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Über dieses Buch

Ein Nordseekrimi für alle Fans von Nina Ohlandt und Klaus-Peter Wolf

Grausiger Fund auf der Insel Pellworm: Eine Gruppe Jugendlicher entdeckt in der Zisterne eines heruntergekommenen ehemaligen Mädcheninternats die Leiche einer Frau. Gesa Harms, die einzige Polizistin der Insel, nimmt die Ermittlungen auf. Doch dann wird im Schlamm unter der Leiche kurz darauf ein weiteres Opfer entdeckt: Ein weibliches Skelett, das dort bereits vierzig Jahre zuvor abgelegt wurde. Zwei Tote im gleichen Versteck? Für Gesa steht fest, dass die Morde miteinander in Verbindung stehen – und die Spur in die Vergangenheit weist …

»Es macht Spaß, Gesa bei ihren Ermittlungen und auch bei ihren kleinen Kämpfen zu begleiten. […] Ein unterhaltsamer und spannender Insel-Krimi.« (Leseratte1310, Lesejury)

eBooks von beTHRILLED – mörderisch gute Unterhaltung.

Über den Autor

Thomas Finn, geboren 1967 in Chicago, studierte Volkswirtschaft und war als Journalist und Autor für diverse deutsche Verlage und Magazine tätig, u. a. als Chefredakteur für das Phantastik-Magazin Nautilus. Seit 2001 arbeitet er als Roman-, Spiele-, Theater- und Drehbuchautor. Er ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, u. a. mit der Segeberger Feder. Thomas Finn lebt und arbeitet in Hamburg.

Weitere Informationen über den Autor finden Sie auf seiner Homepage: http://www.thomas-finn.de.

THOMAS FINN

Mordstrand

Nordsee-Krimi

Für Hampi und Lalle,
die mich sachkundig durch den Dschungel
echter Polizeiarbeit lotsten.

Dienstag, 16. Februar

Sturmtief

Das Haus hatte etwas Lauerndes. Am Nachthimmel über dem Mansardendach ballten sich die Wolken, die Fassade war von Ranken überwuchert und an den hölzernen Fensterläden rüttelte der Wind. Dort, wo sie fehlten, glotzten Jan dunkle, gläsern schimmernde Löcher entgegen.

Inzwischen war er klatschnass vom Regen und ihn fröstelte, was nicht allein an den Böen lag, die nasskalt vom Meer heranwehten. Seit Tagen wurde vor dem Februarsturm gewarnt, der sich im Nordwesten zusammenbraute und die Nordsee mit zunehmender Kraft in die Deutsche Bucht hineinpeitschte. Auch Pellworm war von dem Orkan nicht verschont geblieben. Am Vormittag war der Fährbetrieb zum Festland eingestellt worden, und die Feuerwehr hatte alle Hände voll zu tun, um die Insel sturmfest zu machen. Warum also hatten er, Oliver und Lisa sich auf Patricks wahnsinnigen Vorschlag eingelassen, bei dem Mistwetter einmal quer über die Insel zu radeln? Sie hatten auf der Herfahrt immerhin sehen können, wie hoch die Flut gegen den Deich drückte. Und auf der Insel musste es doch noch irgendeinen anderen Ort geben, der ebenfalls als Versteck taugte und deutlich bequemer zu erreichen war.

»Wo sind wir hier eigentlich?« Obwohl Lisa dick mit Mütze, Mantel und Schal eingemummelt war, schien Jans Schulkameradin zu frieren. Ihr Blick glitt zu den Kastanien, die das düstere Anwesen umstanden und deren Zweige in Wind hin und her wogten.

Jan war froh, dass er nicht der einzige Unwissende war. Ohne Zweifel handelte es sich bei dem Gebäude vor ihnen um ein Gutshaus aus dem neunzehnten Jahrhundert. Das Haus, die angrenzenden Bauten mit den heruntergekommenen Reetdächern, der offene Fahrradschuppen und der verwilderte Garten, der das Grundstück halb umschloss, schienen der Kulisse eines Film Noir entsprungen zu sein.

»Das ist das alte Internat«, rief Oliver gegen den Wind. »Sag jetzt nicht, dass du noch nie davon gehört hast?« Lisas Bruder mühte sich vom Fahrradsattel und sah sich um. »Ich hoffe, hier ist wirklich niemand?«

»Keine Angst. Hier kommt alle paar Wochen höchstens mal ein Hausmeister vorbei.« Patrick lehnte sein Rad trotz des Windes lässig gegen einen altersschwachen Fahnenmast, und Jan tat es ihm wie selbstverständlich nach. Lisa sollte auf keinen Fall bemerken, dass ihm nicht ganz wohl in seiner Haut war.

Insgeheim befürchtete er, dass sie auf Patrick stand. Patrick war immerhin fast volljährig und ging im Gegensatz zu den anderen dreien nicht mehr zur Schule. Auch Jan musste zugeben, dass Olivers langjähriger Kumpel ziemlich cool war. Sogar in einer Band spielte er.

Und so beobachtete Jan Patrick missmutig dabei, wie sich dieser den kleinen Rucksack vom Lenker schnappte. Darin musste sich die Shisha befinden, von der Oliver so geschwärmt hatte. Die arabischen Wasserpfeifen waren derzeit schwer angesagt. Jan hatte zwar bis auf eine gepaffte Kippe an seinem sechzehnten Geburtstag noch nie geraucht, aber in seiner alten Schule in Husum schworen sie auf Shishas. Blöderweise glaubten seine neuen Mitschüler auf Pellworm, dass er Erfahrungen damit hätte, und er hatte sie in dem Glauben gelassen.

»Ich hoffe, Oliver hat euch gesagt, dass wir nur bis zweiundzwanzig Uhr weg sein dürfen«, meinte Lisa.

»Da sind wir doch längst wieder zurück«, antwortete ihr Bruder leicht genervt. Auch er stellte sein Rad am Fahnenmast ab und wühlte dann in den Taschen seines Mantels. »Mist!«, fluchte er und blickte den Weg zurück, den sie gekommen waren. »Ich glaube, ich hab unterwegs meine Taschenlampe verloren.«

»Toll.« Patrick lüpfte die durchfeuchtete Sportkappe und strich sich das schwarz gefärbte Haar hinter die Ohren. »Hoffentlich habe ich meine dabei.« Er durchsuchte die Außentaschen seiner Lederjacke und präsentierte schließlich eine alte Flachbatterie-Taschenlampe, wie auch Jans Vater einst eine besessen hatte. Ihr Lichtkegel war trübe, und Jan wurde bei ihrem Anblick wehmütig zumute. Er hatte schon viel zu lange nicht mehr an seinen Vater gedacht. Oder hatte er den Gedanken an ihn lediglich verdrängt?

Patrick nahm die Lampe und schüttelte sie verärgert, doch der Lichtschein wurde nicht stärker.

»Hey, wer braucht noch Taschenlampen?« Jan fischte unter seiner Windjacke nach dem Smartphone und schaltete die Flashlight-App an, die die nähere Umgebung sofort in silbernen Schein tauchte.

Patrick nickte gönnerhaft. Lisa und Oliver taten es Jan nach und der nutzte die Gelegenheit, um ein Foto von Lisa zu schießen. Lisa lachte und nahm ihn nun ihrerseits mit ihrem Smartphone ins Visier. Abermals flammte ein Blitzlicht auf und eine Weile ging es hin und her.

»Könntet ihr mal mit diesem Kinderfasching aufhören!« Patricks Stimme klang gereizt. Er stand inzwischen oben auf den Stufen vor dem Eingangsportal und rüttelte erfolglos an den Türflügeln. Erwartungsgemäß waren sie verschlossen. Er begab sich unter eines der verkrauteten Fenster des Erdgeschosses, legte den Rucksack ab und hielt gleich darauf einen Kuhfuß in den Händen, den er rücksichtslos zwischen die Fensterläden rammte.

»Hey, was wird das denn?«, rief Jan empört. »Willst du da jetzt einbrechen?«

»Alter, bleib locker.« Patrick brach die Läden mit einem kräftigen Ruck auf. Das Geräusch ging im Pfeifen des Windes fast unter.

»Du weißt genau, wenn meine Mutter …«

»Was haste denn da für ein Muttersöhnchen mitgebracht?« Patrick warf Oliver einen verärgerten Blick zu.

»Du weißt schon, wer sie ist, oder?«, wandte Lisas Bruder kleinlaut ein.

»Na und?« Ungerührt rammte der Ältere das Brecheisen zwischen die frei gelegten Fensterflügel und brach auch diese auf. Patrick fixierte Jan herausfordernd. »Wenn du Schiss hast, kannst du ja abhauen. Aber wehe, du sagst auch nur ein Wort.«

Jan fühlte sich hin- und hergerissen. Wenn er jetzt ging, blieb das Image des Muttersöhnchens ewig an ihm hängen. »Ist ja gut«, meinte er und sah zu Lisa hinüber, die gerade alle vier Räder mit einem Bügelschloss sicherte. Er gewann den Eindruck, dass sie Zeit schinden wollte. Offenbar war auch ihr nicht wohl zumute.

Patrick stemmte die Fensterflügel auf und kletterte ins Hausinnere.

»Hey, macht euch keine Sorgen. Niemand wird je von alledem erfahren«, versuchte Oliver, Jan und seiner Schwester Mut zu machen. Er zog die Mütze vom Kopf und der Wind fuhr durch sein zerzaustes Haar. Es war so blond wie das von Lisa. Aufmunternd zwinkerte er den beiden zu und kletterte ebenfalls durch die Fensteröffnung.

Lisa und Jan folgten ihm zögernd und standen kurz darauf in einem alten Speisesaal. Zumindest legten die langen Tische und die vielen drumherum gruppierten Stühle für etwa zwei Dutzend Personen dies nahe. Auf einer Kommode stapelten sich alte Sitzbezüge, und Jans Blick fiel auf leere Regale und kitschige Schiffsgemälde an den Wänden – als er von einem Lichtstrahl geblendet wurde.

Er zuckte erschrocken zusammen – Der Hausmeister? – und entdeckte zu seiner Erleichterung sein eigenes Abbild in einem fast blinden Spiegel an der Wand gegenüber.

Seine Jacke war leicht verdreckt und die Kapuze seines Wollpullis klebte klatschnass an seinem Kopf. Er streifte sie ab und schüttelte sein rotes Haar. Im Raum flammte wieder Lisas Blitzlicht auf. Offenbar nutzte sie die eingebaute Kamera, um für etwas Helligkeit zu sorgen.

Patrick wählte die nächstgelegene Tür. Durch sie gelangten sie ins Vestibül des alten Gebäudes. Irgendwo im Haus klapperte ein Fensterladen, und über ihnen in der Decke knarrte es.

»Das hier war mal ein Internat«, raunte Patrick.

»Warst du schon mal hier?« Lisa sah sich argwöhnisch um.

»Nö. Noch nicht. Aber da rauf dürfte es zu den alten Schlafräumen gehen.« Er leuchtete zu einer geschwungenen Treppe, die von der Vorhalle aus nach oben in den ersten Stock führte. Jan interessierte sich mehr für den alten Kamin direkt gegenüber dem Eingangsportal, über dem ein präparierter Heringshai an der Wand hing. Von dem verstaubten Wandschmuck abgesehen war die Halle leer.

Patrick grinste. »Sagt selbst, ist doch ein ziemlich abgefahrener Treff, oder?«

Jan leuchtete noch immer den Hai an, als er am Rande seines Sichtfeldes eine Bewegung auszumachen glaubte. Aufgeschreckt ließ er den Lichtschein seines Smartphones durch die Halle wandern. Doch alles, was er aus dem Dunkeln holte, war ein düsterer Korridor, der von der Halle aus in den gegenüberliegenden Trakt des Hauses führte. Schattenspiele. Schon wieder.

Er schüttelte über sich selbst den Kopf.

Hinter ihm flammte abermals Lisas Smartphone auf. »Hier zieht es«, flüsterte sie.

»Ach, komm schon.« Oliver grinste. »Jetzt mach nicht so auf Mädchen. Wir suchen uns jetzt eine gemütliche Ecke und zünden dann unser Pfeifchen an.«

Diesmal war er es, der vorausging. Statt den Weg über die Treppe nach oben zu wählen, betrat er den dunklen Korridor, den Jan misstrauisch beäugte. Dort öffnete er eine Tür. »Hey, wer sagt’s denn? Das ist die Küche. Mit etwas Glück gibt es hier Wasser.«

»Dann mal los.« Patrick folgte ihm ohne Zögern und war kurz darauf ebenfalls verschwunden.

Jan versuchte, Lisa Mut zu machen, indem er ihr zulächelte. Dann betraten sie den Wirtschaftstrakt und entdeckten neben weiteren Türen ausgetretene Treppenstufen hinunter in den Keller des Gebäudes. Im Hintergrund quietschte derweil ein Wasserhahn und das Rumpeln einer alten Wasserleitung war zu hören, dem ein deutlich vernehmbares Plätschern folgte. »Was für eine Drecksbrühe«, ertönte Olivers Stimme. Patrick lachte.

Jan folgte den Stimmen und spähte durch die offene Tür in eine alte Großraumküche mit Kochzeile, leeren Regalen und verchromten Arbeitstischen. Oliver stand vor einer Spüle mit rauschendem Wasserhahn, und Patrick öffnete soeben den Rucksack – als Lisa Jan am Arm berührte. »Hast du das auch gehört?«

»Was denn?« Jan drehte sich zu ihr um und sah, dass Lisa atemlos zu der Kellertreppe deutete. »Da unten war eben ein Geräusch.«

Jan leuchtete in die Tiefe, wo sich die Stufen in der Dunkelheit verloren. »Ich höre nichts.«

»Doch, ehrlich. Das klang wie … Schritte.«

Jan zwinkerte. »Wer weiß, vielleicht spukt es hier?«

»Hör auf damit.« Lisa boxte ihn gegen den Arm, und sofort bereute er seinen verunglückten Scherz. Ob sie wirklich etwas gehört hatte?

Vorsichtshalber zog er seinen Schlüsselbund hervor. Es handelte sich um ein ebenso buntes wie dickes Tauende samt Metallring, an dem gleich mehrere Schlüssel hingen. Nötigenfalls konnte man sich damit auch zur Wehr setzen.

Lisa musterte den ungewöhnlichen Schlüsselbund interessiert. »Hübsch«, flüsterte sie. »Wo hast du den her?«

»Könntet ihr euch vielleicht auch mal nützlich machen?« Oliver stand plötzlich hinter ihnen und musterte sie scheel. »Wir sind gleich so weit. Sucht uns schon mal eine gemütliche Ecke.«

»Okay.« Jan wandte sich von der Kellertreppe ab, steckte den Schlüsselbund rasch weg und gemeinsam mit Lisa betrat er wieder die Vorhalle. Er wollte den Weg über die Treppe nach oben einschlagen, doch Lisa hielt ihn zurück.

»Ich geh da auf gar keinen Fall rauf.«

»Na gut. Ich hab eine andere Idee. Komm.« Jan führte sie zurück in den einstigen Speisesaal und deutete auf die veralteten Sitzbezüge. »Wir machen es uns mit der Shisha vor dem Kamin bequem, okay?«

Lisa stimmte zu, und beide verteilten rasch die weichen Unterlagen vor dem Kamin. Sie hatten kaum Platz genommen, als Patrick und Oliver zu ihnen zurückkehrten und die mit Wasser gefüllte Pfeife vor ihnen abstellten. Jan, der eine orientalische Pfeife mit bunter Vase, Messingrauchsäule und dem obligatorischen Schlauch erwartet hatte, runzelte die Stirn. Das Glasgefäß mit dem Kolbenbauch und dem nach oben gekrümmten Rohr erinnerte ihn vielmehr an ein Gerät aus dem Chemieunterricht.

»Sag mal, das ist doch keine Shisha«, erklärte er verärgert. »Das ist eine Bong!«

»Und?« Patrick warf ihm einen gereizten Blick zu, während er ein Päckchen Tabak hervorkramte. »Ist auch ’ne Wasserpfeife.«

»Ja, aber so eine Bong wird dafür genutzt, um sich Cannabis reinzuziehen.«

»Alter, du nervst.« Patrick maß Oliver mit einem überheblichen Blick. »Hast du deinem Kumpel nicht erzählt, warum wir hier sind?« Ohne dessen Antwort abzuwarten, wandte er sich wieder Jan zu. »Was glaubst du wohl, was das hier ist?« Er präsentierte eine kleine Metalldose. »Das ist bestes Dope. Und wo das herkommt, gibt es noch mehr.«

»Ich hab auf so etwas aber keinen Bock.«

»Ich dachte, du kommst aus einer Großstadt«, herrschte ihn der Ältere an. »Du führst dich auf wie ’ne Pussy.«

»Ist mir scheißegal, was du denkst. Wenn rauskommt, dass …«

Ein leises Poltern brachte Jan zum Verstummen. Das Geräusch klang wie ein Brett, das zu Boden fiel. Nur sehr viel gedämpfter. Da das allgegenwärtige Säuseln des Windes einen Moment lang nachgelassen hatte, war sich Jan sogar sicher, von woher der Laut zu ihnen gedrungen war: aus dem Korridor zur Küche.

»Habt ihr das auch gehört?« Lisa stand auf und sah besorgt in Richtung des Gangs.

Auch die Jungen erhoben sich, und Oliver leuchtete mit seinem Smartphone, um mehr zu erkennen. »Vielleicht eine Katze?«, schlug er vor.

»Nein, ich hab vorhin schon mal was gehört«, flüsterte Lisa. »Ich glaube … wir sind hier nicht allein.«

Beunruhigt sahen sich die Jungen an. Jan gab sich einen Ruck und ging einige Schritte auf den Korridor zu, gerade so weit, dass er die offen stehende Tür zur Großküche und die obersten Stufen der alten Kellertreppe einsehen konnte. Doch der Korridor war leer. Alles, was er hörte, waren die klappernden Fensterläden über ihnen im Obergeschoss. Unschlüssig drehte er sich zu seinen Begleitern um und sah, dass Patrick hektisch Bong, Tabak und Cannabis zusammenräumte.

»Und?«, wollte der Ältere von ihm wissen. Lag in seiner Stimme Unsicherheit?

»Hier ist nichts«, antwortete Jan. »Wenn, dann kam das von unten. Vom Keller.«

»Okay, wir hauen ab.« Rasch stopfte Patrick die Rauchutensilien zurück in den Rucksack.

»Was? Einfach so?« Jan wusste nicht, welcher Teufel ihn ritt, aber zu sehen, dass Patricks coole Fassade Risse bekam, erfüllte ihn mit einem Hochgefühl. »Leute, lasst ihr euch jetzt von so einem bisschen Wind bange machen? Ich wette, da unten ist nichts, außer einer losen Kohleklappe.« Diesmal war er es, der überheblich lächelte. »Wir könnten ja mal nachsehen. Nur ist das natürlich nichts für … Pussys.«

Wütend sah Patrick zu ihm auf, trat provozierend dicht an ihn heran und verengte die Augen. »Okay, sehen wir halt nach.«

»Haltet ihr das wirklich für eine so gute Idee?«, wandte Lisa ein.

»Kommt jemand mit?«, fragte Jan.

»Meinetwegen.« Oliver drehte sich zu seiner Schwester um. »Du kannst ja so lange hier oben bleiben.«

»Bist du bescheuert?«, fauchte sie. »Ich bleib doch nicht allein zurück.«

Jan leuchtete wieder mit seinem Smartphone und betrat vorsichtig die oberste der Kellerstufen. Ihm strich eine kühle, leicht muffig riechende Luft entgegen. »Spürt ihr das? Da unten steht offenbar ein Kellerfenster offen.«

Mutiger werdend schritt er in die Tiefe und sah, wie ihre Schatten über die Wände huschten. Patrick und Oliver folgten ihm in geringem Abstand, und hell flammte hinter ihnen der Lichtblitz von Lisas Handykamera auf. Kurz darauf erreichten sie einen düsteren Gangabschnitt mit schimmelverkrusteter Decke und alten Kellerlampen an den Wänden, von dem links und rechts Türen abzweigten. Jan betätigte einen Lichtschalter, doch der Strom im Haus war abgestellt. Er lauschte und vernahm vor sich in der Finsternis ein sanftes Rascheln. Wie eine Plastiktüte, die im Wind knisterte. Auch er betätigte einige Male sein Blitzlicht. Nur reichte der Schein ihrer Lampen nicht aus, um Genaueres zu erkennen. Sein neuer Mut verflüchtigte sich, und er bereute seinen Vorschlag. Doch jetzt gab es kein Zurück mehr. Abermals flammte hinter ihnen Lisas Kamera auf.

»Und?«, wisperte sie.

»Nichts«, gab sich Jan unverzagt und schritt vorsichtig weiter.

Sie kamen an einem leeren Kohlekeller vorbei, dessen Wände tiefschwarz verfärbt waren, querten einen Geräteraum, in dem eine rostige Schaufel an einem Regal aus Holz lehnte – als Jan das Knistern abermals hörte. Auch Patrick schien das Geräusch vernommen zu haben, denn der Ältere versteifte sich unmerklich und schüttelte die altersschwache Taschenlampe. Sie erlosch endgültig.

»Scheiße«, fluchte er.

Jan folgte den gespenstischen Lauten und entdeckte eine dunkle Kellertür. Ihr Schloss wirkte wie aus dem letzten Jahrhundert – doch die Tür war lediglich angelehnt. Jan drückte sie auf und runzelte die Stirn. Der Raum dahinter war ohne Zweifel alt und besaß einen schmalen Durchgang zu einem benachbarten Gewölbe. Von der Raummitte an bis zur gegenüberliegenden Wand wurde er von einer niedrigen Wanne aus Beton beherrscht, die mit zusammengenagelten Latten aus wurmstichigem Holz abgedeckt war. Unmittelbar vor ihnen auf dem Boden lag eine zusammengeknüllte schwarze Plane, die in einem schwachen Windzug knisterte, der durch das Gewölbe strich. Jan wechselte zur Flashlight-App, beleuchtete die Plane und entdeckte halb darunter ein abgespultes Nylonseil, wie es auf Sportseglern in Gebrauch war.

»Was ist das?«, fragte Patrick.

»Siehst du doch«, antwortete Jan unwirsch. »Eine Plane.«

»Nee, ich meine das Ding da.« Patrick deutete auf das abgedeckte Betongebilde.

Jan beäugte die Fläche ebenfalls genauer und entdeckte weiter hinten auf der Abdeckung einen länglichen, metallisch blinkenden Gegenstand. Er ging näher an die Umgrenzung heran und sah, dass die Latten Löcher und Risse aufwiesen, so als habe sie jemand mit Gewalt aufgebrochen. Durch die Spalten hindurch war lediglich Finsternis auszumachen.

Auch die Geschwister drängten in das Gewölbe.

»Ich glaube, das ist eine Zisterne«, beantwortete Oliver Patricks Frage. Er beleuchtete mit seinem Handy ein löchriges Bleirohr, das an der gegenüberliegenden Kellerwand lotrecht bis zu dem Betonsockel abfiel. »Darin speichert man Regenwasser, um …«

»Ich weiß, was eine Zisterne ist«, unterbrach ihn Patrick unwirsch und griff nach der Plane. »Die ist ja ganz nass.« Angewidert ließ er sie wieder los. »Wo kommt die her?«

Jan sah sich um, und sein Blick fiel erneut auf das Metallobjekt auf der hölzernen Abdeckung. Eine Stange?

»Hier, halt mal. Das will ich mir ansehen.« Er drückte Patrick sein Smartphone in die Hand, damit dieser ihm leuchten
konnte.

Oliver hingegen half ihm dabei, auf den Rand der Zisterne zu klettern. »Pass bloß auf«, zischte er.

Jan balancierte auf dem Betonsockel, stützte sich an der Kellerwand ab und taste mit dem Fuß nach dem steinernen Sims, der die Zisterne umschloss. Kaum hatte er festen Stand, beugte er sich vor und griff nach der Eisenstange. Sie ähnelte dem Kuhfuß von Patrick, nur war sie deutlich länger.

»Ein Brecheisen!«, flüsterte er und drehte sich mit dem Fundstück zu seinen Freunden um. »Ich frage mich, warum hier jemand …«

Lisas Blitzlicht flammte auf und Jan zuckte geblendet zurück. Nur einen Augenblick lang verlor er das Gleichgewicht, und seine Füße suchten instinktiv neuen Stand. Unter seinem rechten Fuß knackste es. »Scheiße!« Jan wollte noch wegspringen, doch im nächsten Moment gab die altersschwache Abdeckung nach. Holz knirschte und sein Bein brach ein. Verzweifelt mit den Armen rudernd schlug er der ganzen Länge nach auf der Holzabdeckung auf. Das Holz bog sich unter seinem Körpergewicht, weitere Latten splitterten, und plötzlich war unter ihm nichts mehr, das ihn zu tragen vermochte. Unter lautem Getöse stürzte er in die Tiefe – und klatschte in eine dunkle Brühe, die nasskalt über ihm zusammenschlug. Panisch strampelte er mit den Beinen, spürte, wie seine Füße unter ihm in Schlick einsanken, und kam prustend wieder an die Wasseroberfläche.

»Jan!«, hallte über ihm Lisas besorgter Schrei.

Angesichts des fahlen Lichtscheins, der über ihm durch die zerbrochene Abdeckung fiel, sah er, dass er fast zwei Meter tief in den zur Hälfte mit Wasser gefüllten Zisternentank gestürzt war. Seine Füße fanden nur wenig Stand, und mit der Feuchtigkeit kroch auch die Kälte über seinen Körper.

»Mist! Werft mir das Seil runter, und holt mich hier raus!« Er prustete, und seine Stimme hallte seltsam verzerrt von den Tankwänden wider. Verzweifelt tastete er nach etwas, an dem er sich festhalten konnte – und tatsächlich, da war etwas. Direkt neben ihm im Wasser. Etwas Weiches. Schweres. Er griff danach.

Über ihm drängte Lichtschein in die Tiefe und sein Blick fiel auf das, was er festhielt. Ein … Arm? Entsetzt blickte er an ihm entlang, und ein heller Schemen leuchtete ihm unter der Wasserfläche entgegen: ein wächsernes Gesicht mit leblosen Augen.

Jan schrie.

Kassandras Ruf

»Danke.« Gesa Harms nahm der jungen Serviererin den Sektkelch aus der Hand, setzte sich auf einen der Barhocker und ließ den Blick durch die vom Ortsamt Pellworm angemietete Scheune wandern. Die Organisatoren hatten sich Mühe gegeben. An den Wänden hingen Fotografien, die himmelwärts strebende Windkraftanlagen vor blauem Himmel zeigten, an den Wänden reihten sich Schautafeln, die für die grüne Energiewende warben, und über ihnen an der Decke hing eindrucksvoll ein halbes Rotorblatt, auf dem in grüner Schrift Windkraft – Investition in die Zukunft stand. Daneben prangte das Emblem einer Firma namens NorthElectric. Also war das hier kein reiner Informationsabend, sondern eine geschickt verpackte Public-Relations-Veranstaltung. Gesa schürzte die Lippen.

Obwohl Kassandra Pellworm fest im Griff hielt, waren immerhin dreißig Besucher erschienen. Das Sturmtief beherrschte schon seit Tagen die Wettervorhersagen, und die Bewohner der Küste waren dazu angehalten worden, mit dem Schlimmsten zu rechnen. Nicht grundlos, wie Gesa inzwischen wusste, denn der Februarsturm hatte seit letzter Nacht auch Pellworm erfasst. Die Einheimischen kannten solche Wetterlagen natürlich, für sie selbst war es jedoch neu, wie die Sturmflut eine ganze Insel von der Außernwelt abschnitt. Seit dem frühen Morgen peitschten sintflutartige Regenfälle über die Insel hinweg, und gleich zwei umgestürzte Bäume und zahlreiche verwehte Gegenstände hatten für Schäden gesorgt und sie den ganzen Tag über auf Trab gehalten. Auch der alte Hafen war gesperrt worden, unter anderem deswegen, weil die Sturmflut einige Fahrwassertonnen versetzt hatte.

Immerhin erwies sich die freiwillige Feuerwehr der Insel als eingespieltes Team. Es hatte die Wetterlage gut im Griff. Das schlechte Gewissen, sich auf dieser Veranstaltung herumzutreiben, während sich die Männer und Frauen da draußen bei dem schlechten Wetter abmühten, blieb dennoch.

Den hiesigen Andrang hielt Gesa daher für durchaus beachtlich, auch wenn die mit bunten Broschüren bestückten Stuhlreihen für mehr als doppelt so viele Interessierte aufgestellt worden waren. Ganz anders empfand es wohl der stellvertretende Bürgermeister Gustav Freese. Ihr Gastgeber stand mit pomadig frisiertem Haar und kariertem Anzug, der sich über den dicken Bauch spannte, in der Nähe des Rednerpultes und sah alles andere als zufrieden aus. Sein Blick schweifte immer wieder über die Köpfe der Anwesenden, so als zähle er nach. Natürlich hatte er auch Gesa bemerkt. Doch wie schon Ende November, bei ihrem Antrittsbesuch im Pellwormer Ortsamt, hatte er auch heute nur ein unverbindliches Nicken für sie übrig gehabt – ganz anders als der Erste Bürgermeister, der sie mit offenen Armen auf der Insel willkommen geheißen hatte. Gesa fragte sich, ob Freese speziell etwas gegen sie hatte oder ob dieses sauertöpfische Gebaren ein üblicher Wesenszug von ihm war.

Gesa fiel auf, dass die meisten derjenigen, die gekommen waren, nicht etwa vor den Informationstafeln, sondern unverhohlen vor dem kalten Büfett standen, das von den Betreibern des auf Pellworm angesehenen Hafen Pubs angerichtet, aber noch nicht freigegeben worden war. Sie schmunzelte. Die kalte Jahreszeit bot den Pellwormern nur wenig Abwechslung. Der Start der Tourismus-Saison ließ noch eine Weile auf sich warten, und auf Dauer boten auch die auf der Insel populären Skatabende nicht genug Abwechslung. Inzwischen wusste sie, dass Skat auf Pellworm als eine Art Volkssport galt, der den Bewohnern in den Wintermonaten dabei half, sich die Zeit zu vertreiben. Sie selbst konnte allenfalls bei einer Partie Mau-Mau mithalten.

Der eine oder andere Gast prostete ihr zu, und Gesa grüßte freundlich. Einige Besucher stammten direkt aus Tammensiel, der mit vierundneunzig Bewohnern größten Ortschaft der Insel und zugleich Verwaltungssitz des Amts Pellworm. Andere Gesichter waren ihr nur vage vertraut. Dafür wusste hier offenbar jeder, wer sie war, und das, obwohl sie trotz des halboffiziellen Anlasses auf ihre blaue Polizeiuniform verzichtet hatte. Stattdessen trug sie einen modischen grauen Hosenanzug mit schmal geschnittenem Blazer, der leicht meliert wirkte, darunter ein violettes Hemd, das ihr rotes Haar noch intensiver leuchten ließ. Es war zu einem mittellangen Bob geschnitten, den sie heute Abend mal nicht unter der Uniformmütze versteckte. Sie hatte sich darauf gefreut, den Anzug auszuführen, doch während sie sich unter den übrigen Gästen umsah, von denen einige noch Jacken und Schals trugen, kam sie sich eher overdressed vor.

Inge hätte ihr ruhig sagen können, dass man Veranstaltungen wie diese auf Pellworm etwas lockerer nahm. Wo blieb sie überhaupt? Gesa sah auf die Uhr. Inzwischen war es kurz nach zwanzig Uhr, und eigentlich hätte der Vortrag längst beginnen sollen.

»Darf ich?« Vor ihr baute sich ein gut aussehender blonder Mittvierziger mit schulterlangen Haaren, dunklem Pullover und ebenso dunklen Jeans auf, der eine Kamera in Händen hielt. Es klickte, bevor Gesa reagieren konnte. Der Fremde lächelte charmant. »Wenn ich das sagen darf, Sie repräsentieren die Insel von ihrer schönsten Seite.«

Gesa musterte den Fotografen. Er war einen halben Kopf größer als sie und mit dem Dreitagebart und den Lachfältchen um die Augen wirkte er durchaus sympathisch. Nur stand sie nicht auf Anmachen wie diese.

»Ich habe schon originellere Sprüche gehört.« Gesa klimperte wie zufällig mit ihrem Ehering am Sektglas.

Ihr Gegenüber hob beschwichtigend die Hand, und sie hörte noch ein »Nichts für ungut«, als er sich umdrehte und einige Gäste fotografierte. Dennoch kreuzten sich ihre Blicke hin und wieder. Gesa wandte sich demonstrativ von ihm ab. Sie mied Männer, die bei verheirateten Frauen ihr Glück versuchten.

Der Gedanke machte sie traurig.

Außerdem war sie ungerecht.

Nach einem verärgerten Schluck aus dem Sektkelch sah sie abermals auf die Uhr. Sie würde Inge noch fünf Minuten geben, dann war sie hier wieder weg. Inzwischen fragte sie sich, warum sie überhaupt hergekommen war. Da draußen gab es vermutlich genug zu tun, und wie die meisten hier hatte sie nicht vor, in Windkraftanlagen zu investieren. Suchend sah sie sich zum Eingang um, und als habe ihre Patentante bloß darauf gewartet, rauschte die rundliche Endfünfzigerin endlich in den Veranstaltungsraum. Inge trug wie immer ihren dunkelgrünen Parka, schüttelte der Garderobiere die Hand und wechselte einige Worte mit ihr. Inge arbeitete auf Pellworm als einzige Ärztin und war sicher mit der ganzen Insel vertraut. Der Mantel wechselte den Besitzer, und ihre Patentante enthüllte darunter einen schlichten braunen Cordrock und eine weiße Bluse, die beide vielleicht vor zehn Jahren modern gewesen waren. Gesa lächelte, denn sie mochte die unbeschwerte Einstellung ihrer Tante ganz besonders, und Inge kam freudestrahlend auf sie zu.

»Gesa, Schatz, schön dass du endlich mal aus deinem Loch herausgekrochen bist.« Die beiden umarmten sich, und die Polizistin spürte den Regen in Inges lockigem Haar.

»Ich dachte schon, dir sei etwas dazwischengekommen. Bei dem Sturm hätte ich dich auch abholen können.«

»Unsinn.« Ihre Patentante winkte ab. »Glaube mir, diese Kassandra ist gegen die Sturmflut von 1981 nur ein laues Lüftchen. Und etwas Bewegung tut mir ganz gut.«

»Nicht, dass du dich morgen selbst behandeln musst.« Gesa schmunzelte. »Und nur fürs Protokoll: Wir leben in keinem Loch.«

»Ach, tut ihr nicht?« Inge winkte die Serviererin heran und ließ sich ebenfalls ein Sektglas reichen. »Als was bezeichnest du deine Wohnung denn dann? Du könntest wenigstens einige Bilder an den Wänden anbringen.« Gut gelaunt stieß sie mit Gesa an, und beide tranken einen Schluck. »Warte es nur ab. Wenn der Sommer kommt, dann wirst du schon noch sehen, wie schön es hier bei uns ist.«

»Weiß ich doch.« Gesa lächelte müde. »Ich brauche halt meine Zeit.«

Inge sah missbilligend zu ihr auf. »Zumindest könntest du mal deine restlichen Umzugskartons auspacken.«

Gesa zuckte resigniert mit den Schultern. »Das sind vor allem Peters alte Bücher. Du weißt doch, was für eine Leseratte er war. Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich sie behalten oder weggeben soll.«

»Liebes.« Ihre Patentante berührte sie mitfühlend am Arm. »Du liest doch kaum. Im Zweifel biete sie der Schulbibliothek an. Und die Bücherkiste freut sich bestimmt ebenfalls über einige neue Exemplare.« Dann zwinkerte sie ihr zu. »Ich hab dich übrigens nicht ganz ohne Grund hergebeten. Da gibt es nämlich jemanden, den ich dir vorstellen will.«

Sie wollte sie mit sich ziehen, doch Gesa entzog sich ihr. »Inge, bitte! Du weißt, dass ich so etwas hasse.«

»Nun hab dich nicht so.« Inge stiefelte davon und Gesa bereute es abermals, hergekommen zu sein. Gereizt nahm sie einen weiteren Schluck Sekt – den sie fast wieder ausgespuckt hätte, als sie sah, dass ihre Tante ausgerechnet mit dem blonden Fotografen im Schlepptau zurückkehrte. »Darf ich vorstellen: Arne Lorenzen. Journalist und Fotograf.« Inge deutete auf Gesa. »Und das hier ist Gesa Harms. Ich hatte Ihnen doch von ihr erzählt.«

»Ja, wir hatten bereits kurz das Vergnügen.« Arne Lorenzen reichte Gesa schmunzelnd die Hand, die diese widerwillig schüttelte.

»Ach ja?« Inge hob misstrauisch eine Augenbraue.

»Dein Bekannter hat eben ein Foto von mir geschossen«, beantwortete Gesa die Frage rasch.

»Nur zu verständlich.« Ein Ruf lenkte Inges Aufmerksamkeit ab. Vom anderen Ende des Raumes winkte ein Paar der Ärztin zu. »Wenn ihr mich mal kurz entschuldigt. Dahinten sind die Petersens. Ich will nur mal Hallo sagen.« Inge wandte sich wieder dem Fotografen zu und hob mahnend einen Finger. »Und immer daran denken: Meine Patentochter ist hier der Inselsheriff. Wenn Sie sich nicht benehmen, kann sie Sie jederzeit verhaften.« Mit einem eindringlichen Mach-was-draus-Blick verschwand sie in Richtung des Ehepaars.

»Ich hoffe, Sie tragen nicht auch noch eine Waffe?«, flachste Arne Lorenzen und legte seine Kamera hinter Gesa auf den Tresen.

»Besser, Sie lassen es nicht darauf ankommen. Ich schieße nämlich auch ganz gut.« Gesa merkte selbst, wie schroff sie klang. »Tut mir leid. Meine Patentante ist manchmal ziemlich direkt.«

»Manchmal?«

Wider Willen musste Gesa lachen. »Nein, eigentlich immer. Für die feineren Nuancen ist sie jedenfalls nicht zu haben. Ich hoffe, es kränkt Sie nicht, aber Sie sind jetzt schon der Dritte in drei Monaten, mit dem sie mich zu verkuppeln versucht.«

»Ach, erst der Dritte?« Lorenzen schien amüsiert. »So begeistert, wie mir Ihre Tante heute morgen in der Praxis von Ihnen vorgeschwärmt hat, dachte ich eigentlich, das täte sie bei allen ihren männlichen Patienten.«

»Daher kennen Sie beide sich also. Mir ist das ehrlich gesagt ziemlich peinlich.«

»Muss es nicht.« Arne Lorenzen griff nach einem Bier. »Aber wenn es Sie beruhigt: Ehrlich gesagt hatte ich erwartet, dass Ihre Tante mir heute Abend eine dralle Inselbäuerin mit vier Zentnern Lebendgewicht vorstellt.«

Gesa riss in gespieltem Entsetzen die Augen auf. »Und das soll mich beruhigen?«

»Zumindest bin ich erfreut, dass sich meine Befürchtungen nicht ganz bestätigt haben … wenngleich zwei Zentner natürlich immer noch recht viel sind.« Lorenzen grinste herausfordernd, und Gesa musste ein weiteres Mal lachen. Sie wusste selbst, dass sie in Wirklichkeit viel zu dünn war. »Okay, der war jetzt etwas besser als der Spruch vorhin.«

»Da haben Sie mich übrigens gänzlich missverstanden.« Der Journalist griff wieder nach seiner Kamera. »Ich bin hier, weil ich derzeit an einer Reportage über die Nordfriesischen Inseln und die Halligen arbeite.«

»Das bietet Stoff für eine Reportage?«

»Aber jede Menge. Schauen Sie selbst.« Er präsentierte ihr auf dem Display der Digitalkamera einige Fotos.

Gesa betrachtete Aufnahmen des Tammensieler Hafens vor bedrohlicher Sturmkulisse, Mitglieder der freiwilligen Feuerwehr beim Stapeln von Sandsäcken und noch einige andere mehr, die zeigten, wie sich die Insel gegen den Orkan wappnete. Es dauerte nicht lange, bis er zu jenem Bild kam, auf dem sie zu sehen war. »Ich finde, Sie sind wirklich fotogen. Eigentlich wollte ich Sie fragen, ob Sie es mir gestatten, einige Bilder von Ihnen und der Polizeiwache zu machen.«

»Glauben Sie mir, da gibt es nicht viel zu sehen. Aber … dann wussten Sie, wer ich bin?«

»Zumindest habe ich es geahnt. Ihre Tante hatte Sie heute Mittag ja ganz gut beschrieben.« Er schmunzelte. »Ihren Sohn habe ich bei der Gelegenheit übrigens ebenfalls kennengelernt.«

»Stimmt, er wollte nach der Schule noch in die Praxis, um Inge ein Buch zurückzugeben. Nur hat er von Ihnen nichts erzählt.«

»Tja, mein gewohntes Los. Ich hinterlasse einfach keinen Eindruck.« Seine Mundwinkel zuckten. »Dabei war er sogar so nett und hat mich noch ein wenig in Tammensiel herumgeführt. Er hat übrigens die gleichen roten Haare wie Sie.«

»Nicht nur von mir, auch von seinem Vater.«

Lorenzens Blick wurde ernst, als dieser den Ring an ihrer Hand streifte. »Tut mir sehr leid. Frau Wilms hat mir von dem Skiunfall erzählt.«

Gesa senkte rasch ihre Linke. »Schon gut. Ist bereits zwei Jahre her. Auch, wenn es sich manchmal so anfühlt, als wäre das Ganze erst gestern passiert. Nur will Inge das nicht einsehen.«

»Ich kenne das Gefühl.« Arne Lorenzen sah sie mitfühlend an. »Mein Bruder ist vor mehreren Jahren durch einen Autounfall ums Leben gekommen. Fahrerflucht. Den Kerl suchen sie bis heute.«

»Die Kollegen konnten da nichts tun?«

»Nein, leider nicht. Wie gesagt, ist ebenfalls schon länger her.« Lorenzen trank einen Schluck.

»Wie lange dauern Ihre Recherchen?«

»Mindestens bis zum Biikebrennen Ende der Woche.«

»Na, das wird ein Spaß.« Gesa trank noch einen Schluck von dem mittlerweile warmen Sekt. »Mir wurde bereits angekündigt, dass da einiges an Arbeit auf mich zukommt. Die Biikebrennen haben hier in Nordfriesland die Osterfeuer ja praktisch abgelöst. Auch auf Pellworm ist am Sonntag wohl die Hölle los. Viele Alkoholisierte. Gerade unter den Jugendlichen. Aber wenn ich ehrlich bin, waren wir damals nicht anders.«

»Wollte ich gerade sagen.« Lorenzen prostete ihr zu. »Auf jeden Fall ein interessanter Brauch, der einige hübsche Bilder verspricht.«

Im Hintergrund war das Piepsen des Mikrofons zu hören. Ein junger Mann verstellte dessen Höhe am Rednerpult, und sie sahen, dass Gustav Freese seine Notizzettel aus der Jackentasche kramte. Die Gäste strömten zu den Sitzreihen, und auch Inge kehrte wieder zu ihnen zurück. »Entschuldigt. Ich hoffe, ihr seid auch ohne mich ausgekommen?«

»Sind wir.« Gesa warf ihr einen tadelnden Blick zu, den ihre Tante geflissentlich ignorierte.

»Bin mal gespannt, wie sich Ihr Zweiter Bürgermeister so schlägt«, meinte der Journalist.

»Der?« Inge verdrehte die Augen. »Seit unser Erster Bürgermeister im Krankenhaus ist, lässt der keine Gelegenheit aus, um sich in Szene zu setzen. Ein aufgeblasener Wichtigtuer, wenn ihr mich fragt.«

Lorenzen grinste. »Wenn Sie beide mich kurz entschuldigen würden. Ihr Herr Wichtigtuer bat mich nämlich, einige Aufnahmen von ihm und der Veranstaltung zu schießen.«

Inge sah ihn an, als habe er Ausschlag. »Da gibt’s jetzt aber Abzüge in der B-Note.«

»Auch ich bin eben käuflich.« Lorenzen stellte sein Bier ab und trat mit der Kamera in der Hand einige Schritte nach vorn, von wo aus er einen besseren Blick auf das Rednerpult hatte. Mehrfach betätigte er den Auslöser, als Freese mit öligem Lächeln ans Mikrofon trat.

»Liebe Mitbürger und Mitbürgerinnen. Ich freue mich, dass Sie es trotz des Sturms da draußen so zahlreich zu uns geschafft haben.« Freundlicher Applaus erklang, den Freese professionell abwartete.

»Und?«, flüsterte Gesas Patentante neugierig. »Wie findest du ihn?«

»Du sollst damit aufhören«, zischte Gesa.

Beide Frauen lächelten betont arglos, als Lorenzen zu ihnen herüberblickte.

Freese fuhr fort. »Ich möchte gleich zur Sache kommen: Wer die Energiepolitik unseres Landes in den letzten Jahren aufmerksam verfolgt hat, kommt nicht umhin festzustellen, dass der Deutschen Küste goldene Zeiten bevorstehen.« Er deutete hinüber zu den Hochglanzbildern der Windkraftanlagen. »Was vor zwanzig Jahren noch belächelt wurde, ist heute Realität. Strom aus Windkraft wird hier bei uns im Norden inzwischen zu Preisen erzeugt, die – richtig gerechnet – voll wettbewerbsfähig mit denen gewöhnlicher Kohlekraftwerke sind. Und das ist ein Signal, das wir Politiker nicht übersehen dürfen, insbesondere nicht in einer vergleichsweise strukturschwachen Region wie der unseren. Die Medien berichten zwar lieber über die eindrucksvollen Offshore-Windparks draußen in Nord- und Ostsee, aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Wir möchten Ihren Blick heute Abend auf jenen Beitrag lenken, den die Windparks an Land leisten – wobei Nordfriesland natürlich ein ganz besonderer Stellenwert zukommt.« Freese schien ganz in seinem Element zu sein. »Wenn ich also vollmundig von goldenen Zeiten spreche, dann meine ich die Chancen, die Ihnen persönlich als Bewohner unserer schönen Insel offenstehen. Denn immer mehr Firmen investieren in die grüne Energiegewinnung, nur benötigen sie dafür Baugrund.« Gespanntes Gemurmel war zu hören. »Daher möchte ich der Firma NorthElectric danken, die diesen Informationsabend ermöglicht hat. Das Unternehmen betreibt gut dreißig Windparks mit zweihundertsechs installierten Windkraftanlagen in Deutschland und Polen. Eigentlich sollten Ihnen jetzt einige Experten von NorthElectric Rede und Antwort stehen – nur haben es die angekündigten Referenten heute leider nicht zu uns auf die Insel geschafft. Schuld ist Kassandra. Sie erinnern sich an die verfluchte Seherin gleichen Namens? Die stürmische Dame, die dem Orkan ihren Namen leiht, hat nämlich leider dafür gesorgt, dass die Herrschaften noch immer auf dem Festland festsitzen.« Spöttisches Gelächter ertönte, und Inge hielt mit ihrer Meinung nicht hinter dem
Berg.

»Trotzdem findet die Veranstaltung statt? Das ist typisch Freese. Ich hoffe, der Kerl blamiert sich ordentlich.«

»Andererseits« – Freese lächelte die allgemeinen Bedenken fort – »ist Kassandra vielleicht gar nicht so schlecht wie ihr Ruf. Schließlich beweist uns der Sturm nur wieder aufs Neue, welche Energie die Natur hier bei uns aufzubringen vermag. In diesem Sinne habe ich mich ersatzhalber um Fachleute bemüht, die Ihnen heute zumindest einige Ihrer Fragen beantworten können. Wenn ich als Erstes Herrn Schmidt von der Volksbank nach vorn bitten dürfte.«

Ein grau melierter Herr in der ersten Reihe erhob sich unter verhaltenem Applaus.

»Ihr Herr Freese trägt ja ganz schön dick auf.« Lorenzen stellte sich wieder neben die Frauen.

»Sag ich doch«, murmelte Inge.

»Nur irrt er, wenn er meint, dass der Name des Sturmtiefs etwas mit der antiken Seherin zu tun hat – mal davon abgesehen, dass diese keinerlei Macht über das Wetter besaß.« Er schürzte spöttisch die Lippen. »Der Name steht in Wahrheit für ein schnödes Seitensprungportal im Internet.«

»Ernsthaft?« Gesa runzelte die Stirn, während Freese den Bankvertreter mit Handschlag begrüßte und dessen Geldinstitut lobte. »Kassandra war doch die, die den Untergang Trojas prophezeite?«

»Ihre humanistische Bildung in allen Ehren, aber die Namen für die Hoch- und Tiefdruckgebiete kommen durch sogenannte Wetterpatenschaften zustande«, erklärte der Fotograf. »Im Prinzip kann jeder so eine Wetterpatenschaft beantragen. Kostet so zwischen zweihundert und dreihundert Euro. Dank des Orkans erfreut sich im Augenblick Kassandras Secrets über weitreichende Werbung. Das ist ein Seitensprungportal, mit dessen Hilfe sich jeder diskret nach einem neuen Bettgefährten umsehen kann.«

»… und selbstverständlich stehe auch ich Ihnen Rede und Antwort«, gab Freese weiter kund.

Gesa, die dem Zweiten Bürgermeister nur noch mit halbem Ohr lauschte, lachte laut auf. »Das ist nicht Ihr Ernst?«

Zu spät begriff sie, dass ihr Kommentar im ganzen Saal zu hören war. Im Publikum ruckten zahlreiche Köpfe herum. Offenbar bezog Freese ihre Worte auf sich, denn er sah sie feindselig an. »Natürlich bin ich nicht der Experte, den Sie heute erwartet haben, aber manchmal bedingen die Umstände, sich mit dem zufriedenzugeben, was man bekommt. Apropos: Da ich nicht weiß, ob hier jeder schon unsere neue Polizeibeamtin kennt, bitte ich um Applaus für Oberkommissarin Gesa Harms.« Die Besucher klatschten höflich, und Freese lächelte, ohne dass dieses Lächeln seine Augen erreichte. Gesa nickte den Anwesenden überrumpelt zu, während Freese das Mikrofon vom Ständer nahm und einige Schritte an den Rand des Podiums trat. »Frau Harms stammt übrigens nicht von der Insel, aber das werden die Alteingesessenen unter uns vermutlich schon bemerkt haben.« Einige lachten. »Doch da sich die Gleichstellungsbeauftragte der Schleswig Holsteinischen Landespolizei so vehement für sie einsetzte, bin auch ich mir sicher, dass sich Frau Harms schon bald auf Ihrer Bewährungsdienststelle hier bei uns eingelebt haben wird.« Er betonte das Wort Gleichstellungsbeauftragte ebenso wie das Wort Bewährungsdienststelle. »Und da es gerade für eine Alleinerziehende schwer ist, sich in einem Männerberuf durchzusetzen, bitte ich Sie alle, ihr das Leben auf unserer schönen Insel nicht zu schwer zu machen. Im Gegenteil, ich hoffe, wir können ihr zeigen, dass Gastfreundschaft bei uns noch immer gelebt wird.« Die Anwesenden lächelten Gesa arglos zu, während Freese in falscher Freundlichkeit fortfuhr. »Und auch das sollten wir nicht vergessen: Selbst fehlende Kompetenz kann man sich mit etwas Geduld erarbeiten.«

Fassungslos schüttelte Arne Lorenzen den Kopf, während Gesa wütend vom Hocker rutschte. »Was bildet sich dieser blasierte Kerl ein?«

»Nicht«, hielt Inge sie zurück, während Freese wieder hinter das Pult trat. »Wenn du es jetzt auf einen Eklat ankommen lässt, verlierst du.«

»Ich lasse mich doch nicht wie ein unmündiges Gör vorführen.« Energisch schüttelte Gesa die Hand ihrer Patentante ab, um selbst das Wort zu ergreifen – als vom Eingang her aufgebrachte Stimmen zu hören waren. Freese, der sich soeben wieder dem Bankangestellten zuwandte, sah gereizt auf. »Was ist denn jetzt schon wieder?«

»Befindet sich Oberkommissarin Harms hier?« Zwei junge Männer, die durch ihre dunklen Einsatzuniformen mit den gelben Leuchtstreifen als Mitglieder der freiwilligen Feuerwehr zu erkennen waren, betraten den Saal und sahen sich suchend um.

»Ja, hier! Was gibt es?« Gesa warf kurz einen Blick auf ihr Handy und sah überrascht, dass sie keinen Empfang hatte. Offenbar hatte der Sturm einen der Mobilfunkmasten beschädigt. Sie eilte den beiden jungen Männern entgegen und sah sie fragend an.

»Sie sind doch die Mutter von Jan Harms, richtig?«

»Ja.« Gesa wurde blass. »Ist etwas mit ihm?«

»Na ja.« Die beiden jungen Männer tauschten Blicke. »Er hat sich mit Freunden in einem alten Haus herumgetrieben und ist dabei in eine Zisterne gestürzt.«

»Um Himmels willen. Wie geht es ihm?«

»Nur leichte Verletzungen. Jedenfalls äußerlich.« Der junge Mann senkte die Stimme. »Der Wehrführer bittet Sie aber noch aus einem anderen Grund mitzukommen. Wir haben in der Zisterne nämlich noch etwas anderes gefunden: eine Tote.«