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© 2016 Dieter Hinneburg
Satz, Umschlaggestaltung, Herstellung und Verlag:
BoD - Books on Demand GmbH
ISBN: 978-3-7431-7048-3
Das Jahr 1985 neigte sich langsam dem Ende entgegen, Zeit für einen Rückblick, Zeit zur Besinnung, Zeit, um über das Erreichte nachzudenken.
Eigentlich konnte ich zufrieden sein. Ich hatte das Vertrauen meiner Vorgesetzten, war anerkannt bei meinen Arbeitskollegen, bei meinen Vorgesetzten in den verschiedensten Kernkraftwerken. Ich hatte mich mit meinem Los abgefunden, seit nun schon 25 Jahren verbrachte ich viel Zeit auf Baustellen, fern meines Wohnortes, fern meiner Familie. Doch in meinem Innersten war ich unzufrieden, denn mich beschäftigte das Problem der Abschirmtechnik, die sich in all den Jahren nicht sonderlich verbessert hatte. Halt – so ganz stimmt das, was ich hier gerade schreibe, nicht. Die große Umrüstung im KKW Würgassen hatte Verbesserungen gebracht. Die Einführung von Bleiblechen statt Pb-Matten war ein riesiger Schritt in die richtige Richtung gewesen. Damals stellten in der Regel die Reinigungsfirmen, die in den jeweiligen KKWs zu den Revisionen bestellt waren, das Abschirmhilfspersonal. Lediglich im KKW Isar 1 wurde das Abschirmhilfspersonal von firmeneigenen Kohlekraftwerken gestellt. Das war in meinen Augen ein großes Problem. Ich musste viele unterschiedliche Mitarbeiter anlernen und sie mit der Problematik der Strahlenbelastung vertraut machen. Wichtig war, eine nachvollziehbare Dosisminimierung zu erreichen.
Ein weiteres Problem war, dass die Reinigungskräfte nur Zeitverträge hatten. Nach Ende der jeweiligen Revision wurden sie entlassen. Natürlich hatte ich auf diese Praxis keinen Einfluss, aber trotzdem belastete sie mich sehr. Das Personal, das zur Abschirmung abgestellt war, war sehr motiviert, meine Anweisungen zu befolgen. Zur damaligen Zeit war es nicht ungewöhnlich, fünf bis sechs Wochen Revisionen durchzuführen. Je näher das Revisionsende kam, desto mehr schwächelte der Elan. Die Mitarbeiter der Abschirmtruppe fingen an nachzudenken und fragten sich: Bekomme ich für die nachfolgende Revision einen neuen Arbeitsvertrag?
Die Unterstützung in den verschiedensten KKWs war groß, trotzdem war zu dieser Zeit die Abschirmung eher ein notwendiges Übel. Von Jahr zu Jahr wurde im gesamten Kraftwerksbereich modernisiert, aber die Abschirmung blieb ein Stiefkind, ein notwendiges Übel, man war froh, wenn die Revision gelaufen war und wieder Strom produziert wurde. Deshalb machte ich mir auch keine Illusionen, für die KKWs und für meine Firma zählte nur, wann das jeweilige KKW wieder am Netz war. Für mich war es eine sehr große Belastung – acht bis zehn Revisionen im Jahr und jedes Mal mit neuem Personal. Hauptsächlich waren es Spezialisten, die von ihrer Firma zu den Revisionen geschickt wurden. Man traf sich in den verschiedenen Revisionen wieder. Das wiederum war von großem Vorteil. Auf dem kleinen Dienstweg erfuhr ich so, welche dosisintensiven Arbeiten geplant und als Nächstes in Angriff genommen werden sollten. Dieses Wissen erlaubte es mir, Materialtransporte in die Wege zu leiten. Teilweise konnten die Räume nur über Treppen erreicht werden, sodass man 10 Tonnen Blei drei- bis viermal in die Hände nehmen musste. Das abgestellte Personal für Abschirmmaßnahmen musste teilweise noch 30 Jahre und mehr bis zum Erreichen des Rentenalters arbeiten. Für diese Arbeitnehmer war es schon schwierig, als Gesunde Arbeit zu finden. Waren sie jedoch gesundheitlich angeschlagen, waren ihre Chancen gleich null.
1985 war ich 45 Jahre alt und noch in vollem Besitz meiner Gesundheit. Auch ich musste bis zum Erreichen des Rentenalters noch 20 Jahre arbeiten. Die Erfahrung von fünf Arbeitsjahren in kerntechnischen Anlagen half mir, die Dosis für die ausführenden Monteure sowie für das Abschirmpersonal zu reduzieren. Und nach Feierabend kreisten meine Gedanken ständig um die Frage, wie ich das alles noch besser machen könnte. Ich hatte das Vertrauen meines Chefs bei der Firma Noell und das Vertrauen meiner unmittelbaren Vorgesetzten in den Kernkraftwerken. Mit meinem Gehalt war ich zufrieden. Die monatlichen Abrechnungen waren immer korrekt. Schließlich kam ich auf die Idee: Vielleicht ist es die Lösung, dass du dich selbstständig machst. Mein Verstand hielt dagegen: Jetzt hast du ein sicheres Einkommen, warum willst du das alles aufgeben? Es ging ständig hin und her in meinem Kopf. Aber wie sagte schon Heinrich Heine? Die Gedanken sind frei, zumindest in der Freizeit. Während der Revision war mein ganzes Denken auf die Abschirmarbeiten gerichtet: Wie kann ich es besser machen? Wie kann ich die Dosis reduzieren? Wie kann ich die körperliche Belastung für mich und meine Mitarbeiter reduzieren? Und das Allerwichtigste: Wie kann ich verhindern, dass Unfälle passieren? Mit anderen Worten: Für private Gedankenspiele war während der Arbeitszeit keine Zeit.
Ich konnte 1985 auf 25 Jahre Berufserfahrung zurückblicken. Als Tauchermeister, Maschinenmeister und Sprengmeister hatte ich gelernt, Verantwortung zu tragen. In meiner Freizeit kämpften dann wieder meine Risikobereitschaft und mein Sicherheitsbedürfnis um die Idee mit der Selbstständigkeit. Meine Risikobereitschaft war wieder am Zuge: »Du kannst dich nicht darauf verlassen, dass du immer und ewig, bis zu deiner Rente, bei dieser Firma beschäftigt bist. Wenn du nicht mehr kannst, wirst du entlassen wie jeder andere«, sagte sie. Um das zu untermauern, brachte sie auch gleich Beispiele aus der Vergangenheit, die hieb- und stichfest waren: »Denke mal an den Oberpolier Albrecht. Ein hervorragender Fachmann, Brückenbauer, das Zweigwerk von der BASF wurde durch sein Fachwissen zum Erfolg auf der ganzen Linie geführt. Und dann, kurz vor seiner Rente 1975, wurde er, der gefeierte Oberpolier, abgestellt als Taucherhelfer bei den Taucherarbeiten im Einlaufbauwerk KKW Philippsburg. Der gefeierte Oberpolier war ein gebrochener Mann. Wie oft hat er sich heimlich seine Tränen aus dem Gesicht gewischt. Und das Gleiche ist auch bei deiner Firma Noell passiert. Denke nur an den abgeschafften Obermonteur auf der Otto Hahn. Gott sei Dank hast du es abgelehnt und hast dich für diese Drecksarbeit nicht hergegeben.«
Das Fazit aus den Überlegungen: Eine Sicherheit gab es nicht. Wenn ich jemals in der Abschirmtechnik etwas erreichen wollte, war der einzige Weg die Selbstständigkeit. Zur Zeit dieser Gedankengänge war ich von meiner Firma auf dem Gelände der GKSS für die Entsorgung verschiedener Otto-Hahn-Komponenten als Bauleiter beschäftigt. Die Bereitstellungshalle wurde für die Entsorgung von Großkomponenten von Brunsbüttel benötigt. HD-Vorwärmer, ungefähr 500 Tonnen, sollten in der Halle demontiert, durch ein neues Verfahren dekontaminiert und durch Einschmelzen als Schrott dem Kreislauf der Wirtschaft wieder zugeführt werden.
Es folgten drei Wochen Weihnachtsurlaub. Nach den Feiertagen besprach ich mit meiner Frau meine Pläne, gemeinsam wurde das Für und Wider besprochen. Meine Frau Margid sah das Wagnis der Selbstständigkeit positiv, aber bei mir überwogen die Zweifel. Doch wenn ich wirklich etwas ändern wollte, blieb nur der Weg in die Selbstständigkeit. Ich hatte berechtigte Zweifel, dass sich nichts ändern würde, dass alles so weiterlaufen würde wie bisher.
Nach Ende des Weihnachtsurlaubes stand mein Entschluss fest. Ich wollte den Weg in die Selbstständigkeit gehen. Mein alter Arbeitsort, die Vorbereitung für die Entsorgung der Großkomponenten des KKWs Brunsbüttel in der Noell-Dekontaminationshalle auf dem Gelände der GKSS, würden bald der Geschichte angehören. Jetzt, wo die Würfel gefallen waren, musste ich die Vorbereitungen für meine Selbstständigkeit treffen. Ich musste Kontakt aufnehmen mit verschiedensten KKWs und prüfen, ob ich Aufträge bekommen würde, wenn ich auf eigene Rechnung arbeite. Wichtig für mich war, dass mein Vorhaben nicht zu früh bekannt wurde. Auf meine Anfrage bei den KKWs Würgassen, Isar 1, Grafenrheinfeld und Krümmel bekam ich eine Zusage. Dies bestärkte mich darin, dass ich den richtigen Weg gehe. Das nächste Vorstellungsgespräch war an einem Montag im KKW Gundremmingen vereinbart. Ich war beim Einchecken und wartete auf die Zugangsgenehmigung, als eine weitere Person zum Einchecken an den Schalter trat. Es war mein Chef von der Firma Noell. Er schaute mich interessiert an und sagte: »Entschuldigung, Sie sind einem meiner Mitarbeiter wie aus dem Gesicht geschnitten.«
Ich musste lachen, obwohl die Situation für mich nicht zum Lachen war. Ohne Umschweife erklärte ich meinem Chef, dass ich eben jener Mitarbeiter sei.
Seine nächste Frage war: »Was machen Sie dann hier? Sie sind doch auf der Baustelle GKSS.«
Ich musste jetzt Farbe bekennen und erklärte: »Das hier ist ein Vorstellungsgespräch, ich beabsichtige, mein Arbeitsverhältnis bei Noell zu kündigen und mich selbstständig zu machen.« Ein frostiges »Viel Erfolg« war seine Antwort.
Am nächsten Tag trat ich wieder meine Arbeit an. Dass ich kündigen würde, hatte schon die Runde gemacht. Den Unmut über meine Kündigung bekam ich sofort zu spüren. Mein Chef drohte dem KKW Grafenrheinfeld: Sollte ich einen Arbeitsvertrag bekommen, würde die Firma Noell nicht zur Revision antreten. Die Antwort des stellvertretenden Kraftwerksleiters war: »Dann brauchen Sie auch zur nächsten Revision nicht antreten.« Die Firma Noell, ein sehr großes Unternehmen, trat gegen eine Einmann-Firma an. Für mich war es eine Selbstverständlichkeit, ohne Wenn und Aber bis zum Ende meines Arbeitsverhältnisses meine Pflicht zu erfüllen. Am 25.04.1986 waren alle Formalitäten erledigt. Zwischenzeitlich war das Firmenzeichen einschließlich aller Rechte fertig geworden. Der Weg in die Selbstständigkeit konnte beginnen.
Wie gewohnt versah ich meinen Dienst. Und trotz der Kündigung herrschte die gleiche gute Zusammenarbeit mit meinen Arbeitskollegen bis zu meinem Austritt. Für die folgenden Revisionen war ich 1985 eingesetzt: KKW Grafenrheinfeld, KKW Krümmel, KKW Würgassen, KKW Isar 1. An der Arbeitsweise hatte sich in diesem kurzen Zeitabschnitt nichts geändert. Das Abschirmhilfspersonal wurde von den jeweiligen KKWs gestellt. Abschirmmaterial waren noch immer Bleimatten von den verschiedensten Herstellern, Bleisteine und Bleiwolle. Neu dazugekommen waren mit der großen Umrüstung im KKW Würgassen Bleibleche, ein Notbehelf. Die Mattenfirmen konnten den benötigten Bedarf an Bleimatten nicht liefern. Was als Notlösung gedacht war, erwies sich im Nachhinein als sehr vorteilhaft. In verschiedenen Größen zugesägt und mit Ösen an den Stirnseiten versehen, waren die so umgerüsteten Bleibleche das ideale Abschirmmaterial. Durch ihren Einsatz wurden erhebliche Dosiseinsparungen für das Abschirmpersonal und für das Personal vor Ort erreicht.
Eine weitere Neuerung war der Einsatz von Spanngurten. Die Handhabung der Spanngurte reduzierte die Kollektivdosis und es entstand kein Abfall. Spanngurte konnten mehrmals eingesetzt werden. Eine weitere Erleichterung bedeutete der Einsatz eines Fleischer-S-Hakens. Das Problem waren die auf null auslaufenden Spitzen.
Zu reparierende Pb-Matte
Beschädigte Peddy-Matte
Reparierte Pb-Matte
Die kaputten Matten wurden in eine neue Hülle gesteckt und dann mit Ösen versehen
Reparierte BBT-Matte
Ohne Zwischenfälle ging das Jahr 1985 zu Ende. Mit einem kleinen finanziellen Überschuss konnte ich hoffnungsvoll das Jahr 1986 beginnen. KKW Grafenrheinfeld machte den Anfang, es folgte das KKW Würgassen. Im KKW Würgassen waren sehr viele Bleimatten beschädigt, die Mattenreparatur verlängerte die Einsatzzeit, meine Einsatzzeit, in den KKWs. Die Lösung: Über die defekten Matten eine neue Hülle ziehen. Die einzubringenden Mattenkerne konnten durch die neuen Ösen fixiert werden. Ohne Ausnahme waren viele Matten durch Einsatz vor Ort stark beschädigt. Eine ortsansässige Planenfirma unterstützte mich bei diesem Vorhaben. 1000 Ösen und ein Gesenk zum Börteln der Ösen – schon konnte die Mattenreparatur beginnen. Wie so oft war das KKW Würgassen bereit, diesen Weg zu gehen.
Noch immer war ich Einzelkämpfer, doch da half das Schicksal etwas nach. Dieter jr., mein jüngster Sohn, war arbeitslos. Des Öfteren hatte er sich schon dafür interessiert, was ich machte. Nun bot sich die Gelegenheit, dass er ins Geschäft einstieg. Die Firma DH Hinneburg bekam ihren ersten gewerblichen Mitarbeiter, der Anfang war getan, eine erfolgreiche Familientradition zu begründen und mein Wissen in der Familie weiterzugeben. Unser erster gemeinsamer Einsatz fand im KKW Isar 1 statt. Dort wurden neue Wege beschritten: Durchgangswege wurden mit Bleihalbschalen, die auf speziellen Konstruktionen lagen, abgeschirmt.
Die zweite Besonderheit: Bei der Revisionen in Isar 1 unterstützten Mitarbeiter von den zum Konzern gehörenden Kohle- und Wasserkraftwerken die Abschirmtruppe. Das waren keine Reiniger, sondern Facharbeiter aus verschiedenen Abteilungen.
Die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl ereignete sich am 26.04.1986. Alle Kernkraftwerke schotteten sich ab. Fremdpersonal blieb außen vor. Nicht aber im KKW Isar 1, wir konnten bleiben. Dieter jr. und ich gehörten einfach dazu, ob ein Sommerfest stattfand oder Haxenessen angesagt war, wir waren dabei. Der Jahresabschluss war die Weihnachtsfeier, auch dazu wurden wir eingeladen. So viel Menschlichkeit hatten wir nicht erwartet. Aber es ging noch weiter: Bei einem Gespräch mit dem Obermeister, dem Leiter der Werkstatt, hatte ich mal erwähnt, dass ich neue Möglichkeiten mit Ratschengurten und Spanngurten an einem Dummy testen würde. Es folgte eine noch größere Überraschung: Die M-Werkstatt, die zentrale Werkstatt des jeweiligen Kernkraftwerks, hatte einen Rohrdummy angefertigt. Damit konnten wir unsere ersten Versuche mit handelsüblichen Gurten anstellen. Dieser Dummy war der Anfang einer langjährigen Entwicklung, sie war mühselig, auch weil die Finanzkraft schwach war. Aber wir packten es an. Zunächst ging es mit dem Dummy im Kofferraum los, der erste Schnee war gefallen, die Sommerreifen drehten durch, aber auch dieses Problem wurde gemeistert. Ich weiß nicht mehr, wie oft Dieter jr. durch Schieben unser Auto wieder flottbekam. Die Firma Hinneburg hatte auf jeden Fall ihre Feuertaufe bestanden, frohgemut traten wir unseren Weihnachtsurlaub an.
Prüfung der Ratschengurte
Das Jahr 1987 konnte beginnen. Tschernobyl trat in den Hintergrund. Natürlich hatten wir ein Büro und ein Besprechungszimmer – unser Esszimmer und unser Wohnzimmer wurden umfunktioniert. Die Büroleiterin war meine Frau Margid, die Korrespondenz wurde mit einer Reiseschreibmaschine bewältigt. Auf die ersten Briefbögen mit Namenslogo war sie sehr stolz. Wir drei – Margid, Sohn Dieter und ich – brannten darauf, es nicht nur gut zu machen, wir wollten es besonders gut machen. Als Nächstes wurde eine elektrische Rechenmaschine angeschafft. Bis zum