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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74093-091-2
Eine offene Zimmertür bedeutete überhaupt nichts!
Beatrix Schuler wusste nicht, was auf einmal mit ihr los war. Warum reagierte sie jetzt beinahe hysterisch?
Wie magisch angezogen steuerte sie auf diese offene Tür zu. Sie blieb stehen, atmete tief durch, dann klopfte sie.
Es geschah nichts!
Sie rief leise: »Leni?«
Wieder kam keine Reaktion. Da fasste sie sich ein Herz und ging in den Raum hinein. Es war ein großes Schlafzimmer, das sie selbst bis vor ein paar Nächten bewohnt hatte, genau gesagt bis vor dem Wochenende, an dem sie zu ihren Eltern und ihrem geliebten kleinen Sohn gefahren war. Es war Leni gewesen, die den Umzug vorgenommen hatte, wofür Beatrix ihr unendlich dankbar gewesen war.
Weil sie das Projekt der Uni leitete, war man davon ausgegangen, dass ihr deswegen auch das schönste Schlafzimmer zustünde. Beatrix hatte sich eigentlich von Anfang an darin nicht wohlgefühlt. Dafür gab es mehrere Gründe, doch einer davon war auf jeden Fall, dass sie keine ebenerdigen Schlafzimmer mochte, weil man in denen nicht mit offenem Fenster schlafen konnte. Auf jeden Fall erschiene ihr das als zu riskant. Bei Leni war es genau umgekehrt. Sie schlief gern ebenerdig, weil sie das daheim ebenfalls tat. Und jeder Mensch hielt halt gern an seinen Gewohnheiten fest.
Es war also ganz wunderbar gewesen, dass sie sich darüber unterhalten hatten, und so war es zu dem Tausch gekommen.
Beatrix war frohen Mutes in das ehemalige Kinderzimmer mit den schrägen Wänden gezogen, in dem sie sich pudelwohl fühlte und in dem sie bei offenem Fenster schlafen konnte.
Sofort fiel Beatrix’ Blick auf das Bett. Es war leer, es war erkennbar, dass Leni auf jeden Fall bereits im Bett gelegen hatte, denn es sah benutzt aus, und Leni war ein durch und durch ordentlicher Mensch, die würde ihr Bett immer machen und nicht einfach abends in ein ungemachtes Bett schlüpfen.
Wo war Leni?
Beatrix war bereits durch das ganze Haus gegangen, hatte alle Räume abgesucht. Sie merkte, wie ihre Aufregung wuchs.
War das berechtigt? Leni war erwachsen, konnte außerhalb ihrer Arbeitszeit tun und lassen, was sie wollte. Vielleicht hatte sie Lust auf einen nächtlichen Spaziergang gehabt, weil sie nicht schlafen konnte? Es konnte auch sein, dass sie sich mit jemandem getroffen hatte. Es gab viele Möglichkeiten, und es würde eine Erklärung für ihre Abwesenheit geben. Es bestand also kein Grund zur Aufregung. Wer weiß, wovon sie wach geworden war. Vielleicht hatte sie ja auch wirklich nur schlecht geträumt.
Schon wollte Beatrix den Raum wieder verlassen, als ihr Blick ganz zufällig auf den Fußboden fiel.
Jetzt war Beatrix richtig alarmiert, jetzt gingen alle Alarmglocken bei ihr an. Sie entdeckte einen Hausschuh von Leni mitten im Raum, wohlgemerkt, einen Schuh, nicht beide. Und von einem zweiten Schuh war nirgendwo sonst etwas zu sehen.
Und was noch alarmierender war, nicht weit von dem Schuh entdeckte Beatrix Lenis Brille. Und ohne die war ihre Assistentin so blind wie ein Maulwurf!
Diese Entdeckung war so ungeheuerlich, dass Beatrix sich erst einmal auf die Bettkante setzen musste.
Hier stimmte etwas nicht!
Das konnte man fühlen, und sie war nicht umsonst beunruhigt gewesen, war durch das Haus gegeistert. Mit dem hier hätte sie allerdings nicht gerechnet.
Ein einzelner Hausschuh …
Eine Brille auf dem Fußboden …
Ihre Gedanken drehten sich im Kreis.
Was hatte das zu bedeuten, vor allem, was sollte sie jetzt machen? Die Polizei rufen? Doch was sollte sie sagen? Reichten ein Schuh und eine Brille auf dem Fußboden als Beweis?
Beatrix kannte ihre Assistentin nicht so gut, um sagen zu können, dass sie stets auch noch eine Ersatzbrille dabei hatte. Die Brille mit der blauen Einfassung hatte Leni auf jeden Fall immer getragen, seit sie gemeinsam in dem Haus am Birkenweg arbeiteten, vorübergehend auch wohnten.
Aber ein einzelner Schuh mitten im Raum, das machte doch überhaupt keinen Sinn. Ehe sie jetzt die Pferde scheu machte, lief Beatrix noch einmal durch das ganze Haus, sie ließ nicht einmal den Keller aus, den sie zuvor noch niemals betreten hatte, wozu auch.
Und ganz zum Schluss öffnete sie die Haustür, blickte in den Vorgarten, auch hier gab es keine verräterischen Spuren.
Von Leni gab es keine Spur!
Und was Beatrix noch mehr irritierte, das war die Tatsache, dass Lenis Jacke an der Garderobe hing, die sie immer trug, wenn sie das Haus verließ. Und ihre Straßenschuhe standen ebenfalls ganz ordentlich in der Diele.
Wo war Leni?
Diese Frage stellte sie sich zum wiederholten Male mit wachsender Beunruhigung. Und genau diese Frage konnte sie sich nicht beantworten. Eines allerdings war ihr klar – sie musste etwas unternehmen!
Beatrix war so durcheinander, dass sie überhaupt nicht bedachte, wie spät es eigentlich war und dass die meisten Menschen um diese Zeit in der Regel ihre Tiefschlafphase hatten.
Roberta!
Die fiel ihr ein, und ihre alte Schulfreundin erschien ihr wie ein rettender Anker. Beatrix rannte zu ihrem Telefon, und sie rief Roberta an.
Es dauerte eine ganze Weile, ehe sich eine verschlafene Stimme meldete, und in diesem Augenblick setzte auch wieder der Verstand von Beatrix ein. Sie bekam ein schlechtes Gewissen. Doch dazu war es jetzt zu spät, sie hätte vorher denken müssen, statt überstürzt zu handeln. Also fasste sie sich ein Herz, und sie erzählte Roberta, was geschehen war. Und insgeheim atmete Beatrix erleichtert auf, weil ihre Freundin ihr keine Vorwürfe machte, diese nicht an ihrem Verstand zweifelte, sondern mit ganz ruhiger Stimme sagte: »Trixi, jetzt beruhige dich erst einmal. Ich ziehe mir nur rasch etwas über, dann komme ich bei dir vorbei.«
So war sie, die Berta, dachte Beatrix trotz ihres ganzen Elends, klar, präzise, vollkommen unaufgeregt. Die Ruhe, die von Roberta ausging, färbte auch ein wenig auf sie ab. Ihr aufgeregter Herzschlag beruhigte sich ein wenig. Sie war froh, die Verantwortung jetzt nicht mehr allein tragen zu müssen. Roberta würde kommen, und das war gut so.
»Danke, Roberta«, murmelte Beatrix, »und bitte entschuldige, dass ich dich mitten in der Nacht aus dem Schlaf geklingelt habe. Ich wusste mir keinen anderen Rat, nur du bist mir eingefallen.«
Roberta blieb die Ruhe selbst.
»Trixi, alles ist gut. Entspann dich. Du hast die richtige Entscheidung getroffen. Ich werde in ein paar Minuten bei dir sein.«
Nach diesen Worten beendete Roberta das Telefonat, Beatrix war wieder allein. Es waren nur ein paar Worte gewechselt worden, dennoch hatten sie auf Beatrix eine beruhigende Wirkung.
Roberta würde es richten.
So war es immer gewesen, schon als sie noch gemeinsam zur Schule gegangen waren und gemeinsam ihr Abitur gemacht hatten.
Es war wirklich wie früher, und irgendwo schienen all die vergangenen Jahre wie weggewischt zu sein. Wer auch immer Probleme gehabt hatte, war zu Roberta gegangen, und die hatte sich alles angehört, hatte Ratschläge erteilt, hatte für ihre Mitschüler bei den Lehrern gekämpft.
Mit einem Schlag sah die Welt nicht mehr so dunkel aus.
*
Beatrix setzte sich in der Diele auf einen Stuhl und starrte auf die Haustür, und sie sprang sofort auf, um zu öffnen, als es tatsächlich nur wenige Minuten später klingelte.
Es war Roberta, und die musste geflogen sein. Das war sie natürlich nicht, doch sie hatte sich in Windeseile einen Jogginganzug angezogen, und an den Füßen trug sie ein paar hellgraue Sneaker. Ihre Haare hatte sie zu einem lässigen Pferdeschwanz zusammengebunden.
Unter anderen Umständen hätte Beatrix ihrer Freundin jetzt ein großes Kompliment gemacht, weil sie, gerade unsanft aus dem Schlaf gerissen, vollkommen ungeschminkt, sportlich gekleidet, so unverschämt gut und beeindruckend aussah.
Natürlich sagte sie nichts, sondern fiel ihrer Freundin nur schluchzend um den Hals, bedankte sich mehr als nur einmal, dann sagte sie: »Ich weiß wirklich nicht, was ich ohne dich machen würde. Ich war total panisch, jetzt geht es mir ein wenig besser, weil ich ja weiß, dass du in schwierigen Situationen so richtig über dich hinauswachsen kannst. Schön, dass du direkt gekommen bist.«
Roberta tätschelte beruhigend den Rücken ihrer Freundin, dann machte sie sich aus deren Umklammerung frei, schob sie ein wenig von sich weg und forderte Beatrix auf, ihr noch einmal in aller Ruhe alles zu erzählen, was geschehen war, was sie gesehen oder was sie gehört habe.
Robertas ruhige, besonnene Art strahlte auf Beatrix ab.
Was sie nicht für möglich gehalten hätte, das geschah tatsächlich. Sie beruhigte sich. Beatrix erzählte, dass sie aufgewacht sei, beunruhigt gewesen war und deswegen im ganzen Haus nachgesehen habe, ohne etwas Ungewöhnliches zu bemerken. Und dann habe sie die offene Schlafzimmertür bemerkt, habe angeklopft, gerufen, und dann habe sie das Zimmer betreten, zunächst sei nichts ungewöhnlich gewesen, doch dann habe sie den einzelnen Schuh entdeckt und die auf dem Boden liegende Brille ihrer Assistentin. Die Brille habe sie immer tragen müssen.
Beatrix wunderte sich über sich selbst, dass sie alles so klar erzählen konnte, dass sie auf einmal wieder einen funktionierenden Kopf besaß.
»Roberta, eigentlich war das hier unten mein Schlafzimmer. Leni und ich haben gerade erst unsere Zimmer getauscht. Wenn Leni entführt wurde, dann galt das vielleicht überhaupt nicht ihr, sondern man hatte es auf mich abgesehen.«
»Und wie kommst du auf eine Entführung?«, wollte Roberta wissen. Diese Frage war nicht unberechtigt, denn bislang gab es keinen Hinweis für eine Entführung.
»An der Studie wollten mehr Männer teilnehmen als wir aufnehmen konnten. Es gab deswegen auch einigen Ärger mit abgelehnten Bewerbern. Es war für uns ein großer Glücksfall, als wir das Haus hier für ein halbes Jahr mieten konnten, exakt für die Laufzeit der Studie, die nicht an die Öffentlichkeit getragen werden sollte. Leider war es mit der Geheimhaltung sehr schnell vorbei, und wir mussten an die Öffentlichkeit gehen, als diese schlimmen Gerüchte auftauchten, man glaubte, hier gäbe es so etwas wie einen Edelpuff, und ich sei eine Domina, die die Männer quäle. Kann es nicht sein, das kam mir gerade in den Sinn, dass sich einer der abgelehnten Bewerber da etwas ausgedacht hat und eigentlich mich entführen wollte, um noch eine Teilnahme zu erpressen? Das Experiment ist für die Probanden nicht nur lukrativ, sie lernen auch, mit ihren Aggressionen fertig zu werden. So etwas erweckt schon Begehrlichkeiten.«
Das klang zwar plausibel, doch ganz richtig überzeugt war Roberta noch nicht.
»Woher soll, wer auch immer, wissen, dass da das Schlafzimmer ist, und deine Assistentin sieht doch bestimmt auch ganz anders aus als du.«
»Nun, die Probanden dürfen die von Leni und mir privat genutzten Räume nicht betreten, bestimmt haben wir von Schlafzimmer, privatem Badezimmer oder ähnlichem gesprochen. Von dem Tausch der Schlafzimmer wusste niemand etwas, wozu auch. Und was das Äußere betrifft, Leni hat ungefähr meine Größe, sie hat ebenfalls lange schwarze Haare, also, da gibt es auf den ersten Blick schon ein paar oberflächliche Ähnlichkeiten, und nachts, gerade wenn man Böses im Sinn hat, macht man ja auch nicht gerade die Deckenbeleuchtung an, oder?«
Solche Gespräche führten zu nichts, und das war jetzt auch nicht gerade eine Zeit, in der man sich ausgiebig unterhielt.
»Trixi, wir können lauter Mutmaßungen anstellen, die allerdings allesamt ins Leere führen. Eines steht auf jeden Fall fest. Es stimmt etwas nicht, und deswegen schlage ich vor, dass wir jetzt die Polizei einschalten.«
Diesen Gedanken hatte Beatrix ursprünglich ebenfalls gehabt, ihn jedoch sofort wieder verworfen, so rasch er ihr gekommen war, und deswegen hatte sie ja Roberta angerufen.
»Roberta, die Polizei wird sich bedanken, wenn wir sie mitten in der Nacht anrufen, ohne etwas Konkretes in den Händen zu haben, und wird die nicht erst aktiv, wenn mehrere Stunden vergangen sind?«, erkundigte Beatrix sich ein wenig skeptisch.
»Trixi, es stimmt gewiss alles, was du sagst. Doch in den Kriminalfilmen im Fernsehen heißt es doch immer, dass die Spuren verfolgt werden müssen, ehe sie kalt werden. Es bleibt nur die Polizei, was sollen wir sonst tun? Bis zum Morgen auf eine Erleuchtung warten? Der Rest der Nacht wird schnell vorbei sein, und ich muss am Morgen wieder in meine Praxis gehen.«
Sofort bekam Beatrix wieder ein schlechtes Gewissen und ihr wurde bewusst, was sie da angerichtet hatte. Sie entschuldigte sich direkt bei Roberta, doch die winkte ab.
»Trixi, das habe ich jetzt nicht erwähnt, um dir ein schlechtes Gewissen zu machen, sondern weil wir handeln müssen, und deswegen rufe ich jetzt eine meiner Patientinnen an, die ist Kriminalhauptkommissarin, und die arbeitet sogar in einem Kommissariat für Entführungen. Besser geht es doch wohl nicht.«
Ehe Beatrix widersprechen konnte, holte Roberta ihr Handy aus der Tasche, rief Kordula Lehmann an. Und manchmal war es wirklich verrückt und das Leben spielte einem in die Karten. Kordula hatte Nachtdienst, und sie versprach, sofort zu kommen. Den Satz, den man normalerweise in den Filmen hörte, man solle nichts anfassen, den sprach sie nicht aus.
Jetzt, wo alles danach aussah, in die richtigen Bahnen zu gelangen, verlor Beatrix die Nerven. Sie begann haltlos zu schluchzen, und Roberta hatte einige Mühe, ihre Freundin zu beruhigen, der gerade jetzt so richtig bewusst geworden war, dass, wenn ihre Theorie stimmte, sie entführt worden wäre. Und das war schon etwas, was einem den Boden unter den Füßen wegziehen konnte.
*
Dafür, dass sie von der Polizeistation in Hohenborn kommen musste, war Kordula Lehmann relativ schnell auf dem Birkenweg.
Kordula war eine sportliche braunhaarige Frau von ungefähr Anfang Vierzig, die sich ruhig noch einmal anhörte, was geschehen war, dann hielt sie sich nicht lange damit auf, weiter mit ihrer Ärztin und deren Freundin zu sprechen, sondern sie machte sich an die Arbeit. Und sie entdeckte, was Beatrix vorher nicht entdeckt hatte. Es war jemand ins Haus eingedrungen, der oder die Täter hatten die Terrassentür zum Garten hin aufgehebelt, und als auf der Wiese der zweite Hausschuh von Leni lag, bestätigte sich die Entführung. Jetzt war es keine Theorie mehr, sondern eine Tatsache. Und nun nahm Kordula Lehmann sich der Sache, richtiger gesagt, des Falles, denn das war ja nun einer, nicht mehr allein an. Sie rief ihre Kollegen herbei, speziell welche von der Spurensicherung.
Was für eine Geschichte.
Jetzt bekam auch Roberta Gänsehaut, und hätten die beiden Frauen nicht ihre Schlafzimmer getauscht, dann hätte man anstelle von der armen Leni Beatrix entführt, was nicht weniger schlimm gewesen wäre. Die Entführung eines Menschen war eine so perfide Angelegenheit, dass man das nicht seinem ärgsten Feind wünschte.
Die Kollegen der Kriminalhauptkommissarin kamen, machten ihre Arbeit. Es war enttäuschend, dass es kaum verwertbare Spuren gab. Doch dann fand sich ein Fingerabdruck, den der oder ein Täter, man wusste nicht, ob es sich um einen Einzeltäter oder mehrere Täter handelte, seitlich am Nachttisch hinterlassen hatte. Leni musste versucht haben, Licht anzuknipsen, was der Täter zu verhindern wusste, und sie musste sich auch heftig gewehrt haben.
Es war schon sehr erstaunlich, was erfahrene Kripobeamte aus Spuren herauslesen konnten, die für Außenstehende überhaupt nicht ersichtlich waren.