Reitemeier / Tewes · Schnapsidee
JÜRGEN REITEMEIER
WOLFRAM TEWES
Bauernopfer
PENDRAGON
Der Ostwestfale sieht manchmal aus wie eine Kartoffel, und immer spricht er so. Er sagt nicht wirklich oder Wurst, sondern wiaklich und Wuast, der Nachmittag ist ihm ein Nammiitach und das Abendbrot ein Aaahmtbrot. Ich weiß das, ich komme da wech (…)
Von Harry Rowohlt stammt der Hinweis, dass Ostwestfalen ein Unsinnswort sei – Ost und West subtrahierten sich wechselseitig, und übrig bleibe: Falen. Falen ist aber kein anständiger Name für einen Landstrich. Außerdem spricht sich Ostwestfalen umständlicher und langsamer als Falen und passt deshalb sehr gut zu seinen Bewohnern, die schon zum Frühstück Schlachteplatte essen können und das dann leckò finden. (…)
Wenn Kinder in Ostwestfalen spielen, heißt das kalbern, da ist das Herumalbern schon mit drin, genau wie das Kalb. Machen sie Quatsch, dölmern sie und sind analog Dölmer; toben und lärmen sie, dann heißt es bald: Hört auf zu ramentern! Tünsel ist ein ostwestfälisches Wort, dessen Bedeutung sich nicht auf Anhieb erschließt. Ein Tünsel ist nicht unbedingt ein Dummkopf – eher einer, dem ein Patzer unterlief. (…)
„Wir sind Tünsel.“ (…)
Wir sind Tünsel: Schöner kann die Einsicht in die allumgreifende Fehlbarkeit des Menschen nicht formuliert werden. Mit dem Wort Heimat verbinde ich keine Landschaft – wozu auch? Eine Sprache, in der Dölmer, Hachos und Tünsel durcheinanderramentern, wullacken und kalbern, ist Heimat genug.
Von: Wiglaf Droste
1
Rauch! Überall Rauch.
Der Qualm der zahlreichen Osterfeuer ließ seine Augen tränen, reizte die Atemwege und bereitete ihm schlechte Laune. Ärgerlich rückte Hubert Diekjobst seinen Hut zurecht, legte sich sorgfältig die Decke über die Knie und setzte seinen Elektro-Rollstuhl in Gang. Er schloss die Haustür hinter sich zu und rollte mit leichtem Surren durch den kleinen Vorgarten auf die dunkle, menschenleere Straße. Dicke, beißende Rauchschwaden hatten sich wie eine Käseglocke über das ganze Dorf gelegt. Die Sicht betrug, wie bei starkem Nebel, an einigen Stellen nicht mehr als ein paar Meter. Hubert Diekjobst rieb sich die brennenden Augen. Wäre er doch nur zu Hause geblieben! Musste er in seinem Alter unbedingt an der Eröffnungsfeier teilnehmen? Aber Anton Fritzmeier hatte nun mal das ganze Dorf eingeladen. Und Fritzmeier war nicht nur sein einziger Freund in Heidental, er war auch noch älter als Diekjobst. Da hatte er schlecht absagen können.
Hubert Diekjobst war fast achtzig Jahre alt und lebte allein in seinem kleinen Häuschen am Dorfrand. Seit etwa zehn Jahren war er auf seinen Rollstuhl angewiesen und hatte sich recht gut daran gewöhnt. Seine sozialen Kontakte beschränkten sich auf den viertelstündlichen Besuch der Krankenschwester vom ambulanten Pflegedienst, die mit ihm gelegentlich zu einem Supermarkt in Detmold fuhr.
Diekjobsts Welt war sehr klein geworden, aber er hatte versucht, sich so gut wie möglich darin einzurichten. Er konnte auf ein abwechslungsreiches, erfülltes Leben zurückblicken und hatte nicht das Gefühl, irgendetwas verpasst zu haben. Er hatte sein Leben, obwohl er hier geboren worden war, nicht in Heidental verbracht. Diekjobst hatte viel von der Welt gesehen und erst als Rentner zurück zu seinen Wurzeln gefunden. Wenn es nun, im hohen Alter, etwas ruhiger zugehen musste, dann war ihm das gar nicht mal unrecht.
Die Straße wurde nun etwas abschüssig. Diekjobst wusste, dass der kleine Feldweg, der links von der Straße abzweigte, eine enorme Abkürzung zu Fritzmeiers Hof bedeutete. Aber diesen Weg wollte er nicht nehmen. Er war unbefestigt, unbeleuchtet und voller Schlaglöcher. Wenn er dort stecken bliebe, würde ihn bis Mitternacht niemand finden. Er könnte noch so laut um Hilfe rufen – das ganze Dorf war heute Abend bei Fritzmeier oder feierte bei einem der vielen Osterfeuer in den Nachbardörfern. Also würde er weiter auf der asphaltierten Straße bis in die Dorfmitte fahren und dann links abbiegen. Auch wenn das länger dauern sollte.
Urplötzlich stand ein Mann vor ihm. Diekjobst bremste. Er konnte das Gesicht des Mannes in der Dunkelheit und dem Rauch nicht richtig erkennen.
„’n Abend, Hubert!“, hörte Diekjobst den Mann sagen. „Auch auf dem Weg zu Fritzmeier?“
Die Stimme kannte er und antwortete etwas erleichtert: „Ach, du bist es. Ja, wenn Anton schon mal einen ausgibt, dann will man doch dabei sein!“
„Stimmt!“, lachte der Mann, „kommt ja selten genug vor.“
Diekjobst wollte seinen Rollstuhl wieder starten, als der andere Mann ihm noch zurief: „Warum nimmst du nicht die Abkürzung? Geht doch viel schneller!“
Aber noch bevor Diekjobst sich erklären konnte, hatte der Mann die Lage offenbar schon verstanden. „Die paar Schlaglöcher sind doch kein Problem. Ich komme ja mit und passe auf. Je schneller wir zu unserem Bier kommen, desto besser!“
Das leuchtete Diekjobst natürlich ein, und er lenkte sein Elektrogefährt in den kleinen, unbefestigten Feldweg hinein. Der andere Mann folgte ihm. Nur Sekunden später hatten Dunkelheit und Rauch die beiden Männer verschluckt.
2
Zur selben Zeit standen oder saßen etwa vierzig Männer und Frauen aller Altersschichten in einem kleinen Fachwerkgebäude beisammen, einem ehemaligen Stall auf dem Fritzmeier’schen Hof in Heidental. Einige hielten ein Glas Sekt, die meisten aber eine Flasche Detmolder Bier in der Hand und prosteten dem Hausherrn zu, der gerade eine für seine Verhältnisse lange Rede beendet hatte. Inhaltlich war sie nicht unbedingt epochal gewesen, aber er hatte seine Gäste begrüßt, ihnen fürs Kommen gedankt und sie eingeladen, so viel zu trinken wie möglich. Das waren Worte, die man in Heidental gern hörte.
Fritzmeier hatte eine Anregung der beiden Töchter seines Mieters, Jupp Schulte, umgesetzt und auf seinem Bauernhof einen Hofladen eröffnet.
Einige Nachbarn hatten versucht, ihm das auszureden, ihm klarzumachen, auf welche Arbeitsbelastung er sich dabei einließ. Und das mit seinen zweiundachtzig Jahren! Andere hatten sich damit begnügt, verständnislos den Kopf zu schütteln über so viel offenkundigen Altersschwachsinn. Aber der fidele Greis hatte sich durch nichts irritieren lassen und war Schritt für Schritt seinen Weg gegangen, immer begleitet und unterstützt vor allem von Lena Wiesenthal, einer der beiden Schulte-Töchter. Er hatte zuerst den alten Stall, der sich nun als schnuckeliges, eingeschossiges Fachwerkhäuschen präsentierte, etwas umbauen lassen. Schwarz natürlich, das Ganze sollte schließlich nicht viel kosten. Dann hatte er sich auf die Suche nach guten Lieferanten gemacht. Viele Nachmittage hatte Lena Wiesenthal geopfert und war mit Fritzmeier durchs Lipperland gefahren. Sie hatten Gemüsebauern besucht, Metzgermeister bequatscht, sowie Jäger und Schnapsproduzenten überredet, ihre Waren zum Freundschaftspreis an Fritzmeier zu liefern. Der alte Mann war in den letzten Wochen zur Höchstform aufgelaufen. Lenas Schwester Ina, studierte Grafikdesignerin, hatte ein Logo für alle Produkte des Hofladens entworfen.
Nun war es soweit. Fritzmeiers Hofladen kündigte ein geschnitztes Holzbrett über der Eingangstür an. Zur Eröffnung hatte Anton Fritzmeier sich nicht lumpen lassen und gleich das ganze Dorf eingeladen. Das hieß zwar in Heidental nicht viel, aber als Geste war es beeindruckend. Und die Heidentaler kamen gern. Zum einen war Fritzmeier ein zwar schrulliger, aber beliebter Mitbürger. Zum anderen gab es schon einige Jahre weder Laden noch Kneipe im Dorf, und nun bot ihnen Fritzmeiers Hofladen immerhin einen kleinen Ausgleich.
Da standen sie nun, tranken, schwatzten und betrachteten neugierig die Auslagen: die kleine, aber bösartige Hermine Kaltenbecher mit ihrem brummigen Ehemann Max, die bis vor drei Jahren noch die Gaststätte Zum wilden Jäger in Heidental betrieben hatten. Neben ihnen Elvira Tölle, ein Berg von einem Weib, deren Ehemann sich schon vor zwanzig Jahren durch sein frühzeitiges Ableben dem latenten Ehekrieg entzogen hatte. Tölle redete energisch auf ihre ebenso groß gewachsene, aber klapperdürre Freundin Klärchen Henkemeier ein.
Fritzmeier hatte auf seine direkte Art mal über die Figuren der beiden Freundinnen gesagt: „Als Frau musse dich spätestens mit vierzig entscheiden. Entweder wirste Ziege oder Kuh. Wat anderes chibt’s nich!“
Hinter dieser Gruppe drängte sich gerade der Altenpfleger Rainer Salzmann, ein großer Mann in den Vierzigern, zur Theke durch und orderte fröhlich drei Flaschen Bier bei Ina, Schultes zweiter Tochter, die von Fritzmeier engagiert worden war, ihm beim Verkauf zu helfen. Salzmann reichte zwei Flaschen weiter an den Heidentaler Ortsvorsteher Hans Bangemann, einem wichtig dreinschauenden, älteren Glatzkopf, und dessen Frau Mia. Der Große prostete den beiden zu.
„Gut, dass ich Ostern frei habe. Ich konnte es aber auch nicht mehr ertragen. Mein neuer Chef ist die wandelnde Unfähigkeit, aber beratungsresistent. Wenn das so weitergeht, suche ich mir einen neuen Job. Hans, du als Politiker weißt ja auch, wie weh das tut, wenn man immer wieder mit Leuten zu tun hat, die von Tuten und Blasen keine Ahnung haben, dir aber immer wieder sagen wollen, wo es langgeht.“
Max Kaltenbecher, der das Gespräch mit angehört hatte, schaltete sich ein:
„Da hat du recht, Rainer, die Erfolgreichen sind nicht immer die Besten.“
Hinten im Verkaufsraum stand ein kleiner, dicker, älterer Mann namens Hermann Rodehutskors an der Wand. Er hob sein Glas, als Fritzmeier in seine Nähe kam.
„Großartig, Herr Fritzmeier! Einen tollen Laden haben Sie da. Ich bin ihr erster Stammkunde, da können Sie sich drauf verlassen!“ Bei Rodehutskors konnte sich Fritzmeier sicher sein, dass er auch meinte, was er sagte. Das war keiner, der schöne Worte machte und dann anders handelte.
An einem kleinen Tisch in einer Ecke saßen Hauptkommissar Jupp Schulte und seine Tochter Lena. Lena schaukelte Linus, den zweieinhalbjährigen Sohn ihrer Schwester Ina, auf dem Schoß. Während die reichlich chaotische Ina ebenfalls auf dem Fritzmeier’schen Hof wohnte, lebte Lena, eine Lehrerin, in einer hübschen Innenstadtwohnung in Detmold. Schulte hatte die beiden ungleichen Töchter in einer Nacht gezeugt, mit zwei verschiedenen Frauen. Jahrelang hatte er kaum Kontakt zu seinen Kindern gehabt. Dann war erst Lena für ein Jahr bei ihm eingezogen, kurz darauf hatte Ina mit ihrem kleinen Sohn bei ihrem Vater Unterschlupf gefunden. Mittlerweile wohnte sie im Nachbargebäude, aber immer noch auf dem Fritzmeier’schen Hof.
Die Stimmung stieg mit dem Alkoholpegel, es wurde immer lauter und ausgelassener. Auch Anton Fritzmeier lärmte mit, aber irgendwie fühlte er sich müde. Als er sich um zehn Uhr mal kurz an Schultes Tisch setzte, sprach der Polizist ihn darauf an.
Fritzmeier winkte empört ab. „Ach was! Ich und müde. Natürlich bin ich ’n bissken kaputt nach der chanzen Arbeit. Bin ja nun nich mehr der Jüngste. Aber ich sach dir, Jupp, wenn’s drauf ankommt, dann trinke ich die alle noch unteren Tisch, kannsse chlauben. Prost!“
Schulte legte ihm jovial die Hand auf die Schulter. „Kein Frage, Anton. Da habe ich keinen Zweifel. Aber lass es mal in den nächsten Tagen ein bisschen ruhiger angehen. Aufräumen brauchst du hier morgen nicht. Wir packen schon mit an, keine Sorge!“
Aber Fritzmeier schien mit den Gedanken ganz woanders zu sein. „Ich frage mich, warum Hubert nich chekommen ist. Du weißt doch, der mit dem Rollstuhl. Ich hatte ihn auch eincheladen, und er hatte chanz fest zugesagt. Iss ’n alten Freund von mir. Ham als Kinder schon zusammen Ziegen chehütet. Warum der wohl nich chekommen iss?“
Schulte hob ratlos die Schultern. „Na ja, vielleicht ist er gerade mal nicht in Form. Kann ja nicht jeder so drahtig sein wie du!“
Fritzmeier blieb skeptisch. „Iss charnich seine Art, sich nich zu melden. Wenn da mal nix passiert iss.“
Aber da wurde Anton Fritzmeier auch schon wieder von einer Gruppe jüngere Dorfbewohner aufgefordert, mit ihnen zusammen ein „tüchtigen Krug Bier“ zu trinken. Fritzmeier ließ sie nicht lange warten.
3
Der alte Oberstudienrat a. D. Pahmeier konnte wieder einmal nicht schlafen, und so hatte er sich seinen alten Hund Goethe, einen Drahthaar, geschnappt, sich in seinen ebenso alten Golf gesetzt und war Richtung Heidental gefahren. Am Ortseingang, in der Nähe des Fritzmeier’schen Hofes, befand sich sein Stammparkplatz. Doch heute Morgen war er besetzt, jemand hatte sein Auto stehen lassen und war vermutlich anderweitig nach Hause gelangt.
Anscheinend war irgendwo eine Feier gewesen. Denn auch an anderen Stellen, an denen Parken möglich war, standen verwaiste Autos.
Nach wie vor roch die Luft nach den Osterfeuern der vergangenen Nacht. Pahmeier ärgerte das. Griesgrämig sah er seinen alten Hund an und sagte: „Ja, Goethe, als dein Namensgeber noch lebte, hat es so was bestimmt noch nicht gegeben.“
Der Oberstudienrat a. D. schüttelte den Kopf und lenkte sein Auto auf einen Weg, der Bestandteil seines alltäglichen Spaziergangs war. Der Golf stand jetzt zwar so ungünstig, dass kein anderes Fahrzeug den Weg passieren konnte, doch das würde heute, am frühen Ostersonntag, sowieso niemanden stören. Pahmeier wuchtete sich mit Mühe aus seinem Wagen und dachte wie jedes Mal, wenn er sich dieser Prozedur aussetzte, dass er sich ein neues Auto kaufen sollte, eines, bei dem man besser aus- und einsteigen konnte.
In solchen Momenten siegte bei dem alten Lehrer jedoch immer die lippische Mentalität. Die Sparsamkeit! Es blieb seit Jahren bei den guten Vorsätzen, und Pahmeier behielt seinen alten VW.
Er ging um sein Fahrzeug herum, öffnet die Beifahrertür und ließ seinen Hund, der es sich im Fußraum des Wagens bequem gemacht hatte, ins Freie. Ob es dem beim Aussteigen wohl ebenso erging wie ihm selbst, fragte sich der alte Mann, als er sah, wie sein vierbeiniger Gefährte sich reckte und streckte.
Herr und Hund machten sich auf den Weg und gingen gemütlich den Feldweg hinunter. Plötzlich stromerte der Drahthaar einen etwa drei Meter tiefen Abhang hinunter. Sein Herr sah ihm die Qualen an, die ihm dieser beschwerliche Abstieg bereitete.
Wieso plagte sich das unvernünftige Tier so? Der Drahthaar wusste doch aus den vielen leidvollen Erfahrungen der letzten Jahre, dass seine Zeit als Jagdhund lange vorbei war und er den Hasen, der sich vielleicht dort unten in den Graben gedrückt hatte, sowieso nicht mehr bekommen würde. Pahmeier hatte bis vorhin gedacht, dass sein Hund, ebenso wie er, das Alter akzeptiert hatte und nur noch das tat, was er auch schaffte. Doch da hatte er sich wohl geirrt.
Unten angekommen begann der Hund lautstark zu winseln und zu bellen. „Komm, Goethe, lass gut sein. Egal was sich da unten für ein Tier versteckt, du kriegst es eh nicht.“
Doch der Hund kümmerte sich nicht um seinen Herrn.
„Goethe, verdammt noch mal! Hierher!“
Der Tier begann lauter zu bellen, machte jedoch keine Anstalten, den Abhang wieder hinaufzusteigen. Das Verhalten seines Hundes veranlasste Pahmeier, sich weiter vorzubeugen. Der Drahthaar stand vor einem Kleiderbündel, das fast gänzlich von einer rot karierten Decke bedeckt war. Vielleicht hatte sich dort ein Igel eingeschoben, um zu überwintern? Doch dann sah er etwas, das ihn stutzig machte. Lag da nicht ein Rollstuhl in den Büschen? Unter Anstrengungen wechselte Pahmeier seinen Standort, um besser sehen zu können. Genau, halb von Schwarzdornzweigen verdeckt, sah der Greis dort im Graben einen umgekippten Elektrorollstuhl.
Der alte Pahmeier traute sich in seinem körperlichen Zustand nicht, in den Graben hinunterzuklettern. Er fluchte. „Alt werden ist ja ganz schön, aber alt sein ist eine Strafe!“
Ein Handy besaß der Oberstudienrat natürlich auch nicht. Was sollte er tun?
4
Jupp Schulte war für einige Sekunden fest überzeugt, sich in einem Alptraum zu bewegen, aus dem er gleich erwachen würde. Er erwachte tatsächlich, aber es war kein Traum gewesen, der ihn durchgeschüttelt hatte, sondern Linus, der heftig an ihm zerrte. Langsam, ganz langsam kam Schulte zurück in die Wirklichkeit. Dann dämmerte ihm, dass er am Vorabend seinem Enkel leichtsinnigerweise versprochen hatte, am Ostermorgen mit ihm Ostereier zu suchen.
Der Kleine hatte das anscheinend nicht vergessen und sich gleich nach dem Aufwachen völlig selbstständig von der Wohnung seiner Mutter zu Schultes Häuschen auf den Weg gemacht. Als Schulte klar wurde, dass der Junge auf dem Weg zu ihm die Heidentaler Straße überquert haben musste, bekam er einen Schreck. Auf diese Gefahr musste Schulte seine Tochter unbedingt hinweisen.
Opa Jupp stemmte sich aus dem Bett und fluchte. Er hatte bei dem Versprechen, das er seinem Enkel am Vorabend gegeben hatte, nicht einkalkuliert, dass er am selben Abend vielleicht mehr trinken könnte, als für ihn gut war. Aber Fritzmeiers Eröffnungsparty hatte sich bis weit nach Mitternacht hingezogen. Nachdem Anton Fritzmeier sich um elf Uhr fix und fertig zurückgezogen hatte, war Schulte in die Bresche gesprungen und hatte die Hausherrenrolle übernommen. Er hatte jedem Gast mindestens einmal zugeprostet und musste das nun ausbaden.
Linus war unerbittlich. Schulte war sich sicher, dass Lena, die Mutter dieses agilen Knaben, noch friedlich schlummernd in ihrem Bett lag. Doch seine Lena, Schultes andere Tochter, die bei ihrem Vater übernachtet hatte, war bereits putzmunter und freute sich, wie energisch ihr kleiner Neffe seinen Opa wachzurütteln versuchte.
„Ich glaube, der Osterhase war schon da“, säuselte sie scheinheilig. „Ihr müsst die Eier nur noch finden!“
Schulte versuchte ihr brummend klarzumachen, dass nicht etwa ein Hase, sondern ein ausgewachsener Kater ihm zu schaffen machte, aber sie entgegnete streng: „Versprochen ist versprochen!“
Linus war offenbar auch dieser Meinung, denn er verstärkte nun seine Bemühungen noch einmal.
Eine Viertelstunde später stand Schulte, nachlässig gekleidet mit wirr abstehenden Haaren, im Garten und mühte sich, Begeisterung zu zeigen, als Linus die ersten Eier gefunden hatte und ihm stolz präsentierte. Eigentlich fand Schulte das ja auch ganz süß. Nun gut, dachte er. Er würde das hier durchstehen und sich anschließend wieder hinlegen. Lena würde sich schon kümmern. Lena kümmerte sich immer, daran hatten sich alle in der kleinen Familie gewöhnt. Bei ihr lief alles wie nach Plan, beruflich wie privat. Ihre Schwester Ina hingegen hatte zwar im letzten Jahr ihre Mutterrolle verinnerlicht und füllte diese auch so gut aus, wie sie es vermochte, aber damit hatte es sich auch. Viel mehr wollte ihr nicht glücken. Sie hatte halbtags eine Stelle an der Fachhochschule OWL in Lemgo, bekam für ihren Sohn aber keinen Unterhalt, da der Vater des Jungen völlig mittellos war. Weil die Auseinandersetzungen mit Gericht und Jugendamt kein Ende nahmen, war sie nach wie vor auf die Unterstützung durch Opa Schulte angewiesen.
Schulte hatte mit Ina, die ihm charakterlich so beängstigend ähnlich war, in der ersten Zeit seine Probleme gehabt. Mittlerweile hatten sich Vater und Tochter aneinander gewöhnt, wären aber beide ohne die Unterstützung der tüchtigen Lena häufig überfordert gewesen.
Nach einer Viertelstunde war alles, was Lena zuvor sorgfältig im Garten versteckt hatte, gefunden. Linus war zufrieden, und Schulte wollte die gute Stimmung nutzen, um sich noch ein weiteres Stündchen aufs Ohr zu legen. Er musste nur noch seinem Enkel klarmachen, dass auf lange Sicht ein gut ausgeschlafener Opa brauchbarer war als einer mit Kopfschmerzen.
5
Da konnte er nicht runter, das war klar. Würde er es dennoch, wider jede Vernunft, wagen, könnte er sich gleich mit unter die rot karierte Decke legen und auf den nächsten Spaziergänger warten – und zwischenzeitlich an Unterkühlung sterben.
Da unten rauskommen würde er jedenfalls nie wieder. Pahmeier überlegte. Hatte ihm nicht der alte Fritzmeier mal erzählte, dass sein Mieter bei der Polizei sei? Genau, den müsste er holen. Der wüsste, was zu tun war. Also machte er kehrt und ging, so schnell es ihm möglich war, in Richtung des Dorfs.
Nach fünf Minuten kam der alte Lehrer schnaufend auf dem Fritzmeier’schen Anwesen an. Doch zu seiner Verwirrung schienen mehrere Mietparteien auf dem Hof zu wohnen. Pahmeier stand vor dem nächsten Problem. Er klingelte an der erstbesten Tür. Nichts geschah. Wieder drückte er mit dem Finger auf das kleine, weiße Ding aus Plastik.
Nach einer gefühlten Ewigkeit hörte er eine Frauenstimme. „Ja, ja, ich komm ja schon, wo brennt’s denn?“
Die Tür wurde aufgerissen, und vor Pahmeier stand eine junge Frau, nur dürftig mit einem langen T-Shirt bekleidet. Der Alte bekam Stielaugen, und die Frau einen Mordsschreck. Sie knallte die Tür wieder zu und öffnete sie eine halbe Minute später wieder, bekleidet mit einem weißen Bademantel. Jetzt erst war zu erkennen, wie übernächtigt sie wirkte. Ihre Augen waren verquollen und die Haare zerzaust.
„Pardon, was kann ich für Sie tun?“, fragte sie den mittlerweile völlig überforderten Alten.
„Ich brauche einen Lehrer, äh Quatsch, Polizisten. Da hinten im Graben liegt vielleicht ein Toter, äh, zumindest ein Kleiderbündel, zugedeckt mit einer rot karierten Decke, und ein Elektrorollstuhl.“
„Kommen Sie herein, ich brauche eine Minute, dann bin ich soweit, um mit Ihnen zu meinem Vater zu gehen. Den suchen Sie wahrscheinlich. Er wohnt auf der anderen Straßenseite.“
6
Schulte hatte sich tatsächlich gerade wieder, mit Kopfschmerzen, aufs Ohr gelegt, als die Türklingel schellte. „Kannst du gerade mal aufmachen?“, rief Lena ihrem Vater zu. „Ich füttere gerade deinen Enkel!“
Vor der Haustür stand eine heftig fluchende Ina. Die Schimpftiraden verrieten Schulte, dass seine Tochter nur widerwillig aufgestanden war. Aber er fühlte sich zu benommen, um sich zu wundern.
Ina kam, mit einem Morgenmantel bekleidet, in den Hausflur und schimpfte gleich wieder drauflos: „Da draußen ist so ein alter Knacker, der will sofort mit dir sprechen! Er redet ziemlich wirres Zeug von einem Rollstuhl im Graben oder so ähnlich. Ich habe es nicht ganz kapiert. Hoffe aber, dass es nichts mit Hubert Diekobsts gestrigem Wegbleiben zu tun hat. Mann, was brummt mir der Schädel! Ich lege mich wieder hin.“ Und weg war sie.
Schulte ließ einen leichten Schwindelanfall, verbunden mit einem Schweißausbruch, vorbeiziehen und schlurfte zur Haustür. Draußen stand ein sorgfältig gekleideter, älterer Mann, der vor Aufregung hin und her trippelte. Fluchend verschwand Schulte wieder im Haus. Er schnappte sich seine Jeans, stieg hinein und zog sie mit Schwung hoch. Im nächsten Moment vernahm er ein Geräusch, das sich anhörte, als würde eine Tomate zerquetscht. Konsterniert ließ Schulte seine Hose wieder etwas herunter und tastete sie von innen ab. Dann fühlte er etwas Weiches, Klebriges. Er zog die Hand zurück. In ihr lag ein zerdrücktes Schokoladenosterei, aus dem Nugat und eine rote Marmelade herausquollen.
7
Die Morgensonne brannte auf der Netzhaut, als Schulte in den Garten trat. Doch die angenehme Kühle, die ihn umschlang, linderte seine Kopfschmerzen unmittelbar. Ich sollte öfter mal früh aufstehen, dachte der Polizist, als er auf den aufgeregt hin und her laufenden, alten Mann zuging. Als dieser Schulte bemerkte, änderte er seine Richtung und schritt dem frischgebackenen Polizeirat entgegen. Ohne lange Vorreden berichtete der Alte aufgeregt von dem ungewöhnlichen Verhalten seines Hundes und von dem im Graben liegenden Rollstuhl.
„Wissen Sie, Herr Kommissar, ich habe in den letzten Jahren ziemliche Probleme mit den Knien, und die Kraft lässt auch nach. Ich habe mich einfach nicht getraut, in den Graben hinabzuklettern. Das müssen Sie verstehen“, plapperte Pahmeier ohne Punkt und Komma.
Auch wenn es wahrscheinlich nur eine Übersprunghandlung war. Das andauernde Reden des Mannes ging Schulte ziemlich auf die Nerven.
Um dem Ganzen ein Ende zu setzen, sagte er: „Kommen Sie, Herr…?“
„Pahmeier. Ich bin …“, wollte der aufgeregte Mann gleich wieder anfangen zu erzählen.
Doch Schulte fiel ihm ins Wort. „Nehmen Sie es mir nicht übel. Zeigen Sie mir einfach die Stelle, an der Sie das Unglück vermuten.“
Ohne noch abzuwarten, was der Mann ihm sagen wollte, ging Schulte mit ausladenden Schritten Richtung Gartentor, sodass der Alte keine andere Möglichkeit hatte, als ihm zu folgen.
Nach kurzer Zeit hörten Sie schon das heisere Bellen eines Hundes.
„Da … hören Sie … Goethe“, schnaufte der alte Mann, den Schulte schon zwanzig Meter hinter sich gelassen hatte.
Schulte wollte Pahmeier eigentlich nicht mehr die Möglichkeit geben, einen neuen Redeschwall zu beginnen. Doch mit dem Namen Goethe konnte er nun gar nichts anfangen. Verwundert blieb der Polizist stehen und drehte sich um. „Goethe, wer ist Goethe, äh, ich meine, ich weiß natürlich, wer Goethe ist, aber …“
„So heißt mein Hund“, schnaufte der Herankommende. Er war froh darüber, dass Schulte den Beinahe-Dauerlauf kurzzeitig unterbrochen hatte. Am liebsten hätte der Studienrat a. D. zur nächsten Erklärung angesetzt. Doch die Aufgabe, seinen Körper mit so viel Sauerstoff wie möglich zu versorgen, nahm all seine physiologischen Fähigkeiten in Anspruch. Mehr ging nicht. Schulte grinste, als er dies bemerkte.
„Okay, dann will ich mal sehen, was ihr Dichterhund da unten gefunden hat. Bleiben Sie bitte hier oben.“
Schulte marschierte alleine weiter. Am Grabenrand angekommen, nahm er sich die Zeit, das Bild, das er sah, auf sich wirken zu lassen. Ein Elektrorollstuhl lag fast zehn Meter von der roten Decke entfernt, die irgendetwas unter sich barg. Schulte zückte sein Handy und fotografierte die Szene. Dann stieg er hinab in den Graben. Er fasste den Hund am Halsband und zog ihn nach hinten. Mit der anderen Hand schlug er die Decke etwas beiseite. Unter ihr wurde ein menschlicher Körper erkennbar. Die Totenstarre war schon eingetreten.
Dieser Eindruck reichte Schulte. Ohne weitere Untersuchungen vorzunehmen, stieg er den ungefähr drei Meter hohen, ziemlich steilen Abhang wieder hinauf. Mit dem nur widerwillig folgenden Hund im Schlepptau war das gar nicht so einfach. Oben angekommen war er fast genau so außer Atem wie kurz zuvor der alte Pahmeier.
8
Gestern war es verdammt spät geworden. Doch jetzt, nachdem Hartel ausgiebig geduscht hatte, konnte der Tag beginnen. Erst einmal ordentlich frühstücken, und dann mal sehen, was die Zeit so brachte. Das fand er gar nicht so schlecht. Aber etwas anderes konnte man hier in Lippe sowieso nicht machen.
„Gehen Sie ein Jahr in die Provinz“, hatte damals sein Chef in Düsseldorf zu ihm gesagt.
„Das beweist, dass Sie flexibel sind. Danach werden Sie eine Karriere hinlegen, von der jeder andere junge Polizist nur träumen kann. Hören Sie auf meinen Rat. Sie gehen jetzt für kurze Zeit die Welt der Kleinstädte kennen lernen, und in einem Jahr hole ich Sie zurück in die Landeshauptstadt. Dann wird hier bei mir eine Planstelle frei, die genau auf Ihr Profil passt.“
Hartel hatte seinem Chef geglaubt. Widerwillig hatte sich der junge Polizist, der Düsseldorf für den Nabel der Welt hielt, in der Provinz beworben. Und – was war passiert? Vier Monate später wurde für Hartels ehemaligen Düsseldorfer Chef eine Planstelle frei, die genau auf diesen passte. Jedoch in Schwerin. Und weg war er, der Gute. Weitere acht Monate später dann auch die versprochene Planstelle für Hartel. Besetzt vom widerlichsten Studienkollegen, den Hartel damals auf der Fachhochschule für Verwaltung kennen gelernt hatte. Der legte jetzt die Bilderbuchkarriere hin, die Hartel für sich selbst vorgesehen hatte.
„Kommen Sie nach Schwerin!“, hatte ihm sein damaliger Chef angeboten. „Eine wunderschöne Stadt!“
Eine wunderschöne Stadt war Detmold auch. Aber das reichte Hartel nicht. Er wollte Karriere, doch er wollte auch das Leben in der Großstadt. Nun schien beides in weite Ferne gerückt. Jetzt lebte er schon das fünfte Jahr in Lippe und es wurde immer schlimmer für ihn.
Der einzige Lichtblick war Erpentrup, sein Chef. Alle anderen Kollegen waren Landeier, und noch dazu nicht mehr taufrisch. Und seine Freizeitgestaltung? Die ließ ebenfalls zu wünschen übrig. Nur joggen, das war auch keine Erfüllung, und mit den Lippern kam er überhaupt nicht klar. Erst gestern hatte er mal wieder so ein Erlebnis.
In allen Dörfern waren Osterfeuer angekündigt. Hartel hatte alle, aber auch wirklich alle abgeklappert. Er wollte mal sehen, was die Damenwelt so trieb. Doch er konnte es drehen und wenden wie er wollte, irgendwie wussten die Frauen seine Qualitäten nicht zu schätzen. Er hatte mindestens fünfmal versucht, mit einer der Dorfschönen ins Gespräch zu kommen. Aber spätestens nach einer viertel Stunde war die Unterhaltung so schleppend gelaufen, dass Hartel sich gezwungen sah, weiterzuziehen.. Das Ende vom Lied: seine Klamotten stanken nach Rauch, und an seinen Schuhen klebte der Matsch. Das war’s.
„Toller Abend“, sagte Hartel frustriert zu sich selbst und steckte zwei Scheiben Weißbrot in den Toaster.
In diesem Moment klingelte sein Handy. Der Anrufer war Volle, der dümmste Polizist Detmolds. „Sag mal, Hartel, du hast doch Bereitschaft, oder?“, fragte Volle, um auch ganz sicher zu gehen, dass er nichts falsch machte.
„Ja, wieso?“, fragte Hartel, dem nichts Gutes schwante. Mit einem Klacken wurden die Brotscheiben aus dem Toaster geschleudert.
Volle schien das Geräusch erkannt zu haben. Denn er antwortete: „Dann lass das jetzt mal mit frühstücken. In Heidental ist ein Toter gefunden worden. Schulte hat eben angerufen und euch angefordert.“
„Wie, Schulte hat eben angerufen? Das verstehe ich nicht. Wenn das ZDG doch schon am Tatort ist, was soll ich denn dann noch dort?“
„Weiß ich auch nicht“, sagte Volle, dem man die aufkommende Überforderung anmerkte. Er wurde von Sekunde zu Sekunde nervöser. „Du machst mich ganz raschelig, Hartel. Frag nicht so viel. Fahr einfach nach Heidental, und wenn du was wissen willst, wende dich an Schulte. Der wohnt da.“
Klack! Volle hatte aufgelegt.
„Verdammter Mis!“ Hartel hatte zu fragen vergessen, wo denn der Tote lag. Während er sein Frühstücksei langsam steinhart kochen ließ, wählte er die Nummer von Volle. „Wo in Heidental muss ich denn hin?“, bellte er sofort in den Hörer, als Volle das Gespräch annahm.
„Ach so, äh … Lopshorner Weg! Da siehst du es dann schon, hat Schulte jedenfalls gesagt.“
Hartel beendete das Gespräch. „So dumm, dass ihn die Schweine beißen, dieser Volle“, brummelte Hartel vor sich hin, schaltete die elektrischen Geräte in seiner Küche aus und machte sich auf den Weg.
Zwanzig Minuten später versperrte ein uralter Golf II den Feldweg, den Hartel hätte entlangfahren müssen. Er stieg aus und rief nach dem Fahrer. Weit und breit war niemand zu sehen. Doch etwa zweihundert Meter weiter standen zwei Männer, die zu warten schienen. Hartel machte sich also zu Fuß auf den Weg und erreichte die beiden Personen kurze Zeit später.
„Wurde aber auch Zeit“, sagte Schulte missmutig. Er stellte Pahmeier vor, sagte einige Sätze zum Sachverhalt, um sich dann mit den Worten: „Alles Weitere am Dienstag“ zu verabschieden.
9
So ein paar freie Tage, das hatte schon was, dachte Polizeioberrat Erpentrup, als er auf den Parkplatz der Detmolder Kreispolizeibehörde fuhr. Die paar Tage Osterurlaub hatten ihm gutgetan. Doch die freie Zeit war viel zu kurz gewesen. Denn am Morgen beim Aufstehen hatte er einen ausgeprägten Widerwillen verspürt, als ihm nach der ersten Tasse Kaffee klar wurde, dass heute wieder der berufliche Alltag begann. Der Ehrgeiz, mit dem er noch vor einigen Jahren seine Polizeiarbeit betrieben hatte, war dahin. Dennoch hatte er heute einen vollen Terminkalender. Aber wieder waren alle Termine, bis auf einen Besuch beim Landrat, nur Kleckersachen. Seit es das ZDG in Bielefeld gab, war ausgerechnet der Teil der Kreispolizeibehörde Lippe, dem er vorstand, zu einer Klümpchenbude verkommen. Nichts Aufregendes mehr. Und da noch immer die alte Devise galt, kein Feind – keine Ehre, stand Erpentrup fast gar nicht mehr in der Zeitung, hatte kaum noch repräsentative Termine, und die Nähe zum Landrat war auch nicht mehr so wie früher.
All diese Veränderungen schmerzten den eitlen Detmolder Polizeirat sehr. In letzter Zeit hatte er oft darüber nachgedacht, sich woanders zu bewerben. Doch seine Frau und seine Kinder weigerten sich hartnäckig gegen einen Umzug. Ihnen waren Fußballverein und Kaffeekränzchen wichtiger als die Karriere des Familienoberhaupts.
Als es damals zum Regierungswechsel in Nordrhein-Westfalen gekommen war, hatte der Detmolder Polizeirat geglaubt, jetzt würde sich einiges in seinem Sinne ändern. Doch er gehörte nicht zu den Gewinnern der Veränderung. Sein Intimfeind Schulte, kein Parteigänger und aus Erpentrups Sicht auch sonst keine Leuchte, war natürlich die Treppe hinaufgefallen.
Gerade erst letzte Woche hatte Erpentrup in den internen Mitteilungen gelesen, dass die Chefin des zentralen Dezernats für Gewaltverbrechen, Frau Dr. Bülow, Schulte für eine Beförderung zum Polizeirat vorgeschlagen hatte. Der Minister, dieser Hanswurst, hatte als oberster Dienstherr der Bielefelder Modellbehörde die ganze Angelegenheit natürlich einfach so durchgewunken.
Wieder ein Mosaiksteinchen, das dazu beitrug, Erpentrups Bild von der Polizei brüchiger werden zu lassen. Er riss sich über Jahre den Arsch auf, und dieser Schulte verschaffte sich durch Saufgelage, Proletentum und Playboymentalität Aufmerksamkeit. Zu allem Übel hatte er mehr Erfolge als Nachteile durch seine Art.
Der Polizeioberrat konnte sich noch sehr genau daran erinnern, als er Schulte zu einem Tag der offenen Tür der Detmolder Polizei dienstverpflichtet hatte. Natürlich war auch Erpentrup mit seiner gesamten Familie anwesend gewesen. Und was machte dieser Schulte? Seiner Frau den Hof!
Als seine Gattin sich auf dem Heimweg dann noch zu der Bemerkung verstieg: „Netter Kerl, dieser Schulte“, da war es nur noch eine Frage der Zeit, bis Erpentrup mit seiner Frau einen handfesten Streit hatte. Er hasste Schulte!
Der Polizeioberrat schloss seinen Audi A6 ab. Ging in sein Büro, steckte sich noch ein paar Unterlagen ein und machte sich zu Fuß auf den Weg zum Kreishaus. Seit die Bielefelder Straße an der Kreishauskreuzung eine Baustelle war, kam man per pedes schneller dort hin als mit dem Auto.
Lange brauchte Erpentrup nicht zu warten. Denn der Landrat war längst im Büro. Der Polizeioberrat war Frühaufsteher. Doch wann immer er morgens zum Kreishaus kam, der Landrat war längst bei der Arbeit. So auch heute. Die Tür zu seinem Büro stand offen, da seine Sekretärin noch nicht im Hause war. Doch der Duft von frischem Kaffee durchzog schon sein Büro.
Der Chef der Kreispolizeibehörde Lippe, denn das war der Landrat schließlich, begrüßte seinen Polizeioberrat jovial. „Wie wäre es mit einem Kaffee, Herr Erpentrup?“
Dieser hatte nichts dagegen, und so saßen die beiden Männer kurze Zeit später mit je einer Tasse, gefüllt mit dem dampfenden Gebräu, am Besprechungstisch und plauderten über die Erlebnisse der vergangenen Ostertage.
Nach einigen Minuten Geplänkel wurde der Landrat ernst. „Herr Erpentrup, ich habe eine Neuigkeit. Das ZDG wird aufgelöst.“
„Na endlich!“, frohlockte Erpentrup. „Wir haben aber auch einiges dafür getan, dass die ganze Angelegenheit floppt.“
„Okay, der Innenminister ist anscheinend mit seinem Reformprojekt gescheitert“, versuchte der Landrat seine Freude zu dämpfen. „Aber kampflos hat er das Feld nicht geräumt. Wie Sie wissen, haben wir ja in dem bevorstehenden Superwahljahr auch Landtagswahlen. Diese Tatsache und die Anhäufung von Pannen im Innenministerium haben dazu geführt, dass unser Wolf schwächelt. Einige mächtige Gegner der nordrheinwestfälischen Polizeireform, zu denen auch ich gehöre, haben die Gunst der Stunde zum Anlass genommen, und sind gekippt. Der einstige Hoffnungsträger Ingo Wolf ist zum Papiertiger mutiert. Aber ungefährlich ist er noch nicht, Sie wissen ja, angeschossene Wölfe … Er hat sich zwar dem Druck gebeugt und der Auflösung des Reformprojektes zugestimmt. Doch er versucht natürlich, seine Leute neu zu positionieren und seinen Widersachern in die Suppe zu spucken. Ich weiß, dass sie mir gegenüber immer loyal waren. Ich schätze solche Tugenden und werde sie auch nicht vergessen. Mit anderen Worten, wenn sich die Gelegenheit bietet, können Sie sich meiner Gunst sicher sein. Doch heute könnten Sie das Gefühl bekommen, zum Bauernopfer zu werden.“
Erpentrup schwante Übles.
„Detmold bekommt einen neuen Polizeichef“, fuhr der Landrat fort. „Oder besser gesagt, eine neue Chefin. Sie heißt Frau Dr. Bülow. Wie wir beide wissen, ist sie eine Duzfreundin des Ministers. Das bedeutet, dass Sie in die zweite Reihe rücken.“
Erpentrup schluckte trocken. Aber er hatte sich im Griff und ließ sich nichts anmerken. Nein, diese Blöße wollte er sich nicht geben. „Auch da kann ich Ihr Wadenbeißer sein, Herr Landrat“, bot Erpentrup sich sofort an. „Wenn wir beide zusammenhalten, ist des Ministers Gspusi in einem Jahr runter mit den Nerven.“
Wenn er dem Landrat jetzt die Treue hielt, würde er zwar vorübergehend in die zweite Reihe rutschen, aber mittelfristig Chef an Bord werden und dann mit einer Macht ausgerüstet sein, von der andere nur träumen konnten.
„Ganz so einfach ist es leider nicht, Herr Erpentrup. Es gibt nämlich noch einen gewissen Herrn Schulte, der wiederum ist unserer Frau Dr. Bülow gegenüber bis auf die Knochen loyal. Hinzu kommt, dass dieser, und das meine ich ernst, durchaus tüchtige Polizist, seit dem 1. April Polizeirat ist. Und das ist leider kein Aprilscherz.“
Erpentrup sah vor seinem geistigen Auge dunkle Wolken heraufziehen.
„Also hat Frau Dr. Bülow, clever wie sie ohne Zweifel ist, sich nach unten abgesichert – und zwar mit Hilfe des Ministers. Ich gebe es nur ungern zu, aber die gute Frau hat das so gewieft angestellt, dass ich nur noch abnicken konnte. Das Ergebnis lautet wie folgt: Schulte wird ab dem 1. Mai Chef der Direktion K1, und Sie werden der Nachfolger des Polizeirates Müller, der zu diesem Datum pensioniert wird. Schulte und Bülow kommen aber schon in den nächsten Tagen und beziehen ihre Büros. Die beiden nehmen mit Sicherheit gleich ihre Arbeit auf.“
„Und was wird aus mir?“, fragte Erpentrup mit einem verzweifelten Unterton in seiner Stimme.
„Sie wissen ja, wie eng es in der Kreispolizeibehörde Detmold ist. Aber auch Müller von der Direktion V hatte schon seinen letzten Arbeitstag. Der hat seinen Schreibtisch bereits geräumt, bevor er seinen Resturlaub angetreten hat. Auch Sie sollten ihren Umzug nicht auf die lange Bank schieben.“
Das Zimmer schien sich zu drehen wie eine Wäscheschleuder. Erpentrup war kalkweiß geworden. Er wähnte sich dem Herzinfarkt nahe. Konnte das sein? Er würde Verkehrspolizist? Er würde zum Gespött seiner Berufkollegen aus den Nachbarkreisen? Wieso hatte der Landrat ihm das angetan? Gut, er hatte jetzt mehr Polizisten unter sich und auch die Abteilungen in Bad Salzuflen, Lemgo und so weiter, aber für jemanden, der Verbrechen bekämpfen wollte, war es der schlimmste Abstieg, den man sich vorstellen konnte.
„Eines habe ich noch erreichen können“, hörte er den Landrat aus weiter Ferne sagen. „Ich habe mit Frau Dr. Bülow vereinbart, dass Sie, wenn es zu Kompetenzproblemen kommt, direkt mir unterstellt sind. Das heißt, sie wird Ihnen nicht mehr als nötig in Ihr Geschäft hineinregieren.“