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© 2016 Anton Christian Glatz

Umschlaggestaltung: A. Ch. Glatz

Sämtliche Abbildungen der Karten: Marseiller Tarot (gemeinfrei) sonstige: A. Ch. Glatz

Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 9783741278952

Inhaltsverzeichnis

  1. Der Tarot als Orakel
  2. Das Große und das Kleine Arcanum
  3. Historisches, Entstehungstheorien
  4. Die Ahnengalerie des Tarots
  5. Die Zigeuner als Bewahrer des Tarots
  6. Die wichtigsten Tarotrichtungen
  7. Psychologisches, Philosophisches
  8. Der praktische Umgang mit den Karten
  9. Ethische Gesichtspunkte
  10. Die Symbolik
    1. Magier
    2. Hohepriesterin
    3. Herrscherin
    4. Herrscher
    5. Hohepriester
    6. Entscheidung (Liebende)
    7. Siegeswagen
    8. Gerechtigkeit
    9. Eremit
    10. Schicksalsrad
    11. Kraft
    12. Hängender Mann
    13. Tod
    14. Mäßigkeit
    15. Teufel
    16. Turm
    17. Stern
    18. Mond
    19. Sonne
    20. Auferstehung
    21. Universum
  11. Kleines Kompendium der Legefiguren
  12. Die Deutung
  13. Das Kleine Arcanum
  14. Interpretationsmodelle
  15. Verbindungen mit anderen Gebieten
  16. Ausblicke, persönliche Ratschläge

Karte 0 – Narr Marseiller Tarot

Wie menschlich ist es, ein Narr zu sein.

Einleitung

Warum nehmen Sie diese Abhandlung zur Hand? Geht es „nur“ um einen einführenden Blick oder beabsichtigen Sie die Kunst des Tarotlegens zu erlernen? Ich weiß es freilich nicht. Unabhängig davon heiße ich Sie willkommen und bin stolz darauf, Ihr Führer im magischen Universum des Tarots sein zu dürfen. Wir werden uns gemeinsam in eine höchst merkwürdige und faszinierende Welt begeben.

Ein Blick in die gängige Tarotliteratur zeigt, dass jedes Tarotbuch mehr oder weniger als Lehrbuch gestaltet ist. In der Tat erschließen sich die wirklichen Geheimnisse der Tarotkarten nur dem, der sich eines Tages dazu durchringt, das, was er gelesen hat, in irgendeiner Weise praktisch umzusetzen. So hoffe ich, ich kann Ihnen Appetit machen, einmal die Karten in die Hand zu nehmen und „es“ auszuprobieren.

Dennoch ist dieses Buch weit davon entfernt, ein Lehrbuch im üblichen Sinne zu sein. Warum? Sicher kann und soll man die wenigen empirisch gesicherten Fakten allgemein verständlich vermitteln. Aber die entscheidende Dimension, das, was eben den Tarot zum Tarot macht ...? Dafür gibt es entschieden mehr vage Hinweise und Beispiele, wie es anderen ergangen ist, als unerschütterliche Wahrheiten, an denen sich festhalten ließe.

Wie gut ist mir doch meine Anfangszeit mit dem Tarot erinnerlich! Ich begann Ende der 70er-Jahre mit 2 oder 3 Büchern, in denen jeweils ein grundlegend anderer Tarot mal mehr, mal weniger ausführlich behandelt wurde. Jedes der Werke war mir wegweisend, von jedem Autor profitierte ich auf unschätzbare Weise. Aber ich konnte mich nicht für eine Seite entscheiden. Verständlich, dass ich mich fragte, wohin mich mein eigener Weg führen würde.

Konsequenterweise gelangte ich bald zur Erkenntnis, dass wohl jeder Autor von seinem individuellen Standpunkt aus auf dem richtigen Weg sein mag, aber es ist eben „nur“ sein Tarot (und nicht meiner). Letzten Endes akzeptierte ich keine der verschiedenen Betrachtungsweisen für mich als verbindlich. Vielmehr stellte sich mir frühzeitig die Aufgabe, durch den Wust der verschiedensten Auffassungen zu meinem eigenen, persönlichen Tarot zu gelangen.

Zu meiner Freude darf ich behaupten, sehr bald im Tarot einen guten Freund gefunden zu haben. Bald war ich so versiert, dass ich Kurse durchführte und damit zum ersten Mal die Möglichkeit erhielt, mein Wissen weiterzugeben. Aus den Unterlagen, die in den 80er-Jahren dazu entstanden sind, wurde die Rohfassung dieses Buches erarbeitet. Ich war damals Anhänger des symbolischen Tarots, und dies ist auch die Grundhaltung, aus der heraus dieses Buch nach wie vor geschrieben ist. Obwohl ich inzwischen zum Lager des psychologischen Tarots konvertierte, bin ich der Ansicht, dass der symbolische Tarot auf Grund seiner weltanschaulichen Neutralität am besten für den Einstieg geeignet ist. In welche Richtung jemand weiterarbeitet, ist ohnehin eine separate Frage, die jeder für sich beantworten darf, soll oder muss (wie auch immer).

Beim Studium der einschlägigen Literatur wird man bald feststellen, dass die persönlichen Meinungen und subjektiven Erfahrungen des Autors als das Non plus ultra hingestellt werden. Der Freiraum für die eigenen Interpretationen, Erfahrungen und Erkenntnisse des Lesers wird dadurch begrenzt. Diesen Mangel wollte ich unbedingt vermeiden. Sie, lieber Leser, sollen vielmehr die Informationen dieses Buches als Rüstzeug verstehen, mit dem Sie Ihren eigenen Tarot entdecken und kultivieren können. Wenn die Karten tatsächlich ein Tor zum Universum sind, dann wird sich dieses jedem Menschen auf seine ganz einmalige, unwiederbringliche Weise öffnen. Kurz, ich habe selbst das Buch geschrieben, das ich mir in meiner Anfängerzeit gewünscht hätte.

Aus diesem Grunde zitiere ich andere Autoren, obwohl der Blick über den Rand des eigenen Erfahrungshorizontes ebenfalls eine absolute Ausnahmeerscheinung in der Fachliteratur ist. Leider, wie ich ausdrücklich betonen möchte. Es kann nur von Nutzen sein, wenn wir uns einen angemessenen Überblick über die Welt des Tarots verschaffen.

In meinem Bemühen, Ihnen zu Ihrem eigenen Weg zu verhelfen, habe ich Möglichkeiten geschaffen, Persönliches zu notieren. Ich meine das wörtlich: Schreiben Sie ruhig in dieses Buch hinein, Platz und Gelegenheit dafür gibt es! In diesem Sinne wollen Sie bitte das Buch auch als Workshop verstehen. Wie schön wäre es, hielten Sie mit diesem Buch Ihr künftiges Vademecum durch die Welt des Tarots in Händen. Ihre persönliche Tarot-Schatztruhe! Tief in uns steckt der Narr und geht seiner Wege.

Wie erwähnt können Sie das Buch genauso lesen, um sich über den Tarot lediglich ein wenig zu informieren. In diesem Falle erübrigen sich natürlich alle Ermunterungen, sich mit praktischen Übungen zu befassen. Sollten Sie jedoch, wie ich hoffe, daran interessiert sein, sich den Tarot durch die Praxis zu erarbeiten, empfiehlt es sich, streng systematisch vorzugehen.

Als alter Freund systematischen Arbeitens mache ich Ihnen folgenden Vorschlag: Suchen Sie sich einen Wochentag aus. An diesem nehmen Sie einige Teile dieser Abhandlung durch, wie viele, lässt sich im Voraus kaum festlegen. Verlassen Sie sich ruhig darauf, dass Sie es merken, wenn Sie „genug haben“. Eine Woche später gehen Sie dann an die nächsten Abschnitte. Oder Sie entwickeln eine Alternative, die Ihren Lebensumständen angepasst ist. Wichtig sind Konsequenz und Regelmäßigkeit.

Ich halte dies für die beste Methode, Ihnen das, was man durch Worte vermitteln kann, näher zu bringen, ohne die gesunde Wechselwirkung zwischen Bücherwissen und eigenen Erfahrungen bzw. Erkenntnissen zu unterbinden. Sich mit dem Tarot einzulassen ist ein grundsätzlich anderes Unterfangen, als für eine Prüfung in Rechtsgeschichte zu büffeln. Tarotkarten sind kein intellektuelles Abenteuer, sie haben die Macht, Ihr Leben zu verändern! Wenn Sie Erfolg haben, wird dies ohne jeden Zweifel der Fall sein. Vorausgesetzt, Sie lassen sich auf das Phänomen Tarot wirklich ein, könnten Sie einen Freund entdecken, der Sie lebenslang durch alle Höhen und Tiefen begleiten wird, der ebenso Ihre persönliche Entwicklung flankieren wird. Dies darzulegen habe ich meine eigene Entwicklung vom symbolischen zum psychologischen Tarot erwähnt, nicht weil das für Sie wichtig wäre. Wichtig wird Ihr eigener Tarot; den sollen Sie entdecken.

Nun ein Wort zu den Voraussetzungen, die ein angehender Tarotleger mitbringen sollte. Je medialer und intuitiver ein Mensch ist, desto leichter wird er sich natürlich mit den Karten tun. Allerdings entwickeln sich diese Fähigkeiten alleine schon durch die praktische Beschäftigung mit dem Tarot. Es ist eben auch hier ein learning by doing. Ob Sie sich im Augenblick für talentiert genug halten, ist daher nicht annähernd so von Bedeutung, als es erscheinen mag.

Obwohl ich hier (zwangsläufig) immer wieder typisch spirituelle Begriffe verwende, bedeutet das nicht, dass man Mitglied einer Freimaurerloge sein muss, oder das Tibetanische Totenbuch auswendig gelernt haben muss, auf dass der Tarot zu sprechen beginne. Nach meiner Erfahrung haben die Karten Menschen aller weltanschaulichen Richtungen etwas zu sagen. Die Frage ist, ob wir in der Lage sind, in uns hineinzuhören. Die wichtigste Voraussetzung, sich erfolgreich mit dem Tarot zu beschäftigen, ist die Bereitschaft zu lernen und an sich zu arbeiten.

Eine typische Abhandlung über den Tarot beschränkt sich im Allgemeinen auf eine mehr oder weniger lauwarme Einführung. Wir werden auf den kommenden Seiten auf alle Fälle über dieses Niveau hinausgehen. Dessen ungeachtet kann die beste schriftliche Unterlage in keiner Weise das eigene Experimentieren und Forschen ersetzen. Ein seriöser Autor will das gar nicht. Letzten Endes ist und bleibt der Tarot in außergewöhnlichem Maße individuell. Ich denke, ich habe das hinreichend dargelegt. Der Narr geht seinen Weg selbst zu Ende.

Zum Abschluss drei Anmerkungen:

  1. Obwohl ich immer vom „Tarotleger“, oder dem „Befrager“ usw. rede, also stets maskuline Bezeichnungen gebrauche, wende ich mich natürlich genauso an die weibliche Leserschaft. Nur ist es sehr umständlich und klingt holprig, politisch korrekt zu gendern, also die männliche und die weibliche Form (z. B. „der (die) Befrager(in)“) anzuführen. Schweren Herzens rang ich mich zu dieser Vorgangsweise durch. Die Damen sollen das bitte nicht als Diskriminierung missverstehen.
  2. Viele Tabellen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern sind nur demonstrativ zu verstehen. Das liegt in der Natur der Sache.
  3. Bleibt noch die Frage zu klären, was es mit dem Untertitel „Auf der Suche nach dem Wesentlichen Teil 1“ auf sich hat. Dieses Buch gehört zu einer Reihe weltanschaulicher Texte, die ich mit dem Teil 2 „Reichengasse“ 2016 fortgesetzt habe. Weitere Veröffentlichungen sind in Planung.

Genug der Präliminarien, lassen Sie mich das Tor zum Reich des Tarots öffnen. Seien Sie herzlich eingeladen, mir zu folgen ...

Persönliche Notizen (Zutreffendes bitte ankreuzen):

O Ich freue mich darauf, die Welt der Tarotbilder kennenzulernen, weil

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Ort, Datum

O Mir ist die Lust vergangen, mich mit dem Tarot zu beschäftigen und werfe dieses Buch zum Altpapier, weil

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Ort, Datum

1 – Der Tarot als Orakel

Wer oder was ist eigentlich der Tarot? Er ist die älteste Form des Kartenlegens, die uns heute noch bekannt ist. In dieser Tradition stellt er eine Wahrsagungsmethode dar, die bis heute allen historischen Widerwärtigkeiten zum Trotz nicht in Vergessenheit geraten ist. Darüber hinaus ist der Tarot möglicherweise der Vater aller zeitgenössischen Kartenspiele; eine in der einschlägigen Literatur übliche Annahme, für die jedoch die historischen Beweise fehlen.

Manch einen dünkt es in einer modernen, hochtechnisierten Zivilisation erklärungsbedürftig, ein Orakel zu benützen. Es wäre aber eine Illusion zu glauben, dass jemals eine Kultur ohne die ihr entsprechenden Methoden, das Unbekannte zu erforschen, ausgekommen ist. Im Grunde bleibt uns die Zukunft ungewiss und unbekannt. Davon geht ein zumindest tendenziell bedrohlicher Charakter aus. Um dieser Fundamentalbedrohung in irgendeiner Weise begegnen zu können, kurz um der Zukunft den bedrohlichen Wesenszug zu nehmen, haben die Menschen seit je her immer wieder Methoden entwickelt, Einblick in das zu nehmen, was auf sie zukommt.

In Tibet, dem Vernehmen nach die Hochburg der Spiritualität, gab es bis zur chinesischen Besetzung 1949 ein ganz offizielles Staatsorakel. Dieses wurde ausnahmslos vor allen wichtigen Entscheidungen befragt. Bei uns wiederum kennt man Wirtschaftsprognosen, die Wettervorhersage und Ähnliches. Wir alle wissen, wie unsicher gerade diese neuzeitlichen Formen des Orakels sind. Jeden Wahrsager, jedes Medium würde man sofort als Scharlatan brandmarken, wären dessen Aussagen gleich treffsicher wie die der Wettervorhersage.

Haben diese allgemein anerkannten Formen des Orakels extravertierten Charakter, entdecken wir im Tarot eine deutlich introvertierte Variante. Vor allem weil moderne Menschen wegen der stark extravertierten Strukturen der Gesellschaft mit introvertierten Phänomenen weniger vertraut sind, wurde der Tarot in die Grauzone der Dubiosität gedrängt. Das Misstrauen, mit dem man vielerorts dem Tarot begegnet, ist in erster Linie auf soziokulturelle Zusammenhänge zurückzuführen und weniger auf die Sache selbst.

Jede Beschäftigung mit dem Tarot ist zugleich eine Begegnung mit dem Unbekannten. Es darf uns daher nicht wundern, wenn sich bei vielen Leuten psychologische Sperren regen. Der Psychologe spricht von Selbstschutzmechanismen. Die Angst, die sich unterschwellig regt, wird nicht offen artikuliert, sondern rationalisiert. Es wird auf Fälle verwiesen, in denen die Weissagungen nicht eingetroffen sind oder wo sie sogar einen auf den ersten Blick schädlichen Einfluss auf das Leben des Fragestellers ausgeübt haben. Natürlich gibt es solche Vorkommnisse. Es wäre unseriös, das zu ignorieren. Wo es einen Gebrauch gibt, eröffnet sich genauso die Möglichkeit zum Missbrauch. Und wenn VW mit den Abgaswerten schwindelt, wird ebenfalls kein Mensch fordern, auf Autos zu verzichten. Insofern sollten wir die berühmte Kirche im Dorf lassen. Vor allem hat hier das zu gelten, was Patrick Ravignant1 in seinem Vorwort zu Anton Kielces Tarotbuch geschrieben hat: „(...) das Wahrsagen hat sicher seine Gaukler und Marktschreier. In der Musik gibt es auch Gedudel und Radau. Deswegen sind Bach und Mozart nicht weniger gegenwärtig.“

Pauschales Verurteilen ist gewiss nicht der richtige Weg mit Phänomenen wie dem Tarot umzugehen. Gerade wenn etwas in Bausch und Bogen verdammt wird, hegt der Psychologe den Verdacht, dass es sich um einen Selbstschutzmechanismus handelt, der sich zum Ausdruck bringt.

Der herrschende Zeitgeist will außer rational nachvollziehbaren Phänomenen, die am besten jahrelang statistisch belegt sind, nichts wahrhaben. Halten wir uns doch einmal ohne Vorurteile vor Augen, was der neoliberale Zeitgeist hervorgebracht hat: Umweltverschmutzung, soziale Ungerechtigkeiten, wohin wir blicken, Korruption der Politiker, Privilegien der Mächtigen, Verarmung breiter Bevölkerungsschichten. Einige Wenige, die Oligarchen, leben wie die Maden im Speck auf Kosten der Allgemeinheit, die Ressourcen unseres Planeten werden ohne Gnade und Barmherzigkeit ausgebeutet, und und und … Ich würde sagen, dieser Zeitgeist ist kräftig in Misskredit geraten. Völlig zu Recht! Allenthalben wird Kritik laut. Die traditionellen Maßstäbe weiterhin zur Richtschnur unseres Handelns zu machen, ist ein Luxus, der mehr denn je fragwürdig geworden ist.

Wir werden auch dem Vorwurf des Aberglaubens begegnen. Es sei alles Humbug, moderne Scharlatanerie, die Wissen und Einsicht vorgaukelt, dabei aber maximal Kaffeekränzchen-Weisheiten von sich gebe. Wie merkwürdig muten derlei Pauschalverurteilungen an, werden sie doch meist von Leuten vorgebracht, die auf der anderen Seite keine Hemmungen haben, alte Riten in moderner Form zu zelebrieren: Weihnachten, Halloween etc. Zu Ostern wird in der Steiermark ganz offiziell Fleisch geweiht, welches freilich zuerst teuer verkauft worden ist. Es leuchtet ein, wenn Magie dieser sinnentleerten Art nicht funktioniert. Soferne sich diese Erscheinungsformen von Magie kommerziell ausschlachten lassen, werden sie zwar von der Wirtschaft massiv unterstützt, aber mit dem wirklichen Geist, von dem sie ursprünglich beseelt waren, hat das nichts zu tun.

Der langen Rede kurzer Sinn: Gehen Sie unerschrocken und unbeeindruckt davon, wie Ihre Mitmenschen reagieren mögen, an die Beschäftigung mit dem Tarot. Im Ernstfalle halten Sie lieber die paar Wochen, die ihre Familie braucht, sich wieder zu beruhigen, Zwiesprache mit dem Hund.

Eine kleine kulturgeschichtliche Betrachtung sollten wir vielleicht ebenfalls unseren gemeinsamen Studien vorausschicken. In der Antike huldigte man dem dunklen, rätselhaften Orakelspruch, der oft genug mit zynischer Logik auf tragische Weise in Erfüllung ging. Berühmtestes Beispiel ist wohl Ödipus aus der griechischen Sagenwelt. Ödipus war der Sohn des thebanischen Königs Laios und seiner Frau Iokaste. Laios wurde vom Orakel zu Delphi geweissagt, dass er dereinst von der Hand seines eigenen Sohnes getötet würde. Um das zu verhindern, wurde Ödipus noch im Säuglingsalter mit durchstochenen Füßen in der Wildnis ausgesetzt. Allerdings wurde der Knabe von Hirten gerettet und am korinthischen Königshof in Unkenntnis seiner Identität aufgezogen.

Als Adoptivsohn des königlichen Ehepaares wuchs er dort zum Mann heran. Schließlich befragte Ödipus seinerseits das Orakel zur Frage seiner Herkunft. Als ihm verkündet wurde, er werde seinen Vater töten und seine Mutter zur Ehefrau nehmen, brach er in die Ferne auf. Er wollte unbedingt verhindern, dass sich die Prophezeiung an seinen vermeintlichen Eltern, der Königin und dem König von Korinth, erfülle. Auf der Wanderung in die Ferne begegnete Ödipus zufällig seinem leiblichen Vater, wobei sich beide freilich als Fremde begegneten. Über der Frage, wer wem den Weg freigeben soll, gerieten sie in Streit und Ödipus erschlug unwissentlich seinen eigenen Vater.

Nachdem er wenig später das bekannte Rätsel der Sphinx lösen konnte, stürzte sich diese in das Meer. Theben war aus den Klauen des Monsters befreit, das jeden umgebracht hatte, welcher ihr Rätsel nicht lösen hatte können. Zum Dank erhielt Ödipus die kürzlich zur Witwe gewordene Königin Iokaste, seine leibliche Mutter, zur Frau und die Königswürde.

Als die Pest in Theben ausbrach, konsultierte Ödipus das Orakel zu Delphi, welches ihm die wahren Zusammenhänge über seine Familienverhältnisse eröffnete. Aus Verzweiflung blendete sich Ödipus und begab sich, begleitet von seiner Tochter Antigone, in die Fremde ...

Gerade das, was die Beteiligten in dieser tragischen Geschichte unternommen hatten, die Weissagungen abzuwehren, hatte erst recht dazu geführt, dass diese sich erfüllten. Ein klassisches Dilemma in der Geschichte der Orakel.

Man mag einwenden, das traurige Schicksal des Ödipus sei bloß Mythos. Dennoch beinhaltet die Erzählung eine wichtige Warnung, die wir im Leben historischer Persönlichkeiten wiederfinden. Denken wir etwa an den Lydierkönig Krösus (ca. 590 bis 541 v. Chr.). Er wurde dadurch, dass er Münzen prägen ließ, so reich, dass uns sein Name heute noch stellvertretend für einen extrem reichen Menschen dient. Am Beginn seines Krieges gegen die Perser befragte Krösus das Orakel von Delphi. Dieses weissagte ihm, es werde ein großes Reich vernichtet, wenn er den Fluß Halys überschreite. Krösus sah sich bestätigt, überschritt mit seinem Heer den Halys und stellte sich den Persern zur Schlacht. Dann erfüllte sich die Weissagung. Allerdings war es sein eigenes Reich, das vernichtet wurde. Krösus hatte das Orakel falsch gedeutet.

Ähnliches gilt auch für den Shakespearefan bestens bekannten Macbeth. Auch er ist eine historische Persönlichkeit und war von 1040 bis 1057 König von Schottland. Als Heerführer König Duncans I. tötete er diesen 1040, weil ihm Hexen die Königswürde prophezeit hatten. In der Tat wurde er Nachfolger seines Königs. Allerdings enthielt die Weissagung auch schwer verständliche Hinweise auf mögliche Gegner, die ihm die Königswürde streitig machen würden bzw. über sein Ende. Also beobachtete Macbeth in wachsendem Misstrauen seine Vasallen und Gefährten. In zunehmendem Wahn ging er immer rücksichtsloser und grausamer gegen alle vor, auf die auch nur der Schatten eines Verdachtes fiel. Kein Wunder, dass er einen Gefolgsmann nach dem anderen verlor. Schließlich kam es gar zu einem Aufstand gegen ihn, der die Prophezeiung erfüllte, die er die ganze Zeit über versucht hatte, zu verhindern.

Letzten Endes fiel Macbeth 1057 von Gott und aller Welt alleine gelassen gegen Duncans Sohn Malcolm III. bei Lumphanan. Wer heute den Namen dieses tragischen Menschen hört, denkt an einen vom Wahnsinn umdüsterten Tyrannen, dem Prophezeiungen die schlimmsten Abgründe seiner Seele manifestierten. Vergessen ist der wackere Gefolgsmann und geschickte Stratege im Krieg, der Macbeth einst gewesen war ...

Es wäre sehr verlockend, bei dieser Gelegenheit eine Kulturgeschichte der Weissagungen zu schreiben, hauchten ihr doch klingende Namen ein turbulentes Leben ein: die biblischen Propheten Jeremia, Habakuk und Hesekiel, später Jeanne d' Arc, Nostradamus bis hin zu Edgar Cayce, neben vielen Anderen. Schweren Herzens verkneife ich mir das, denn im Rahmen dieses Buches würde das zu weit von den eigentlichen Anliegen wegführen.

Vielmehr gilt es, folgendes aufzuzeigen. Aus einem spirituell unreifen Umgang mit Weissagungen entstanden Dramen, Tragödien, fluchbeladene Lebenswege. Heute die Karten zu befragen ist oft nichts anderes als Lebensberatung der exotischen Art. Daher stammt die eigentümliche Mischung aus einem Großteil Gemeinplätzen und einem wesentlich bescheideneren Anteil echter Divinatorik (= Wahr- oder Weissagung). In Summe begegnen wir üblicherweise wohlmeinender, brieftantenhafter Lebensberatung, wenn wir die Karten, das I-Ging, die Astrologie oder eine ähnliche Wahrsagung beanspruchen. Da kommt ein Schwall von gut gemeinten Belehrungen auf uns zu, z. B.: „Sie sollten sich mehr auf Ihre eigenen Bedürfnisse konzentrieren“. Wer würde hier nicht zustimmen? Dazu mischen sich rhetorische Seifenblasen, Phrasen werden gedroschen, so schauerlich es nur geht, usw. Trotzdem hat die Kundschaft das Gefühl, es sei ihr geholfen worden, oft genug bloß deswegen, weil man sich aussprechen durfte.

Im Gegensatz dazu ist ein Tarot, wie ich ihn praktiziere, nicht primär Lebens- sondern Entscheidungshilfe. Mit seinem Leben muss jeder selber fertig werden, da übe ich mich in nobler Zurückhaltung (von ethischen Erwägungen abgesehen). Freilich schließt das Eine das Andere nicht aus, aber es geht um den Fokus. Richtige Entscheidungen sind ohnehin die beste Lebenshilfe, die sich vorstellen lässt, dennoch geht es darum, sich von der typischen Praxis (siehe oben) abzugrenzen. Der Unterschied wird im Verlaufe des Buches an Kontur gewinnen.

Ich verwende übrigens gerne den Ausdruck „Orakel“, erstens, weil er die ursprüngliche Bezeichnung für alle divinatorischen Künste ist, und zweitens, weil er eine Schwelle bildet, über die nicht hinüberschreiten kann, wer in den Vorurteilen des Zeitgeistes gefangen ist. Alleine der Gebrauch dieses Wortes wirkt also selektiv.

So unmöglich Sie sich eventuell, nein, höchstwahrscheinlich sogar, mit Ihrer Beschäftigung bei Freunden und Verwandten machen, denken Sie daran: Sie befinden sich in Gesellschaft. Ich möchte Ihnen Mut machen, unbeeinflusst von allen möglicherweise widerspenstigen Umständen an die Arbeit mit dem Tarot zu gehen. Denn Arbeit wird es sein, ja harte hin und wieder; und wir arbeiten mit uns selbst! Lassen Sie sich durch nichts irritieren. Bleiben Sie konsequent bei Ihren Studien und Experimenten, wenn Sie durch den Tarot zu wirklichen, ich meine zu spirituellen Erkenntnissen und nicht nur zu einer brauchbaren Divinatorik gelangen wollen!

Nur in wenigen Kreisen, Zirkeln oder Logen, also im kulturellen Untergrund, hat sich der Tarot in den vergangenen Jahrhunderten erhalten. Auf diesem Weg gelangt er in den 80er- und 90er-Jahre zu ungeahnter Blüte. Das ist eine Entwicklung, die in der Literatur einhellig festgestellt und dokumentiert wird. Stuart R. Kaplan berichtet uns aus den USA, dass es dort Tarot-Wohltätigkeitsveranstaltungen, Tarot-Picknicks, Tarot-Frühstücke, und allerlei Vergleichbares gab. Weiters schreibt er von Broadway-Stücken und einem beliebten Musical zum Thema.

In Europa hat 1979 Mike Batt eine Schallplatte mit dem Titel „Tarot-Suite“ herausgegeben, auf deren inneren Hülle ein kulturhistorischer Tarot aus dem „British Museum“ abgebildet ist. Im Jahre 1986 gelangte ein „Tarot“- Film ins Kino, der jedoch inhaltlich den „Wahlverwandtschaften“ Goethes verpflichtet war und nicht dem Tarot, wie ich mit Bedauern feststellen musste. Bekannt ist der James-Bond-Film „Leben und sterben lassen“, in dem ein extra für diesen Film entworfener Kartensatz eine mehr als nur dekorative Rolle einnimmt. Diese Karten sind als „Tarot of the witches“ auf dem Markt. Bekannt wurde auch Don Siegels Verfilmung des Romanes „The hanged man“ von Dorothy Hughes aus dem Jahre 1964. Der Film gelangte mit dem Titel „Einbahnstraße in den Tod“ in die deutschsprachigen Kinos. Allerorts bis hin zum Supermarkt wurden damals Tarotkarten und -bücher angeboten. In Wahrheit ist der Tarot in seiner ganzen Geschichte noch nie in solchem Ausmaß gesellschaftlich etabliert gewesen wie in den erwähnten Jahrzehnten. Das Angebot war regelrecht inflationär.

Als ich 1979 den Tarot für mich entdecken durfte, gab es vielleicht 4 oder 5 Bücher in deutscher Sprache auf dem Markt, zehn Jahre später umfasste meine Bibliothek bereits knapp 60 Bände. So viele Werke wurden auf diesem Gebiet inzwischen herausgebracht! Einfach unglaublich, was sich in diesen wenigen Jahren bereits getan hatte! Zwar kaufte ich weiterhin einschlägige Literatur, aber ich zähle schon lange nicht mehr. Es ist einfach sinnlos geworden.

In der Psychologie und Lebenstherapie entdeckte man den Tarot als Mittel der Selbsterfahrung. An allen Ecken und Enden wurden Tarot-Workshops und -Seminare angeboten. Es war gewiss nicht übertrieben, von einer Renaissance des Tarots zu sprechen, wie es z. B. Sergius Golowin getan hat. Mitten in diesen Aufwind entdeckte ich den Tarot für mich und schrieb die erste Version dieses Buches.

Ich stelle das ausdrücklich wertneutral fest, denn diese Umtriebe hatten durchaus ihren Preis. Die Menge der Bücher zu unserem Thema, mit denen der esoterische Markt überschwemmt wurde, machte es ja nicht. Wie bereits angedeutet, bin ich mit manchen der gängigen Publikationen nicht glücklich. Selten wird mehr geboten als eine lauwarme Einführung, gewürzt mit wüsten Spekulationen, abgerundet durch persönliche Deutungen des Autors. Die Abbildungen sind gefällig, um das Wort „Edelkitsch“ zu vermeiden, der Preis erschwinglich, gewiss. Der Tarot ging zwar in die Breite, aber in die Tiefe ...?