Ein Suchender. Ein Träumer, ein Dichter, ein Philosoph. Ein Springinsfeld und Taugenichts. Ein Student und Scholar. Motorradfahrer, Teetrinker und Pfeifenraucher. Eine Hochsensible Person. Ein Borderliner. Ein Rebell mit verstecktem Philisterwunsch. Japan-Fan und Zen-Buddhist. Atheist und Mystiker. Fabrikarbeiter, VHS-Dozent, Geldbote. Selbstmordkandidat. Bach-Liebhaber. Grüne-Wähler – dies alles ist oder war Joachim Klein.

Der vorliegende Roman berichtet aus seinem Leben, aus Kindheit und Jugend 1962 bis 1984.

Warum? Weil ich denke, dass seine Person und seine Geschichte eine ausführliche Darstellung verdient haben.

Rainer Gross, Jahrgang 1962, geboren in Reutlingen, studierte Philosophie und Literaturwissenschaft. Heute lebt er mit seiner Frau als freier Schriftsteller wieder in seiner Heimatstadt.

Bisher u.a. erschienen: Grafeneck (2007, Glauser-Debüt-Preis 2008); Weiße Nächte (2008); Kettenacker (2011); Kelterblut (2012); Die Welt meiner Schwestern (2014); Yûomo (2014); Haus der Stille (2014); Schrödingers Kätzchen (2015); Haut (2015); My sweet Lord (2016); Die sechzigste Ansicht des Berges Fuji (2017); In der fernen Stadt (2017); Räucherstäbchenjahre (2018); Der Teehändler (2019); Er sollte nicht ahnen (2019); Lebkuchenstadt (2020); Schatzkiste (2020); Ein Nachmittag am Bondi Beach (2020).

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© 2020 Rainer Gross

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

Umschlagfoto: © depositphotos.com/ Artur Verkhovetskiy

Alle Rechte vorbehalten

ISBN: 9783752616644

So hoch ein Baum auch wächst,
seine Blätter fallen immer zur
Wurzel.

CHINESISCHES SPRICHWORT

Vorwort

»Ich plane meine Memoiren«, sagte mein Freund Joachim Klein vor ein paar Jahren zu mir. »Und du sollst sie schreiben. Ich bin Schriftsteller wie du. Aber das kann ich nicht.«

Ich war einverstanden, und so erzählte er mir in zahlreichen Treffen sein bisheriges Leben. Ich machte mir Notizen, fragte nach, ordnete chronologisch und entwarf den Text. Wir besprachen ihn gemeinsam, diskutierten darüber und einigten uns immer.

In diesem Roman erzähle ich also aus dem Leben von Joachim Klein, und zwar die Jahre 1962 bis 1984. Es ist immer eine Herausforderung, aus dem Leben einer wirklichen Person zu erzählen. Der Stoff ist vielfältig, die Zusammenhänge sind komplex, und das Bild, das man von der Person zeichnet, ist immer subjektiv und Stückwerk.

Dennoch habe ich versucht, dieses Buch ehrlich und wahrhaftig zu schreiben. Die geschilderten Ereignisse haben alle stattgefunden, und doch musste ich eine stimmige Geschichte daraus machen, was bedeutete: Zusammenhänge vereinfachen, Stoff auswählen, alternative Aspekte ignorieren.

So ist die Geschichte über Joachim Klein beides: fiktiv und biografisch, erfunden und real. Bei all dem kam es mir darauf an, Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, den Menschen Joachim Klein nahe zu bringen, aus dem Grund, weil ich denke, dass er und seine Geschichte eine ausführliche Darstellung verdient haben.

Reutlingen, September 2020

Kindheit
1962 – 1976

1 Geburt

Er wurde am achtzehnten Februar neunzehnhundertzweiundsechzig geboren.

Er erblickte also das Licht der Welt.

Es war ein grelles Licht, erleuchtet vom Schmerz. Aber das wusste er nicht.

Joachim sollte er heißen.

Damals gab es noch keine Ultraschallbilder, sodass niemand wusste, ob er Sohn oder Tochter war.

Mutter Klein hatte sich gewünscht, dass die Tochter Bärbel heißen sollte, der Sohn Joachim. Vater Klein war einverstanden.

Es war eine Hausgeburt. Die Hebamme war schon anwesend. Die Wehen setzten ein.

Die üblichen herrischen Anweisungen, der Vater wartete in der Küche und rauchte, der Erstgeborene war zur Oma geschickt worden.

Letztes Jahr hatten sie in Berlin die Mauer hochgezogen, den »antifaschistischen Schutzwall«, und dieses Jahr im November sollte die Mutter am Radio hören, dass der Präsident der Vereinigten Staaten, jener Mann, den so viele in Deutschland verehrten, in Dallas erschossen worden war.

Davon wusste Joachim nichts.

Er war ein schreiendes Bündel, das blut- und schleimverklebt in den zupackenden Händen der Hebamme in der Luft baumelte, die Nabelschnur noch unzertrennt.

Er wusste überhaupt nichts, nur eines war in seinem Bewusstsein: Schmerz.

Bei der Geburt war er im Geburtskanal steckengeblieben, hatte den rechten Arm verkeilt im engen Schluf, und mit der letzten Wehe wurde er durch die Röhre gepresst.

Das dünne Ärmchen brach.

Schmerz schoss in sein erwachendes Bewusstsein und ein kaltes, grelles Willkommen in einer feindseligen Welt.

Das Ärmchen baumelte herab. Der Vater sah es und machte sich Sorgen.

Das mit dem Ärmchen war nicht normal, die Hebamme bettete Joachim in die Wiege und deckte ihn zu.

»Er schreit die ganze Zeit«, sagte der Vater.

»Das gibt sich«, meinte die Hebamme.

Die Mutter war glücklich und erschöpft.

Sie schaute immer wieder zu der Wiege, die an ihrem Bett stand, und lächelte.

»Ist das normal, dass er immer jammert und so unruhig ist?«, fragte der Vater die Hebamme, als sie ihre Sachen packte und unter der Tür stand.

»Das gibt sich. Vielleicht hat er schon Hunger. Stillen Sie ihn bald!«

Dann war sie draußen.

Der Vater schaute ihr durchs Wohnzimmerfenster nach, wie sie aus der Haustür trat in den Schnee, ihren Mantel enger zog und in ihren kleinen Wagen stieg.

Es lag Schnee.

» Joachim soll er heißen«, sagte die Mutter.

»Ruh dich aus, Theres! Wir haben ja alles besprochen.«

»Ich will, dass er Joachim heißt.«

»Ist ja gut.«

»Weißt du, was das heißt? Das heißt nämlich was.«

»Was meinst?«

Er saß an ihrem Bett, schaute nach dem Kleinen, wischte der Mutter den Schweiß von der Stirn.

»Karl, das ist ein biblischer Name, weißt. Gott richtet auf, heißt das.«

»Das ist schön.«

»Gell?«

Aber er hörte nur halb hin.

Der Kleine regte sich im Bettchen, drehte sich hin und her, amtete herum. Er wimmerte leise.

Das ging so zwei Tage. Zwei Tage, in denen keiner ahnte, was mit Joachim los war.

Oder doch: Dem Vater ließ es keine Ruhe.

»Der hat doch was«, sagte er immer wieder.

Die Mutter lupfte Joachim aus dem Bettchen, nahm ihn auf den Arm, legte ihn an ihre geschwollenen Brust, aber er saugte nicht lange.

Immer wieder drehte er das Köpfchen weg und jammerte.

»Der Arm hängt so runter«, sagte der Vater.

»Meinst?«

»Er bewegt das Ärmchen gar nicht. Ihm tut sicher was weh, dass er immer so jammert. Ich glaub, wir sollten einen Arzt holen.«

Gegen zwei Uhr nachmittags kam der Arzt vorbei.

Er betastete mit behutsamen Bewegungen den Arm, streckte ihn, beugte ihn, Joachim quengelte, und nach fünf Minuten sagte der Arzt nachdenklich:

»Gut, dass Sie mich geholt haben, Herr Klein. Das Ärmchen ist gebrochen. Ist er runtergefallen oder hat er sich angeschlagen?«

»Nein, um Gottes willen!«, sagte die Mutter empört.

»Das war sicher bei der Geburt«, sagte der Vater. »Das Ärmchen hat von Anfang an so herunter gehangen.«

»Ich lege ihm jetzt eine Schiene an«, sagte der Arzt. »Achten Sie darauf, dass sie dranbleibt. Die Knochen sind noch weich, das heilt schnell zusammen. Und er will kaum trinken, sagen Sie?«

»Ja. Immer nur ein paar Schluck. Dann hört er wieder auf.«

»Wenn das Ärmchen geschient ist, werden die Schmerzen aufhören. Dann wird er wieder normal trinken.«

»Vielen Dank, Herr Doktor!«

Die Sache mit dem Urvertrauen hatte sich für Joachim also erledigt.

2 Kindergarten

Joachim besaß eine rege Fantasie und eine starke Einbildungskraft.

Er träumte heftig und schrie manchmal und hatte Albträume.

Im Kleinkindalter spielte er meist mit sich selbst.

Er spielte Ritter und Fußball, Cowboy und Indianer, freute sich über die Ritterburgen und Kavallerieforts aus Plastik, die er zu Weihnachten geschenkt bekam.

Er saß in seinem Zimmer und führte seine Figuren in Schlachten und auf Abenteuerfahrten.

Mechanikbaukästen und alles, was mit Technik zu tun hatte, verabscheute er.

Stundenlang konnte er so spielen.

Wenn die Mutter mit dem Kochen fertig war, schaute sie zu ihm herein und fand ihn versunken in seiner eigenen Welt.

Im Kindergarten gab es anfangs Probleme.

Joachim hatte sein Vespertäschchen dabei mit einem Butterbrot und einem Apfel darin.

Er mochte den Geruch des Brotes und das fettige Papier. Es erinnerte ihn an daheim und versicherte ihm, dass es das noch gab, während er hier war.

Er mochte es nicht, den Tag mit fremden Tanten und fremden Kindern zusammen zu verbringen.

Er hatte seine Überschuhe aus lila Kord mit den glatten Sohlen. Er hatte an seinem Garderobehaken zum Zeichen ein grünes Flugzeug kleben. Und er wurde oft bei seinem Namen gerufen. Das bist du, begriff er.

Er galt den Tanten bald als schwieriges Kind, und wenn er ins Malen mit Wachsstiften vertieft war, wollte er nicht, dass man ihn störte. Wollte ein anderes Kind dann das Rot oder mehr Platz, wurde er wütend.

Seine Wutanfälle waren bekannt, und das einzige Mittel, das die Tanten kannten, war, ihn ins Büro zu sperren.

Da blieb er drin, bis er sich beruhigt hatte, sagten sie.

Anfangs war die Mutter immer noch dabei.

Sie spielte mit ihm, versuchte, ihn mit anderen Kindern zusammenzubringen, und dann war alles gut.

Sobald sie sich aber zu ihm hinunter beugte und sagte, dass sie jetzt gehen werde, fing er an zu heulen und klammerte sich an ihr fest.

Die Tanten sahen es mit Besorgnis.

»Der Junge muss sich von seiner Mutter lösen«, meinten sie. »Sie verzärteln ihn.«

Sie gaben den Rat, die Zeiten, die sie hier blieb, schrittweise zu verkürzen. Irgendwann schaffte sie es, dass er akzeptierte, wenn sie ging.

Manchmal vergaß er beim Spielen völlig, dass er nicht daheim war. Aber oft hatte er Heimweh.

Einmal hatte er sich gedacht, dass er nicht mehr hier sein wollte. Er wusste, dass er nicht einfach zur Tante gehen und fragen konnte, ob er heimgehen durfte. Das erlaubten sie nicht, das wusste er schon.

Aber draußen im Garten am Zaun gab es einen Baum.

Er konnte von innen hinauf klettern und an einem Ast entlang hangeln, der so weit über den Zaun ragte, dass er sich auf der anderen Seite ins Gras fallen lassen konnte.

Da war er gerade mal fünf.

Dann versteckte er sich hinter den Büschen und ging auf Schleichwegen nach Hause.

Mutter wird sich freuen, dass ich wieder da bin, dachte er.

Doch die Mutter war gar nicht erfreut.

Er schien zu stören, oder jedenfalls war es nicht in Ordnung, aus dem Kindergarten abzuhauen, auch wenn es ihm dort nicht gefiel.

Ziemlich verdattert ließ er sich an der Hand nehmen und von seiner Mutter zurück bringen.

Die Tanten waren streng. Vielleicht hätten sie fragen sollen, warum es ihm hier nicht gefiel. Vielleicht hätte seine Mutter mit den Tanten sprechen sollen.

Trotzig saß er in einer Ecke und fühlte sich immer noch im Recht. Keiner konnte ihn zwingen, irgendwo zu bleiben, wo es ihm nicht gefiel!

Und wenn man die fremden Erwachsenen austricksen musste, musste man es auch bei den vertrauten tun, selbst wenn es die eigene Mutter war.

Beim gemeinsamen Singen hatte er ein schönes Erlebnis. Sie saßen hinten im Gruppenraum, der zum Bach hinausging.

Es war ein frommes Lied, was er aber nicht wusste. Für ihn erzählte es vom Sommer und vom Glücklichsein und von einer Welt, in der alles so war, wie es sein sollte.

Geh aus mein Herz und suche Freud, sangen alle, und das leuchtete Joachim ein: dass das Herz ausgehen und Freude suchen musste.

Das gefiel ihm: der Sommer im Wald und auf dem Feld, auf den geschotterten Wanderwegen oben auf der Alb. Wo der Vater ihn manchmal auf den Schultern trug. Wo der Staub aufstieg und es heiß war und das Kornfeld gut roch.

In dem Lied flogen Tauben aus ihren Klüften und blühten Narzissen und Tulipan.

Die kannte er zwar nicht, aber die Wörter klangen seltsam und märchenhaft. Genau wie Salomonis Seide, die ihn an Paläste und goldene Schätze denken ließ.

Jemand erklärte ihm, dass Salomo ein großer König in der Bibel gewesen war.

Das Lied war sein Lieblingslied geworden.

3 Im Gräble

Das Sandmännchen schwebte auf seiner Stoffwolke über der abendlichen Stadt und kam von fern und na-ho.

Die Mutter sagte, dass es den Kindern Sand in die Augen streute, damit sie einschliefen. Das fand Joachim furchtbar.

Er hatte einmal im Sandkasten Sand in die Augen bekommen – das tat höllisch weh! Er fand es grausig, dass das Sandmännchen so etwas tat, und hoffte, dass es nie zu ihm käme.

Das Sandmännchen im Fernsehen brachte immer eine Überraschung mit, auf die die Kinder fein Acht geben sollten. Wenn dann das Türchen aufging, öffnete sich eine kleine lustige Welt.

Noch eine Weile aufbleiben dürfen, hieß dieses Türchen. Noch einen Blick in die bunte Welt hinaus tun, bevor er schlafen musste. Schlafen mit der abendlichen Stadt im Kopf.

Im Bett lag Joachim oft lange wach.

Er gewöhnte sich an, den Kopf auf dem Kissen hin und her zu rollen, was einen angenehmen Schwindel erzeugte. Das beruhigte ihn und nahm die Angst.

Dabei sang er leise vor sich hin und dachte sich Geschichten aus. Geschichten, in denen er der Held war: ein einsamer Junge, allein in der Fremde, der die Gunst einer reichen Frau gewann und in die Familie aufgenommen wurde.

Oder er heiratete eine Prinzessin in Ravenna, wo es ihn abenteuerlich hin verschlagen hatte. Auch von der Aleta des Prinz Eisenherz erträumte er sich Zuwendung, später, als er in die Schule ging.

Oft mussten seine Eltern im Flur das Licht brennen lassen, weil er im Dunkeln Angst hatte.

In den Ecken lauerte die Finsternis, die Schatten von der Straßenlaterne wurden zu Monstern, und immer könnte der Teufel neben der Tür stehen.

Manchmal schlief er ein, solange die Eltern noch auf waren, und fühlte sich geborgen und sicher.

Wenn er aber mitten in der Nacht wach wurde und die Wohnung still dalag, wurde die Angst so schlimm, dass er aufstand und sich zu den Eltern ins Schlafzimmer tastete.

Dann durfte er nach ein paar schläfrigen Worten zu ihnen ins Bett kriechen: ins »Gräble«.

Das Gräble hatte nichts mit Grab zu tun, sondern mit Graben: Es war der Spalt zwischen den zusammengeschobenen Bettrahmen, in den er gerade hinein passte.

Er lag auf den Matratzenkanten von beiden Seiten und spürte unten die Kühle, die vom Boden kam. Rechts und links hatte er die Wärme von den schlafenden Eltern, und er konnte sich aussuchen, unter welche Decke er schlüpfen wollte.

Manchmal überlappten sich die Bettdecken, das war am schönsten.

Es war die sicherste Zuflucht, die er sich vorstellen konnte.

4 Weißt du, wie viel Sternlein stehen?

Geborgenheit war für Joachim ein großes Bedürfnis.

Geborgenheit vermittelte ihm besonders, wenn die Mutter ihm am Bett ein Gutenachtlied sang.

Die Mutter saß an seinem Bett, im Nachthemd und duftend nach ihrer Nachtkrem.

Sie sang mit ihm gemeinsam Guten Abend, gut Nacht, das er wegen der Röslein und Nelklein mochte.

Nur eine Zeile machte ihm Sorgen: Wenn es darum ging, dass er morgen früh wieder geweckt wurde, und zwar: wenn Gott will.

Er fragte sich immer: Und wenn er nicht will? Bin ich dann am nächsten Morgen tot?

Aber weil es nicht sein konnte, dass Gott so etwas wollte, brauchte er seine Mutter nie zu fragen.

Am liebsten mochte er das Lied Weißt du, wie viel Sternlein stehen. Er hörte so andächtig zu, dass er ganz vergaß mitzusingen.

Die weiche Stimme seiner Mutter war alles, was er brauchte gegen die Schrecken der Nacht.

Draußen vor den Fenstern schien der Mond, die Stadt schlief, alle, die tagsüber auf waren, lagen nun in ihrem Bett, wie er.

Er stellte es sich vor, und das war für ihn ein Friede, mit dem er beruhigt einschlafen konnte.

Er mochte den Abend. Wenn sich alles bei Einbruch der Dämmerung ins Haus und in die Wohnung zurückzog.

Wenn die Lichter brannten und drinnen Geselligkeit herrschte. Dabei war es ihm am wohlsten. Da spürte er die Geborgenheit ganz stark.

Das Lied erzählte aber auch von Gott. Gott, wie er ihn sich nicht vorgestellt hatte.

Ein Gott, der alles abgezählt hatte: die Wolken, die Sternlein, die Fische und Mücken.

Ein Gott, der dafür sorgte, dass alles seine Ordnung hatte, und nichts würde geschehen, was Gott nicht wollte.

Die weite Welt, in die die Wolken im Lied zogen, war wie ein großer Garten, von Gott behütet.

Überall passte Gott auf ihn auf, und die ganze Welt war seine, Joachims, Heimat.

Gott kannte jedes Kind, jeden Buben und jedes Mädchen, er liebte jedes und er liebte auch ihn, den kleinen Joachim.

Das machte ihm Mut. Er freute sich auf die Welt, in die er da hineinwuchs.

Es ließ ihn an eine Welt glauben, in die er später hinaus ziehen wollte. Nach Afrika oder sonst wohin. Eine große, bunte, verlockende Welt, die ihm dann gar nicht fremd sein würde.

Das war es, was ihn dieses Lied glauben ließ.

Und so schlief er beruhigt und friedlich ein.

Die Mutter stand vom Bettrand auf, ging auf Zehenspitzen hinaus und schloss die Tür so weit, dass durch einen Spalt noch Licht herein fiel.

5 Die Welt

Joachim war ein fröhlicher und aufgeweckter Junge. Er hatte nur auch eine kopfhängerische Seite, die ihm das Leben schwer machte.

Wenn er sich glücklich und im Reinen mit sich fühlte, zog plötzlich eine Wolke vor die Sonne, fiel ein Schatten über sein Leben und stellte alles in Frage.

Zunehmend erlebte er diese feindselige Seite der Welt als Bedrohung und wusste sich nicht anders zu helfen als wütend zu werden.

Wütend auf sich selbst, weil er sich die Schuld dafür gab. Meist ließ er die Wut an den Dingen aus, die sich ihm widersetzten.

Er hatte mehr und mehr ein Bedürfnis nach Rückzug und Einsamkeit.

Obwohl er unter seinen Spielkameraden ein fantasievoller Anführer war und gegenüber Verwandtenbesuch manchmal einen bezaubernden Charme an den Tag legte.

Darin war er Vater Klein ähnlich. Auch ihn lernte er als schweigsamen, in sich zurück gezogenen Mann kennen. Wenn er aber die seltenen Male in Gesellschaft war, gab er sich sehr leutselig und gewinnend.

Hin und wieder kam es vor, dass sie mitten im Feiern aufbrachen und nach Hause gingen.

Zuhause kriegte Joachim dann mit, dass sein Vater sich wieder von jemandem gekränkt gefühlt hatte.

Der Vater war leicht kränkbar und sehr nachtragend. Wochenlang brachen die Eltern dann den Kontakt ab.

Joachim war auch schnell beleidigt.

Wenn er sich ausgeschlossen oder übergangen fühlte, bockte er und verließ die Gruppe. »Beleidigte Leberwurst« nannten ihn dann die Anderen, was ihn sehr ärgerte.

Manchmal stand er da und wusste, dass er nur einen kleinen Schritt zu tun brauchte, und alles war wieder gut.

Er durfte wieder mitspielen und war nicht mehr der Außenseiter.

Aber er konnte es einfach nicht. Lieber blieb er allein.

Joachim schaute dem Vater mehr ab, als ihm in der Pubertät lieb war.

Es war ein Zwiespalt, an dem er litt. Ein Zwiespalt in der Welt, den er mehr und mehr verinnerlichte.

Es war eine zwiespältige Welt, die ihm zuerst Glück und dann Schmerz bereitete.

Alle Geborgenheit, die er erlebte, war grundsätzlich bedroht. Er ahnte nicht, dass ihn das bis ins Erwachsenleben begleiten würde.

Später lag er still und friedlich auf dem Sofa und ließ seine Gedanken treiben, und plötzlich, wie aus dem Nichts, wehte ihn eine Unlust und eine Sinnlosigkeit an.

Sie machte das ganze Leben nichtig und stellte ihn selbst von Grund auf in Frage.

Es war eine Last, schon damals, die auf ihm lag.

Er spürte es. Er war anders als die anderen Kinder.

Die Last gehörte zu seinem Leben. Er kannte es nicht anders.

Dafür meldete sich früh das Fernweh, die Sehnsucht nach der weiten Welt.

Der Vater unternahm mit ihm Ausflüge in den Zoo der nahe gelegenen Landeshauptstadt. Die Welt, die ihm im Zoo begegnete, war verlockend und aufregend.

Die Palmen im Botanischen Garten machten ihm Eindruck, und bei Kaiman und Anakonda, bei Jaguar und Papagei träumte er vom Amazonas.

Er bekam Tierbücher geschenkt mit herrlichen Fotografien, auf denen man Tiere im Dschungel sah. Später wollte er Zoologe im Urwald werden.

In der Schule wurde der Atlas zu seinem liebsten Schulbuch.

Er pauste stundenlang Länder und Kontinente auf Butterbrotpapier ab, lernte die Staaten und ihre Hauptstädte auswendig und war im Geist unterwegs auf Expeditionen und Weltreisen.

Unterstützt wurde das Fernweh durch ein Sammelalbum mit Bildern von den Sehenswürdigkeiten der Welt.

Die Bilder brachte ihm der Vater vom Tanken mit.

Und das Brettspiel über Tierfänger in aller Welt spielte er stundenlang mit sich selbst.

Er mochte die Tierbilder auf den Händlerkarten und die Weltkarte auf dem Spielbrett. Das gab ihm ein erstes Bild von der weiten Welt, die ihn so lockte.

Von der Mondlandung nahm er keine Notiz.

Der Zwiespalt in ihm blieb.

Einerseits Mut und Abenteuerlust, andererseits Angst vor Fremde und Verlorengehen.

Seine kleine Welt hingegen war mit Kindergarten und Schule, mit Fußballspielen im Hof und dem Bach hinterm Haus, mit Freibad und Wasenwald, geborgen und sicher.

6 Ringelbachstraße

Die Kleins wohnten in der Ringelbachstraße am Westende der Stadt. Die Straße führte hinaus in den Wasenwald.

Manchmal stand Joachim am Rinnstein und wartete darauf, was die Straße lang käme.

Da war zum Beispiel das weiße Milchauto.

Der Milcher war ein freundlicher Mann mit Halbglatze, er verkaufte Lutscher für fünf und Gummibärchen für einen Pfennig.

Im Wagen roch es säuerlich und mild.

Manchmal durfte einer von den Nachbarskindern bis zum nächsten Block mitfahren. Ein einziges Mal war er das, weil er sich endlich getraut hatte zu fragen.

Er stand auf der kurzen Fahrt neben dem Fahrersitz und schaute durch die Windschutzscheibe zu, wie die bekannten Häuser vorbei zogen.

Und da waren die Panzer aus der gegenüberliegenden Franzosenkaserne. Sie fuhren ins Manövergelände draußen bei den Sumpfwiesen.

Man hörte sie schon von Weitem, wenn sie die Straße herauf dröhnten.

Selten getraute sich Joachim, am Straßenrand stehen zu bleiben. Noch im Hauseingang hielt er sich die Ohren zu.

Wenn sie dann plötzlich auftauchten, röhrend und mit den Ketten klirrend, und an der Hofeinfahrt vorbei walzten, dass es im Magen bebte, hatte er Angst.

Die Anderen johlten und winkten den Franzosen zu, die darauf saßen und zurück winkten.

Der Bach, der der Straße den Namen gab, entsprang draußen im Wald. Er mündete fern in die Echaz. Er war schmal, aber zu breit, um hinüber zu springen.

Schnecken gab es dort, die sollte man über Warzen kriechen lassen, hieß es, dann gingen die Warzen weg.

Bachabwärts kam man zum Bauer Grüninger und dann in das Gebiet der Rosa-Block-Bande. Bachaufwärts ging es zum Kindergarten.

An der Böschung wuchsen große Holunderbüsche, in denen Joachim sich mit seinen Freunden versteckte.

Die Zweige taugten nicht für Speere und Schwerter, sie hatten innen ein weißes Mark wie Schaumstoff und knickten leicht.

Besser waren die Ruten der Trauerweide neben den Garagen.

Sie rissen sie vom Baum, rupften die Blätter ab und knallten dann mit den Peitschen, bis sie abbrachen.

Der Nachbar, der sein Schlafzimmer dort hinaus hatte, schimpfte. »Lasst den Baum in Ruhe!«, schrie er.

Auch Brennnesseln wuchsen unten am Bach, kindshoch.

Ganz vorsichtig bewegte sich Joachim hindurch, mit hochgestreckten Armen.

Aber einmal fiel er hinein und brüllte wie am Spieß.

»Das ist gesund für die Haut«, sagte der Nachbar.

Im Winter wollten sie einmal erkunden, wo genau der Ringelbach seine Quelle hatte.

Sie zogen zu dritt los, auf dem Eis.

Sie krochen durch das Rohr, in dem der Bach die Straße unterquerte, und gelangten in den Geißbühl.

Dort mussten sie den Weiher überqueren, der tief war, und das Eis dunkel mit weißen Blasen darin.

Joachim hatte große Angst einzubrechen.

Der Bach führte am Kompost einer Gärtnerei vorbei, wo sie gefrorene Kartoffeln und Rosenkohl als Marschproviant aufklaubten.

Joachim biss hinein, aber das Gemüse war gefroren, das konnte man nicht essen.

Im Wasenwald kamen sie zum Schießübungsplatz der Franzosen.

Schilder warnten, aber es war alles still im Wald und weit und breit niemand zu sehen.

Sie fanden die Quelle am Fuß des Georgenbergs, wo die Laubengärten lagen.

Sie entsprang auf einem der Grundstücke, die von Maschendrahtzaun eingefasst waren.

Sie sahen ein Loch im Rasen, wo das Wasser aus dem Boden kam.

Die Ringelbachquelle gehört allen, sagten sie, und kletterten über den Maschendrahtzaun.

Als Zeichen ihrer Entdeckung steckten sie einen Stock in den Boden.

Im Sandkasten im Hof baute Joachim mit Martin und Micha ein Netz aus Straßen, Auffahrten, Tunnels, Garagen.

Amerika nannten sie das.

Dort fuhren sie mit ihren Matchboxautos entlang, parkten unterirdisch und lieferten sich Autobahnrennen auf den Brettern der Einfassung.

Wenn sie zu einmal tief gruben, wurde der Sand feucht und sie stießen auf Lehmklumpen.

Die Kleinkinder mit ihren Schaufeln und Eimern jagten sie davon, bis deren Eltern schimpften.

Abends rief ihn dann vom Balkon die Mutter herauf.

Die Autos wurden eingesammelt und sortiert.

In dem Karton, in dem er sie aufbewahrte, knirschte Sand. Manchmal waren die Räder blockiert, sodass er die Autos auf der Handfläche fahren lassen musste, bis sich der Sand löste.

Wenn er in die Wohnung kam, roch es in der Küche warm und süß.

Die Mutter kochte Saft. Johannisbeeren in dem großen Blechtopf mit dem Thermometer.

Er kletterte auf den Hocker und leckte den verschütteten Saft vom Wachstuch.

Der Heimweg vom Freibad war ein richtiges Nachhausekommen.

Barfuß spürte er den spitzen Splitt auf dem Fahrweg unter den Sohlen.

Dann die herab gefallenen Zwetschgen, geschwollen von Wespen.

Dann den trockenen Lehmpfad zwischen den Brennnesseln.

Das kühle Gras und die knorrigen Wurzeln der Weiden hinter den Garagen, die an den nackten Sohlen wehtaten.

Den heißen Teer im Hof.

Den kühlen Schatten unter der Haustür, den sonnenwarmen Trittstein, das scharfe Eisengitter des Schuhabstreifers.

Im Treppenhaus war es kühl, er spürte den glatten Steinboden. Das Metallgeländer war frisch lackiert, er rüttelte gern daran, und das Beben war immer vor ihm oben.

Die Dauerkarte um den Hals gehängt, Chlorgeruch auf der Haut, die Badehose noch feucht – so gingen die Freibadtage zu Ende.

Die Freunde, die jetzt in gleichen Treppenhäusern ebenso nach oben liefen zu ihren Müttern, kamen wieder.

Sie trafen sich auf dem Waschplatz zum Quartettspielen. Zweihundertfünfzig PS – erster im Stich!

Neben den Mietblöcken stand ein Bauernhof. Der gehörte Grüningers. Er hatte nicht viel Platz, aber alles, was zu einem Bauernhof gehörte.

Vor dem Hund, dem bösen Barri, hatten alle Kinder Angst. An dem mussten sie erst vorbei. Er bellte wütend und zerrte an der Kette.

Im Stall stank es sehr nach Gülle, und die Kühe waren riesig und plump. Dumpf polterten die Hörner gegen die Wände.

In der Scheune kletterten sie ins Gebälk hinauf, wo es dunkel war.

Sie balancierten auf den Balken und sprangen tief ins Heu hinab, dass es im Bauch kribbelte.

Joachim stieg auch in eine Kornschütte hinein, obwohl Herr Grüninger das verboten hatte.

Er grub sich ein zwischen die süßen Samen, bis nur noch der Kopf heraus guckte. Hinterher hatte er Hemd und Hose voll davon.

Eines Tages entdeckte Joachim, dass die Hecke, die um den Hof herum lief, innen hohl war.

Er fand den Eingang und kroch, wenn niemand zuschaute, hinein. Drinnen konnte er den dämmrigen Gang entlang kriechen bis zum anderen Ende.

Manchmal saß er dort und freute sich daran, dass ihn niemand sah. Er selbst aber konnte jeden Spaziergänger auf dem Weg beobachten.

Dann saß er mucksmäuschenstill und wartete, bis die Leute vorbei gegangen waren.

Im Hof auf der Wiese stand ein krummer Apfelbaum. Darunter machten die Mieter im Sommer ein kleines Fest. Es wurde das »Apfelbaumfest« genannt.

Schon Tage zuvor bastelten die Kinder aus dem dürren Laub der Pappeln am Bach Blättergirlanden, die sie dann im Baum aufhängten.

Mädchen bekamen Kränze aus Gänseblümchen ins Haar gesteckt, und die Jungs bauten Tische und Stühle auf.

Jemand holte vom Grüninger den Holzkohlegrill, und dann gab es abends Würstchen und Limo.

Forscher mit seiner Gitarre spielte, Lieder wurden gesungen, manchmal lief auch das Radio.

Einmal hatte jemand einen Kassettenrekorder dabei und spielte Schlager, was aber dem alten Hellriegel nicht gefiel. Der ging immer zum Pilzesammeln in den Wasenwald.

Sie durften bis neun aufbleiben.

Wenn sie dann oben in ihren Betten lagen, hörten sie unten im Hof die Stimmen und das Gelächter.

Auf das Apfelbaumfest freute sich Joachim den ganzen Frühling.

Einmal ging er mit der Mutter zum Kinderfest der Arbeiterwohlfahrt draußen im Markwasen.

Unter den hohen Eichen konnte man Sackhüpfen, Eierlaufen, Nägel einschlagen. Die Mutter saß dabei, drüben auf der Bank, und plauderte mit anderen Müttern.

Ein Pfahl war aufgestellt worden. Oben wurde ein bunter Kranz aufgehängt mit bunten Geschenken daran: ein Indianerfederschmuck, eine Plastiktrompete, eine Großpackung Filzstifte.

Jeder, der es schaffte, ganz hinauf zu klettern, durfte sich ein Geschenk nehmen. Die Filzstifte hätte Joachim gerne gehabt. Aber er traute sich nicht.

Er schaute den anderen Kindern zu, wie sie den Pfahl erklettern. Manche schafften es tatsächlich bis nach oben und kamen glücklich mit einem Geschenk in den Händen wieder herunter.

Joachim wusste, dass es zu schaffen war, aber er wollte es nicht versuchen, wenn all die fremden Leute zuschauten.

7 Franzosenfest

In der Kaserne saßen seit dem Ende des Weltkrieges französische Soldaten.

Besatzung, erklärte ihm sein Bruder Andi und hatte es wichtig. »Es gibt noch nicht einmal einen Friedensvertrag«, sagte er.

Davon verstand Joachim nichts.

Die Soldaten gehörten zum Stadtbild.

Manchmal sah Joachim einen Trupp zur Innenstadt marschieren, samstagabends. Junge Burschen mit Stoppelschnitt und das Barrett unter die Schulterklappen gesteckt, lachend und johlend.

Vom Weltkrieg und von Hitler wussten sie wenig. Sie wussten nur, dass Hitler ein sehr böser Mann gewesen war und dass man nicht über ihn sprach.

Deshalb gingen sie den Soldaten hinterher, reckten den rechten Arm, schrien »Hai Hitler!« und rannten weg.

Die Soldaten lachten.

Um sich mit der Bevölkerung gutzustellen und die Verständigung zu fördern, veranstaltet die Kaserne jeden Sommer ein Fest, eine Art Kirmes auf dem Kasernengelände.

Es wurde nur das »Franzosenfestle« genannt, und die Kasernentore standen weit offen.

Joachim genoss es, durch die sonst streng bewachten Tore hinein zu schlendern und sich auf dem Gelände umzuschauen.

Er durchstreifte alle Winkel und trieb sich gerade dort herum, wo niemand hinkam.

Er entdeckte ein leeres Schwimmbecken, blau angestrichen, ein paar Erdhügel und ein Klettergerüst. Da machten die Soldaten wohl ihr Training.

Man konnte auch Panzer besichtigen.

Kinder kletterten hinein und heraus, befühlten das Kanonenrohr, ließen sich im Innern technische Geräte erklären. Für den Irrwitz dieses Anblicks: Panzer und spielende Kinder, hatte Joachim noch keinen Sinn.

Keine zehn Pferde brächten ihn dazu, diesen Dingern nahe zu kommen.

Sie waren ihm unheimlich.

Die Soldaten spielten die freundlichen Onkels. Aber Joachim waren sie nicht geheuer.

In ihrem radegebrechten Deutsch leiteten sie die Spiele und verteilten die Gewinne.

In den Panzerhallen konnte man mit ausgestopften Socken auf Sperrholzasterixe werfen oder mit Übungsgranaten auf aufgehängte Glasflaschen.

Am Glücksrad, das aus einer Fahrradfelge bestand, gab es eine Tüte Bonbons oder ein »Nüts« oder auch bloß eine Packung Kaugummi zu gewinnen.

Und aus einem sägemehlbedeckten Kasten angelte man mit einem Haken am Stecken die Schnurschleifen von Überraschungspaketen.

Eine Mark kostete jedes Spiel.

Von den Imbissbuden roch es lecker nach Pommesfrites, die aber matschig und versalzen waren.

An die scharfen roten Würstchen, die es auf dem Grill gab, traute Joachim sich nicht heran.

Als kleiner Junge hing er an den Ständen herum und lauerte auf einen Gratisschuss oder –wurf.

Einmal durfte er Bogenschießen, obwohl er gar nicht wusste, ob er das konnte. Aber siehe da! – er versenkte auf Anhieb drei Pfeile im roten Kreis der Strohscheibe.

Die Soldaten lobten ihn. Eigentlich hätte er nun eine Flasche französischen Sekt gewonnen, aber es zählte ja nicht.

Der französische Sekt war unter den Erwachsenen sehr begehrt. Am leichtesten war er in der Lotterie zu gewinnen.

Joachim lungerte an der Losbude eine Weile herum und fand heraus, dass die Lose in den Briefumschlägen aus unterschiedlichem Papier bestanden.

Durch Befühlen des Umschlags konnte er bald Nieten von Gewinnen unterscheiden.

Ein Mann sprach ihn an und kaufte zehn Lose, die Joachim ziehen durfte. Immerhin erzielte er acht Treffer, das waren acht Flaschen Sekt.

Der Mann freute sich, gab aber Joachim keine Belohnung. Der hätte mit einer Flasche Sekt auch nichts anfangen können.

Der Soldat hingegen, der die Lose verkaufte, verbot fortan, dass die Umschläge vor dem Ziehen lange befühlt wurden.

Joachim war nicht dumm.

Er konnte schlau sein und fand rasch die Lücken in den Vorschriften, die die Erwachsenen machten.

Er hatte sie ausgetrickst, aber die spielten falsch und änderten einfach die Regeln.

Das war ungerecht, fand Joachim.

Aber so war die Welt.

Abends musste er zuhause sein, obwohl es da in der Kaserne erst richtig losging.

Im Offizierskasino wurde Musik gespielt und getanzt und Alkohol getrunken. Girlanden aus bunten Glühbirnen schmückten den Bau, und Soldaten in schmucken Uniformen gingen ein und aus.

Sein Bruder Andi durfte hingehen, mit seiner ganzen Clique, er war alt genug.

Zuhause lag Joachim in seinem Bett und hörte von der Kaserne die Musik und das Gelächter herüber schallen, bevor er einschlief.

8 Sonntag

Sonntags kochte der Vater.

Es gab Nudelsuppe mit gerösteten Weißbrotwürfeln aus der Porzellanterrine mit dem Goldrand. Danach Fleischküchle oder Hackbraten mit Nudeln und Soße, dazu Kartoffelsalat mit Kresse.

Der Kartoffelsalat und die leicht bittere, frische Kresse waren der typische Sonntagsgeschmack. Die Mutter machte zum Nachtisch Vanillepudding und stürzte ihn aus der gelben Fischform auf den Teller.

Das Tischtuch war frisch gewaschen, das Silberbesteck kam aus der Besteckschublade im Büffet.

Joachim liebte es, wenn sich das in Butter geröstete Weißbrot mit der Suppenbrühe vollsog und knusprig und weich zugleich wurde.

Und wenn der Vater nach der Suppe die Platte mit dem Hackbraten, die Saucière, die Schüssel mit den Salaten und die Nudelplatte brachte und der Tisch voll war, war es endgültig Sonntag.

Auf die Nudeln waren Semmelbrösel gestreut.

Joachim durfte zum Essen trinken, es wurde geredet, und der Vater wollte für das Essen gelobt werden.

»Und?«, fragte er immer, »kann man‘s essen?«

Vater betete immer:

»Komm, Herr Jesus, sei unser Gast, und segne, was du uns bescheret hast.«

Das Sonntagsessen hatte immer etwas Festliches. Vielleicht lag das daran, dass der Vater betete.

Das »bescheret« im Gebet ließ Joachim immer an die Bescherung an Weihnachten denken. Er stellte sich Jesus am Tisch vor, wie er Hackbraten und Nudeln mit Soße mit ihnen aß.

Das Sonntagsessen bedeutete: Es ist alles in Ordnung.

Sonntags machten sie Ausflüge.

Mit dem alten Käfer und Wolldecke und Kühltasche auf die Alb.

Auf dem Wanderweg, zwischen Wald und Kornfeld, stolperte Joachim über die Steine, und die Lederhose scheuerte an den Schenkeln.

Manchmal trug der Vater ihn auf den Schulter, das war herrlich! Er umklammerte das Kinn und spürte die Bartstoppeln. Es schwankte wie auf einem Kamel.

Von hier oben sah Joachim alles: den Weg vor ihnen, den Wald, das Wanderheim der Naturfreunde.

Dort kehrten sie ein, und er bekam eine grüne Flasche Bluna mit einem Strohhalm darin.

Am schönsten aber war es, wenn Vater und Mutter ihn zwischen sich nahmen, seine Hände hielten und losliefen und ihn hoch in die Luft schwangen. Dazu riefen sie: »Engele, Engele, fliiieg!«

Joachim jauchzte vor Vergnügen.

Wenn er wieder auf dem Boden stand, wusste er: Er war ein Engelchen.

Im Einwinkel knotete der Vater die Hängematte zwischen die Bäume.

In der Ferne stiegen Ballone über dem Wald auf. Auf dem Rossfeld war heute Flugfest.

Zwischen den Schlehdornbüschen krabbelten Ameisen in der feinen krümeligen Erde.

Joachim schaute ihnen zu und achtete ängstlich darauf, dass keine seine Beine hinauf kroch.

Vater nahm ihn zum Pilzesammeln mit in den Fichtenwald.

Manchmal fand Joachim einen, in der feuchten Erde, die mit Nadeln bedeckt war.

Der Vater zeigte es ihm: Die Lamellen müssen braun sein und der Pilz nach Anis riechen – dann ist es ein Egerling.

Der giftige Knollenblätterpilz dagegen hatte weiße Lamellen. Der Vater warnte ihn eindringlich davor.

Joachim staunte, und es gruselte ihn: dass eine so kleine Pflanze so gefährlich sein konnte!

Das fand er hinterhältig.

Lange lag er an diesem Tag auf dem großen Badetuch und las Huckleberry Finn.

Er war ganz versunken in die Welt des Mississippi.

Oder er las in seiner Teddy-Kinderzeitschrift, wo er Rätsel löste und mit dem Bleistift den Weg aus dem Labyrinth fand.

Ich weiß schon vieles und Ich kann so manches, hieß es darin.

9 Schule

In die Schule ging Joachim gern.

Er war ein sehr guter Schüler, und schon in der Grundschule zeigte sich seine Begabung für Deutsch. In seinen Aufsätzen hatte er immer eine Eins und in den Diktaten null Fehler.

Die Lehrerin war von seinen Aufsätzen angetan und wunderte sich über die Fantasie und die Sprachbegabung des Jungen.

Joachim mochte neue Schulsachen und Bücher.

Er liebte überhaupt Bücher, las viel, lieh Bücher aus der Kinderbücherei aus.

Die war damals in einer alten Schule neben der Feuerwehr am Ledergraben untergebracht. Die Feuerwache wurde von den Leuten »Spritzenmagazin« genannt.

In der Kinderbücherei roch es nach Bohnerwachs und altem Holz.

Er ging oft durch die dunklen Flure mit Kleiderhaken an beiden Wänden und hinein in die hellen Zimmer. Dort standen Regale voller Büchern.

Er freute sich darauf, was er dort alles finden würde: Pünkelchen, die Wawuschels, Urmel, Kasperle, die Mumins und die Löwe-Bücher von Max Kruse.

Er freute sich darauf, durch die Regale zu stöbern und vielleicht ein Buch zu entdecken, das er noch nicht kannte.

Er drückte mit dem Stempel das Datum sorgfältig in das Fach auf dem Leihzettel.

Sein Name stand in Kinderschrift auf der Karteikarte.

Zur Einschulung bekam er eine Schultüte aus tannengrünem Glanzpapier mit einem Kranz vorne drauf.

Dort stand in Filzbuchstaben: Mein erstes Schuljahr.

Mit dem weißen Kranz und dem Tannengrün verband er seinen Namen.

Immer dachte er später an dieses Grün, wenn er seinen Namen sagte.

Auf dem Schulweg die Alteburgstraße hinauf kam er immer am Schöller vorbei, der Schreibwaren und Zeitschriften verkaufte. Auch die später begehrten Comics.

Dort stöberte Joachim zwischen Bleistiften mit Radiergummi am Ende, Redisfedern und Tusche für den Kunstunterricht herum, fand Geodreiecke, bunte Tintenpatronen in Lila, Türkis und Gelb, glatte Heftumschlägen und durchsichtige Anspitzer.

Seinen ersten Zirkelkasten kaufte er dort und nahm ihn fast andächtig in Empfang.

Später kaufte er sich dort jeden Dienstag das neue primo mit den Beilagen, die er besonders liebte.

Er steckte daraus Plastikflugzeuge zusammen, pinselte mit den Buchstabenschablonen, schüttete das Tütchen Halbedelsteine auf seine Handfläche.

Peter ruft. Flocki kommt. Anna lacht.