Impressum

www.paul-riedel.de

©Paul Riedel, München 2020

Printed in Germany

Umschlag: © Paul Riedel, München 2019

Lektorat: Beatrix Osterkamp

Erste Auflage 2020

Bibliografische Information der Deutschen

Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek

verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2020 Paul Riedel

Herstellung und Verlag

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 9783751975544

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Brutalität kann Personen voneinander trennen. Sie kann Menschen verändern, aber sie kann auch das Ritual zur Entstehung einer neuen Person, Regel oder Gesellschaft sein.

Überleben werden nicht nur die Stärksten, sondern auch die Intelligentesten.

In diesem Roman werden beide Facetten der menschlichen Personalität in einer möglichen Zukunft vorgestellt.

In einer Reihe von Selbstjustizakten sieht ein junger Polizist die Chance, seine Karriere aufzupolieren und dadurch ebenfalls ihn von seiner Hauptsorge ablenken. Ein Leben ohne Erfüllung seiner Liebe.

Einiges basiert auf Tatsachen, und mit einem Hauch von Romantik kann die Realität auch besser verdaut werden.

Über den Autor

Geboren in Brasilien, wuchs ich in der Stadt Sao Paulo auf. Mein Interesse an der Literatur begann in den siebziger Jahren. Damals las ich alle Romane von Simenon, Christie oder Marion Zimmer Bradley, die ich fand.

Ich entwickelte später meinen eigenen Genre, wo Gewalt nicht vordergründig ist, aber nunmehr Bestandteil der Psyche und des Lebens der Charaktere.

Die deutsche Sprache war für mich nie leicht, aber die Herausforderung reizt genug, um diese mit aller Kraft anzugehen.

Ich lebe seit 1984 in München, wo ich Stadtführungen und Kunstseminare anbiete.

Am Ende dieses Buchs finden Sie eine Liste meiner derzeitigen Werke.

Märchen

Die Vorstellung, dass Mädchen als Prinzessinnen von edlen Rittern gerettet werden und glücklich für den Rest ihrer Tage leben können, war eine der Dogmen, die Irene Vogt störten.

Rosafarbene Kleider verschmähte sie. Sie würde eher eine glänzende Rüstung tragen. Die Drachen, die Männer bekämpften, hätte sie lieber als Vertraute.

In ihren Fantasien wollte sie eigentlich die Ritterin sein. Noch eindrucksvoller wäre die Vorstellung, ein Paladin zu sein, mit der Kraft Gottes gegen das Böse anzutreten.

Die Jahre vergehen. Von den Märchen, die ihre Mutter ihr einst vorlas, blieb nur eine blasse Erinnerung.

Sie entwickelte sich zu einem modernen Paladin. Eine Polizistin, die auf der Suche nach Gerechtigkeit auf ihre Liebe traf.

Wie in Liebesromanen oder Erzählungen, die sie kannte, geschah es ihr, dass all ihre körperliche Kraft nutzlos gegen einen unsichtbaren Feind war.

Dieser Widersacher wurde durch eine exotische und fragile Figur personifiziert. Die ihr Herz verletzte, wenn sie sich davon fernhielt, aber gleichzeitig ihren Geist schwächte, wenn sie ihr zu nahekam.

Ein Opponent musste für sie einen angsteinflößenden Namen haben. Aber in ihrem Fall hieß dieser nur Jenny.

Ein Mädchen

Der Wolf

Aus dem Fenster waren weder Mond noch Sterne am Himmel zu erkennen. Lediglich die Abwesenheit von Autos auf der Schönstraße setzte die Frau in Kenntnis, dass es Mitte der Nacht im August war. Feuchte Kühle schwebte in der Luft und verlieh der kleinen Wohnung am Isarpark eine düstere Aura. Der Sommer neigte sich seinem Ende zu, und die typische Morgenwärme löste diese mit den ersten Sonnenstrahlen auf.

Sie bewegte sich mühsam zum Wohnzimmerbereich des Appartements. Dort setzte sie sich auf das Sofa, und ihre ungehorsamen Finger suchten nach dem Lichtschalter der Stehlampe. Fotos von ihr aus den Achtzigern zeigten eine rehbraune Mähne mit Strähnchen. Sie trug ein pinkes Top. Die Farben auf dem Foto waren zwar etwas verblasst, aber man erkannte ihren Kampfgeist und Sex-Appeal. Eine Zierde, die sie vor fast zehn Jahren verlor. Von einem Triebtäter an der Isar attackiert, der gefasst wurde.

Das Trauma, das dem Überfall folgte, löste in ihr eine Neurasthenie aus. Die Behandlung verschiedener Experten zeigte jedoch in fünf Jahren keine Besserung.

Sie schaltet das Licht ein und suchte ihre Lesebrille auf dem antiken Biedermeiertisch neben ihrem Foto. Ein Anflug von Sehnsucht überkam sie jedes Mal, wenn sie dieses Bild ansah. Ihre jetzt zittrigen Hände widerstrebten ihrem Befehl, und sie rechnete damit, dass sie sich in absehbarer Zukunft nicht mehr allein versorgen könne.

Es wäre bald zu erwarten, dass ihre Tagespflegerin sie nicht mehr rechtzeitig vom Boden heben könne, und dann wäre es aus mit allein wohnen.

‚Überleben oder diesem Leiden ein Ende setzen?‘, fragte sie sich. Depression war ein Begleitsymptom und in solchen Fällen kaum zu vermeiden. Ihre Psychotherapeutin schloss die Gefahr eines Selbstmordversuchs aus. Jedoch der Gedanke an diese Möglichkeit war ebenso schädlich.

Sie setzte sich die Brille auf und schlug erneut die Tageszeitung von vor einigen Tagen auf. Sie las ungläubig die Meldung auf Seite drei.

„Verdächtiger im Fall der Frauenmisshandlung von Grünwald wegen Beweismangel freigelassen.“

‚Es ist nicht mal in Grünwald. Es war in Harlaching’, widersprach Kathrina der Meldung.

Auswärtige Redakteure in bayerischen Zeitungen waren durch solch kleine Fehler zu ertappen.

Sie las diese Zeile mehrmals und leistete ihren bitteren Tränen keinen Widerstand. Auf einem unscharfen Foto sah man den Verdächtigen, von Polizeibeamten flankiert. Er verbarg sich unter einem großen Mantel. Kathrina presste die Zeitung zu einem Papierball und versuchte diesen mit aller Kraft wegzuwerfen. Jedoch das misslungene Ergebnis rollte schlapp zu Boden, was sie umso mehr in Rage brachte.

„Wo habe ich einen Fehler gemacht?“, fragte sie sich laut. Sie wischte die überflüssigen Tränen ab und richtet sich auf dem Sofa auf.

Sie schaltete ihren Computer ein, und solange das System hochfuhr, suchte sie nach Fassung und wischte sich weitere Tränen ab. Kathrina schaute auf dem Desktop nach der Uhrzeit, der Schlafmangel trübte ihren Blick.

‚Es ist zu früh. Du brauchst sieben und eine halbe Stunde Schlaf’, mahnte sie sich selbst.

Ein Dialogfeld öffnete sich, und sie tippte den Suchbegriff ein. Der Desktophintergrund war in schlichtem Schwarz, die Buchstaben waren blau. Er wirkte fast wie ein Computer aus den siebziger Jahren, obwohl das Gerät keineswegs so alt war. Sie fand die gesuchte Telefonnummer in der virtuellen Kartei und wählte sie. Es klingelte mehrmals, und bevor der Anrufbeantworter anging, legte sie auf und rief wieder an. Beim sechsten Mal war sie erfolgreich, und auf der anderen Seite antwortete widerwillig eine Stimme.

„Was denn? Es ist noch Schlafenszeit, verdammt“, monierte die Gegenseite.

„Kathrina ist hier“, sagte sie mit zittriger Stimme.

„Wer denn sonst? Ich muss arbeiten, und um dies tun zu können, benötige ich etwas Schlaf“, war zwischen Flüchen und Beschimpfungen zu verstehen.

„Er ist frei“, entschuldigte sich Kathrina. Sie sprach langsam und stotterte teilweise.

Die Gegenseite blieb stumm. Sie verstand, dass es lange dauern würde, bis eine Rückmeldung kam. Ob überhaupt eine Antwort kommen würde, war sie sich nicht sicher. Nicht selten legte ihre Gesprächspartnerin nur wütend den Apparat ab.

„Irene? Bist Du noch da?“, versuchte Kathrina das Gespräch fortzusetzen.

„Ja. Das habe ich auch gestern erfahren. Aber was soll ich tun? Er hat Geld und kann gute Anwälte bezahlen. Das Rechtssystem ist leider käuflich geworden.“ Irene klang etwas besänftigter, und Kathrina hörte, wie sie sich auf der anderen Seite vermutlich im Bett aufrichtete.

Die Krankheit erlaubte ihr nicht, ohne Beschwerden aufzustehen. Sie aktivierte den Lautsprecher des Telefons und bewegte sich zur Küchenzeile im Flur des Appartements. Dort setzte sie Wasser für einen Tee auf.

„Er wird sich an mir rächen wollen. Da bin ich mir sicher.“ Kathrina sprach laut und öffnete den Küchenschrank, um sich eine Porzellantasse mit bulgarischem Rosenmuster zu holen, mit der anderen Hand stützte sie sich ab.

„Ich stelle dich auf laut.“ Es war überflüssig, das zu sagen, aber es gab ihr Zeit, die weiteren Worte zu überlegen. „Ich kann mich heute nicht so gut bewegen“, sagte Kathrina, und Irene holte Luft, da diese Information genauso unnötig war. Ihr Zustand war seit ihrer ersten Begegnung bekannt.

Die Stille zwischen beiden Frauen zeigte, dass sie ratlos vor einem Problem standen.

Trotz der beschwerlichen Bewegungen erreichte Kathrina eine Tasse und einen Beutel billigen Tee und bereitete alles für das kochende Wasser vor. Sie wartete weiter auf ein Wort von Irene.

Kathrina ging zum Sofa zurück. Einige Sonnenstrahlen wagten sich über den Horizont, aber die feuchte Luft drängte sich bis tief in die Knochen ihrer müden Beine. Nach weiteren stummen Sekunden meldete Irene sich.

„Das Gericht befand die Beweismaterialien als unzureichend, und seine Anwältin ist wirklich gut. Sie hat bewiesen, dass deine Zeugenaussage … Sorry, das ist etwas blöd formuliert. Die Beweise waren fragwürdig“, entschuldigte sich Irene für die Entscheidung des Gerichts.

Kathrina hob ihren Bademantel und inspizierte die juckenden Narben auf ihrem Oberschenkel. Sie erschreckte beim Anblick nicht mehr, aber diese Wölbungen ließen sie die peinigenden Momente ihrer Vergangenheit erinnern. Sie überlebte einen wildgewordenen Mann, der sie am Flaucher in einer Nacht nach dem Biergarten traf. Sie war nicht die Einzige seiner Opfer, aber diejenige, die sich wehrte, und darum litt sie mehr als die anderen.

„Ich muss zugeben, dass auch ich mit der Entscheidung nicht zufrieden bin, aber wenn er sich nicht von selbst stellt, anhand der vorliegenden Indizien kann man ihn nicht festnehmen oder gar ihm etwas nachweisen.“ Irene klang barsch und trocken.

‚Wie immer’, dachte Kathrina.

„Es tut mir leid, Liebes“, beteuerte Irene.

„Peter Moers kam frei. Ich habe ihn identifiziert“, stammelte sie, und ihre Hände zitterten. Sie brachte ihre Teetasse zum Tisch und nahm mühevoll Platz.

„Du hast keine ausreichenden Beweise, und ich kann nichts tun, wenn ich nicht sicher bin, dass er wirklich schuldig ist. Auch er hat Rechte. Ich glaube dir, aber der Staatsanwalt kann ebenfalls nicht zaubern“, kam professionell und kühl. Kathrina befürchtete, dass Irene sich bald wieder wortlos abmelden würde.

„Ich habe ihn erkannt. Er mag Frauen in rosa Kleidern. Ich bin sicher, dass er seine Opfer fotografiert. Er tat das mit mir. Er ist dieser Mann, der mich damals zugerichtet hat. Peter riecht, und er ist …“, brach Kathrina wieder den Satz ab.

„Ohne Beweise keine Hilfe von mir. Aber wie sicher bist du mit der Beschreibung seines Opfertyps?“, kam prompt.

„Sehr sicher. Die anderen beiden Zeugen konnten ihn nicht erkennen, aber wir saßen fast wie Drillinge im Gericht, und ich fragte beide nach deren Kleidern, als sie angegriffen wurden. Wir drei trugen Rosa.“ Kathrina war wieder den Tränen nahe.

„Alle Frauen tragen mal etwas in dieser bescheuerten Farbe. Das ist wieder Mode seit zwei Jahren.“ Irenes Zweifel war kaum zu überhören, und Kathrina senkte den Kopf.

„Lange rehbraune Haare, kleine Statur. Du musst mir helfen“, forderte sie.

„Ich muss schlafen und du auch. In zwei Stunden muss ich raus. Lass mich denken. Ich kann momentan kaum glauben, dass ich um diese Zeit ans Telefon ging.“ Die Worte von Irene wurden von einem Gähner begleitet. Kathrina versuchte, sich zu beruhigen.

„In seiner Wohnung müssen Beweise sein. Ich habe dir alles über seinen Körper erzählt, an das ich mich erinnern konnte. Ich kann auch bezahlen.“ Kathrina schaute sich um und überlegte, wie unwahrscheinlich dies war.

„Ich brauche nicht dein und niemandes Geld, um meine Arbeit zu erledigen. Geh zu deiner Therapie und beruhige Dich. Er ist raus, und wenn er nichts tut, wird dies kein Problem sein, aber beim geringsten Verdacht wird die Polizei sich sofort bei ihm melden. Er wird sich bestimmt von dir fernhalten. Da bin ich mir sicher.“ Irene sprach langsam und betont, es schien, dass jemand neben ihr gegen das Gespräch protestierte.

„Er wird wieder eine Frau angreifen und verletzen. Er ist der Triebtäter. Es wird wie ich eine kleine Person sein, sie wird pink oder rosa tragen, und es wird wieder an der Isar sein. Warum kannst du nichts machen?“

Kathrina hörte auf die Wirkung ihrer Behauptung und trank von ihrem Tee. Sie bemerkte, wie dieser kalt wurde.

Etwas schien sich zu bewegen, und dann kam die einzige unerwünschte Antwort.

„Lass mich schlafen“, verabschiedete sich Irene.

Kathrina heulte, aber auf ihrem Gesicht war nicht Trauer zu sehen, vielmehr die Kraft der Rache.

‚Ich brauche deine Hilfe.‘

Der lockende Apfel

Der Alpenwind blies wieder kühl durch München, und trockene rote Blätter streiften Peter Moers Gesicht. Es war Oktober. Er genoss seit zwei Monaten seine Freiheit. Er schaute sich das Kiesbett am Isarufer an.

‚Wie herrlich und breit der Fluss ist‘, staunte er in seinen Gedanken.

Rot, gelb und gold war die Landschaft vor einem moosgrünen Hintergrund gefärbt. Romantische Gefühle erfüllten Peter. Eine Windbö erfasste ihn, und er zog seine Arme zusammen. Mit beiden Händen tief in den großen Taschen der dicken Flanell-Jacke sah er fast wie ein kanadischer Holzfäller aus, wie man sie aus Filmen kennt. Dies war zumindest die Vorstellung, die Peter Moers von sich hatte.

Eine Joggerin unterbrach das friedliche Szenario. Er schien sie von weitem wiederzuerkennen.

Seine Schritte wurden langsamer, und er richtete kurz seine Mütze. Er holte sein Handy aus der Tasche und schaltete die Spiegel-App, womit er seine Augenbrauen korrigierte. In seiner Weltvorstellung war er wie ein Jüngling, der zu seinem ersten Date erscheint. Sein Herz pumpte stärker, und er lächelt sich selbst zu. Seit Wochen wiederholte er den gleichen Spaziergang, und er kannte die meisten Anwesenden vom Sehen.

‚Kenne ich diese Personen? ’, versuchte er sich selbst zu bestätigen.

Die Blonde mit ihren Hunden. Die ältere Dame mit den zwei Straßenkötern, die überall ihre Bedürfnisse absetzen, die sie nie wegräumt. Klar, die Gärtner, die von Dienstag bis Freitag das Arbeiten effektiv simulieren.

‚Die Joggerin.‘ Seine Inspiration, wieder im Park zu spazieren.

Er verlor kurz den Faden. Seine Konzentration ließ nach, und er versuchte, zum Anfang seiner Gedanken zurückzukehren und den Tag wieder zu genießen.

‚Der Herbstwind’, sagte er zu sich wie ein Mantra.

Die Gestalt der jüngeren Frau formte sich in der Distanz, erkannte er.

Bibelchristen saßen unter einem Baum. Sie sangen diese Lieder, die nur drei Noten haben. Peter bewegte sich schneller an diesen vorbei. Er stellte dabei fest, dass er viele vom Sehen kannte. Sie schien von ihm Notiz zu nehmen. Es war zum Teil enttäuschend, wie alle sich um ihn bewegten, ohne ihn zu beachten. Ein ungewöhnlicher Geruch erfasst seine Nase.

‚Ich bringe diese Jacke in die Reinigung.‘

Er prüfte wieder und fand nicht die Quelle des Dufts. Seine Eitelkeit war in solchen Momenten immer angegriffen.

‚Wenn niemand mich sieht, riecht mich keiner.‘

Sie kam näher.

‚Schrecklich. Versuchen wir es noch mal. Der Herbstwind.’ Seine Ohren sperrten sich gegen die unheimliche Melodie der verstimmten Gitarre und die monotonen Stimmen der Bibelchristen.

‚Wo war ich denn?’, fragte er sich und beschleunigte seinen Gang. Er entfernte sich vom Lärm.

‚Ach ja. Meine Bewunderin. Da ist sie.’ Er lächelte innerlich und holte sein Handy wieder aus der Tasche. Er wuchs mit einem Frauenbildnis auf, das in diesem Herbst in München nicht mehr zu finden war.

Er schaute wieder auf die Spiegel-App.

‚Das habe ich schon getan.‘

‚Diese Christen verfolgen mich überall.’ Er packte wieder sein Handy in die Tasche und warf einen Blick in Richtung der Störenfriede. Doch keiner scherte sich um ihn.

Ja, er sah jetzt seine Bewunderin kommen. Sie schien die einzige Person in der Umgebung zu sein, die immer an ihm vorbeiging und ihn beachtete. Neben ihr der kleine weiße Hund. Er sah ihn genauer an.

‚Kräftiger Zwerg. Bestimmt ein Mischling.‘

Der Hund trug unnatürliche Streifen auf seinem Fell.

Peter war glücklich, in weniger als dreißig Sekunden sollte er das Mädchen wieder treffen. Seit Wochen beobachtet er sie. Er erkannte ihr Gesicht nie genau, und das reizte ihn. Mal hatte sie ihre Hand über der Stirn, mal beugte sie sich zum Hund oder drehte sich um.

‚Sie nieste so süß.’ Peter wünschte sich fast, sie würde wieder niesen.

Der Gesang der Gläubigen drängte sich in sein Gehör. Peter presste seine Hände an die Ohren, aber dies zeigte keine Wirkung.

„Bete für die heilige Katharina“, versuchten sich die Stimmen in einem Refrain.

‚Verdammt, sie hören nie auf. Ich will nicht wieder an diese Kathrina denken.’ Peter war aufgeregt.

‚Der Herbstwind. Versuchen wir es von vorne.’ Er konzentrierte sich wieder, klopfte sich heftig an die Ohren und hoffte, dass die Christen seinen Unmut merken würden.

Die Frau, die so niedlich nieste, kam näher, stellte er fest. Beim Joggen waren ihre entschlossenen Schritte zu hören, und ihr Hündchen begleitet sie mit einer fast zu strengen Miene, erkannte er.

Er mied Grünwald und die Parkanlagen dort. Die Erinnerungen an Kathrina und ihre Lügen vor Gericht waren zu schmerzlich für ihn.

Es war mehr als ein Jahr her, dass er ihr seine Liebe schenken wollte, und sie lehnte ihn ab.

‚Aber diese Frau hier ist nicht Kathrina. Sie ist rein’, munterte er sich auf.

Gedanken über die körperlichen Merkmale drängten sich in seine Vorstellung, und er schaute wieder zum Ufer. Er flanierte kurz in einem Tagtraum, wo beide Körper sich umschlingen und sie ihn küsste.

Er träumte von der Liebe, und sein Gehirn meldete den Anstieg seines Hormonspiegels. Er zog seine Genitalien in eine bequemere Position und schaute verlegen in Richtung der sich nähernden Schönheit.

Er roch an seinen Fingern, und die Romantik wurde leicht zur Seite geschoben. Er stellte sich vor, wie er sie zart berühre. Eine sanfte Berührung, so wie ein flüchtiger Kuss. Er schaute sich an, wie die engsitzenden Leggings ihren Körper trotz der Kälte umspannten. Nur einige Schritte von ihr entfernt.

‚Sprich sie an’, befahl er sich selbst.

„Flehe die heilige Katharina“, sangen die schrillen Stimmen vom Chor.

‚Diese Frau ist bestimmt sehr rein’, kam in seinen Gedanken.

„Heilige Scheiße“, schrie er laut und hoffte, diesmal würden sie endlich aufhören.

Er gab vor, etwas auf dem Joggerweg zu suchen. Er lief zur Mitte der Laufbahn. Die Joggerin war nur zwanzig Meter von ihm entfernt.

Sie verlangsamte ihre Schritte, beugte sich zum Hund und sprach mit ihm.

„Der Herbstwind“, rief er etwas zu laut zu sich selbst.

Das Haustier lief von der Frau in seine Richtung und hielt einen Schritt von ihm entfernt.

‚Was will der denn? Ich hasse Tiere. Ein Hund mit Zebrastreifen? Schrecklich.’ Peter lächelte, um seine Gedanken zu verbergen.

„Ah!“, rief die Frau melodisch. „Er mag sie.“ Sie war muskulös und adrett, aber vor allem ungewöhnlich.

‚Ich werde ihr ein Geschenk machen.’

„Ich heiße Peter“, stellte er sich vor.

‚Oh! Sie trägt das Zeichen der heiligen Katharina. Sie ist die Auserwählte.’

„Ich heiße Marla.“

Der Wald

Schmerz erfüllte seine Sinne. Weder seine Umgebung noch die sich dort befindenden Personen konnte er durch die gelähmten Lider, seine verletzten Augen wahrnehmen.

Die Novemberkälte, die durch das geöffnete Fenster in der Wohnung am Harras strömte, verbannte etwas von dem penetranten Uringeruch, der dem verletzten Peter Moers entstieg.

„Seine Beschreibung passt zur anonymen Meldung, die in der Notrufzentrale kam. Er ist bestimmt der Vergewaltiger vom Grünwald. Die Anzeige gegen Unbekannt von früheren Opfern sind in unserem System hinterlegt. Sofern ich mich erinnere, ist er der Mann, der letzten August freigelassen wurde“, sagte einer der Beamten laut. Das Licht seines Tabletmonitors spiegelte sich auf seiner Brille und verlieh ihm ein ungewöhnliches Aussehen.

Auf einer weit entfernten Wand im Wohnzimmer des Verletzten brannten zwei einsame Kerzen. Davor ein aufgestelltes Foto, ein traurig aussehendes Mädchen.

Der Größe der Kerzen nach zu urteilen, brannten diese seit mindestens vier Stunden, vorausgesetzt, sie wurden nicht neu angezündet.

Dies war ebenfalls anzunehmen, da der Beamte eine neu geöffnete Packung Kerzen in der darunter befindlichen Schublade fand. Neben dem heiligen Mädchen war ein Rad mit Dornen zu sehen, das scheinbar die arme Frau in den Himmel befördern sollte.

Der Tatortermittler schauderte bei der Vorstellung, dass jemand mit einer so unschuldigen Miene ein derartiges Ende fand. Katholische Heilige waren für ihn etwas Unheimliches, und so wendete er seinen Blick davon ab.

„Ich brauche einen Arzt“, jammerte Peter, ohne sich bewegen zu können. Er strengte sich an, seine Augen zu öffnen und schaute auf die offene Tür seiner Wohnung. Polizisten gingen hinein und hinaus. Sie spazierten um ihn herum und ignorierten seinen Zustand.

„Wir suchen erst mal dein Opfer“, gab eine empörte Polizistin in voller Autorität von sich, die neben dem Tatortermittler auf dem Tablet den Bericht mit Letzterem las.

Fotos von früheren Opfern lagen auf Peter Moers Bett. Sie wurden vom Tatortermittler konfisziert und säuberlich fotografiert, protokolliert und verpackt mit einer entsprechenden Nummer versehen.

Diese Fotos präsentierten einen Peter Moers, der seine Zeit mit seinen Opfern genoss. Frauen mit verbundenen Augen, die seine Tortur zu überleben versuchten. Es bestand kein Zweifel, die Fotos waren eindeutige Beweise. Die Trophäen, gebrauchte Unterwäsche und zwei einzelne Schuhe mit hohen Absätzen lagen auf seinem Bett präsentiert, wie sein letztes Opfer telefonisch mitteilte.

Eines dieser Fotos zeigte Kathrina Mirova, die keiner der Polizisten kannte oder Notiz von ihr nahm. Sie war nur eine Frau mit einem pinken Top und rehbraunen Haaren.

„Du bist diesmal aber leider an die Falsche geraten, würde ich sagen“, bemerkte der braunhaarige Tatortermittler, der seinen Magen nach Anblick der Beweise kaum beruhigen konnte.

„Sönke, las das. Ihm wurden beide Füße und beide Schultern gebrochen. Ich kann mir nicht vorstellen, welche Kraft für diese Verletzungen erforderlich ist. Diese Person, die ihn so verletzt hat, muss im Rausch gewesen sein. Oder hatte einen Hammer dabeigehabt.“

Die Polizistin kniete sich neben Peter Moers und führte eine erste Untersuchung durch. Sie konnte seinen Zustand ermitteln, aber ihm nicht seine Leiden erleichtern.

„Wer hat dir das angetan. Rede“, forderte er mit seiner barschen Bariton-Stimme auf. Seine rötlichen dichten Haare ließen ihn wirken wie eine Figur aus einem Abenteuerroman. Maskulin und eine Spur verletzlich.

Das Lichtsystem im Wohnzimmer beleuchtete etwas gelblich und wirkte auf den Hünen ermüdend.

Trotz seiner Müdigkeit schaute er auf den Täter, oder was von ihm übrigblieb.

Peter war sich unklar, ob er dies träumte.

‚Werde ich jetzt verhaftet? Ich bin das Opfer.‘

Doch die Schmerzen waren zu real.

„Sie hörte sich so lieb an. Wie eine unschuldige Frau Gottes“, murmelte er unverständlich. In Gedanken verband Sönke den Hinweis auf eine Jungfrau mit dem, was Peter Moers über die Heilige am Altar sagte.

Sönke ekelte sich vor diesem Täter und der Beantwortung seiner Worte.

„Ich muss mich zurückziehen, bis das hier gereinigt ist. Er hat sich in die Hose gemacht, und seine Blutergüsse scheinen bald platzen zu wollen. Wann kommen die Sanitäter?“, fragte Sönke leicht nervös. Dies war sichtbar, weil er seinen Krausbart zu heftig massierte.

Er litt seit einigen Jahren an Mysophobie, wie man die Angst vor Keimen nennt. Ungeachtet seiner Hypochondrie, war er meistens widerstandsfähiger. Sein Makel schienen sich stärker bemerkbar zu machen, wenn er unter Stress stand.

Dieser Druck war in seinem Gesicht zu sehen. Leichte Schweißperlen perlten auf seiner Stirn, und die Farbe seiner Haut schien verschwunden zu sein.

„Mach eine Pause. Ich setze die Daten für die Chefin in einem Bericht zusammen und kümmere mich um das alles hier. Ich nehme auch die Beweise auf. Die Sanitäter sind schon da. Jedoch von seinem letzten Opfer finde ich nichts.“ Sönkes Kollegin schob ihn vor die Tür in der Befürchtung, er würde sich bald übergeben.

Er öffnete seine Tasche und holte sich sein Desinfektionsmittel für die Hände. Er putzte fast zu akribisch unter den Fingernägeln, und ein Kollege schaute ihn etwas kurios an.

„Danke. Ich leite den Bericht an Irene, falls sie sich an meinen Namen erinnert“, beschwerte sich Sönke, in Richtung der geschlossenen Tür hinter sich sprechend und gab dabei der Ermittlerin einen missbilligenden Blick . Irene hatte Probleme, sich Namen zu merken, die nicht aus der Region kamen. Sönke war eher ein norddeutscher Vorname, der in Bayern selten vorkam.

„Ich glaube nicht, dass Irene sich deinen Namen je merken wird. Das ist nicht bairisch“, schloss die Kollegin. Der Kollege verschwand hinter der Wohnzimmertür.

Sönke zog vor einigen Monaten nach München. Er zog mit seinem Freund fast am Fasching von Hamburg um und war in seiner Gruppe noch nicht einwandfrei akzeptiert. Doch er ging seine Aufgaben professionell an.

Seit er an einem Tatort umgefallen war, machten viele der Kollegen unangenehme Scherze.

Die Sanitäter waren flink, kümmerten sich nach Freigabe der Polizistin um Peter Moers und legten ihn auf eine Bahre. Die Schmerzensschreie wurden mit einer Morphium-Spritze gedämpft, und Sönke eilte den Flur entlang. Er benötigte etwas Distanz vom Geschehen.

Peter war im Rausch der Betäubung. Er faselte über eine nackte Jungfrau mit einem Haustier.

‚Hund? Zebra? Dieser Mann hat sie nicht alle’, notierte sich Sönke in Gedanken.

Keine Fingerabdrücke am Telefon oder sonst wo in der Wohnung. Nur ein zarter Geruch von Nelken und Zimt, bemerkte die Polizistin in ihrem Bericht.

Die Jägerin

Obersendling strotzt vor Grün und modernen Bauten. Trotz der vielen Parks und Bäume ist der Lärm allgegenwärtig. Der Mittlere Ring, der München umrandet, sorgt ebenfalls für reichlich Feinstaub.

Im Badezimmer der Siebzigerjahre-Wohnung floss das Wasser warm über Jennys gebräunte Haut. Schmerzliche Stellen an ihrem Arm rieb sie vorsichtig mit einem Schwamm. Die Schreie des auf dem Boden liegenden Peter Moers waren für sie unvergesslich. Aber der Genuss, seine Beichte gehört zu haben, linderte ihre Schmerzen. Mühelos überwand sie seine Gegenwehr, andererseits war sie besser, und das würde Peter nie wieder vergessen.

Sie drehte das Wasser der Dusche zu und kam langsam aus der Kabine. Schmerzen begleiteten jeden ihrer Schritte. Ein weißer Hund lag auf dem Boden und sah zu ihr auf.

Ihr Körper verlangte nach Schlaf. Die Anstrengung hatte sie nur mit Mühe überstanden. Peter Moers war kein leichter Gegner. Ihre flinken Bewegungen hatten ihn überrascht.

„Wach auf, du fauler Hund.“, sprach Jenny liebevoll mit ihrem Begleiter. Doch er ignorierte sie und schnaufte tief, solange sie sich über ihn beugte.

„Bogart. Steh auf“, befahl sie. Der Hund sprang diesmal aus offen gezeigtem Protest leicht erschrocken, doch in halb schnellem Tempo auf.

Jenny betrachtete ihren nackten Körper im Spiegel, und mit einem Handspiegel prüfte sie ihren Rücken. Ein Sekundenschlaf erfasste sie, und sie merkte, dass sie sich unbedingt hinlegen musste.

‚Keine Kratzer’, stellte sie gedanklich fest.

Jenny zog ihre Kleider ab, bevor sie sich in einen Kampf begab. Dadurch erreichte sie Ablenkung, und ihre Gegner konnten sie nicht festhalten.

Die Klamotten lagen zerstreut auf dem Boden, und Jenny hob jedes Stück einzeln und überprüfte es akribisch auf Spuren. Nacheinander beförderte sie diese in die Waschmaschine. Sie schloss die Tür und aktivierte das Programm. Entsprechende Chemikalien folgten in die Plastikschublade. Das Wasser floss geräuschvoll.

Die Lichter in der Wohnung empfand sie als dämmerig, und sie schaltete eins nach dem anderen ab. Anschließend an solche Ereignisse stieg ihr Adrenalin zu einem fast unerträglichen Zustand an.

Sie genoss den Rausch der Ladung durch ihren Körper. Ihre Therapeutin riet, sich vom Kick zu befreien. Sie meinte, dies wäre eine Sucht, aber Jenny empfand für einige Stunden Glück.

‚Ich habe jemandem geholfen’, lobte sie sich selbst.

Sie wickelte sich das Badetuch um ihren Körper und merkte die unangenehmen Schmerzen an verschiedenen Stellen. Sie ging zum Sofa und deckte sich mit einer schweren Bettdecke zu. Bogart reklamierte seinen Platz neben ihr.

„Du armer. Der Verrückte hat Dich getreten. Das macht er nie wieder.“

Der Satz endete mit einem Kuss auf dem Kopf des gehorsamen Bogart.

Sie schaute liebevoll zu ihrem neuen Partner, dennoch vermisste sie eine Person an ihrer Seite.

Das Adrenalin in ihrem Körper sank so schnell, dass sie fast in Ohnmacht fiel, aber zuvor schlief sie tief ein.

‚Sie ist fleißig, putzt und wäscht einwandfrei. Sie ist sauber’, hörte Jenny ihre Mutter unter der Sonne ihres Geburtsorts, der brasilianischen Stadt Januaria mit einem Mann sprechen. Stefano roch nach Billigparfüm, und seine Frisur war trotz der mangelnden Haare fast zu perfekt. Die typischen Urlauberklamotten sahen zu einem anderen Land gehörend aus. Das aber merkten die meisten Touristen in Bahia nicht. Die meisten dieser Urlauber kennen sich nicht aus. Ebenfalls verstanden nur wenige die Tatsache, dass Januaria schon im Staat Minas Gerais lag. Dieses geografische Detail war für viele unbedeutend.

‚Sie ist ungeheuer nett, aber der Preis ist zu hoch. Ich gebe dir nur die Hälfte. Sei froh, weil in diese gottverlassene Gegend keiner kommt, und bis du sie zu vermitteln vermagst, ist sie zu alt.’

Stefano war dick und groß. Er sprach selbstbewusst. Er war ein Bräute-Vermittler aus Deutschland.

Im Traum empfand sich Jenny, als hätte sie keine Unterwäsche. Eine Mischung aus Scham und Angst drückte ihr auf die Brust. Sie fühlte sich wie eine Kuh auf dem Markt, über deren Preis sich die Menschen unterhalten, und sie selbst durfte nichts einwenden.

Dieser Traum begleitete sie, seit sie nach Köln zog, doch jedes Mal erlebte sie den Moment umso peinlicher, als er sie hinter sich zog. Ihre Gummi-Sandalen platzten, und sie schleppte einen halb angezogenen Fuß nach sich.

Der große und dicke Stefano fasste sie hart am Arm und zog sie hinter sich hinaus. Ihre Stimme versagte, sie war zu keinem Protest fähig. Den letzten Blick zu ihrer Mutter, die das Geld zählte, ließ ihre Tränen im Schlaf fließen. Ihre zarten dreizehn Jahre waren kein Schutz, und sie verstand die Worte nicht, die der Mann sagte. Sein Portugiesisch war erbärmlich, und sein Atem roch nach Putzalkohol. Doch seine Handlungen waren unmissverständlich.

Stefano schaute ihr ins Gesicht und fasste sie unangenehm an ihre intime Stelle. Sie leistete kaum Widerstand, wie ihre Mutter ihr beibrachte. Solange er seine Finger über ihren Körper gleiten ließ, fielen die Kleidungsstücke eins nach dem anderen ab.

‚Deine Lippen sind so rot’, sagte er in minderwertigem Portugiesisch.

Sein Gesicht wurde jedes Mal roter und älter, wenn sie träumte. Sie sah weiterhin alles wie durch einen Schleier, doch sie empfand den Traum als so real.

‚Wach auf’, sagte sie zu sich selbst.

‚Lass mich deine Lippen küssen’, forderte der dicke Mann. Seine Augen wurden blasser. Der Traum nahm den Charakter eines Albtraums an.

Sie sah sich nackt an. Sie hob ihre Hand über den Kopf. Sie empfand, als würde ihre Statur wachsen. Die Capoeira-Stunden, die sie seit ihrer Kindheit in Brasilien genommen hatte, gestalteten ihre Kampfbewegungen sowohl geschmeidig als auch betörend.

Doch trotz ihrer Anmut waren diese Kampfsport-Bewegungen ebenfalls tödlich. Ihre Hand formte sich zu einer Wildkatzenpfote, und ihre Krallen schnitten die Luft zwischen ihr und dem Täter. Stefanos Antlitz verzog sich überrascht wie eine Gummimaske, und seine Lippen verzerrten sich nach unten in eine unheimliche Grimasse. Sie beobachtete, wie seine Augen blasser wurden. Die heilige Iansan schaute Stefanos Ableben zu.

Jennys Finger bohrten sich in seinen Hals, als wäre er aus Teig. Sie ekelte sich nicht, aber ihr bereitete dies mehr Angst, weil sie diesen Moment genoss. Sie kostete diesen Augenblick aus, je tiefer sich ihre Finger in seinen Hals bohrten. Eine undefinierbare Träne rollte über ihre Wange.

Stefanos Körper erreichte den Boden, und seine glasigen Augen bestätigten sein Ableben. Da löste sie ihre Hand.

Dieser Traum endete wie immer gleich.

„Grüße mal Mutter in der Hölle.“

Die Worte hallten in der nun folgenden Dunkelheit.

Gebäck für Oma

Am Mittag nach der Verhaftung von Peter Moers herrschte etwas Ruhe im Büro der Polizeistelle an der Augustenstraße.

Der Duft von billigem Kaffee überlagerte den Geruch von Schweiß und anderen Körpersäften, die von einem alternden Mann im Raum strömten, der an einem metallenen Stuhl kauerte.

Der Sanitäter, der Peter Moers hereinbrachte, verließ ihn und ließ die Tür des Raums offen. Etwas des verabreichten Morphiums war noch in seinem Körper, aber nicht mehr genug, um den Schmerz zu vergessen.

Der Raum war passend beleuchtet, aber das Dunkel, das diesen Mann umgab, schien sich wie ein Mantel um ihn zu legen, der ihn vor jeglichem Licht schützte. Seine zerzausten Haare waren lockig mit grauen Strähnen, und seine Augen lagen tief in lila umrandeten Augenhöhlen.

Peters Blick wanderte flatterhaft von rechts nach links und zurück. Im gleichen Rhythmus zu den energiegeladenen Schritten einer nervösen Polizistin, die sich unaufhörlich bewegte.

Unterwegs zur Vernehmung wurden seine Füße ordentlich gebunden und seine Schulter eingegipst. Diese Bandagen waren der Beweis, dass dieser Mann nicht mehr zur Flucht fähig war. In diesem Moment empfand Peter seine Verhaftung als Rettung.

„Wer hat dich so zugerichtet?“, fragte eine blonde Polizistin herausfordernd, die ohne Vorwarnung vor ihm stand. Sie war nicht so neutral wie zuvor die Kollegen am Tatort. Wut kochte aus ihr heraus, und das spürte Peter in der Magengrube. Die Angst stieg und brachte ihn fast zur Ohnmacht.

Peters Lippen bewegten sich nicht souverän vor dem Anblick ihrer funkelnden Augen, doch kein Ton kam über diese.

‚Der Herbst …’ aber seine Gedanken spielten nicht mit.

„Ich rede mit dir.“ Die rehbraune Walküre namens Irene knallte die geballte Faust auf den Edelstahltisch. Dabei stellte sie fest, dass etwas Zucker von einer nicht geputzten Stelle auf ihrer Hand klebte. Ihren Ekel verbarg sie unter dem ernsten Blick einer zu Stein gewordenen Figur.

Irene besaß alle Attribute einer Kämpferin. Groß, kernig, strenge Augen und überaus weiblich. Aber wenn sie ihre Härte zeigte, befürchtete man sogar, den Todesengel in ihren Augen zu sehen.

Der Raum erfüllte sich mit dem dumpfen Ton des Schlags, und die Augenlider des Befragten Herrn Moers bebten vor Schreck.

„Peter“, rief sie, indem sie sich auf ihren weniger eleganten flachen Absätzen drehte. Er schaute angstverzerrt hinauf und bekam den Eindruck, als würde sie an Statur gewinnen.

„Du sagst jetzt, was ich hören will, oder du schmorst für den Rest deines Lebens in einer dunklen Zelle, wo du hingehörst. Wie viele Frauen hast du auf dem Gewissen? Wenn du überhaupt eins hast.“ Ein Anflug von Hohn lag in der Stimme der Kommissarin.

„Die Unterstellung ist nicht …“, versuchte Peter zu protestieren, aber sein Wille versagte.

„Klappe“, befahl sie in barschem Ton.

„Mit dem Mist werden wir hier nicht weiterkommen. Fotos, Bericht und dazu deine Trophäen reichen für eine Anklage und lebenslange Verhaftung.“

‚Das ist mein Ende‘, jammerte er in Gedanken.

Irene zeigte auf einen Aktenschrank hinter ihr im Vernehmungsraum, in dem die Beweise standen.

Zwei Frauen wurden von Peter Moers selbst nach ihrer Vergewaltigung fotografiert. Ihre nackten Körper lagen, gemäß Bericht der Polizistin, am Tatort, mit verbundenen Augen reglos im Wald. Eine wurde sechs Stunden nach dem Angriff fast erfroren gefunden.

Das andere Opfer lag seit fünf Tagen bewusstlos im Krankenhaus. Bei einem oberflächlichen Blick auf die Wunden beider Frauen stellte man die gleichen Verletzungsmuster fest.

‚Keine der Damen ist Kathrina.‘ Da war sich Irene sicher.

Kathrinas Vorfall lag über fünf Jahre zurück, und er hatte sein System weiterentwickelt.

‚Elender Vergewaltiger’, dachte Irene unter der kontrollierten Wut.

Alle Opfer hatten rehbraune lange, glatte Haare und trugen Pink, wie Kathrina beschrieben hatte.

Entkleidet bis zum Nabel, hatten ihre intimsten Stellen die Attacke einer Bestie erlitten.

Im Untersuchungsbericht stand, dass diese Opfer Höllenqualen durchlebt hatten.

Die Namen der Mädchen waren auf einem grünen Sticker am oberen rechten Rand angebracht. Die Röcke waren von verschiedenen Herstellern, alle im gleichen Stil. Kurz und eng anliegende Schnitte, aber in verschiedenen Farbtönen. Vorurteilslos nahm Irene an, dass diese Kleidungsstücke nicht von teuerster Qualität waren. Beide Vornamen fingen mit dem Buchstaben M an, und sie trugen ein Medaillon der heiligen Katharina mit dem Rad.

Das war eine der sakralen Figuren der katholischen Kirche, soweit wusste Irene Bescheid.

„Hast Du diesen Ladys ein Geschenk gemacht?“ Irene fand diese Gemeinsamkeit in den Accessoires der Frauen auffällig.

„Ja“, murmelte der verunsicherte Mann.

„Was hast du mit der heiligen Katharina zu tun?“, verlangte sie zu wissen.

„Ich sah in diesen Mädchen die Reinheit der jungfräulichen Braut. Daher schenkte ich jeder ein Medaillon.“ Peter sprach wie ein normaler Mann, der für seine beste Freundin ein Geschenk kaufte.

‚Gläubiger? Verrückter? Oder eine Mischung von beidem?’, fragte sich Irene in Gedanken.

Sie verabscheute die Geschichte der katholischen Heiligen. Alle waren brutal und ohne jegliche Rücksicht auf Kinder und sensible Menschen wie sie, die gerne einen Tag ohne Brutalität verbringen wollten.

Die arme heilige Katharina wurde der Legende nach tagelang den Rädern von Folterknechten ausgesetzt und am Ende dazu enthauptet.

Ähnlich abscheuliche Geschichten von Märtyrern kannte sie aus der Klosterschule.

Sie lernte über solche Verbrecher aus sonstigen Fällen, die sie bearbeitete. Täter, Täterinnen, die Frauen, Transvestiten oder andere mit abstrusen Begründungen folterten

Peters Opfer hatten eine Gemeinsamkeit: Sie erkannten ihn nicht.

Irene schwieg und schaute tief und bedrohlich in Peters Augen. Er empfand, als würde diese Kommissarin seine Seele aufsaugen. Aus Angst, weiter in diesen Strudel hineinzugeraten, schloss er die Augen und wandte den Blick von ihr ab.

„Gut. Wenn Sie alles bereits wissen, was soll ich dann noch erzählen? Beim letzten Gerichtstermin wurde ich freigesprochen.“ Peter spürte, wie die Angst seinen Bauch hinaufkroch und ihn fast erstickte. Trotzdem wollte er die Polizistin provozieren und seine Macht testen.

„Sie wurden von einer Person verprügelt. Jemand, der ohne Zweifel von dir als weiteres Opfer ausgesucht wurde und mit höchster Sicherheit nach einem brutalen Überfall nichts bezeugen konnte. Doch scheinbar bist du an die Falsche geraten, würde ich sagen.“

Irene fuchtelte mit den in Plastik verpackten Beweisen. Sie blickte von der Seite zu Peter, um seine Reaktion zu überprüfen.