hin! Du machst mich auch noch verrückt.“

„Dann tu endlich was!“, schnauzte Dschochar ihn plötzlich an. Er beugte sich mit dem Oberkörper über den Tisch und schaute seinem Bruder in die Augen. „Schön reden kannst du, das weiß ich wohl. Du kannst alles erklären. Aber du solltest auch was tun. Wir dürfen die Sache nicht einfach treiben lassen. Wenn du nichts unternimmst, muss ich mit unserem Vater reden.“

Nun stand auch Alu auf und stellte sich direkt vor Dschochar. „Hör mal zu, Kleiner!“, donnerte er seinen deutlich schmaleren Bruder an. „Du und der Alte, ihr beiden habt schon immer alles besser gewusst. Immer wenn eine Aktion gut gelaufen ist, habt ihr euch gegenseitig auf die Schulter geklopft. Und wenn etwas schiefgelaufen ist, dann war der dicke, faule Alu schuld. Ihr beide kotzt mich an mit eurer Perfektion.“

Er wandte sich um, ging zwei Schritte, holte tief Luft und sprach mit erzwungen ruhiger Stimme weiter: „Ruf den Alten ruhig an, wenn du Sehnsucht nach Papa hast. Vielleicht hast du ja Glück, und der große, bedeutende Mann lässt seine großen und bedeutenden Geschäfte in Berlin ruhen und kommt ins kleine und unbedeutende Bielefeld. Ich hatte nie vor, die Sache einfach treiben zu lassen, wie du es ausgedrückt hast. Ich fahre morgen nach Bremen und sorge dafür, dass die Ware aufs richtige Schiff kommt. Kümmere du dich um den Deutschenmacher. Vielleicht findest du ihn ja. Viel Glück!“