Reitemeier / Tewes · Fleisch-Hammer-Mord

JÜRGEN REITEMEIER

WOLFRAM TEWES

Fleisch-Hammer-Mord

PENDRAGON

Prolog

Als Joachim Krömer den Holzhammer in die Hand nahm und mit zwei kräftigen Schlägen den Zapfhahn in das große Bierfass trieb, ahnte er nicht, dass er demnächst den größten Fehler seines Lebens begehen würde.

Kein Wunder, denn heute war der glücklichste Tag, den er bisher erlebt hatte. Und morgen würde er noch glücklicher werden. Denn morgen würde er heiraten. Die großartigste Frau, die ein Mann wie er sich nur wünschen konnte. Heute aber war erst einmal Polterabend.

Das ganze Dorf hatte sich im Saal der Gaststätte Zum wilden Jäger in Heidental eingefunden. Krömer hatte vor lauter Glück jeden Dorfbewohner schriftlich eingeladen, und die Heidentaler ließen sich nicht lange bitten. Eigentlich war das Lokal schon vor fünf Jahren von den Wirtsleuten aus Altersgründen geschlossen worden, aber eigens für diese Feierlichkeit hatten sie den einzigen Saal im Ort einen Abend lang geöffnet.

Krömer ließ den Hammer fallen und hielt ein großes Glas unter den Zapfhahn. Dann übernahm Max Kaltenbecher, der ehemalige Wirt, die professionelle Bedienung des Zapfhahns und füllte ein Glas nach dem anderen. Als alle versorgt waren, legte Krömer seiner künftigen Frau den Arm um die Hüfte, hob sein Glas hoch und prostete allen Anwesenden laut zu. Dann nahm ganz Heidental, als würde es von einer unwiderstehlichen Macht ferngesteuert, gleichzeitig einen gewaltigen kollektiven Schluck. Es dauerte eine Weile, bis alle zwei- bis dreimal tief Luft geholt hatten, doch dann brach der angestaute Redefluss eines ganzes Dorfes alle Deiche, und eine Flut von hohen und tiefen, sanften und rauen, leisen und lauten Stimmen überschwemmte den großen Raum. Gleichzeitig quetschte der Alleinunterhalter den ersten uralten Schlager aus der viel zu laut eingestellten elektrischen Orgel.

Joachim Krömer konnte sein Glück kaum fassen. Wieder und wieder warf er seiner Braut verliebte Blicke zu. Dass er, der über vierzigjährige Junggeselle, der alles andere als ein Frauenschwarm war und bereits vor Jahren jede Hoffnung auf erotisches Glück hatte fahren lassen, noch einmal heiraten würde, und dann auch noch eine so schöne Frau, war schier unfassbar für ihn.

Aber er fand wenig Zeit, sich am Anblick seiner Braut zu erfreuen, denn immer wieder wurde er angesprochen, musste er Hände schütteln und Gratulationen entgegennehmen. Auch diese Anteilnahme der Dorfbewohner war für ihn neu. Er war hier zwar geboren und aufgewachsen, kannte vom Sehen her jeden, aber richtig dazugehört hatte er nie. Krömer wusste durchaus, was die Leute von ihm dachten. Sie hatten nichts gegen ihn, nein, aber er war ihnen stets fremd geblieben. Du bist ein netter und umgänglicher Kerl, wurde ihm immer wieder gespiegelt, aber auch ein seltsamer Vogel. So richtig wissen wir mit dir nichts anzufangen.

Und dennoch waren sie an diesem Abend alle gekommen. Vielleicht nur wegen des Freibieres, vielleicht aus Neugier, vielleicht aber auch, weil sonst nichts los war im Dorf. Es war ja eigentlich nie etwas los in Heidental.

Krömer wischte alle seine Bedenken zur Seite. Heute Abend wollte er Spaß haben und sein neues Glück genießen. Er nahm sich ein weiteres Glas Bier und sah sich ein wenig unter den Gästen um. Ganz in der Nähe von ihm stand der allgegenwärtige, immer aufdringliche Ortsvorsteher, der in ein Gespräch mit der Braut vertieft war. Krömer entdeckte seine Nachbarin, die hochgewachsene Klara Henkemeier, die sich gerade mit dem jungen Pfarrer unterhielt. Das Grüppchen daneben bestand aus Leuten in seinem Alter, die er teilweise noch aus der Schule kannte. Rechts von ihm tauchte nun ein kleiner uralter Mann auf, der heftig gestikulierte und mit auffällig lauter Stimme sprach. Es war der Bauer Anton Fritzmeier, den in Heidental nun wirklich jeder kannte. Der Alte hatte, als der Wilde Jäger und kurz darauf auch das einzige Lebensmittelgeschäft des Orts geschlossen hatten, auf seinem Bauernhof einen kleinen Hofladen eröffnet, der seitdem zum sozialen Zentrum des Dorfes geworden war. Neben Fritzmeier stand der Kriminalbeamte Jupp Schulte, den Krömer nur vom Sehen her kannte. Mit ihm hatte Krömer, soweit er sich erinnern konnte, nie mehr als einen Gruß gewechselt. Schulte war Mitte fünfzig und lebte als Mieter auf Fritzmeiers Hof. In seiner Dienststelle galt er – so munkelte man – als kompetent, aber nicht gerade einfach im Umgang.

Beinah wäre Krömer bei seinem Rundgang mit einer zierlichen, blonden Frau in seinem Alter zusammengestoßen, die in diesem fröhlichen Getümmel etwas verloren wirkte. Sie lächelte, als Krömer zu ihr kam und ihr zuprostete. Sabine Hoffmann war seit ihrer gemeinsamen Schulzeit eine Konstante in seinem Leben gewesen. Sie hatten viel zusammen unternommen, waren gewandert und hatten Konzerte besucht. Viele Außenstehende hatten gedacht, sie seien auf dem besten Weg, ein Paar zu werden. Doch dazu war es nie gekommen. Bei aller gegenseitigen Zuneigung war ihr Verhältnis immer rein platonisch geblieben. Noch heute vermieden beide jede Form von körperlicher Berührung, gaben sich zur Begrüßung und zum Abschied brav die Hand. Mehr war nicht, mehr sollte auch nicht sein. Irgendwann verstummten die Gerüchte, und aus Krömer wurde die tragische Figur des „ewigen Junggesellen“. Da Sabine Hoffmann bereits während ihrer Berufsausbildung von Heidental in den Detmolder Ortsteil Heidenoldendorf gezogen war, wo sie immer noch wohnte, hatte man sie im Dorf fast schon vergessen.

Sabine würde morgen mit ihm und seiner Braut vor dem Traualtar stehen, als seine Trauzeugin. Niemand anderes wäre für dieses Ehrenamt infrage gekommen. Sie lächelte ihm noch einmal zu und sagte, so leise wie es der Lärm im Raum zuließ:

„Ich freue mich so für dich! Daniela ist eine wunderbare Frau. Du hast dieses Glück wirklich verdient.“

Strahlend setzte Krömer seine Begrüßungstour fort. Nur drei Männern in seinem Alter ging er aus dem Weg. Er hatte zwar alle Dorfbewohner pauschal eingeladen und musste daher jeden als Gast akzeptieren, aber diese drei waren nicht sein Fall. Er wusste, dass sie in der Vergangenheit keine Gelegenheit ausgelassen hatten, sich über ihn lustig zu machen. Auch an ihnen war nicht vorübergegangen, dass die Beziehung zu Sabine Hoffmann alles andere als erotisch war, weshalb sie gern in aller Öffentlichkeit über seine sexuelle Orientierung spekuliert hatten.

Doch das würde sich ja nun ändern. Ab morgen würde er, dank dieser wunderbaren Frau, ein ganz normaler Ehemann unter anderen normalen Ehemännern sein. Ab morgen würde alles gut werden.

1

Schon am Vormittag war der sonst im Büro übliche Kaffee von kühleren Getränken verdrängt worden. Es drohte der bislang heißeste Tag des Jahres zu werden. Die Mitarbeiter der Lemgoer Softwareschmiede hatten die Jalousien heruntergelassen, alle verfügbaren Ventilatoren angeworfen und schwitzten dennoch. Bei der Besprechung zu Dienstbeginn war bereits eine spaßig gemeinte Forderung nach hitzefrei laut geworden, die jedoch vollkommen humorlos abgewiesen worden war. Ein wichtiges Projekt stand kurz vor dem Abgabetermin. Da wurde jede Hand gebraucht. Jetzt, kurz vor Mittag, waren die Mitarbeiter erschöpft und die Stimmung gereizt. Keiner sprach ein Wort, nur das Brummen der Ventilatoren und der PC-Lüftungen war zu hören.

„Achim macht’s richtig!“, rief plötzlich einer quer durch den großen Raum, in dem fünf Kollegen schweigend vor ihren Bildschirmen saßen. „Der macht heute schon den zweiten Tag blau.“

„Stimmt!“, gab eine junge blonde Frau bissig zurück. „Genau das richtige Wetter fürs Freibad.“

Auf einmal sprachen alle durcheinander. Der Gedanke daran, dass sich einer von ihnen jetzt, in diesem Moment, in den kühlen Fluten eines Freibades wälzte, während sie vor ihren Rechnern schwitzten, weckte in ihnen eine brisante Mischung aus Neid und Anerkennung.

„Hätte ich ihm gar nicht zugetraut, unserem Oberstreber“, meinte ein übergewichtiger Mann mit Pferdeschwanzfrisur und nahm einen großen Schluck aus seiner Coladose. „Ausgerechnet Achim, das Muster an Zuverlässigkeit und Fleiß, kümmert sich einen Dreck um dieses verdammte Projekt und macht einen auf krank. Coole Socke, unser Achim!“

Für kurze Zeit schwiegen wieder alle und starrten mit müden Augen auf die Bildschirme. Dann hob die junge Frau wieder den Kopf und fragte: „Weiß eigentlich einer von euch, ob er schon eine Krankmeldung geschickt hat?“

Keiner hatte davon etwas mitgekriegt, das mochte aber auch daran liegen, dass die Krankmeldung vermutlich mit der Post gekommen und direkt zum Chef gegangen war. Der Boss würde schon wissen, was mit dem Kollegen los war.

Doch als zehn Minuten später Lars Janssen, der noch junge Inhaber der Firma, ins Großraumbüro kam und locker in die Runde fragte, ob irgendjemand etwas von dem vermutlich kranken Kollegen gehört habe, waren alle erstaunt.

„Das kann der doch nicht machen“, ereiferte sich Janssen. „Wir müssen übermorgen das fetteste Projekt der letzten beiden Jahre präsentieren, sind noch lange nicht fertig, und einer meiner wichtigsten Leute kommt nicht zur Arbeit. Unentschuldigt. Ohne auch nur einmal anzurufen. Ich bin stinksauer!“

Wieder meldete sich der Mann mit dem Pferdeschwanz:

„Das passt überhaupt nicht zu ihm. Wenn man sich auf einen hier verlassen kann, dann auf Achim. Er ist zwar ein komischer weltfremder Nerd, aber keiner, der seinen Job einfach so im Stich lässt. Ich finde, wir sollten mal bei ihm anrufen.“

Der Chef nickte, griff zu seinem Handy und wählte die einprogrammierte Festnetznummer seines Mitarbeiters. Als sich am anderen Ende der Leitung Frau Krömer meldete, erkundigte sich Janssen, ob ihr Mann zu Hause sei.

„Zu Hause? Nein, der ist doch vorgestern nach Berlin gefahren. Mit dem Zug.“

„Was macht er denn in Berlin?“, fragte Janssen, der völlig aus dem Konzept gebracht war.

„Er hat sich einige Tage Urlaub genommen, um dort was Wichtiges zu erledigen. Das ist doch wohl sein gutes Recht, oder etwa nicht? Was geht Sie das überhaupt an?“

„Das Ganze ist schon merkwürdig. Ihr Mann hat nämlich gar keinen Urlaub angemeldet. Und wir brauchen ihn gerade jetzt ganz dringend. Haben Sie in den letzten Stunden Kontakt zu ihm gehabt?“

„Nein, ich hatte keinen Kontakt zu ihm in den letzten Stunden. Hören Sie mal, seit wann darf ein Arbeitgeber hinter seinem Mitarbeiter herschnüffeln, wenn der im Urlaub ist? Aber bitte schön, wenn Sie es nicht lassen können, dann rufen Sie ihn doch einfach auf dem Handy an, dann können Sie ihn direkt fragen.“

Janssen beendete das Gespräch und probierte es auf Krömers Handy. Doch es erklang nur die Mitteilung, dass der gewählte Teilnehmer derzeit nicht zu erreichen sei. Mit einem resignierten Achselzucken gab er auf und informierte seine Leute.

„Da stimmt doch was nicht“, bemerkte die junge blonde Frau. „Das ist absolut nicht seine Art. Langsam fange ich an, mir Sorgen zu machen. Wir sollten etwas unternehmen.“

Ihr Chef zögerte. „Nee, so schnell können wir nicht reagieren. Ich möchte nicht als Brutalo-Chef dastehen, der sofort die Welle macht, wenn ein ansonsten solider Mitarbeiter mal eine kleine Krise hat. Er hat verdammt viel gearbeitet in der letzten Zeit. Vielleicht hat er gerade einen Durchhänger und nimmt sich eine Auszeit. Und damit seine Frau sich keine Sorgen macht, hat er diese Berlinstory erfunden. Wir warten den heutigen Tag noch ab. Wenn er sich bis morgen früh noch nicht gemeldet hat, schlage ich Alarm. Und nun wieder an die Arbeit, Leute. Wir müssen fertig werden!“

2

Wenn Anton Fritzmeier schlechte Laune hatte, dann sah man es ihm auch an. In solchen Situationen war er außerstande, über seinen Schatten zu springen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen oder freundlich zu lächeln. Als Landwirt war Fritzmeier zeitlebens sein eigener Herr gewesen. Auf dem Acker war er einsam, aber frei. Nie hatte er sich in ein Team einordnen müssen, musste nie auf die Launen eines Vorgesetzten eingehen oder seine eigenen vor einem Chef verbergen. Er hatte es nie nötig gehabt, anderen Menschen zu gefallen. Das machte ihn zwar manchmal schwierig im Umgang, doch dafür wusste man bei Anton Fritzmeier immer, woran man war.

Und heute hatte er definitiv schlechte Laune. Er knallte zwei Bierflaschen auf den Verkaufstresen seines Hofladens, ließ eine davon für sich selbst aufploppen und schob die andere Jupp Schulte hin. Der hatte seine eiskalte Flasche noch nicht einmal geöffnet, da war Fritzmeier mit seiner schon fertig. Ächzend stellte er sie zu den anderen leeren Flaschen in den Kasten und machte eine abfällige Bemerkung über die schreckliche Hitze. Schulte kannte seinen Vermieter seit vielen Jahren und wusste, dass man Fritzmeier in solchen Augenblicken vorsichtig behandeln musste. Also wartete er geduldig, bis der Alte von selbst anfing, über seinen Ärger zu sprechen.

„Mit den Frauen hasse immer nur Ärger, Jupp. Sei froh, dasse Jungcheselle bis. Da hasses echt chut.“

„No woman no cry!“, sang Schulte leise und wenig melodiös vor sich hin.

„Wat sachse?“, fragte Fritzmeier genervt. „Willse mich veräppeln? Sprich ordentlich mit ’nem alten Mann!“

Schulte machte eine beschwichtigende Handbewegung und fragte dann vorsichtig: „Welche Frau macht dir denn Ärger?“

„Elvira natürlich!“, brauste Fritzmeier auf. Elvira Kaufmann hatte er während seines einzigen echten Urlaubes vor ein paar Jahren auf Kreta kennengelernt. Die pensionierte Lehrerin aus Bad Salzuflen hatte ein für alle Außenstehenden unerklärliches Interesse an Anton Fritzmeier gezeigt, und als die beiden so ungleichen alten Menschen, die gepflegte, kultivierte Frau und der struppige, ungeschliffene Mann, sich kurz darauf als Paar vorstellten, hatte Schulte erst an einen Scherz geglaubt.

Die beiden waren nie zusammengezogen. Elvira Kaufmann hatte ihre Wohnung behalten, kam aber häufig nach Heidental. Sie machten Spaziergänge, saßen bei Kaffee und Kuchen zusammen, lachten miteinander, stritten sich, manchmal konnte sie Fritzmeier sogar zum Besuch einer Kulturveranstaltung überreden.

„Die is immer noch sauer. Wegen die Fahrt zu den Amis. Weil ich abchesagt habe. Chetz spielt se die beleidigte Leberwurst. Hätte sich so chefreut und so weiter. Und ich hätte ihr alles verdorben. Sach mal, Jupp, hasse schon mal so’n Quatsch chehört?“

Tatsächlich hatte Fritzmeier fast ein Jahr lang von dieser USA-Reise gesprochen und sogar versucht, etwas Englisch zu lernen, womit er Schulte mehr als einmal auf die Nerven gegangen war.

„Warum hast du eigentlich abgesagt?“, fragte Schulte. „Du hattest dich doch so darauf gefreut.“

„Chefreut?“ Fritzmeiers Stimme überschlug sich fast. „Chezwungen hat se mich, moralisch chezwungen. Diese Fahrt wäre ihr letzter chroßer Traum, allein würde se sich nicht trauen. Alles hinge von mir ab. Jupp, wat hätte ich denn machen sollen? Also habbich chedacht, sachse erst mal Ja. In ein paar Tagen hat se das Chanze dann wieder verchessen, und chut iss. Hat se aber nich! Chefreut hat sie sich und immer wieder davon cheredet. Hab mich einfach nich chetraut, ihr die Freude zu verderben. Und letzte Woche kam se dann mit dat Flugticket an. Da ist dann alles aus mir raus cheplatzt. So ’ne Scheiße.“

„Und dann? Wie hat sie reagiert?“

„Kein Wort hat se chesagt. Aber ich konnte sehen, dass bei ihr innen drin alles zusammenchestürzt ist, wie bei so ’ne Dominoreihe. Machse einen Schnipp, dann kippt die chanze Reihe um. Einer nachen anderen. Dann hat sie schweigend die Tickets in ihre Handtasche chesteckt und is aussen Zimmer chelaufen. Wech war sie!“

„Ohne ein Wort?“, fragte Schulte erstaunt und nahm einen großen Schluck aus seiner Flasche.

Fritzmeier nickte schuldbewusst. Nach einer kleinen Pause fuhr er fort: „Aber se war schon dreimal wieder am Telefon. Und jedes Mal hat se mir Vorwürfe chemacht, so auf die moralische Tour, wie Frauen so sind. Ja, und heute war es chanz schlimm. Da hat se mich beschimpft, aber frach nich, wie. Mir ist chetz noch chanz elend zumute.“

In diesem Moment öffnete sich die Tür des Hofladens, und Schultes achtjähriger Enkel Linus fegte so lautstark herein, dass selbst Monster, Schultes uralter Hund, kurz aus seinem komaähnlichen Schlaf aufschreckte, um aber gleich wieder vor Schultes Füßen erschöpft einzunicken. Fritzmeier, der einen Narren an dem aufgeweckten Jungen gefressen hatte, stellte ihm eine Limo hin.

Linus wohnte mit seiner Mutter Ina, einer von Schultes beiden Töchtern, ebenfalls auf dem Fritzmeierschen Hof. Allerdings würde Ina, die den Hofladen mit aufgebaut hatte, demnächst wegziehen. Sie hatte eine neue Arbeit in Münster in Aussicht, und Pendeln kam für sie nicht infrage. Linus war alles andere als begeistert. Er hing an seinem Opa Jupp, und das Leben auf dem großen Hof war für einen Jungen in seinem Alter ein wahres Paradies.

Wieder öffnete sich die Eingangstür, und eine junge Frau kam herein, grüßte die beiden Männer freundlich und strich Linus über den Kopf. Sie hatte rabenschwarzes, lockiges Haar, dunkle Augen und den olivfarbenen Teint des südlichen Mittelmeerraums. Noura war erst vor Kurzem nach einer abenteuerlichen Flucht aus Libyen im Lippischen gelandet. Zusammen mit ihrem Gefährten Nadir, mit dem sie aus ihrem Heimatland hatte fliehen müssen, war die Journalistin zurzeit in Deutschland nur geduldet. Ein Asylantrag war gestellt, aber noch nicht bearbeitet worden.

Da die beiden dazu beigetragen hatten, einen Schleuserring zu sprengen, hatte Schulte sich dafür eingesetzt, sie auf dem Hof wohnen zu lassen, bis über ihre weitere Zukunft entschieden war. Platz gab es auf dem Hof ja genug. Fritzmeier hatte nach anfänglichen Bedenken Gefallen an der ebenso lebhaften wie schönen Frau gefunden. Mit Nadir war er allerding noch immer nicht ganz einverstanden. Er traute ihm einfach nicht, auch wenn Schulte sich für ihn verbürgt hatte. Das hatte wohl auch damit zu tun, dass Nadir, im Gegensatz zur gebildeten Noura, noch immer kein Wort Deutsch sprach. Er tat sich damit unglaublich schwer. Noura hingegen verstand bereits nahezu alles und war auch in der Lage, sich auf einfachem Niveau zu unterhalten.

Schulte sah sofort, dass Nouras Augen einen ganz neuen Glanz hatten. Die junge Frau strahlte, als wäre ihr Asylantrag schon in ihrem Sinne entschieden worden. Da Schulte aber wusste, dass es dafür noch viel zu früh war, musste Nouras gute Laune eine andere Ursache haben. Als er sie danach fragte, antwortete sie fröhlich: „Story kommt in Zeitung! Alles gut!“

In diesem Augenblick kam auch Ina zur Tür herein. Sie wedelte mit einem Blatt Papier herum.

„Eben ist die Mail reingekommen!“, rief sie fröhlich und in der für die Schultes üblichen Lautstärke. „Der Spiegel wird aus Nouras und Nadirs Flucht eine Geschichte machen. Mit ihren Fotos und ihren Hintergrundinformationen. Das ist doch mal was, oder?“

Schulte freute sich ehrlich mit der jungen Libyerin und gratulierte ihr zu dem Erfolg.

Etwa eine halbe Stunde standen sie im Laden und plauderten. Keinem war aufgefallen, dass sich kein einziger Kunde hatte blickenlassen. Bis Fritzmeier auf die Uhr schaute, die Stirn in Falten legte und lamentierte: „Habt ihr überhaupt chemerkt, dat kein Mensch mehr zum Einkaufen kommt? Wir stehen hier rum und quatschen. Aber davon wirft der Laden auch nix ab. Wat ist eigentlich los? Wollen die Heidentaler meine Sachen nich mehr, oder wat? Ham die auf einmal wat gegen mich?“

„Anton, das hat absolut nichts mit dir zu tun“, tröstete ihn Ina. „Es sind Sommerferien, und ganz Heidental ist im Urlaub. Nur die Alten sind hiergeblieben, und die trauen sich nicht vor die Tür, weil es so heiß ist. Warte ab, in drei Wochen kommen sie alle wieder.“

„In drei Wochen bin ich pleite!“ Fritzmeiers Laune war offenbar nicht mehr zu retten. „Außerdem bin ich dann gestorben – vor Langeweile.“

3

Erwin Lütkemeier streckte seinen Rücken, der von der ständig gebückten Haltung schmerzte. Dann zog er ein großes grünes Tuch aus der Tasche und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Das Läutern von Schonungen war eine verdammt schwere Arbeit. Seit Tagen waren sein Kollege Heinz Meierkort und er damit beschäftigt, zu dicht stehende Bäumchen zu kappen. Früher war der Winter für Waldarbeiter die härteste Jahreszeit gewesen, dachte Lütkemeier. Seit einigen Jahren jedoch war es nicht mehr die Kälte, sondern die Hitze der Sommer, die ihm das Arbeitsleben schwer machte. In diesem Jahr war es besonders schlimm. Ohne Sonnenschutzmittel und Hut wäre er hoffnungslos verloren, und der Hautkrebs würde ihn anspringen wie ein ausgehungerter Wolf das Reh.

Seit Wochen brannte die Sonne unerbittlich. Das Thermometer war schon wiederholt auf über fünfunddreißig Grad angestiegen. Jeden Tag wurde es trockener, die Bäume verloren vorzeitig ihre Blätter, und das Gras war braun geworden. Es grenzte fast an ein Wunder, dass es noch keine Waldbrände gegeben hatte.

Eigentlich müsste es hitzefrei geben, überlegte Lütkemeier. Er sah sich nach seiner Wasserflasche um und musste feststellen, dass sie schon wieder zur Hälfte ausgetrunken war. Durstig griff er nach der Flasche, trank einen Schluck und verzog angewidert das Gesicht. Die Brühe war lauwarm. So etwas konnte doch kein Mensch trinken. Gab es hier nicht ganz in der Nähe einen kleinen Bach? Dort könnte er doch sein Wasser kühlen.

Lütkemeier nahm die restlichen drei Flaschen aus seinem Rucksack und machte sich auf die Suche, doch nirgends konnte er den kleinen Bach entdecken. Vermutlich war der auch ausgetrocknet, dachte er. Gerade wollte er aufgegeben, da hörte er ein Plätschern. Die Quelle, die von dem Wasser tief aus dem Berg gespeist wurde, war wohl doch nicht versiegt. Er ging dem Geräusch entgegen, blieb nach wenigen Schritten jedoch stehen, denn er meinte, einen unangenehmen Geruch wahrgenommen zu haben. Lütkemeier atmete tief durch, aber jetzt roch die Luft wieder trocken und staubig. Wahrscheinlich hatte sein Geruchsinn ihm den Gestank nur suggeriert, und gleich war seine Vorstellungskraft mit ihm durchgegangen, dachte er.

Schon nach zwei weiteren Schritten vernahm er wieder den üblen Geruch und fragte sich, wo er ihm schon einmal untergekommen war. Vor seinem geistigen Auge tauchte ein aufgedunsener Tierkadaver auf. Ekel beschlich ihn. Hier musste irgendwo ein verendetes Stück Wild liegen. Die Vorstellung, gleich einen Haufen wimmelnder kleiner weißer Maden zu Gesicht zu bekommen löste in ihm Brechreiz aus. Am liebsten hätte er den Ort so schnell wie möglich wieder verlassen, doch sein Chef, der Förster, wollte benachrichtigt werden, wenn einer seiner Leute ein totes Tier fand. Das letzte Mal, als Lütkemeier einen verendeten Hirsch entdeckt und dies dem Forstamt verschwiegen hatte, hatte sein Chef den Kadaver einen Tag später selbst gefunden und war fuchsteufelswild geworden.

„Du hast gestern hier gearbeitet und musst gewusst haben, dass der tote Hirsch hier liegt!“, hatte er den Waldarbeiter angepflaumt. „Ich habe dir schon hundertmal gesagt, ich will wissen, was in meinem Wald los ist. Wenn du noch einmal ein verendetes Stück Wild findest, rufst du mich umgehend an, sonst kannst du was erleben! Ist das klar?“

In Lütkemeiers Kopf kämpfte der Widerwille gegen das Pflichtbewusstsein. Sein Chef kam gern mal unangekündigt vorbei, und wenn er den Leichengeruch in die Nase bekäme, würde er ihn einen Kopf kürzer machen. Leute schikanieren – das konnte sein Chef. Das hatte Lütkemeier oft genug am eigenen Leibe erfahren. Also setzte er sich widerwillig in Bewegung, um der Ursache des Gestanks auf den Grund zu gehen. Er hob seine Nase immer wieder in den Wind und versuchte über den stärker werdenden Geruch das tote Tier zu finden. Die Düfte, die seine Nasenschleimhäute malträtierten, wurden immer heftiger. Als Nächstes hörte er ein leises Brummen, das mit jedem Schritt, den er machte, lauter wurde. Dann sah er, wie sich ein Teppich aus grünmetallischen Fliegen von etwas, das wie ein dicker Knüppel aussah, erhob und so einen kurzen Blick auf einen halb verwesten, teigig weißen Arm freigab, bevor sich der Insektenschwarm Sekunden später wieder auf seiner Beute niederließ.

Augenblicklich war es um Lütkemeier geschehen. Ihm wurde schwindlig, und er erbrach das Frühstück, das er sich vor einer Stunde genehmigt hatte.

4

Die zierliche Frau mit den schulterlangen mahagonifarbenen Haaren betrachtete sich kritisch im Spiegel. Die Beleuchtung in der Damentoilette der Detmolder Kreispolizeibehörde war gnadenlos. Das gleißende Licht der langen Neonröhre verbarg kein Fältchen, keine Unebenheit der Haut und auch kein graues Haar.

Hauptkommissarin Maren Köster streckte ihrem Spiegelbild genervt den Mittelfinger entgegen und wandte sich resigniert ab. Sie war nicht zufrieden mit dem, was sie eben gesehen hatte. In weniger als einem Jahr würde sie fünfzig werden, ein Datum, das sie bereits heute schlecht schlafen ließ. In ihrer Selbstwahrnehmung war sie nach wie vor eine junge lebensfrohe Frau, die gleichermaßen attraktiv wie kompetent war. Ihre männlichen Kollegen fanden, dass Maren all das noch immer war, daran änderten auch die ersten Fältchen und ein paar graue Haare nichts. Und auch wenn sie ein paar Kilo mehr mit sich herumtrug als damals, als sie zum ersten Mal auf Streife ging, war ihre Figur nach wie vor atemberaubend.

Maren Köster war aber keine Frau, die es sich leicht machte. Sobald es irgendwo ein Problem gab, entdeckte sie es und beschäftigte sich damit. Das mochte bei der polizeilichen Ermittlungsarbeit durchaus seine Vorteile haben, im privaten Leben war diese Eigenschaft allerdings eine schwere Last, der auch ihr Beziehungsstatus geschuldet war. Trotz ihrer enormen erotischen Ausstrahlung war sie Single. Es hatte wahrhaftig nicht an Interessenten gemangelt, sie war auch nie scheu gewesen. Männer hatte es in ihrem Leben reichlich gegeben, aber keiner war für längere Zeit geblieben. Die wenigen Männer, die nicht von ihr nach spätestens drei Wochen vor die Tür gesetzt worden waren, warfen von sich aus das Handtuch. Es ging einfach nicht mit ihr. Bei allen guten Vorsätzen und reichlich theoretischem Wissen über die Geheimnisse einer guten Beziehung scheiterte sie immer wieder. Maren Köster war schlicht und ergreifend beziehungsunfähig.

Ihre letzte Beziehung zu einem Mann war vollkommen in die Hose gegangen. Dieser Kerl, der sie aus der Bahn geworfen hatte wie keiner zuvor, saß noch immer in Untersuchungshaft. Beim bevorstehenden Prozess würde sie als Zeugin aussagen müssen. Sie war nicht nur bitter enttäuscht darüber, dass dieser Mann ein Verbrecher war, sondern haderte seitdem auch mit sich selbst. Ihr Zutrauen in ihre Menschenkenntnis war restlos dahin. Wie hatte sie sich nur so täuschen können? Wo war ihr Instinkt geblieben, auf den sie immer so stolz gewesen war? Ob das schon die Wechseljahre waren, die ihre Sinne so verwirrt hatten?

Vielleicht war der fünfzigste Geburtstag ein passender Anlass, um endlich das Thema Männer abzuschließen. Ein für allemal! Nichts sprach dafür, dass die nächsten Versuche von mehr Erfolg gekrönt sein würden. Und bevor sie sich auf einen faulen Kompromiss einließ, indem sie zum Beispiel dem jahrelangen plumpen Werben ihres Kollegen Jupp Schulte nachgab, ließ sie es besser ganz bleiben. Sie würde sich ein schönes, neues Hobby suchen, sich behaglich zurücklehnen und schadenfroh die hoffnungslosen Versuche anderer Leute beobachten, eine befriedigende Zweisamkeit herzustellen. Sie jedenfalls war mit dem Thema durch. Aus, vorbei!

Als sie ins Büro zurückkam, das sie mit dem jungen Kollegen Lindemann teilte, kam dieser ihr schon aufgeregt entgegen.

„Maren“, rief er, „wo steckst du? Wir sollen sofort in den Besprechungsraum kommen. Irgendwas ist passiert!“

5

Mit zitternden Knien stand Lütkemeier da und stützte sich an der Rückwand des Bauwagens ab, wo er und sein Kollege die Pausen verbrachten. Obwohl er sich mittlerweile fast hundert Meter von dem grausigen Fund entfernt hatte, glaubte er immer noch diesen ekelhaften süßlichen Geruch wahrzunehmen. Die Bilder dieses verwesten Arms würde er nie mehr aus dem Kopf bekommen. Und dann noch das fiese Summen und Brummen der stahlgrünen Aasfliegen …

Er wischte sich mit der Hand durchs Gesicht, als könnte er mit dieser Geste den Ekel aus seiner Gefühlswelt verbannen. Was sollte er tun? Sein Kollege Meierkort fiel ihm ein, doch der war ein Stück entfernt mit der Kettensäge zugange. Nach ihm zu rufen wäre zwecklos. Also machte sich Lütkemeier auf den Weg zu ihm.

„Was ist denn mit dir los?“, fragte Meierkort. Das bleiche Gesicht seines Kollegen sprach Bände.

Lütkemeier versuchte zu sprechen, doch er brachte nur ein Krächzen zustande.

„Arm ab“, sagte er schließlich verzweifelt und wies mit seiner rechten Hand in Richtung Fundstelle.

Meierkort runzelte die Stirn.

„Erwin! Hallo! Sprich mit mir, aber in ganzen Sätzen!“

Lütkemeier wurde wieder von den schrecklichen Bildern überwältigt, und er musste sich erneut übergeben.

„Mensch, Erwin, was ist mit dir? Bist du krank?“

„Nein, aber dahinten liegt ein Arm im Wald“, brachte Lütkemeier unter Würgen hervor. „Wir müssen die Polizei anrufen!“

„Nix Polizei“, entgegnete Meierkort, der versuchte einen klaren Kopf zu behalten. „Wir müssen den Förster anrufen. Du weißt doch, Engel will alles erfahren, was in seinem Wald passiert. Was meinst du, was der tobt, wenn die Bullen vor ihm von dem Fund erfahren? Nee, ich sage ihm lieber Bescheid.“

Lütkemeier war seinem Kollegen dankbar, als der sein Handy zückte.

Keine Viertelstunde später rollte ein goldmetallicfarbener Geländewagen heran. Die Fahrertür öffnete sich, und Förster Engel stieg mit hochrotem Kopf aus.

„Wenn ihr mich umsonst hierher geholt habt“, raunzte er seine beiden Waldarbeiter an, „dann macht ihr nur noch die Drecksarbeit im Revier, das schwöre ich euch. Wo liegt unsere Leiche?“

„Keine Leiche, ein Arm“, versuchte Lütkemeier die Sachlage zu klären, doch der Mann mit dem dunkelroten Streichholzkopf winkte ab.

„Leiche, Arm, wo ist da der Unterschied? Also, wo liegt das gute Stück?“

Lütkemeier zeigte in Richtung Wald.

„Dahinten, aber ich geh da nicht mehr hin!“, entgegnete er bockig.

„Dahinten, dahinten“, äffte der Förster ihn nach. „Kannst du mir vielleicht mal verraten, wie ich mit so einer Beschreibung den Arm finden soll? Also los, Lütkemeier, wo genau liegt er?“

„Das werden Sie schon riechen, Herr Engel. Ich bleibe hier.“

Der Kopf des Försters wurde noch eine Nuance roter, als er verärgert in die Richtung losmarschierte, in die Lütkemeier gezeigt hatte. Es dauerte nicht lange, da stand Engel wieder bei den beiden Waldarbeitern. Sein Kopf war jetzt grün wie sein Oberhemd.

Engel schnappte nach Luft. „So was Ekelhaftes! Das war übrigens kein Arm, Lütkemeier, sondern ein Bein. Aber ist ja auch egal, ich habe auch nur so lange hingesehen, bis mir klar war, was da lag.“ Doch als er in das Gesicht seines Mitarbeiters blickte, war ihm augenblicklich klar, dass der sich nicht geirrt hatte. In dem Wald lagen offenbar mehrere Leichenteile. Mit zittriger Hand griff Engel nach seinem Telefon.

„Ich rufe die Polizei an.“

6

Monster sah ihn mit müden, trüben Augen an. Schulte hatte den Eindruck, dass die Blicke seines Hundes im Alter immer ausdruckstärker wurden. Früher hatte er in den bernsteinfarbenen Pupillen nur Übermut und Lebensfreude gelesen. Die entdeckte er heute auch noch hin und wieder, zum Beispiel wenn sein Enkel Linus im Anmarsch war. Dann wurde Schultes Hund für wenige Augenblicke von jugendlicher Spielfreude erfasst. Doch schon nach wenigen Minuten Herumtollen schlugen Gelenkverschleiß, Arthrose und Kurzatmigkeit zu und zwangen den Hund ins Hier und Jetzt zurück, in die Realität des Alters.

Manchmal hatte Schulte das Gefühl gehabt, sein Hund werde sich nie damit abfinden, dass er mittlerweile dreizehn Jahre alt war und damit ganz einfach alt – für einen Hund zumindest. Mit etwas Wehmut und Stolz hatte Schulte dann gedacht: Mein Hund und ich haben eben doch jede Menge Gemeinsamkeiten. Wir ignorieren unser Alter ganz einfach.

Doch das hatte sich mittlerweile geändert: Schulte konnte immer noch so tun, als könne ihm das Alter nichts anhaben, und zwar mit solcher Überzeugung, dass er es selber glaubte. Doch sein Hund Monster konnte das nicht mehr. Die Hitze machte ihm zu schaffen. Er lag auf den relativ kühlen Fliesen im Hausflur und hechelte, um sich Kühle zu verschaffen. Schulte stellte ihm eine Schale Wasser hin und setzte sich zu ihm auf den Boden. Er streichelte dem Tier über den Kopf und wurde mit einem traurigen Blick bedacht. Nach dem Motto: Lange mache ich es nicht mehr, Chef.

Schulte widersprach: „Komm, Alter, nun lass den Kopf mal nicht hängen. Ein paar Jahre schaffst du noch. Meine Eltern hatten mal einen Hund, der ist sechzehn Jahre alt geworden. Das schaffst du locker.“

Sein Hund sah ihn zweifelnd an.

„Doch, doch“, beeilte Schulte sich zu sagen. „Glaub mir, Alter, du bist zäh wie Buxenleder. Du wirst hundert Jahre alt.“ Schulte wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und hoffte, dass sein Hund sie nicht bemerkt hatte.

Das Läuten des Telefons riss ihn aus seinen Gedanken. Es war sein Kollege Hartel der ihm von einem Leichenfund im Wald berichtete.

„Okay, ich komme. Bin in einer Viertelstunde da.“

„Der Fundort ist gleich bei dir um die Ecke. Im Heidentaler Wald.“

„Auch gut, dann soll mich Pauline Meier zu Klüt auf dem Weg einsammeln. Ich gehe schon mal in die Richtung los.“

An seinen Hund gewandt erklärte er: „Ein Leichenfund bei uns im Wald. Da muss ich hin. Du kannst hier im kühlen Flur liegen bleiben. Fritzmeier und Linus kümmern sich um dich.“

Als Schulte den Namen seines Enkels erwähnte, klopfte der Schwanz des alten Hundes auf den Steinboden, und für einen Moment glaubte Schulte, wieder diese Spitzbübigkeit und Lebensfreude in den Augen seines alten Kumpels zu sehen.

7

Zur Einsicht, dass ein Fußmarsch keine gute Idee war, kam Schulte, nachdem er hundert Meter in der brütenden Hitze zurückgelegt hatte. Er hätte sich besser zu seinem Hund auf die kühlen Steinplatten legen sollen, dachte er und schleppte sich fluchend weiter durch die erdrückende Wärme.

In der Hoffnung, dass der Dienstwagen mit seiner Kollegin Pauline Meier zu Klüt bald käme, um ihn einzuladen, blickte er sich ständig um. Doch Schulte sah nur das Flirren der Hitze über den abgeernteten Stoppelfeldern. Das Bild erinnerte ihn an die Italowestern der siebziger Jahre. Die abgeernteten Äcker mit den kurzgeschorenen gelben Halmen glichen von der Farbe her dem Wüstensand in diesen Filmen, der durch seine Eintönigkeit die typisch trostlose Atmosphäre erzeugte.

Schulte selbst kam sich vor wie jemand, dem das Pferd schon vor Stunden unter dem Hintern weggestorben war und der den Sattel, den er nicht in der Wüste zurücklassen wollte, bis zur nächsten Stadt schleppen musste. Er konnte die imaginäre Last geradezu spüren, den Geruch des Pferdeschweißes riechen und den des Leders. Er ließ seine Zunge über die rissigen, spröden Lippen gleiten und fühlte sich plötzlich wie ein Verdurstender. Mundharmonikaklänge waberten durch seinen Kopf, wurden in der nächsten Sekunde jedoch vom Hupkonzert eines höchst neuzeitlichen Autos verscheucht, das neben ihm hielt.

Nachdem er sich von seinem Schrecken etwas erholt hatte, begab er sich in die Kühle des klimatisierten Polizei-Passats.

Pauline Meier zu Klüt berichtete vom Anruf eines Försters, der gemeldet hatte, dass seine Waldarbeiter auf Leichenteile gestoßen seien. In der Kreispolizeibehörde hatte man sich beraten und geeinigt, dass Schulte und sie sich gemeinsam den Fundort ansehen sollten. Die Spurensicherung in Gestalt der Kollegin Renate Burghausen sei ebenfalls auf dem Weg.

Die Kollegin stoppte das Polizeifahrzeug an einem Waldweg. Sie wurden von drei Männern erwartet. Zwei trugen trotz der Hitze Schnittschutzhosen in den Farben grün und orange. Der dritte, ein Mann mit hochrotem Kopf, schien der Förster zu sein. Als die beiden Polizisten ausstiegen, kam er auf sie zu, stellte sich vor und berichtete von den Leichenteilen, die sich angeblich schon im Verwesungsprozess befanden.

Um seiner Aussage Gewicht zu verleihen, zeigte der Förster mit der Hand vage in die entsprechende Richtung. Wie vorhin sein Mitarbeiter weigerte sich jetzt auch der Förster, ein zweites Mal dorthin zu gehen, um den Polizisten den Weg zu weisen.

„Es reicht, sich das einmal anzugucken und es einmal zu riechen, Herr Wachtmeister!“, sagte der Förster mit einem angewiderten Gesichtsausdruck. Die beiden Waldarbeiter blickten ähnlich drein.

Schulte überlegte noch, ob er nicht lieber auf seine Kollegin Frau Burghausen von der Spurensicherung warten sollte. Doch als Pauline Meier zu Klüt losstapfte, folgte er ihr. Als Weichei wollte er bei seiner Kollegin nicht gelten.

Nach ein paar Schritten hob Schulte die Nase in den Wind, wie er es so oft bei Monster gesehen hatte. Zunächst streifte nur hin und wieder eine unangenehme Duftnote seine Nase, dann wurde der Gestank intensiver. Pauline Meier zu Klüt drückte sich ein Taschentuch vors Gesicht. Doch Schulte hatte keins dabei. Daher hielt er sich einfach die Nase zu und stolperte hinter seiner Kollegin her.

Nach einer Weise kam das ohrenbetäubende Summen der Aasfliegen hinzu. Pauline Meier zu Klüt schob einen Adlerfarn zur Seite. Ein abgetrennter Arm kam zum Vorschein. Ein kurzer Blick reichte, und sie ließ die grünen Blattwedel zurück in ihre ursprüngliche Position gleiten. Als Nächstes scannten die beiden Polizisten aufmerksam die Umgebung und suchten nach Spuren und zertretenen Pflanzen. Schließlich traten sie den Rückzug an.

In dem Augenblick rollte ein weißer Bulli auf den Förster und die Waldarbeiter zu. Verärgert marschierte Engel in Richtung Lieferwagen und brüllte die Fahrerin an: „Ja, was fällt Ihnen denn ein? Hier im Wald haben Sie nichts zu suchen! Das wird Sie noch teuer zu stehen kommen!“

Die Frau im Auto ließ sich durch den Kerl mit dem roten Kopf nicht beeindrucken. Sie stieg aus, baute ihre einen Meter neunzig in voller Größe vor dem Schreihals auf und sagte: „Ach, Sie sind das. Von Ihnen habe ich schon gehört. Erst gestern hat mir eine Freundin etwas über Sie erzählt.“

Der Förster war für einen Moment verblüfft. Doch bevor er wieder das Wort ergreifen konnte, fuhr sein Gegenüber fort: „Sie sind doch der Mann, der an den Donoper Teichen immer wieder Spaziergänger aufs Unflätigste beschimpft, wenn die ihre Hunde nicht an der Leine haben.“

„Das ist ja auch ein Naturschutzgebiet!“, rief der Förster aufgebracht, nachdem er seine Sprache wiedergefunden hatte.

Unbeeindruckt ging die große Frau zwei Schritte auf den Mann zu. Der musste seinen hochroten Streichholzkopf emporrecken, um zu der Riesenfrau aufblicken zu können. In dieser eher unterwürfigen Position redete er kleinlaut weiter: „An diesem Ort müssen Hunde an die Leine genommen werden.“

„Das ist sicher richtig, aber es gibt immer noch so etwas wie mitteleuropäische Höflichkeitsrituale. Auf die sollten Sie sich vielleicht mal wieder besinnen. Jetzt im Gespräch mit mir auf jeden Fall und vielleicht auch, wenn Sie anderen Menschen im Wald begegnen. Wenn Sie diesen Rat befolgen, sind Sie künftig vielleicht auch nicht mehr so einsam.“

Am Hals von Förster Engel begann eine Ader zu pochen, und er schnappte schon nach Luft, um der Frau nun so richtig den Marsch zu blasen. Doch bevor das erste Wort über seine Lippen drang, zückte die Riesin einen Ausweis und hielt ihn dem Mann unter die Nase.

„Renate Burghausen, Spurensicherung. Auf gute Zusammenarbeit.“