Originalcopyright
2020 © Sina Land
Covergestaltung: Sina Land
unter Verwendung von Pixabay Bildern
Illustration: Sina Land
(www.sina-land.jimdo.com)
Lektorat: Eigenlektorat
Korrektorat: Stefanie Brandt
(www.steffis-korrektorat.de)
1. Auflage August 2020
2.
Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN – 9783752650648
Glühende Verbindungen
Jede Menge Verbindungen
und das Schicksal
lenkt sie nach ihrem Sinn.
Ob es uns gefällt oder es schmerzt.
Wir entrinnen ihnen nicht.
Für alle, bei denen die Verbindungsdrähte glühen und
das Schicksal die Strippen dabei zieht.
Ich wünsche euch stets
angenehme und liebevolle Beziehungen.
David schreibt.
Hallo Sweetheart, wie ist die Lage? Hast du was von der Filmakademie gehört? Meine Daumen sind inzwischen blau vom Drücken. Meld dich, sobald du Bescheid weißt.
Ellena schreibt.
Es treibt mich in den Wahnsinn, wenn ständig jemand nachfragt. Ich will es doch selbst wissen, ob ich dort studieren kann. Ludwigsburg wäre halt klasse. Direkt vor der Nase. Hoffe, dass die Antwort kommt, bevor ich nach Amerika fliege. (Flugzeug) Der Job war wieder echt anstrengend. Sonderschicht. Stell dir vor, ich war am Set mit dabei. Voll krass, oder?
David schreibt.
Mit zum Dreh von dem Werbekurzfilm? Das ist ja spitze! Da verkraftet sich das halbe Jahr Warterei bis Amerika doch gleich viel besser.
Ellena schreibt.
Ja voll. Das ist absolut meine Kragenweite. Am liebsten würde ich dort weiterarbeiten. Blöd, dass ich für eine Vollanstellung ... (Affe, der sich die Augen zuhält)
David schreibt.
… ein Studium brauche. Wer hätte das gedacht, dass ein Meister nicht vom Himmel fällt. (Grinse-Smiley)
Ellena schreibt.
Oh man Dad. Ich bin fürs Filmemachen geboren. Ein Naturtalent. (Lachender Affe)
David schreibt.
(Kuss-Smiley)
Ellena schreibt.
(Rotes Herz)
David schließt die Haustür auf. Er lauscht.
„Bist du da Annalena?“ Er bremst sich, um nicht ein „Liebes“ anzuhängen.
Floh winselt und wuselt schwanzwedelnd um ihn herum. Er schiebt den Hund zurück, um durch die Tür zu kommen.
„Hey, du Strolch, wo hast du denn unsere Rudel-Dame gelassen?“ Er knetet ihm das Fell.
Die Wohngemeinschaft fühlt sich inzwischen an, wie bei einem alten Ehepaar. Nur ohne Beziehung. Er wundert sich, wie extrem sie sich aneinander gewöhnt haben. Oder arrangiert man sich als Wohngemeinschaft besser als in einer Ehe, fragt er sich und hängt seine Jacke an die Garderobe.
Sein Blick fällt auf die Pinnwand. „Keine Nachricht von ihr?“ Er zieht die Augenbrauen hoch. Floh winselt.
„Es ist Dienstag“, sagt er zu ihm. „Du weißt, was das bedeutet?“
Der Hund legt seinen Kopf schief.
„Würfelrunde!“
Vor einem halben Jahr sind sie zusammen aus einem Sardinien-Urlaub zurückgekommen, in dem sie jeden Abend gewürfelt haben. Seitdem ist dieses Ritual nicht mehr wegzudenken. Jeden Dienstagabend treffen sie sich zum Spielen. Schade, dass Annalenas Freundin Gwendolin nicht mehr mit dabei ist. Er seufzt. Sie ist mit ihrer Familie nach München gezogen. Das war ein geplanter Eheneuanfang, nachdem ihr Gatte seine Geliebte abgelegt hat.
Er hört Annalena vor der Haustür lachen. Floh bellt.
„Hast auch Entzugserscheinungen?“, lacht er. Eine Männerstimme lässt ihn stutzen. Er verengt die Augen.
Die Tür öffnet sich und seine Mitbewohnerin spaziert herein. Dicht hinter ihr der Kerl, den sie ihm am letzten Wochenende als einen Bekannten vorgestellt hat.
„Hallo David“, trällert sie bestens gelaunt und zieht Patricius mit sich in die Wohnung.
Der Kerl hebt die Hand zum Gruß.
„Ich habe ihn zum Abendessen eingeladen. Hoffe, das ist für dich in Ordnung.“
Er würde am liebsten nein sagen. Sein Anstand verbietet es ihm. „Ellena und Moritz kommen um acht.“
„Bis dahin bin ich über alle Berge“, winkt Patricius ab. „Musikprobe“, erklärt er und nickt.
Sie kochen gemeinsam Nudeln mit einer Gemüsesoße. David schaut auf die Uhr. Er zählt die Minuten, bis der Kerl das Haus verlässt. Sie ist nicht dein Eigentum, rügt er sich. Eines Tages findet sie jemanden, den sie liebt. Die Zeit bringt Veränderung. Das ist der Lauf des Lebens. Dass ihn bei diesem Gedanken sein Magen zwickt, ignoriert er.
Nach dem Abendessen bringt seine Mitbewohnerin Patricius zur Tür.
Für ihn dauert es gefühlt eine Ewigkeit bis sie zurückkommt.
„Schöne Grüße“, trällert sie.
„Von wem?“
„Deine große Liebe ist an der Hofeinfahrt vorbeigeschlendert“, kichert sie.
David beobachtet sie mit argwöhnischem Blick.
Annalena reagiert nicht auf ihn, räumt in aller Ruhe die Teller vom Tisch und schlichtet sie in die Spülmaschine. Er tappt ihr hinterher und wartet mit verschränkten Armen auf eine Erklärung.
„Die Susi ist am Gartentor gestanden. Sie hat mich angefunkelt. Ich sag dir. Ein Wunder, dass sie mir nicht die Augen ausgekratzt hat.“ Ich schätze, sie findet es nicht witzig, dass ich mit dir zusammenwohne.
Er schaut gen Himmel. „Sie sieht es nicht ein, dass ich nichts von ihr will. Das war immer schon ihr Problem.“
„Mein Gefühl sagt mir, sie würde gerne mit mir tauschen.“
„Das glaube ich dir sofort“, brummt David. „Das wäre mein Untergang.“
Sie stellt ein Glas in die Spülmaschine, zögert und dreht sich zu ihm. „Ist es dir lieber, wenn ich niemanden mitbringe?“
Er schüttelt den Kopf.
Annalena fuchtelt mit einer Gabel vor seiner Nase herum. „Diesen Blick kenne ich! Brauchst dich nicht zu verstellen. Besser, wir überarbeiten unsere WG-Regeln, bevor einer dem anderen versehentlich auf den Schlips tritt.“
Sie lässt die Gabel in den Besteckkorb fallen.
„Ehrlich gesagt wäre ich über deine Susi hier genauso wenig erfreut. Ihr Gehabe um Besitzansprüche braucht kein Mensch.“
David winkt ab. „Lass uns die Regel hinzufügen, dass hier im Haus Mitbringverbot herrscht. Ich treffe mich hier nicht mit potenziellen Anwärterinnen und du lässt die Männerwelt vor der Tür. Gleichgeschlechtliches ist erlaubt. Was meinst du?“
„Aha“, sagt sie langgezogen. „Betrifft das auch die Rothaarige, die dir gestern nachgestiegen ist? Und die mit der fülligen Oberweite? Giftige Zungen behaupten, du entwickelst dich zum Gigolo.“
David schnauft. „Was für ein ausgewachsener Blödsinn.“ Ellena und Moritz klopfen an der Terrassentür. Sie wedelt mit einer Chipstüte und er mit den Salzstangen. David lässt sie herein und umarmt sie beide herzlich. Sofort herrscht ausgelassene Würfelspielstimmung. Wie in den Zeiten auf Sardinien. Am Tisch feilschen alle um jeden einzelnen Punkt.
David holt frische Getränke aus der Küche. Seine Tochter nutzt diese Gelegenheit, lehnt sich Richtung Annalena und flüstert ihr ins Ohr.
„Wie ist es mit der Wohngemeinschaft?“
„Alles bestens“, tuschelt sie zurück. „Und wie ist die Lage bei euch?“
Ellena zuckt die Schultern.
Moriz schaut gebannt auf den Würfelbecher und dreht ihn versonnen in den Händen hin und her.
Annalena mustert die beiden. „Was ist los?“
„Habe ich was verpasst?“, fragt David, der aus der Küche zurückkommt und die Gläser zum Tisch balanciert.
Ellena schaut genervt. „Ach, er zickt rum. Aus dem Nichts heraus hat der Herr beschlossen, dass er nicht mit nach Amerika fliegt.“
Er mustert Moritz. „Warum denn das? Wegen deinem Chemiestudium?“
Er nickt. „Es ist einfach total doof, wenn ich ein halbes Jahr aussetze. Da blicke ich hinterher nix mehr. Und überhaupt habe ich in Amerika nichts zu schaffen. Ich sitz da nur rum. Du bist ja nie da.“ Er nickt Richtung Ellena.
Sie schaut gen Himmel. „Lass mich nicht hängen. Die Chance bekommen wir so schnell nicht wieder. Könntest dich ja mit mir freuen, anstatt eine Schnute zu ziehen.“
Moritz lässt den Kopf in die aufgestützten Hände fallen.
Annalena versucht, die Wogen zu glätten. „Was ist mit jobben in Amerika? Hast du die Idee schon aufgegeben?“ „Zum Geldverdienen brauche ich mich nicht zehn Stunden lang in einen Flieger setzen. Das kann ich hier genauso“, brummt er.
„Mach nicht alles kaputt. Wo ist dein Pioniergeist geblieben?“, motzt Ellena.
„Beruhigt euch“, mischt sich David ein. „Was sagt denn Emys Vater dazu? Arbeitet der denn schon wieder in seiner Medien-Firma? Kannst du dort überhaupt jobben?“
„Ja, er arbeitet inzwischen wieder Vollzeit. Emy geht es besser. Er hat genug Arbeit, um mich einzusetzen. Es ist alles supergut eingefädelt.“ Sie schaut Moritz giftig an. „Alleinig der Herr stellt sich quer.“
Das Würfeln mutiert zur Nebensache. Vier Leute diskutieren angeregt die Möglichkeiten. Am Ende bleiben sie bei der Variante, dass Moritz hier weiter Chemie studiert und Ellena das halbjährige Praktikum in Amerika ohne ihn macht. Alle hoffen, dass ihre Beziehung die Sauregurkenzeit unbeschadet übersteht. Moritz scheint wenig überzeugt. David spürt das.
David schreibt.
Hey Moritz. Du hast mir gestern gar nicht gefallen. Was ist los mit dir? (Weinender Smiley)
Moriz schreibt.
Sie ist halt nie da. (Bombe)
David schreibt.
Ihr sitzt im Tinyhouse zu eng aufeinander. (Nachdenklicher Smiley)
Moriz schreibt.
Wenn sie da ist, ja. (Teufelchen)
David schreibt.
Hast du eine Ahnung, was mit ihr los ist und warum sie nie da ist? (Nachdenklicher Smiley)
Moritz schreibt.
Es ist wieder, wie vor Sardinien. Wie wenn jemand einen Schalter umgelegt hätte. Sie meckert ständig. (Fechtdegen)
David schreibt.
Das ist schade. Soll ich mit ihr reden?
Moritz schreibt.
Wenn du denkst, dass das was hilft ... (Boxhandschuh)
David schreibt.
Denke ich. (Daumen nach oben)
„Ich habe Ihnen die Zeitung vor die Tür gelegt.“ Davids Vermieterin lächelt ihn an.
„Lieben Dank Frau Schreier, das ist nett. Sind Sie gleich wieder bei der Nachbarin? Ihr im Garten helfen?“
Sie winkt ab. „Ich sag Ihnen … Das ist fürchterlich. Sie haben keine Vorstellung, was das für eine Arbeit ist. Das ganze Unkraut! Da ist über all die Jahre was zusammengekommen. Man bräuchte zwei Hände mehr. Ich komme da gar nicht hinterher ...“
Sie holt Luft. Das nutzt er.
„Apropos Arbeit, meine Klienten ...“ Er zeigt mit dem Finger die Treppen hoch, wo das Praxiszimmer liegt.
Sie nickt eifrig und verschwindet in ihre Küche zurück.
Er lächelt, denkt daran wie das vor einem Jahr mit ihr war. Da gab es keine Grenzen. Damals wäre die Zeitung sicherlich nicht vor seiner Tür, sondern auf seinem Schreibtisch gelegen. Sein Entschluss war doch richtig. Er hat ihr die Stirn geboten, anstatt sich andere Räume für die Praxis zu suchen.
Er steckt den Schlüssel in das Türschloss und öffnet. Wohlige Wärme und der Duft von Sandelholz strömen ihm entgegen. Sofort entspannt sich sein Magen, der die letzten Tage oft zu überempfindlich war. Den Gedanken, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist und sein Bauchgefühl ihn vor einem aufziehenden Gewitter warnt, schiebt er erneut beiseite.
Das Telefon läutet, er stellt seine Kuh-Kaffeetasse auf den Schreibtisch und hebt ab.
„Ja, Hochart.“
„Jablonski Johann. Bin ich froh, dass ich dich erreiche!“ Sein Kollege lacht.
„Na das ist ja eine Überraschung. Wann war die letzte Tagung in Garmisch? Vor zwei Jahren?“
„Keine Ahnung. Wie geht es dir?“, fragt sein Kollege in beschwingtem Tonfall.
David schluckt. Was gibt es zu erzählen? Die Kurzfassung von der Scheidung? Erlebnisse vom Sardinien-Urlaub und der zurückgewonnenen Freiheit? Ellenas bevorstehende Amerika-Auszeit? Oder von seiner Wohngemeinschaft, die sich extrem vertraut anfühlt, sodass es ihm Angst macht sie zu verlieren? Er hat weder Lust auf Erklärungen noch darauf in Erinnerungen zu schwelgen. Er belässt es bei: „Ja, und dir?“
Sein Kollege lacht schallend. „Ja, mir ebenso. Der normale Wahnsinn eben.“
„Du sagst es.“
„Im Moment ist er mit Vorfreude bestückt.“
David horcht auf. „Hey, das hört sich klasse an. Was hast du denn vor? Bist du dabei einen Kongress zu organisiert? Oder trommelst du unsere alte Kollegentruppe für ein Treffen zusammen? Hätte Lust, sie wieder mal alle zu sehen.“
„Da liegst du falsch. Ich höre auf!“
Hat er sich verhört? „Wie, mit der Organisation von Events?“
Sein Kollege lacht. „Mehr mein Lieber. Ich lege die Praxis auf Eis, schnappe mir die Gemahlin und bin für ein ganzes Jahr weg. Auf Gran Canaria.“
David bläst die Luft aus. „Das ist ja mal eine Aussage.“
„Ach was. Ich hatte vor ein paar Monaten einen Herzinfarkt. War knapp. Der Himmel gibt mir eine Verlängerung. Die möchte ich nutzen. Ich packe den Stier bei den Hörnern. Verstehst du? Höchste Zeit, um zu leben.“
Ihm fehlen die Worte. Sein Kollege scheint wie ausgewechselt. „Ist das dein Ernst?“
„Der volle. Zehn Minuten vor zwölf für eine Veränderung. Du bist nicht jünger, wie ich. Da gilt das genauso mein Lieber!“
David stöhnt. „Ich hatte die letzte Zeit genug Neuerung. Bin nicht scharf auf ein weiteres Erdbeben.“
„Das meine ich nicht. Nichts Negatives. Ich habe eine positive Umgestaltung für dich. Ich bitte dich, die Praxis zu hüten!“
David braucht eine Weile, um die Worte des Kollegen zu erfassen.
„Ich habe vor dir meine Praxis samt Klienten für ein Jahr zu überlassen. Was sagst du dazu?“
Er ist sprachlos.
„Ich stelle dir für die Zeit gerne zum wohnen mein Haus zur Verfügung.“
David ist völlig vor den Kopf gestoßen. „Hör zu Johann, bei deinem Veränderungstempo steige ich aus. Dafür ist definitiv nicht der richtige Zeitpunkt. Ich habe mich gerade erst an meine neuen Lebensumstände gewöhnt.“
Sein Kollege lacht schallend. „Ich bin ein erfahrener Therapeut und ich sage dir, dass der passende Moment zeitlebens im JETZT liegt. Das hast du mit Sicherheit jedem deiner Klienten ebenfalls tausendmal vorgebetet. Lass dir von mir in das Hinterteil treten. Du bist früher aus dem Schwärmen nicht herausgekommen, wenn ich von Bayern, den Seen und den Bergen erzählt habe. Was hält dich? Warte nicht, wie ich, auf den Herzinfarkt. Die Gelegenheit ist für uns beide da. Jetzt!“
David verschluckt sich und hustet. „Ich, ... ich ... denk drüber nach.“
Ellena schreibt.
Heute so schweigsam? (Sich den Mund zuhaltendes Äffchen)
David schreibt.
Du genauso! (Auf den Kopf gestellter Smiley)
Ellena schreibt.
Spaziergang mit Floh? (Hund)
David schreibt.
Um sieben? (Armbanduhr)
Ellena schreibt.
(Daumen nach oben)
In der Mittagspause beschließt David nach Ludwigsburg zu fahren. Der erste Klient am Nachmittag hat abgesagt und es ließ sich kein Ersatz finden. Ihm ist es recht. Er steigt ins Auto und Frau Schreier wuselt auf ihn zu.
„Ist was passiert?“ Ihre Stimme überschlägt sich.
„Alles in Ordnung“, beruhigt er sie. „Ich gehe morgen wieder in meiner Pause spazieren. Im Augenblick brauche ich eine Kleinigkeit zu essen.“
Sie mustert ihn, als ob sie nach Anzeichen von Fieber suchen würde.
„Ab und zu braucht es eine Veränderung.“ Er erinnert sich an die Tage auf Sardinien und die Gelassenheit der Menschen dort, verabschiedet sich mit einem Lächeln von ihr und fährt los.
Er öffnet das Fenster einen Spalt. Der Wind wirbelt beim Fahren durch seine langen Silberlocken. Augenblicklich versinkt er in der Erinnerung an die sonnigen Tage vor einem Jahr. Er hört innerlich das gemeinsame Lachen von Ellena, Moritz und Annalena. Sein Gemüt entspannt sich. Er braucht keine große Veränderung. Ihm reicht das Mittagessen in der Innenstadt. Sein Leben hat sich seit dem Urlaub sortiert. Durch die Wohngemeinschaft läuft es wieder in geordneten Bahnen. Geradeaus und nicht ständig mühsam bergauf, um kurz darauf erneut talwärts in ein finsteres Loch abzustürzen. Trotzdem, es fällt ihm nicht schwer, Johanns Umstände zu verstehen. Er hat sich oft gefragt, wie sein Kollege die ständige Überbelastung packt. Wenn er ihn getroffen hat, ist er prinzipiell von einem Termin zum anderen gehetzt. Mit all seinem Engagement für sein Lebenswerk hat er sich definitiv eine Auszeit verdient. Er will ihn nicht hängen lassen und beschließt, später ein paar Kollegen anzurufen. Mit Sicherheit findet sich jemand, der seine Praxis während der Auszeit übernimmt. Zu einem der taufrischen Aufsteiger passt das besser als zu ihm.
In Ludwigsburg steuert er direkt den „Blauen Engel“ neben der Filmakademie an. Kurz vor dem Semesterabschluss ist der Biergarten von Studenten übervölkert. Er hat Glück und es rückt unter der Kastanie eine Traube Schüler zusammen, um ihm einen Platz anzubieten. Wie ein Kind über einen Lutscher freut er sich über den Schattenplatz. Gedankenverloren und mit einem breiten Lächeln im Gesicht blättert er in der Speisekarte.
„Hey David“, klingt es neben ihm. Er dreht sich um und schaut auf Hannelore. Sie schwänzelt um ihn herum und quetscht sich ihm gegenüber an den Tisch. Der Student, den sie dabei angerempelt hat, schaut belustigt von ihr zu ihm.
„Was für ein Zufall, dich hier zu treffen.“ Sie strahlt David an, als gäbe es nichts Schöneres.
Er hat sich vorgestellt, dass er hier sitzt und all das wuselige Treiben genießt, auf direkte Gesellschaft hätte er dagegen gerne verzichtet. Seine Begrüßung fällt nüchtern aus.
„Hallo Hannelore.“
„Ich habe es gesagt!“, trällert sie mit ausladender Geste. „Wenn das Schicksal es vorsieht, dann begegnen wir uns wieder.“
Ihm wäre es lieber, das Leben hätte ihn in diesem Fall verschont. Sie lernten sich letzten Monat bei einer Weinwanderung kennen. Ihr Reden war ihm zu laut, die Stimme zu überdreht, aber sie ist ihm die ganze Zeit über nicht von der Seite gewichen.
Innerlich abwesend betreibt er Smalltalk. Die Gedanken wandern zu Ellena und Moritz.
Nach dem Essen ist er heilfroh, dem Biergarten und damit Hannelores Gesellschaft zu entkommen. Er geht zum Bus zurück, lässt sich auf den Fahrersitz fallen und atmet tief durch. Mit Annalena ist das Zusammensein mühelos. Das pure Gegenteil ist mit Hannelore der Fall. In solchen Momenten ist er froh, dass er keine Partnerin hat. Die Scheidung von Lydia ist gedanklich bei ihm durch. Auf Sardinien hat er seinen Frieden gefunden. Ihm gibt es jetzt ein Gefühl von Zufriedenheit mit allem, was im Moment ist. Am liebsten würde er einen Anker werfen, um sicher zu sein, dass sich an der Konstellation in der kommenden Zeit nichts verändert. Hoffentlich renkt sich das mit Ellena und Moritz wieder ein.
In seiner Praxis zurück, blättert er die Akten für Morgen durch und sucht im Register nach der Telefonnummer von Herrn Hansen. Beim Buchstaben F bleibt er an „Fersthaus Gwendolin“, hängen. Sein Blick fällt auf ihre Handynummer. Augenblicklich überflutet ihn ein Schwall Mandelduft, obwohl in Frau Schreiers Garten kein solcher Baum wächst. Wie es ihr wohl geht? Er hat ihr während ihrer Ehekrise eine Mediatorin zukommen lassen, welche den beiden half wieder zueinander zu finden. Inzwischen ist sie mit ihrem Ehemann nach München gezogen. „Neuanfang“, sagt er. Wie lange hatte er an der Verbindung mit Lydia festgehalten? Im Nachhinein gesehen, zu lange. Hoffentlich hält ihr Mann Wort und lässt die Finger von Seitensprüngen. Sich ständig eine neue Geliebte zu suchen, ist genaugenommen ebenfalls eine Sucht. Gwendolin sieht das anders, obwohl er sein Bestes gab, ihr das zu vermitteln. Gedankenverloren kritzelt er ihre Nummer auf die Schreibtischunterlage. Er ringt mit sich, sie in sein Handy einzuspeichern, lässt es und entschließt sich besser Annalena am Abend nach ihrer Freundin zu fragen. Das entspannt sein Gemüt.
Es läutet und er drückt den Türöffner für den ersten Nachmittagsklienten. Frau Schreier schaut unter ihm zur Tür heraus, nickt und lächelt ihn an. Er winkt zurück und freut sich darüber, dass die Klienten inzwischen aus- und eingehen, ohne von ihr abgefangen zu werden.
David schreibt.
Hallo Gwendolin. Wie geht es dir? Hoffe, du hast dich gut eingelebt. (Betende Hände)
David wartet.
David wartet.
David wartet.
Seit dem Mittagessen im „Blauen Engel“ rumort Davids Magen. Er kann sich nur bedingt auf die Arbeit konzentrieren. Liegt es an der Pizza? Oder am Gespräch mit Hannelore? Er ist sich bei ihr vorgekommen, wie ein kostenloser Müllabladeplatz für Privatprobleme.
Am Abend schließt er die Praxis ab und setzt sich in den Bus, um seine Tochter am Tinyhouse abzuholen. Während der Autofahrt reibt er mit sanftem Druck über den Oberbauch. Ellena und Moritz! Sind sie es, die ihm im Magen liegen? Seine Intuition bleibt ihm eine Antwort schuldig. Er schüttelt den Gedanken ab und konzentriert sich wieder auf die Straße.
Zusammen mit seiner Tochter tuckern sie Richtung Schloss Solitude. Am Wanderparkplatz angekommen knirscht der Kies unter den Reifen. Floh hebt den Kopf. Er stellt sein Bus ab und sie steigen aus.
David schlendert mit Ellena zusammen über die Waldwege. Er freut sich sowohl über die frische Luft, als auch über ihre Gesellschaft. Sie tappt eine ganze Weile schweigend neben ihm her. Das kommt ihm sonderbar vor.
„Na, kein Brief von der Filmakademie?“, fragt er beiläufig.
Sie schüttelt den Kopf.
„Ist im Moment alles quer, oder?“ Floh spurtet mit einem Stock im Maul an ihm vorbei.
Sie schnauft. „Ach, ich kenne mich nicht mehr aus.“
„Was liegt dir denn im Magen?“
Sie kickt einen Stein vor sich her, wie in den Kindertagen, wenn sie nicht rausrücken wollte, was sie angestellt hat.
Er lässt ihr Zeit.
„Ich weiß nicht wohin mit mir. Ist das nicht saublöd? Ich habe mir seit dem Schüleraustausch gewünscht nach dem Abi ein Jahr in Amerika zu sein. Das ich in der Firma von Emys Vater ein Praktikum machen kann, ist ein echter Glücksgriff. Aber … Und das ist das Problem. Seit dem Unfall von meiner Freundin hat er einiges umgestellt, damit er mehr Zeit für die Familie hat. Das ist jetzt so ganz anders, als ich mir das vorgestellt habe.“
David stutzt. „Lässt er dich denn nicht in die Werbebranche hineinschnuppern?“
„Das schon. Es ist, weil er gesagt hat, dass er in der nächsten Zeit auf die aufwendigeren Aufträge verzichtet, um Emely zu helfen wieder auf die Beine zu kommen.“
„Na ja, Hauptsache Werbefilme, oder?“
Sie verzieht das Gesicht. „Ja, schon“, eiert sie herum. „Aber, das ist doch dann nicht anders, wie wenn ich das Jahr komplett in Ludwigsburg in meinem Job arbeite. Ich habe davon geträumt, in Chicago zu lernen. Dort, wo die ganz Großen ihre Filme drehen, verstehst du?“
David nickt langsam.
„Bin mir echt nicht mehr sicher, ob ich hinfliegen soll. Hier verdiene ich Geld. Drüben bekomme ich keinen Cent. Verstehe mich nicht falsch. Ich bin nicht undankbar, finde es genial, dass ich bei Emys Familie wohnen kann. Trotzdem wird mein Sparschwein extrem leiden. Dagegen könnte ich es hier füttern und ein Polster fürs Studium aufbauen.“
David starrt sie an. Er ist verwundert über diesen Sinneswandel. Seit der zehnten Klasse wünscht sie sich nichts anderes. Sie hat sich gegen ihre Mom durchgesetzt, um ihren Traum zu verwirklichen. Und jetzt?
„Hängt das zufällig mit Moritz zusammen?“
Sie seufzt und sucht nach einem Stock für Floh.
„Ach, der“, sagt sie langgezogen. „Weißt du Dad, ich finde ihn ja okay. Er ist echt klasse … also so als Kumpel. Verstehst du? Wir sind mehr wie Annalena und du. Nicht wie ein richtiges Liebespaar. Die Nächte in Sardinien waren genial.“ Ihr Gesicht strahlt. Eine Sekunde später ist das Leuchten wie weggewischt. „Wieder Zuhause hat sich alles merkwürdigerweise falsch angefühlt.“
David schluckt. Das erinnert ihn an die Begebenheit mit seiner Mitbewohnerin. Sie sind an Weihnachten zusammen im Bett gelandet. Die Sentimentalität hat sie an diesem Abend eingeholt. Als ob sie gegenseitigen Halt gesucht hätten, ist die körperliche Nähe einfach passiert, um die alten Erinnerungen an Zweisamkeiten zu ertränken. Stimmig war es für keinen von beiden. Ab diesem Zeitpunkt stand fest, dass sie in Zukunft die innigen Zärtlichkeiten vermeiden, um die anschließende Talfahrt zu umgehen.
„Verstehst du mich?“, bohrt sie nach.
Er ringt um Worte. Ellena bleibt stehen, durchbohrt ihn mit ihrem Blick.
„Dad, ihr habt doch nicht ...“, sagt sie mit erstickter Stimme.
David schweigt und sie prustet los. „Ich hab’s gewusst, dass ihr eines Tages ein Paar werdet! Es brauchte nur Zeit.“ Sie klatscht in die Hände, boxt ihn in die Seite.
„Nein“, murrt er, das Gleichgewicht suchend. „Nicht, was du denkst.“
Er erzählt ihr von der Weihnachtsnacht. “Ihr beide seid nach dem Essen zurück zum Tinyhouse. Da sind wir bei einem Glas Wein zusammengesessen, haben von Sardinien geschwärmt und über den damals nicht ernstgemeinten Kuss gelacht, der sich wohlig und zugleich seltsam angefühlt hat. Was soll ich sagen? Wir haben es erneut probiert.“
Ellena hängt ihm an den Lippen. „Und wie war‘s?“
Er schüttelt den Kopf. „Wir waren uns nahe. Das wars aber auch schon. Geknistert hat da nichts. Ich denke, wir haben uns in dem Moment gegenseitig gutgetan. Das ist alles. Für ein Paar reicht das nicht. Da waren wir uns einig. Seitdem haben wir auf den kurzzeitigen Kick verzichtet. Es blieb hinterher nur eine schale Leere zurück. Gruselig, sage ich dir.“
Sie schlendern schweigend auf den See zu. Ellena zieht ihren Dad zu einem massigen Stein am Ufer. Beide setzen sich und er wirft gedankenverloren Kieselsteine ins Wasser.
„Wenn du das erlebt hast, verstehst du mich“, sagt sie nach einer Weile, ohne ihn anzuschauen.
Er nickt wohlwissend. Trotzdem findet er es schade. Moritz ist ein klasse Kerl. Es wäre ihm lieber, seine Tochter hätte ein Problem mit jemanden, den er nicht in sein Herz geschlossen hat.
„Red mit ihm.“
Ein weiterer Stein fliegt durch die Luft. Floh hechtet ihm hinterher und verschwindet spritzend im Wasser.
Ellena kreischt und springt auf. Ungestüm wischt sie über ihre Hose. David über das Gesicht.
Sie schlendern zusammen ein Stück am See entlang. Die gegenüberliegende Seite spiegelt sich auf der Wasseroberfläche, wie in einem Gemälde. Nur Floh durchbricht das Bild, macht Wellen und schwimmt neben ihnen her.
„Lass uns hinterherspringen, um alles abzuwaschen, was uns belastet“, sagt David nach einer Weile Schweigemarsch.
„Spinnst du? Das ist arschkalt. Da bringen mich keine zehn Pferde hinein!“
„Verfahrene Umstände brauchen unmögliche Taten“, lacht er.
Sie boxt ihn scherzhaft.
„Du und deine weisen Sprüche. Verrate mir lieber, was ich Moritz sagen soll“, knurrt sie.
„Die Wahrheit, Sweetheart. Sie ist schwer auszusprechen. Ich weiß. Ihm ein Theater vorzuspielen macht es aber nicht besser. Es verlängert nur den unvermeidbaren Schmerz.“
Sie schaut ihn von der Seite an und reibt sich über den Hals. „Ich dachte ...“
„Was? Du dachtest, es erledigt sich von selbst, wenn du nach Amerika fliegst. Nicht dein Ernst, oder?“
Sie zupft an ihrer Jacke herum.
„Schau. Moritz ist ein schlauer Kopf. Glaube nicht, dass er dir dein Theaterspielen abnimmt. Warum denkst du, dass er nicht mitkommt nach Amerika? Er spürt es, dass du ihn drüben abserviert hättest.“
Ihre Finger wickeln sich um einen abstehenden Faden.
„Und stelle dir vor. Du zögerst die Wahrheit hinaus, fliegst und ihr seht euch nach einem halben Jahr wieder. Was passiert in dem Moment? Das Problem hat sich vertagt, gelöst sicherlich nicht. Und der Schmerz bleibt derselbe, er dauert nur länger an. Die Wahrheit ist nicht zu vermeiden. Sie zu verschweigen ist ein leidvoller Umweg, den man sich besser erspart.“
Ellena verzieht das Gesicht.
„Und bevor du auf die Idee kommst mich zu fragen ... Nein, ich werde nicht anstelle von dir mit ihm reden. Den Mut wirst du selbst aufbringen.“
Ihr Schmollmund zeigt ihm, dass er mit seiner Aussage den Punkt getroffen hat.
„Hey, Sweetheart, du bist nicht umsonst meine Tochter. Du schaffst das!“
Annalena schreibt.
David, ich bin heute Nacht nicht im Hause. Patricius hat mich zu sich eingeladen. Keine Angst, ich bin in den besten Händen. Er zeigt keinerlei Bogart-Züge. Er ist kein Kontrollfreak, rastet nicht aus und sperrt mich auch nicht in der Toilette ein.
David schreibt.
Aha.
David schreibt.
Na dann, wünsche ich dir einen angenehmen Abend.
David schreibt.
(Wütender Smiley)
David schreibt.
Sorry, ich bin in der Zeile verrutscht. Streich den wütenden Smiley und nimm den dafür. (Smiley mit blinkenden Augen)
Annalena schreibt.
Gut, dass du mich aufklärst. Dachte schon, du bist eifersüchtig und unser weihnachtlicher Versuch war für dich mehr wie ein Testlauf. (Frauengesicht mit fragender Geste)
David schreibt.
Erwischt. (Heulender Smiley) Mein Magen rebelliert dagegen, obwohl der Verstand sagt, dass er nichts zu melden hat. Liebe ist anders, als das, was wir beide fabriziert haben. (Gelbes Herz)
Annalena schreibt.
Womöglich haben wir uns nur extrem aneinander gewöhnt. (Frauengesicht mit Hand an der Stirn) Ich habe keine Ahnung, wie es mir ginge, wenn mehr dran wäre an deinen Frauenhelden-Geschichten. Gibt es denn eine echte Anwärterin? (Braut)
David schreibt.
Du hörst wohl nie damit auf. (Sich vor Lachen wegschmeißender Smiley)
David schreibt.
Zu deiner Beruhigung ... Ich habe nicht vor mit Susi, oder Hannelore, oder irgendeiner anderen ins Bett zu steigen. Unsere gemeinsame Nacht war einmalig in jeder Hinsicht. (Augen verdrehender Smiley)
Annalena schreibt.
Das kannst du laut sagen! Verkrampfter hätte es nicht laufen können. (Frauengesicht mit Händen in den Haaren)
Annalena schreibt.
Wir sehen uns Morgen. Bis bald. (Winkende Frau)
David schreibt.
Bis Morgen. (Zwinkernder Smiley)