Kinder Afghanistans

Es ist eines der gefährlichsten Länder der Welt. Kein Tag vergeht, an dem nicht Menschen in Afghanistan als Opfer von Konflikt und Terror sterben. Allein in der ersten Jahreshälfte 2018 wurden, unter anderem durch Drohnenangriffe und Selbstmordanschläge, laut den Vereinten Nationen 1692 Zivilisten getötet, 3430 verletzt. Die radikalislamischen Taliban sind nach wie vor aktiv. In den Provinzen, in denen sie herrschen, organisieren sie den Alltag der Menschen nach ihrem steinzeitlichen Weltbild. Westliche Bildung sehen die Islamisten als Bedrohung an. Knapp vier Millionen Kinder können wegen der andauernden Gewalt im Land keine Schule besuchen, schätzen die Vereinten Nationen. Im Sommer 2018 schlossen im Osten Afghanistans rund hundert Schulen, weil die Lehrer von Taliban bedroht wurden. Und dort, wo es Schulen gibt, sind diese in katastrophalem Zustand, nicht nur, was die Gebäude, sondern auch, was den Unterricht angeht. 41 Prozent der Schulen befinden sich nicht einmal in festen Häusern,1 die Kinder werden in Zelten, Wohnungen oder unter freiem Himmel unterrichtet. 2,5 Millionen afghanische Schulkinder müssen mehr als 2,5 Kilometer Schulweg zurücklegen. Nur 43 Prozent der Lehrer sind für ihren Job qualifiziert. Die meisten von ihnen arbeiten in den städtischen Zentren, auf dem Land unterrichten in der Regel unzureichend ausgebildete Lehrer. Afghanistan weist mit 69 Prozent eine der höchsten Analphabetenraten der Welt auf.2 Unter den afghanischen Mädchen und Frauen liegt die Rate noch weitaus höher – 83 Prozent von ihnen können weder lesen noch schreiben.

Die Religion des Islams ist die letzte Mission und die Ordnung Allahs des Allmächtigen für die Menschheit. (…) Der Aufruf zu Allah ist eine religiöse Pflicht. (…) Jeder Muslim, sowohl männlich als auch weiblich, ist verpflichtet, soweit seine Fähigkeit und sein Wissen es ihm erlauben, alles dafür zu tun, die Religion des Islams an andere weiterzugeben.

Ich halte ein afghanisches Religionsbuch in den Händen. Es trägt den Titel Auslegung des Heiligen Koran und erschien 2011. Die Seiten sind hauchdünn, verschlissen. Die Bindung aus zwei Heftklammern hält kaum noch. Nur der Umschlag ist farbig gestaltet. Darauf zu sehen sind ein Koran und eine Weltkugel. Die Kugel ist so dargestellt, dass der Nordpol im Mittelpunkt steht. Das heißt, die gesamte Südhalbkugel ist nicht zu sehen, sondern vor allem Nordamerika und Russland. Und aus irgendeinem Grund ist Grönland farblich hervorgehoben. Es ist leuchtend gelb dargestellt, im Gegensatz zu dem Braun, in dem die anderen Länder gekennzeichnet sind. Mein erster Gedanke: Was hat der Koran mit Grönland zu tun? Und warum schwebt der Koran vor allem über Ländern, die überhaupt nicht muslimisch geprägt sind? Er hätte ja auch dort dargestellt werden können, wo sich der Nahe Osten oder Afghanistan befinden. Er fließt aber grafisch in die USA und Kanada. Es könnte einfach eine Unbedachtheit sein, was ich für nicht unwahrscheinlich halte, weil das ganze Buch in seiner Aufmachung nicht besonders hochwertig oder professionell wirkt. Der Herausgeber ist auf dem Cover festgehalten: »Bildungsministerium der Islamischen Republik Afghanistan«.

Aus Afghanistan hatte ich mir Schulbücher aller Fächer einer zehnten Klasse besorgt. Das erste Paket wurde von den Taliban abgefangen und kam nie an. Weitere Pakete waren wochenlang unterwegs. Ein vereidigter Übersetzer übertrug die Inhalte schließlich von Dari, einer der beiden Amtssprachen, ins Deutsche. Das Religionsbuch, das ich ausgewählt habe, behandelt in jedem Kapitel einige Koranverse, übersetzt sie aus dem Arabischen und bespricht dann einige Aspekte des Textes. Mein Problem: Die Besprechungen helfen kaum, die Bedeutung der Zitate zu verstehen.

Gleich im ersten Kapitel, das den Titel »Der Mensch ist nicht umsonst erschaffen« trägt, fällt mir auf, dass der muslimische Gott als zorniger Gott dargestellt wird. Er fordert »Rechenschaft«, er »straft«. »Wer einen anderen Gott außer Allah anruft – für den er keinen Beweis hat, der wird seinem Herrn Rechenschaft ablegen«, heißt es da. Diese Drohungen ziehen sich als roter Faden durch das gesamte Buch. Sicher, es gibt auch christliche Gruppierungen, die ihre Anhängerschaft damit an sich binden wollen, dass sie mit göttlichen Strafen drohen. Aber nach unserem allgemeinen Verständnis ist Gott doch eher gütig, er vergibt und liebt die Menschen. Ist der muslimische Gott also per se zornig?

Ein eigenes Kapitel widmet das Schulbuch der Missionierung, der so genannten Da´aa. Im Kapitel »Einladung zu Allah« heißt es: »Und wer ist besser in der Rede als jemand, der zu Allah ruft und Gutes tut und sagt: ,Ich bin von denen, die dem Allah gehorsam und unterwürfig sind‘? Gut und Böse sind nicht gleich. Wehre das Böse mit Gutem ab, sodass die Person, die mit dir in Feindschaft war, wie dein bester Freund wird.« Ich weiß, dass es im Islam die Vorstellung gibt, Muslime müssten missionieren. Aber, dass sich dies so explizit in einem Schulbuch widerspiegelt, finde ich bedenklich.

Eine weitere Lektion des Lehrbuchs irritiert mich besonders. Es geht um die Sure Al-Baqarah, Verse 4246, um das Thema Wahrheit und Falschheit – und um offenen Antisemitismus. Denn in der Auslegung der Verse steht: »Insbesondere die Juden, die vom Recht gewusst hatten, änderten aber aufgrund von Vorurteilen und Rache das Recht, um die Menschen vom rechten Weg abzuhalten, indem sie, die Juden, das Recht verdeckten und es mit Nichtigem vermischten, wohlwissend, dass die Wahrheit jenes ist, was Mohammed, der Prophet des Islam (Friede sei mit ihm), gebracht hat.« Juden werden also als falsch dargestellt, als Gefahr. Ich weiß, dass im Islam die Ansicht vertreten wird, Juden und Christen hätten die Offenbarung verfälscht und nur der Islam entspreche der wahren Offenbarung. Diese Passage geht aber darüber hinaus, weil den Juden unterstellt wird, dass sie willentlich Muslime in die Irre führen wollten. Außerdem werden die Juden später im Text gemahnt, »ihr Buch« richtig zu verwenden, damit auch sie in der Lage seien, daraus Nutzen zu ziehen.

In dem Religionsbuch finden sich auch Bezüge zum weltlichen Leben, zum Staat und zur Gesellschaft. Im hinteren Teil des Buches, im Kapitel »Vertrauen und seine Bedeutung im Islam«, fällt mir eine Passage auf: »Dazu befiehlt Allah der Allmächtige den Gläubigen, ihren Befehlshabern und ihren muslimischen Herrschern zu gehorchen und zu folgen. (…) Wenn aber der Befehl und das Urteil der Befehlshaber und der Herrscher gegen das Gesetz Gottes sind, ist es niemandem gestattet, ihnen zu gehorchen oder zu folgen.« Eine Trennung zwischen Staat und Religion ist nicht vorgesehen, anders kann ich diese Passage nicht verstehen. Muslimischen Anführern sei zu gehorchen, so lange ihre Befehle im Einklang mit dem Islam stehen. Muslime haben also nichtmuslimischen Anführern ohnehin nicht zu folgen. In letzter Instanz sind religiöse Gebote bindend, nicht weltliche Gesetze. Diese Aussage entspricht dem allgemeinen islamischen Verständnis, dass Gottes Wort, wie es im Koran steht, das oberste Gesetz sei.

Weiter fällt mir auf, dass es in den Texten immer wieder um die Erhabenheit der Muslime gegenüber den »Ungläubigen« geht. In der neunten Lektion heißt es beispielsweise: »Die Aufrufer zu Gott (Muslime) sind das beste Volk.« Außerdem wird sehr viel mit Angst gearbeitet. Es gibt Regeln und Weisungen. Das Buch teilt die Welt in Gut und Schlecht, und gut seien die Muslime und schlecht die anderen.

Insgesamt frage ich mich, wie ein solches Schulbuch überhaupt im Unterricht eingesetzt werden kann. Von der Art und Weise der Gestaltung ist es darauf angelegt, dass ein Lehrer oder ein Schüler das Buch vorliest und die anderen zuhören und es verinnerlichen sollen. Transferaufgaben, Diskussionen, Einordnungen, die mir die Bedeutung der religiösen Texte für das Leben hier und heute erklären, finden de facto nicht statt. Sicher, die Inhalte sind antiquiert, zum Teil ohne Vorwissen schwer verständlich – etwas wenn historische Personen auf einmal ohne nähere Erläuterung erwähnt werden. Wenn ein Schüler diesen Texten nicht nur einmal, sondern immer und immer wieder ausgesetzt wird, dann muss man schon sehr gefestigt sein und auch gut informiert über Quellen außerhalb der Schule, damit nicht irgendetwas von den kruden religiösen Inhalten hängenbleibt. Bevor ich auf einzelne Aspekte des Schulbuchs detaillierter eingehe, hier die wortgetreue Übersetzung dessen, was diese afghanischen Schüler über Religion lernen …«