Reitemeier / Tewes · Schnapsidee

JÜRGEN REITEMEIER

WOLFRAM TEWES

Explosiv

PENDRAGON

„Hüte dich, deine Feinde zu hassen,
denn es trübt dein Urteilsvermögen.“

Der Pate, Teil 1

1

Der Fahrer des schwarzen Mercedes Kombi reduzierte seine Geschwindigkeit, schaltete das Licht aus und bog vorsichtig von der schmalen Landstraße auf den unbefestigten, im Dunkeln liegenden Parkplatz ab. Aus der von einem schwachen Mond nur unzureichend erhellten Finsternis tauchte diffus der Umriss eines Militär-Geländewagens auf, der dort parkte. Der Mercedesfahrer machte einen Schwenk nach links, fuhr dann langsam rückwärts auf das andere Auto zu und blieb in einem Meter Entfernung davon, Heckklappe an Heckklappe, stehen. Ein nicht großer, aber kräftig gebauter Mann stieg aus, ging zu dem anderen Fahrzeug, neben dem sich die Silhouette eines deutlich längeren und schmaleren Mannes aus dem Dunkel herausschälte. Die beiden nickten sich wortlos zu. Dann gingen sie zusammen zum Heck des Jeeps. Es gab ein pfeifendes Geräusch, als dessen Fahrer die große, hintere Klappe öffnete. Die Innenbeleuchtung des Jeeps ließ nun einen Blick auf den geräumigen und gut gefüllten Kofferraum zu.

Dann beugte sich der Geländewagenfahrer mit dem Oberkörper tief in den Gepäckraum hinein, hob den Deckel einer langen Holzkiste hoch und ließ den anderen einen prüfenden Blick darauf werfen. Es gelang ihm kaum, dabei seine Unruhe zu verbergen. Er atmete erleichtert durch, als der Mercedesfahrer sich ihm wieder zuwandte und durch den senkrecht erhobenen Daumen seine Zufriedenheit signalisierte. Noch immer war zwischen den beiden Männern kein Wort gefallen. Gesten mussten ausreichen, um ihre Handlungen zu koordinieren. Gemeinsam hievten sie die schwere Holzkiste aus dem Heck des Geländewagens und luden sie einen Meter weiter in den geöffneten Laderaum des Mercedes.

Als die Kiste sicher verstaut war, wischte sich der Mercedesfahrer mit einem Jackenärmel den Schweiß ab und fragte den anderen mit einer ungewöhnlich heiseren Stimme:

„Und wann kommt der Rest? Meine Abnehmer verlieren leicht die Geduld. Das alles muss in Zukunft viel schneller gehen. Hast du verstanden?“

Der Fahrer des Geländewagens nickte devot, bevor er leise, etwas eingeschüchtert wirkend, antwortete.

„Es ist schwieriger geworden. An diese Sachen heranzukommen, ist an sich schon vertrackt genug. Zaubern kann ich nicht. Und jetzt habe ich mir auch noch ein paar unangenehme Fragen anhören müssen. Aber keine Sorge, es liegt im Prinzip schon alles bereit. Ende der Woche habt ihr alles, was ihr in Auftrag gegeben habt. Verlass dich drauf.“

„Wir können keinen Tag länger warten. Die Lieferung kommt spätestens am nächsten Wochenende, sonst bist du raus aus dem Geschäft.“

Der Mercedesfahrer wartete nicht, bis sein Gegenüber darauf etwas erwidern konnte, sondern stieg in seinen Kombi. Eine Menge Kies schleuderte hoch, als er das Gaspedal durchdrückte und mit schliddernden Reifen davonfuhr. Er ließ einen verzweifelt dreinblickenden Mann im fahlen Mondlicht zurück.

2

Er ist kein Mensch, er ist kein Tier, er ist ein Panzergrenadier.

Der Stabsunteroffizier Marc Bornemann schmunzelte, als ihm dieser alte, selbstironische Spruch seiner Waffengattung in den Sinn kam, während er sich zum morgendlichen Befehlsempfang aufmachte. In früheren Zeiten mochte das ja gepasst haben, fand er. Aber heute? Heute war der Dienst im Heer doch ein ganz normaler, ja geradezu braver Beruf. Je nach Tätigkeit sogar ein langweiliger Verwaltungsjob, ein stinknormaler Posten in der Fahrbereitschaft oder wie bei ihm, die ewige, einsame Routine in der Waffenkammer. Der in dem Spruch unterstellte, diffuse Schwebezustand zwischen Mensch und Tier, im Begriff Kampfsau besonders markig zusammengefasst, war doch obsolet, fand Bornemann. Wenn bei dir heute die Stiefel ordentlich glänzen, die Haare exakt geschnitten sind, du keine goldenen Löffel klaust und dir einem Vorgesetzten gegenüber nicht aus Versehen mal ein falsches Wort herausrutscht, dann kann dir doch bei der Bundeswehr nichts passieren. Dann hast du einen sicheren Job, bekommst regelmäßig dein Geld und machst dich nicht kaputt. Es gibt wahrhaftig Schlimmeres, dachte er gut gelaunt.

Es war ein wunderschöner Morgen Anfang Mai, und der Befehlsempfang vor der 3. Kompanie des Logistikbataillons ging routiniert über die Bühne. Danach sollte Bornemann noch zum Kompaniechef kommen. Das war zwar nicht alltäglich, auch nicht unbedingt etwas, worauf er sich freute, aber auch nichts ausnehmend Beunruhigendes. So was kam schon mal vor, da musste man eben durch, dachte er und machte sich auf den Weg zum Büro des Chefs.

Freundliche Gefühle hegte er seinem Vorgesetzten gegenüber allerdings nicht. Im Gegenteil. Hauptmann Guido Mannhardt pflegte mit Hingabe sein Image als harter Hund. Als Bornemann im vergangenen Jahr nach Augustdorf in Mannhardts Kompanie versetzt worden war, hatte man ihn bereits darauf hingewiesen, dass dort gelegentlich ein rauer Umgangston herrsche. Nicht permanent, zugegeben. Aber wenn Mannhardt seine Tage hatte, dann zog man besser den Kopf ein und versuchte, so wenig aufzufallen wie möglich. Besonders gern nahm der sich dann die Neuen vor, die noch den richtigen Feinschliff brauchten. Bornemann hatte diesen Feinschliff im vergangenen Jahr mehrfach genießen dürfen und legte keinen Wert auf weitere Sonderbehandlung. Er wollte einfach nur in Ruhe seinen Job machen. In den letzten Wochen war es auch etwas besser geworden, er schien nicht mehr so sehr im Fokus zu stehen.

Bornemann prüfte den exakten Sitz seines Baretts, wischte sich einen Krümel von der Stiefelspitze und räusperte sich, bevor er an die Tür des Kompaniechefs klopfte. Es dauerte ein paar Sekunden, bis eine laute, fast polternde Stimme ihn hereinrief. Bornemann trat ein, machte Männchen, stand weiterhin stramm und wartete auf den Befehl, sich rühren zu dürfen. Aber sein Chef dachte offenbar nicht im Traum daran, ihn aus dieser wenig entspannten Haltung zu erlösen.

Der Hauptmann legte einen Kugelschreiber zur Seite, wandte sich seinem Untergebenen zu und sprach mit feierlich klingender Stimme:

„Stabsunteroffizier Bornemann, ich darf Ihnen mitteilen, dass Sie zum 1. Juli diesen Jahres eine neue, verantwortungsvollere Position bekleiden werden. Eine Position, die Ihrer Ausbildung entspricht und bei der Sie dem deutschen Heer und insbesondere der Panzerbrigade 21 zur Ehre gereichen werden, da bin ich ganz sicher.“

Was war denn jetzt los, dachte Bornemann. Wurde er befördert? Er war doch gar nicht an der Reihe. Warum war der Mistkerl denn so freundlich zu ihm? Sollte der sich tatsächlich für ihn verwendet haben?

Das nun folgende Lächeln des Kompaniechefs ließ Bornemann jedoch nichts Gutes ahnen.

„Das Wehrbereichskommando hat Ihnen die Ehre erwiesen, Sie dort einzusetzen, wo Sie Ihre Fähigkeiten, Ihre Energie und Tatkraft am wirkungsvollsten im Dienste Ihres Vaterlandes einsetzen können. Wie Sie wissen, müssen Deutschlands Grenzen auch am Hindukusch verteidigt werden.

Nur die Besten werden für diese wichtige Aufgabe ausgewählt. Sie können stolz darauf sein, zu dieser Elite zu gehören. Herr Stabsunteroffizier, ab Juli werden Sie der Quick-Reaction-Force im idyllischen Städtchen Mazar-i-Sharif im Norden von Afghanistan zugeteilt. Ich gratuliere Ihnen zu der Auszeichnung!“

Bornemann hätte, selbst wenn er aufgefordert worden wäre, locker zu stehen, kein Glied rühren können. Wie gelähmt stand er vor dem Schreibtisch des Kompaniechefs und hoffte, ganz schnell aus diesem Albtraum zu erwachen. Doch er musste erleben, dass sein Vorgesetzter nun aufstand, um seinen Schreibtisch herumkam und tatsächlich die Hand ausstreckte, um ihm zu gratulieren. Mechanisch, mit totaler Blutleere im Hirn, erwiderte Bornemann die Geste, ohne den festen Druck des anderen zurückgeben zu können.

Kurz darauf stand er, völlig benommen, allein im langen und öden Flur der Kompanie. Es gelang ihm nicht, einen einzigen Gedanken festzuhalten, tausend Ansätze dazu schwirrten wirr durcheinander und verschwanden wieder im Nichts. Allein ein Satz flackerte immer wieder im Rhythmus seines Pulsschlages auf: Er ist kein Mensch, er ist kein Tier…

3

Die Nachricht hatte Schulte wie ein Schlag mit dem Hammer getroffen. Die Detmolder Polizeichefin Margarete Bülow würde in Kürze die künftige Leiterin der Abteilung Tötungsdelikte sein. Nach seinem Amtsantritt hatte der neue Innenminister zügig damit begonnen, die ersten Duftmarken zu setzen; im Landeskriminalamt wurde umorganisiert.

Zunächst hielt Schulte diese Hiobsbotschaft für ein Gerücht. Doch dann war die Polizeidirektorin an ihn herangetreten und hatte ihm vorgeschlagen, mit ihr in die Landeshauptstadt zu gehen. Schulte hatte abgelehnt. Er war Ostwestfale. Was sollte er in einem so versnobten Kaff wie Düsseldorf? Nachdem er seiner alten Chefin einen Korb gegeben hatte, unterbreitete sie Braunert das Angebot, der dem Wechsel zugestimmt hatte.

Schulte konnte seinen Kollegen verstehen. Braunert war schwul. Im vergangenen Jahr war er eine Affäre eingegangen, die sein Liebhaber auf unschöne Art und Weise im Internet präsentiert hatte. Seit dieser Zeit war die sexuelle Neigung Axel Braunerts immer wieder Gesprächsthema in der Kreispolizeibehörde Detmold. Die Art und Weise, wie einige Kollegen ihn seitdem behandelten, konnte man durchaus als Mobbing bezeichnen. Daher kam Braunert das Angebot, nach Düsseldorf zu gehen, gerade recht.

Der Weggang der beiden und die Pensionierung Bernhard Lohmanns, bislang ebenfalls Kollege von Schulte, hatten das Personalkarussell in Detmold in Bewegung gesetzt. Es stand sowieso wieder einmal eine Polizeireform ins Haus, diesmal das Direktionsmodell. Daher nutzte man die Gelegenheit zur Neustrukturierung. Und noch bevor die Schritte der Umgestaltung stattgefunden hatten, fühlte sich Schulte schon als Verlierer.

Der frisch beförderte Polizeidirektor Erpentrup war also von nächster Woche an sein neuer Chef. Seit dem ersten Zusammentreffen vor vielen Jahren hatte sich Schulte mit diesem Mann schwergetan. Das von Anfang an schon gespannte Verhältnis hatte sich mehr und mehr verhärtet. Doch dann, vor einigen Jahren, war Schulte Erpentrup gleichgestellt worden. Diese vorübergehende Gleichberechtigung und der kluge Führungsstil, den Margarete Bülow praktizierte, hatte Schulte das Polizistendasein sehr erleichtert. Aber die Begegnungen auf Augenhöhe mit Erpentrup würde demnächst Geschichte sein, da war sich Schulte sicher.

„Eine ordentliche Verabschiedung muss es geben! Das sind wir den Kollegen schuldig!“, hatte Erpentrup getönt, als seine Beförderung und all die anderen Veränderungen verkündet worden waren.

Und heute Abend sollte sie sein, die Abschiedsfeier. Schulte hätte sich am liebsten mit einer Flasche Schnaps und einer Kiste Bier in die Abendsonne gesetzt und versucht, sich die Zukunft schön zu saufen. Doch er wusste, dass seine Kollegen und vor allem Margarete Bülow von ihm erwarteten, dass er an der Feier teilnahm.

Missmutig zerknüllte Schulte ein Blatt Papier und warf es in Richtung Papierkorb. Natürlich daneben! Nicht einmal das klappte. Gerade als er die Papierkugel verärgert durch das Büro kicken wollte, klopfte es an der Tür. Im nächsten Moment stand seine Kollegin Maren Köster im Raum.

„Was ist nun, Jupp, willst du hier Wurzeln schlagen? Wir sind spät dran. Die Verabschiedung beginnt gleich.“

„Nee, ich bin nur gerade dabei, mich mental auf das Gesülze einzustellen, das Erpentrup gleich von sich geben wird. Allein der Gedanke daran, dass ich mir diese Sabbelei in nächster Zeit fast täglich anhören muss, lässt mich über eine vorzeitige Pensionierung nachdenken.“

Maren Köster verdrehte die Augen und dachte ebenfalls an die nervigen Streitereien der kommenden Monate. Schulte seufzte und griff zu seiner abgetragenen Lederjacke.

„Willst du die wirklich zur Verabschiedung von Margarete anziehen?“

Schulte grinste schief.

„Wieso, im Anzug würde sie mich doch gar nicht erkennen.“

Als die beiden Polizisten beim Restaurant Hirschsprung ankamen, war schon richtig was los. Der Erste, der ihnen über den Weg lief und sie begrüßte, war der Landrat. Dabei wurde Schulte das Gefühl nicht los, dass seine Lederjacke von seinem obersten Chef mehr Aufmerksamkeit bekam als Maren Köster. Und das war ganz und gar ungewöhnlich. Sollte er vielleicht doch nicht angemessen gekleidet sein?

In der Gaststätte drängten sich die Leute. Schulte sah sich nach seinen Kollegen um. Da tippte jemand von hinten auf seine Schulter. Als er sich umdrehte, sah er in das Gesicht der scheidenden Kollegin Margarete Bülow. Wieder einmal wunderte sich Schulte, dass sie, obwohl sie blind war, ihn so zielsicher erkannt hatte.

„Woher hast du gewusst, dass ich es bin, obwohl ich überhaupt noch nichts gesagt habe?“

„Gesagt nicht“, entgegnete die Polizeidirektorin, „aber du hast deine Lederjacke an. Die habe ich gerochen. Und ich kenne außer dir keinen Menschen, der zu einer solchen Feierlichkeit in dieser Kleidung kommt.“

Schulte wurde verlegen und wollte sich gerade entschuldigen. Doch Margarete Bülow hakte sich bei ihm unter und fragte: „Wo gibt es denn hier was zu trinken?“

Diese Situation berührte Schulte. So etwas wie Trauer machte sich in ihm breit. Verlegen drückte er sich eine kleine Träne weg. Margarete Bülow war die beste Chefin, die er je gehabt hatte. Er würde sie vermissen und auch das so vertraute Unterhaken.

Um über diese etwas unangenehme Situation hinwegzukommen, sah er sich im Raum um und musterte die anwesenden Personen. Bernhard Lohmann schlich schon am noch nicht eröffneten Buffet entlang. Erpentrup wirkte verkniffen, ja geradezu schlecht gelaunt.

Nachdem Schulte alle ihm bekannten Personen gemustert hatte, fiel sein Blick auf zwei junge Leute, die etwas abseits standen. Eine große, blonde, geradezu sinnlich wirkende, junge Frau und ein unendlich langer, schlaksiger, dunkelblonder Mann.

„Die Blonde und der Junge mit den Storchenbeinen, sind das unsere beiden Neuen?“, fragte Schulte.

Margarete Bülow nickte. Doch bevor sie etwas zu den zukünftigen Kollegen sagen konnte, gesellte sich Bernhard Lohmann zu ihnen.

„Mensch Jupp, wie lange arbeiten wir jetzt schon zusammen? 18 Jahre? 20 Jahre? So genau weiß ich das gar nicht mehr. Aber seit ich dich kenne, läufst du mit dieser schäbigen Lederjacke rum. Hättest du nicht wenigstens heute, an meinem letzten Arbeitstag, mal einen Anzug anziehen können?“

Bevor Schulte sich dazu äußern konnte, gesellte sich der Nächste zu der kleinen Gruppe. Es war der säuerlich dreinblickende Erpentrup. Noch bevor ihn jemand auf seinen missmutigen Gesichtsausdruck ansprechen konnte, nannte er selbst den Grund seiner Übellaunigkeit.

„Frau Dr. Bülow, ich habe mir so viel Mühe mit Ihrer Abschiedsrede gemacht. Und nun habe ich nicht einmal die Möglichkeit, sie zu halten. Der Landrat wird es sich nicht nehmen lassen, selbst ein paar Worte zu sagen.“

Die Polizeidirektorin drückte höflich ihr Bedauern darüber aus, dass sie die sicher wunderbare Rede Erpentrups nun verpassen würde, und bedankte sich für dessen Wertschätzung.

Schulte hingegen grinste süffisant. Glück gehabt, dass dieser Schleimbeutel nicht ans Rednerpult gelassen wird, dachte er.

Erpentrup entging Schultes despektierlicher Gesichtsausdruck natürlich nicht. Die Retourkutsche kam prompt. Er wandte sich an den jetzt wieder Untergebenen und sagte für alle Umstehenden hörbar:

„Herr Polizeirat Schulte, wie alt sind Sie eigentlich? Irgendwann müssten doch auch Sie begreifen, dass man zu bestimmten Gelegenheiten nicht wie ein Rocker aufläuft.“

4

Zwei Stunden später hatte Marc Bornemann sich so weit gefangen, dass er wieder denkfähig war. Langsam, ganz langsam reifte in ihm ein Entschluss, der ihm zunächst so ungeheuerlich erschien, dass er sich weigerte, den Gedanken zu Ende zu denken. Doch von Minute zu Minute wurde ihm deutlicher, dass es keine Alternative zu dieser Entscheidung gab. Es würde ein harter und nicht mehr zu reparierender Einschnitt in seiner bisher korrekt und gradlinig verlaufenen Biografie werden.

Aber er hatte keine Wahl.

Nachdem ihm sein Marschbefehl durch den Kompaniechef angekündigt worden war, hatte er einige Zeit stumpf vor sich hinstarrend an seinem Arbeitsplatz in der Waffenkammer gesessen.

Er begann darüber nachzugrübeln, warum er damals den Entschluss gefasst hatte, Soldat zu werden. Die Frage, ob Wehr- oder Zivildienst, war bei ihm schon früh entschieden worden. Die Bundeswehr war für ihn ein wichtiger Bestandteil dieses Staates. Er hatte sich bewusst dazu entschieden, Zeitsoldat zu werden. Im vollen Bewusstsein darüber, dass dann auch ein Einsatz in einer Krisenregion auf ihn zukommen könnte.

Dazu gehörte zum Beispiel der Anti-Pirateneinsatz in Atalanta. Das war für ihn eine wichtig und ureigene Pflicht, der die Bundeswehr nachkommen musste. Nun war er aber nicht bei der Marine, sondern beim Heer. Er fand auch die Aufgaben durchaus wichtig, welche die Bundeswehr im Kosovo wahrnahm.

Aber mit Afghanistan hatte er immer seine Probleme gehabt. Okay, er war Soldat und an bestimmter Stelle galt es einfach zu gehorchen. Das hatte man ihm beigebracht. Aber Bornemann war nicht in der Lage, seinen Kopf abzuschalten und sich zu sagen: Befehl ist Befehl. Das bekam er einfach nicht hin. Für ihn hatte die Bundeswehr in Afghanistan nichts zu suchen.

Er konnte es einfach nicht nachvollziehen, wieso deutsche Soldaten die Interessen der Bundesrepublik am Hindukusch verteidigen mussten. Er hatte nach Gründen gesucht, nach ehrenwerten Gründen. Er hatte sie nicht gefunden.

Leicht hatte Bornemann es sich nicht gemacht. Aber nach langem Grübeln war er zu dem Entschluss gekommen, die deutsche Armee habe in Kundus nichts zu suchen. Anfangs hatte er diese Meinung gelegentlich in der Diskussion mit seinen Kameraden vertreten. Da war ihm aber ein eisiger Wind entgegengeweht.

Auch seinem Hauptmann gegenüber hatte Bornemann diese Meinung vertreten. War der Marschbefehl die Quittung für seine nonkonforme Überzeugung in dieser Frage? War so viel Freidenkertum innerhalb der Bundeswehr nicht möglich?

Solche und ähnlich Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf. Er bekam sie nicht gebannt.

Bornemann schaffte es nicht, sich einzureden, dass es seine Pflicht als Soldat sei, dem heutigen Befehl zu folgen.

Er musste mit jemandem reden. Nur mit wem? Katharina, seine Freundin, war die einzige Person, die ihm einfiel. Er griff zum Telefon. Katharina war erwartungsgemäß von der schlechten Nachricht schockiert gewesen. Alles andere hätte ihn auch überrascht. Katharina war so mitgenommen, dass sie ihm etwas verraten hatte, was sie ihm eigentlich erst nach der Diagnose ihres Frauenarztes und vor allem in einem angenehmeren Kontext hatte mitteilen wollen. Sie war schwanger, und Bornemann würde in etwas mehr als einem halben Jahr Vater werden.

„Das Kind braucht einen lebendigen Vater!“, hatte sie empört gerufen, „und keinen toten Helden.“

Diese Reaktion hatte ihm die nötige Energie gegeben, die seinen Gedanken in atemberaubender Geschwindigkeit zum festen Vorsatz anwachsen ließ. Auf keinen Fall würde er sich nach Afghanistan schicken lassen. Auch, wenn seine Weigerung ihn seine berufliche Laufbahn kosten sollte. Selbst wenn ihn dies ins Gefängnis bringen würde.

Er würde desertieren!

Diesen Entschluss hatte er seiner Freundin schon am Telefon sehr lautstark mitgeteilt – in der Hoffnung, sie und sich selbst damit beruhigen zu können. Aber eigentlich hatte er das Gegenteil bewirkt, denn jetzt war es ausgesprochen. Nun würde er tatsächlich handeln müssen. Zu allem Überdruss war sein direkter Vorgesetzter gerade in diesem Moment in den Raum gekommen. Und Bornemann konnte nicht einschätzen, ob der etwas von seinem Gefühlsausbruch am Telefon mitbekommen hatte. Und wenn schon, den Zusammenhang konnte er nicht kennen und würde ihn ohne weitere Informationen auch nicht verstehen.

5

Der Oberfeldwebel Klaus Windmacher war drauf und dran, das komplizierte Formular in ganz kleine Teile zu reißen und in den Müll zu werfen. Was diese Verwaltungshengste immer alles wissen wollten, unglaublich. Doch er seufzte nur resigniert und versuchte, die nächste Frage zu beantworten. Als er hörte, wie sich die Tür zu seinem Büro öffnete, war er dankbar für die Ablenkung. Selbst als er in dem Eintretenden seinen Kompaniechef erkannte. Windmacher war vielleicht der einzige in der Kompanie, der mit Hauptmann Mannhardt klarkam. Die beiden hatten sich schon vor der Bundeswehrzeit gekannt. Sie kamen beide aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Delbrück, waren dort zwar nicht unbedingt dicke Kumpel gewesen, aber wie das in so einem Dorf eben ist, gehörte man nun mal irgendwie zusammen. Der Zufall hatte sie nach einigen Jahren Bundeswehrzugehörigkeit in verschiedenen Laufbahngruppen in dieser Kompanie in Augustdorf zusammengeführt. Nun war Guido Mannhardt zwar Windmachers Chef, aber sie waren klug genug, ihre alte Verbindung zu beider Nutzen zu pflegen. Windmacher genoss seinen guten Draht zum Chef, worum ihn viele beneideten, und Mannhardt hatte einen Vertrauten in der Gruppe seiner Unteroffiziere. Windmacher wusste, dass seine Kollegen im Uffz-Heim manchmal hinter vorgehaltener Hand von ihm als „Agenten des Chefs“ sprachen und vorsichtig mit dem waren, was sie in seiner Anwesenheit über Hauptmann Mannhardt sprachen. Aber das nahm er in Kauf. Die Vorteile seines speziellen Verhältnisses zum Chef überwogen. Vor anderen hieß es „Sie“ und man sprach sich mit dem Dienstgrad an. Wenn sie unter sich waren, prägte das Du die Umgangsform. Wobei Windmacher aber nie völlig vergaß, wer hier Koch und wer Kellner war. Er hielt sich an die Regeln.

Der Hauptmann ließ sich ächzend auf einen Stuhl fallen, streckte die Beine aus und sagte erst einmal nichts. Das war seine Art, die Bedeutung seines Auftrittes zu erhöhen. Windmacher kannte das Ritual und wartete ab.

Dann sagte der Kompaniechef:

„Ich muss mit dir sprechen!“

Nicht mehr und nicht weniger. Aber Windmacher wusste, dass er nun alles liegen und stehen lassen und sich auf das konzentrieren musste, was nun kommen würde.

Es dauerte eine Weile, dann legte Mannhardt los.

„Klaus, hier läuft irgendwas schief!“

Das ungeschriebene Ritual der beiden schrieb vor, dass hier nun eine kleine bedeutungsschwangere Pause entstand, in deren Verlauf Windmacher seinen Stuhl näher an seinen Chef heranzurücken und totale Aufmerksamkeit zu zeigen hatte. Sie hatten dieses Schema im Laufe der Zeit wie einen Pawlowschen Reflex verinnerlicht.

„Ich war gestern zu einer Schießübung für Offiziere. Es sollte mit der Uzi geschossen werden. Ich mag diese Dinger nicht besonders, denn damit kann man zwar eine ganze Kompanie auf einmal plattmachen, aber keine Scheibe treffen. Ich holte mir also vorgestern, als du schon frei hattest, eine Uzi aus deinem Arsenal und brachte sie gestern Abend nach der Schießübung zurück. Auch da hattest du schon Feierabend. Als ich die Verwendung der Waffe ordnungsgemäß in der Liste eintragen wollte, ist mir was Merkwürdiges aufgefallen.“

Wieder eine Kunstpause. Windmacher lauschte beflissen.

„Diese Waffe tauchte in der ganzen verdammten Waffenliste nicht auf. Ich hatte eine Waffe entliehen, die offiziell gar nicht in unserem Arsenal vorhanden ist. Kannst du dir das erklären? Ich bin doch nicht zu blöd, eine Liste richtig zu lesen. Hier ist die Waffennummer“, er übergab Windmacher einen kleinen Zettel mit einer langen Zahl darauf, „überprüf das Ganze doch mal. Oder fällt dir dazu etwas ein?“

Windmacher legte die Stirn in Falten.

„Na ja, ich denke, da hat jemand schlicht und einfach einen Fehler gemacht und bei der Listenführung geschlampt. Und ich ahne auch schon, wer das gewesen sein könnte. Hätte ich mir denken können, der war die ganzen letzten Tage schon so unkonzentriert.“

Die letzten Worte hatte Windmacher mehr zu sich selbst als zu seinem Chef gesprochen. Der wurde nun ungeduldig.

„Wen meinst du denn?“

Windmacher antwortete nicht sofort, nahm dann offenbar seinen ganzen Mut zusammen und sagte mit gedämpfter Stimme: „Ich bin mir nicht sicher und will niemanden anschwärzen, der das nicht verdient hat. Guido, du weißt, dass du mir vertrauen kannst. Gib mir einen Tag Zeit, und ich regele das. Wenn ich dann Näheres weiß, informiere ich dich sofort. Versprochen!“

Der Hauptmann dachte nach und brummte dann etwas unwillig: „So was würde ich bei keinem anderen durchgehen lassen, das ist dir ja wohl klar. Aber okay! Weil du es bist. Sieh zu, dass du mir morgen Abend eine vernünftige Antwort geben kannst. Auch eine alte Freundschaft hat ihre Grenzen. Noch bin ich hier der Chef, vergiss das nicht. Also, morgen zum Dienstschluss will ich dich bei mir auf der Matte sehen. Bis dann!“

Windmacher schluckte noch an dieser Zurechtweisung, als Mannhardt schon längst durch die Tür verschwunden war.

Dann nahm er den Telefonhörer hoch.

6

Der Arbeitstag hatte für den Stabsunteroffizier Marc Bornemann trotz des schockierenden Marschbefehles des Vortags nahezu normal begonnen. Er hatte seinem direkten Vorgesetzten, dem Oberfeldwebel Klaus Windmacher, bereits gestern davon berichtet. Windmacher hatte eine durchaus angenehme Mischung aus Soldatenstolz auf eine aus seiner Sicht so wichtige und ernsthafte Berufung, aber auch Verständnis für Bornemanns persönliche Sorgen und Ängste gezeigt.

Ja, mit dem Mann konnte man vernünftig reden, musste Bornemann anerkennen. Obwohl er im Dienst ein Pedant reinsten Wassers war. Menschlich aber hatte er an Windmacher nicht viel auszusetzen.

Den heutigen Vormittag hatte Bornemann auf dem Schießplatz verbracht und dort Vorbereitungen für eine größere Schießübung getroffen, als ihn ein Anruf Windmachers erreichte. Bornemann solle sofort zur Waffenkammer kommen. Es gäbe einiges zu besprechen.

Auf einem der großen Tische in der Waffenkammer lag eine Maschinenpistole vom Typ Uzi. Windmacher runzelte die Stirn, als er auf die Waffe zeigte, und fragte:

„Wir haben ein Problem. Kannst du mir erklären, wie dieses Ding zu uns gekommen ist? Diese Uzi dürfte es nämlich eigentlich gar nicht bei uns geben. Weißt du irgendetwas darüber?“

Bornemann war vor den Kopf gestoßen. Auf diese Frage war er in keiner Weise vorbereitet.

„Keine Ahnung! Das sagt mir gar nichts. Was ist denn damit?“

Oberfeldwebel Windmacher berichtete nun davon, wie ihr gemeinsamer Kompaniechef sich eigenständig diese Waffe aus dem Depot geholt und bei der Rückgabe festgestellt hatte, dass sie nicht im Bestand aufgelistet war.

„Er ist ziemlich auf dem Baum, das kannst du mir glauben. Wollte gleich das ganz große Rad drehen, die ganze Maschinerie in Gang setzen. Aber ich konnte ihn etwas bremsen. Zumindest für kurze Zeit. Ich habe ihm zugesagt, bis heute Nachmittag Meldung zu machen, was ich herausgefunden habe. Dass er selbstverständlich ganz besonders dich im Verdacht hat, geschlampt zu haben, brauche ich ja wohl kaum zu erwähnen, oder? Ihr seid nun mal nicht gerade dicke Freunde.“

„Das kannst du laut sagen“, brummte Bornemann zerknirscht und starrte den Fußboden an. Dann blickte er auf und fragte:

„Und du willst jetzt von mir wissen, wie die Knarre hierhergekommen ist, richtig? Ich schwöre, ich habe keine Ahnung. Unsere letzte Inventur war gerade mal vor zwei Wochen. Und da hat alles gepasst, es gab keine Unstimmigkeiten zwischen Bestand und Listen, wie du weißt. Schließlich haben wir die Inventur zusammen gemacht. Ich weiß nichts über dieses Scheißding!“

Nach einer Minute Stille fuhr er wütend fort:

„Aber wenn der Chef unbedingt einen Prügelknaben braucht, dann stehe ich gerne zur Verfügung. Ist doch jetzt sowieso alles scheißegal. In zwei Monaten geht’s nach Afghanistan, in spätestens drei Monaten werde ich im Zinksarg wieder zurücktransportiert und komme mit großem Zapfenstreich unter die Erde. Was spielt es da noch für eine Rolle, ob mein ehemaliger Hauptmann mich wie ein Stück Dreck behandelt hat oder nicht? Oder ob ich meine Listen ordentlich geführt habe. Dann bin ich ein Held. Auch wenn ich davon nichts mehr habe.“

Plötzlich schüttelte ihn ein Lachanfall.

„Wenn er mir vorwerfen würde, diese MP gestohlen zu haben, okay. So etwas kommt ja vor. Aber dass ich der Einheit eine Waffe unterjubele, die sie gar nicht haben will, ist doch wohl komplett hirnrissig.

Wenn ich eine funktionierende Maschinenpistole finden würde, die es offiziell gar nicht gibt, dann würde ich sie entweder behalten oder verkaufen. Aber ich würde sie nicht der Bundeswehr spenden, da kannst du einen drauf lassen.“

Eine Weile schwiegen die beiden Männer sich an.

„Was soll ich denn jetzt dem Chef sagen?“, fragte Windmacher leise. „Er wird sich nicht damit begnügen, dass wir beiden erklären, von nichts zu wissen. Er wittert eine ganz große Geschichte. Und er wird alles umkrempeln, um herauszufinden, was hier schiefgelaufen ist. Dafür kenne ich ihn lange genug.“

Bornemann gab sich alle Mühe, strukturiert zu denken, aber es fiel ihm schwer. Immer wieder überrollte ihn wie ein Tsunami eine Welle von Wut und löschte jeden klaren Gedanken aus.

7

Mannhardt saß an seinem Schreibtisch und grübelte. Was war hier los? Da lag eine Uzi in der Waffenkammer herum, die es eigentlich gar nicht gab. Irgendetwas war im Busche, das auch für ihn, den Kommandanten der Nachschubkompanie, verdammt gefährlich werden konnte. Wenn es um Waffen ging, kannte sein Dienstherr, die Bundeswehr, kein Pardon. Seit immer wieder irgendwelche Geisteskranken oder sonstige Gestörte bei so genannten Amokläufen reihenweise Menschen umgebracht hatten, waren die Kontrollen in den Waffenarsenalen des Bundes verschärft worden. Höchste Sicherheit war das Ziel. Und jetzt war ihm eine Maschinenpistole in die Hände gefallen, die nirgendwo eingetragen war. In seinem eigenen Laden gab es illegale Waffen. Was hatte das zu bedeuten? Was wurde hier gespielt? Hatte er, Mannhardt, bereits einen schwerwiegenden Fehler begangen? Eigentlich hätte er den Vorfall sofort melden müssen. Wenn Mannhardt seine Offizierskarriere nicht aufs Spiel setzen wollte, musste er handeln. Windmacher hatte ihn eingelullt. Damit hatte er sich als Chef auf dünnes Eis begeben. Doch jetzt war Schluss damit. Zunächst würde er sich diesen Bornemann vornehmen. Denn, wenn er Windmacher glauben durfte, war der Stabsunteroffizier bei der Befragung richtig patzig geworden.

Entschlossen stand der Offizier von seinem Schreibtischstuhl auf und ging zur Waffenkammer. Natürlich war niemand da. Verpissen nannten die Soldaten es, wenn sie jemanden aus dem Wege gehen wollten. Nicht mit ihm, nicht mit Hauptmann Mannhardt, er kannte diese Tricks. Entschlossen machte er sich auf den Weg Richtung Waffeninstandsetzungswerkstatt. Als er die Tür zur Halle öffnete, war er innerhalb einer Zehntelsekunde fassungslos. Mitten im Raum stand ein Zivilfahrzeug! In dessen Kofferraum standen drei geöffnete Holzkisten und in jeder lag eine Waffe aus der Reihe Panzerfaust 3. Was war hier los?

Ein metallisches Klicken ließ ihn aufhorchen. Er hatte dieses Geräusch hundertfach gehört: das Entsichern einer Waffe.

8

Marc Bornemann hatte Feierabend und schob am späten Dienstagnachmittag einen Einkaufswagen durch die unendlich erscheinenden Regalreihen des Detmolder Real-Marktes. Sein Entschluss war seit gestern immer wieder mal ins Wanken geraten. Er hatte versucht, ganz sachlich das Für und Wider abzuwägen, hatte schließlich Angst vor seiner eigenen Courage bekommen.

Letztlich aber hatte er sich immer wieder aufgerappelt und sich gesagt: Was kann mir schon Schlimmeres passieren, als ein paar Monate Gefängnis? Die Chance, dort körperlich und seelisch unbeschadet herauszukommen, war signifikant höher als in Afghanistan. Irgendwann würde er wieder ein normales Leben außerhalb der Bundeswehr führen können. Mit dem Laden war er fertig! Nur eine Rechnung hatte er noch zu begleichen: Hauptmann Mannhardt. Ein Jahr lang hatte dieser Mann ihn behandelt wie Ungeziefer. Dann, gestern dieser Auftritt, den der Hauptmann sichtlich genossen hatte. Und heute Vormittag die unausgesprochene, aber deutlich im Raum stehende Verdächtigung wegen der aus dem Nichts aufgetauchten Maschinenpistole. Es reichte jetzt!

Für morgen früh war Bornemann zur Wache eingeteilt. Aber er würde den Wachdienst nicht antreten. Morgen früh würde er sich von seiner bürgerlichen Existenz verabschieden und in die Illegalität eintauchen. Bei seiner Freundin konnte er nicht wohnen, da er sie nicht in Schwierigkeiten bringen wollte, aber ein Cousin aus Gütersloh, dem er erzählt hatte, er müsse für ein paar Tage woanders unterkommen, weil seine Wohnung renoviert würde, hatte ihm Quartier angeboten. Da es ihm zuwider war, sich durchzuschnorren, hatte er nun einige Lebensmittel eingekauft und war froh, endlich die lange Schlange an der Kasse hinter sich gebracht zu haben. Er stopfte seinen Einkauf in einen großen Rucksack und ging langsam an den verschiedenen, kleineren Geschäften vorbei zum Ausgang. Ihm war merkwürdig zumute. Würde er jemals wieder als unbescholtener Bürger hier einkaufen können, wenn er den Schritt vollzogen hatte?

Marc Bornemann schüttelte diesen Gedanken ab wie ein lästiges Insekt.

Auf dem Weg zu seinem Auto stellte sich ihm ein verwahrloster, junger Mann, etwa in seinem Alter, in den Weg und pumpte ihn um einen Euro an. Bornemann stutzte, weil ihm das bärtige und verlebte Gesicht plötzlich irgendwie bekannt vorkam.

Schnell wollte er an dem heruntergekommenen Kerl vorbeihuschen, als der ihn, nicht minder überrascht, ansprach:

„Marc? Marc Bornemann?“

Bornemann zuckte zurück, als habe er Angst, sich anzustecken. Dennoch bestätigte er die Frage, konnte sich aber seinerseits nicht an den Namen seines Gegenübers erinnern.

Der half nach:

„Kennst du mich nicht mehr? Alex! Alex Kirschbaum. Wir haben zwei Schuljahre zusammen an einem Tisch gesessen.“

Tatsächlich, dachte Bornemann. Alex, der Streber. Kirschbaum war immer der Klassenbeste gewesen, hatte den Lehrstoff schon inhaliert und verdaut, bevor andere drankamen.

Er war nie beliebt gewesen, aber niemand hatte daran gezweifelt, dass ihm eine große berufliche Karriere bevorstand. Wieso stand der nun hier als Penner vor ihm?

9

Die Böcke waren schon seit mehreren Tagen offen. Doch bisher hatte Christian Plietker nicht die Zeit gefunden, auf die Jagd zu gehen. Heute hatte er Urlaub. Diese Gelegenheit wollte er nutzen.

Nach dem Frühstück packte er seinen Hund Anton in den neuen Geländewagen und fuhr mit dem vierbeinigen Jagdkumpanen in sein Revier. Er wollte das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Mit Anton wollte er einen langen Spaziergang machen. Auf diesem Wege konnte er dann auch gleich nachsehen, ob irgendwo ein Rehbock gefegt hatte. Er fuhr durch die Lopshorner Allee Richtung Mordkuhle. Fast oben am Kamm des Teutoburger Waldes lenkte er sein Auto auf einen kleinen Schotterplatz, öffnete die Heckklappe und leinte seinen Hund an. Dann machte er sich auf den Weg Richtung Wasserwerk. Nach ungefähr zweihundert Metern schlug er sich in die Naturverjüngung. Er wollte einen Hauptwechsel abgehen und in dessen Umgebung nach Fegespuren suchen.

Plötzlich fing sein Hund an zu winseln. Aufmerksam beobachtete Christian Plietker die Umgebung. Stand da irgendwo ein Stück Rehwild, das ihn noch nicht wahrgenommen hatte? Er suchte die dicht bewachsenen, jungen Buchenbestände ab. Da vorne war doch was. Stand da etwa ein Auto? Die Sonne brach sich in dessen Windschutzscheibe. Einige der von dort ausgehenden Strahlen trafen Christian Plietker mitten ins Gesicht. Wer in drei Teufels Namen war so dreist und stellte seine alte Karre mitten im Wald ab? Na, dem würde er es zeigen.

Er bewegte sich auf das fremde Auto zu, um sich das Nummernschild aufzuschreiben. Je näher Herr und Hund dem Fahrzeug kamen, umso lauter bellte und winselte Anton. Als sie auf zwanzig Meter herangekommen waren, zerrte Anton an der Leine, als hätte er Wildgeruch in der Nase.

Plietker schwante Übles. Da hatte sich doch nicht etwa jemand …? Er wollte den Gedanken nicht zu Ende denken. Sein Hund wurde immer verrückter. Dann stand er vor dem VW-Passat. Trotz aller Dramatik formulierte sich in Plietkers Kopf eine Frage: Wer um Himmels willen kauft sich einen VW in der Farbe Goldmetallic? Doch was er dann sah, stellte all seine Vorahnungen in den Schatten.

Auf dem Beifahrersitz saß ein Mann, der mit leeren Augen in die Welt starrte. Der hintere Teil seines Kopfes fehlte. In der rechten Hand hielt der Tote eine Waffe. Eine Walther P8, die standardmäßige Faustfeuerwaffe der Bundeswehr. Christian Plietker erkannte das Modell sofort. Mit so etwas kannte er sich aus. Erst jetzt fiel ihm auf, dass der Mann eine Uniform anhatte. Doch diese Tatsache spielte im Moment keine Rolle. Obwohl der Jäger einiges gewöhnt war, musste er alle Konzentration und Körperbeherrschung aufbringen, um sein Frühstück nicht augenblicklich in den Wald zu spucken.

Hastig griff Plietker nach dem Handy und wählte die Nummer 110. Nichts tat sich -- er befand sich mitten in einem Funkloch. Verdammter Mist, dachte Plietker, ich muss die Polizei anrufen.

Er rannte den Weg zurück, den er gekommen war. Sein Hund weigerte sich, ihm zu folgen. Er zerrte ihn hinter sich her. Nachdem er circa fünfzig Meter weit gekommen war, versuchte er wieder zu telefonieren, doch er hatte immer noch keinen Empfang. Der Hund riss heftig an der Leine. Dann schaffte er es, sich zu befreien. Er zog den Kopf aus dem zu weit eingestellten Halsband und rannte kläffend zurück zur Leiche.

„Verdammter Köter!“ Christian Plietker rannte dem bellenden Tier hinterher. Das war bereits wieder an dem Fahrzeug mit dem Toten angekommen. Es kratzte an der Beifahrertür. Dann sprang der Hund auf die Kühlerhaube. Jetzt schrappte er an der Windschutzscheibe. Schweißgebadet erreichte Plietker das Auto. Er bekam den Hund im Nackenfell zu fassen. Hastig riss er ihn von dem Wagen und schnallte ihm wieder das Halsband um. Diesmal zog er es enger. Der Hund wehrte sich mit aller Kraft. Es war geradezu ein Kampf, ihn von der Leiche wegzuzerren.

Nach einer gefühlt endlos langen Zeit erreichte der Jäger seinen Geländewagen. Wieder versuchte er zu telefonieren. Wieder ohne Erfolg. Eigentlich wusste Plietker aus Erfahrung, dass hier schlechter Empfang war. Doch an einigen Stellen funktionierte es manchmal. Warum nur jetzt nicht? Er suchte nach seinem Autoschlüssel und fluchte über die Jacke, die er sich einst wegen der vielen Taschen gekauft hatte. Er kontrollierte sie alle mehrfach. Seine Aufregung war so groß, dass er ihn nicht sofort fand. Dann endlich klimperte es in irgendeiner der Taschen. Christian Plietker griff hinein und zog den Schlüssel heraus. Er bugsierte seinen Hund in den Kofferraum. Dann startete er den Wagen und raste Richtung Hiddesen.

Am Ortseingang versuchte er wieder zu telefonieren. Endlich bekam er ein Freizeichen. In diesem Moment sah er an der Bushaltestelle Sternschanze, wie ein dicker Polizist die Kelle schwang und ihm bedeutete anzuhalten. Christian Plietker ließ sein Fahrzeug auf dem Seitenstreifen ausrollen, sprang aus dem Auto und rief dem Uniformierten zu: „Kommen Sie schnell! Im Waldstück zwischen Lopshorner Allee und Augustdorfer Straße steht ein Auto, in dem eine Leiche sitzt.“

„Ja, ja das kennen wir, und der Teufel ist natürlich ein Eichhörnchen. Führerschein und Fahrzeugpapiere! Sie sind 34 km/h zu schnell gefahren und haben obendrein noch während der Fahrt telefoniert. Ich kann mir vorstellen, dass Sie in nächster Zeit erst einmal ein paar Wochen zu Fuß gehen werden.“

10

Marc Bornemann hatte gestern weder Zeit noch Lust gehabt, mit seinem ehemaligen Klassenkameraden Kirschbaum gemütlich über alte Zeiten zu plaudern. Es war ihm auch ein bisschen peinlich gewesen, mit dem heruntergekommen Kerl gesehen zu werden. Aber er hatte ihn auch nicht so platt vor den Kopf stoßen wollen. So war das Gespräch zeitlich sehr kurz und inhaltlich absolut an der Oberfläche geblieben. Bornemann hatte einen Zehn-Euro-Schein herausgerückt und war froh gewesen, so glimpflich diesem etwas unwirklichen Zusammentreffen entkommen zu sein.

Die Begegnung wäre unter anderen Umständen für ihn gar nicht so ein Problem gewesen. Aber ausgerechnet an diesem Tag, als er im Begriff stand, seine bürgerliche Existenz aufs Spiel zu setzen, den Schritt über den Abgrund zu wagen, da hatte ihn der unverhüllte Blick auf einen, der ursprünglich einmal sogar bessere Voraussetzung als er selbst gehabt hatte, aber dennoch tief gestürzt war, schlicht und einfach erschüttert.

An diesem Morgen hätte er um sieben Uhr seinen Wachdienst antreten müssen. Aber für ihn gab es keinen Dienst mehr. Weder heute noch in Zukunft. Stattdessen hatte er seine Freundin noch einmal geküsst, war in sein Auto gestiegen und nach Gütersloh gefahren. Damit war sein Schritt auch praktisch vollzogen. Aus dem ehrenwerten Stabsunteroffizier Marc Bornemann war nolens volens ein vogelfreier Deserteur geworden. Von heute an würde sein Leben steil bergab führen.

Nun saß er am frühen Nachmittag bei seinem Cousin in Gütersloh in der Küche und blies in seinen zu heißen Kaffee. Steffen Tönsfeuerborn wohnte in einem Reihenhaus an der Dalker Straße und war neugieriger, als es Bornemann lieb war.

„Was wird denn bei dir renoviert?“

„Ach, die Wände sind durch einen Rohrbruch feucht geworden und mein Vermieter hat mehrere Trocknungsgeräte aufgestellt. Die sollen jetzt ein paar Tage laufen, um die Bude wieder trocken zu kriegen. Wohnen kann man da im Augenblick aber nicht. Ist ja auch gesundheitsgefährdend, so´ne feuchte Wohnung. Ich bin also ganz froh, dass ich ein paar Tage bei dir hausen kann.“

„Klar, kein Problem. Wozu hat man Verwandte, oder?“, grinste Tönsfeuerborn.

Bornemann hatte seinen Cousin lange nicht mehr gesehen und empfand eigentlich wenig Sympathie für ihn. Außerdem gingen ihm im Augenblick ganz andere Themen durch den Kopf. Aber das wollte er seinem Gastgeber nicht zeigen und zwang sich zu einem lockeren Plauderton, der möglichst wenig von seinem zerrissenen inneren Zustand verraten sollte.

„Aber am Freitag muss ich dich rauswerfen“, schränkte Tönsfeuerborn seine Gastfreundschaft gleich ein. „Da kommt meine Freundin. Und da will ich ungestört sein, du verstehst?“

Bornemann verstand und dachte an seine eigene Freundin, die in diesem Augenblick schwanger in ihrer kleinen Wohnung saß, deren Zukunftshoffnung auf eine kleine, nette Familie er bereits jetzt zerstört hatte und die spätestens morgen, vermutlich aber schon heute Besuch von den Feldjägern bekommen würde, da er seinen Wachdienst unentschuldigt nicht angetreten hatte. Alles lag in Scherben! Ihn durchzog eine Welle heißer Wut, als nun vor seinem geistigen Auge das Bild seines Kompaniechefs auftauchte. Natürlich hatte Mannhardt nicht diesen Scheiß-Krieg in Afghanistan erfunden, natürlich war nicht er persönlich dafür verantwortlich, dass junge Leute in einem sinnlosen Kriegseinsatz verheizt wurden. Aber für Bornemann stand fest, dass Hauptmann Guido Mannhardt seinen Teil dazu beigetragen hatte, ihn dorthin zu schicken. Ob diese Annahme realistisch war oder nicht, war ihm im Augenblick egal. Er wollte hier und jetzt ein Feindbild, wollte eine Projektionsfläche für seine Wut, wollte hassen.