Der Text ist gemeinfrei.

Er folgt der urheberrechtsfreien deutschen Übersetzung von Johannes Schlaf. Mit einem Vorwort

von W. Schlösser. Verlag Deutsche Volksbücher, Rottenburg 1948.

Neuausgabe: 2020.

Umschlagmotiv und -gestaltung: Caroline Stern, Berlin.

ISBN: 978-3-7526-5161-4.

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt.

www.bod.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek

verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Walt Whitman ist der erste und der größte Dichter Amerikas und einer der bedeutendsten, von denen die Welt vernommen hat. Reckenhaft steht er über dem amerikanischen Kontinent, breitbrustig und sonnverbrannt, das weiße Haupt hoch über die höchsten Gipfel erhoben, mit den Füßen fest der Erde verhaftet. Sein Blick durchdringt die Staaten von Meer zu Meer, sein Ohr hört jeden Vogelruf, aus der Druckerschwärze wittert er den Maiwind der fernen Prärie, die tastende Hand bringt ihm entzückende Botschaften. Sein Herz ist erfüllt von Liebe zu jeder Kreatur und die Brust geschwellt vor Lust und Freude an dieser Welt. Seinem Geiste ist die Geschichte der Menschheit gegenwärtig, das Gemüt an den Mythen der großen Menschheitslehrer erbaut, klar geordnet dem Verstande das Wissen der Zeit.

Aus hingebender Versenkung in die Vergangenheit verheißt er dem Menschengeschlecht eine paradiesische Zukunft. Voll Ehrfurcht gegen die alten Idole entwirft er der Menschheit ein neues. In die Wissenschaft vom Stoff schmilzt er die Forderungen der Seele.

Ein neues Menschengeschlecht verkündet er. Die Männer athletisch, anmutig die Frauen, Leiber und Seelen harmonisch gesteigert, dem Gesetz des Lebens sich fügend wie Pflanze und Tier, erleuchtet, wissend um das göttlich Unsterbliche in jedem Menschenbruder. An diesen Menschen glaubt er mit leidenschaftlicher Liebe, ihm verheißt er: nicht den Himmel, aber das Paradies auf Erden. Er glaubt an das ewige Leben und die Unsterblichkeit; Tag und Nacht, Winter und Frühling bezeugen ihm, daß der Tod das Leben vorwärtsleitet, nicht beendet.

Für kommende Geschlechter singt er das Lied vom neuen Menschen, mächtig, schön, unvergänglich für alle Zeit. Seine Sprache ist sanft und durchdringend wie nächtliches Flüstern und machtvoll gebietend wie der Ruf des Kapitäns auf stürmischer See.

Seine Liebe schmelzend wie der Märzwind und erfreuend wie die Frühlingssonne. Er liebt ohne Bedingung und liebt auch im Verbrecher den Bruder und den Abglanz seines Menschenbildes. Er liebt am Strom des Lebens die Ufer Tugend und Laster, den sandigen dunklen Grund ebenso wie den blitzenden Wasserspiegel, denn alle Teile gehören zum Ganzen. Er liebt die Frauen und die Schönheit, aber seine Liebe ist von der Art, die die alten Frauen, die gesegneten Mütter am schönsten findet.

Er preist den Feuerrausch der Zeugung kühner und freier als je ein Dichter zuvor; aber er hebt die Lust in den Rang göttlicher Schöpferkraft, fordert von den Männern zuchtvolle Reinheit und von den Weibern unbefleckte Keuschheit. Über die Schönheit des Leibes, Gefäß der göttlichen Seele, jauchzt er, spricht auch den Leib heilig und schilt die Toren, die ihr Schönstes besudeln. Er sieht mit Staunen die Wunder der Natur, aber das größte Wunder ist ihm, daß es einen gemeinen und ungläubigen Menschen gibt. Den in kameradschaftlicher Liebe verbundenen Bürgern erhebt er den Sinn zum Wohle des Ganzen, verlacht die Armen, die da Gold und Geld raffen und verschenkt die echten Reichtümer des Lebens.

Die Freiheit ist ihm das höchste Gut, und er liebt die Demokratie, die Hüterin von Freiheit und Recht. Gegen die Machthaber im Staate rät er zu Trotz und Aufsässigkeit, damit deren Ohren offen bleiben für die Meinung des Bürgers. Er mahnt, auf dem Recht der persönlichen Freiheit mit Eifersucht zu beharren; denn hinter einem Augenblick des Verzichts harre die lange Sklaverei.

So singt er uns den Sang Amerikas und packt uns mit zärtlichen Melodien oder gewaltigen Liedern. An Gehalt sind seine Gesänge so übervoll, daß sie die Formen der Verse sprengen und in mächtigen freien Rhythmen strömen. Sie sind so köstlich wie die unvermischten Gaben der Natur. Sie schenken Gesundheit dem durch Süßigkeit und Genußgift geschwächten Geschmack.

*

Walt Whitman wurde 1820 auf der Insel Long Island, die New York vorgelagert ist, geboren. In Brooklyn ging er zur Schule. Er war intelligent und las viele Bücher. Nach der Schulzeit wurde er Schreiber in einer Anwaltskanzlei, Schullehrer, Setzer, Berichterstatter und Redakteur einer Brooklyner Zeitung, dann ging er einige Jahre als Journalist in die Mittel- und Südstaaten. Später rief ihn der Vater nach Hause zurück, damit er das väterliche Geschäft übernehme. Er erlernte deshalb das Zimmermannshandwerk, wurde Baumeister, baute Arbeiterhäuser und wurde vermögend. Dann brach der Krieg gegen die Südstaaten aus, und er war drei Jahre bei der Truppe als Sanitäter. Als der Krieg beendet war, war seine Gesundheit geknickt und sein Vermögen weg. Wegen seiner Verdienste im Kriege wurde er vom Staatsdepartement als Schreiber eingestellt. Als sein Chef, ein frommer Methodist, die »Grashalme« las, flog er aus dem Amt. Er lebte dann in bitterer Not. Die »Grashalme« aber fanden ihre Leser; und er wurde bekannt. Das Staatsdepartement stellte ihn, durch Vermittlung einflußreicher Freunde, in einer anderen Abteilung wieder an und bezahlte ihn gut. Nun traf den 54jährigen ein Schlaganfall, daß er das Amt aufgeben mußte, und wieder erlebte er eine Zeit der Armut und Not. Die »Grashalme« aber erlebten neue und erweiterte Auflagen und begannen ihn berühmt zu machen. Er zog sich aufs Land zurück und verbrachte einen besonnten Lebensabend. Im Jahre 1892 verschied er 72jährig.

W. Schlösser

Den fremden Ländern

Ich hörte, daß ihr etwas erheischet, dies Rätsel, die neue Welt, zu erklären,

Amerika und seine athletische Demokratie:

So sende ich euch denn meine Gedichte, damit ihr in ihnen schaut, wonach ihr verlangt.

Ein Selbst sing' ich

Ein Selbst sing' ich; eine einfache abgesonderte Person;

Doch sprech' ich das Wort Demokratisch aus, das Wort En Masse.

Die Physiologie sing' ich vom Kopf bis zum Fuße;

Weder Physiognomie noch Geist allein sind der Muse preiswürdig; ich sage, weit preiswürdiger ist ihr die Gestalt in ihrer Gesamtheit.

Ich singe das weibliche ebensogut wie das männliche Prinzip.

Das Leben, unermeßlich an Leidenschaft, Puls und Kraft,

Fröhlich, zur freiesten Tätigkeit gestaltet nach göttlichen Gesetzen,

Den neuen Menschen sing' ich.

Als ich mit stillem Sinnen

Als ich mit stillem Sinnen

Zu meinen Dichtungen mich zurückwandte, und in Betrachtung lang' verweilte,

Erhob sich mit zweifelvoller Miene vor mir ein Phantom,

Schrecklich in Schönheit, Alter und Kraft,

Der Genius der Dichter der alten Länder;

Und seine Augen wie zwei Flammen auf mich richtend

Wies er mit seinem Finger auf so manche unsterbliche Dichtung

Und sprach mit drohender Stimme dies: »Was singst Du da?

Weißt Du nicht, daß es nur einen Stoff gibt für unsterbliche Sänger?

Den Krieg, das Geschick der Schlachten,

Und wie vollkommene Krieger herangebildet werden?«

»Sei es so«, gab ich zur Antwort;

»Auch ich, hochmütiger Schatten, singe den Krieg; und einen langwierigeren und gewaltigeren als irgendeinen sonst;

Mit wechselndem Glück wogt er in meinem Lied; mit Flucht, Angriff, Rückzug, verzögertem und ungewissem Sieg,

(Der dennoch, denk' ich, schließlich sicher oder so gut wie sicher ist), auf dem

Schlachtplan der Welt,

Um Tod und Leben, Leib und ewige Seele.

Wohl! auch ich bin gekommen, den Sang der Schlachten zu singen,

Und auch ich fördere vor allem tapfre Krieger.«

Einem Historiker

Ihr, die ihr feiert, was gewesen,

Die ihr die Außenseite erforschtet, die Oberflächen der Rassen und das Leben, soweit es sich aus sich selbst nach außen gesetzt hat,

Die ihr den Menschen behandelt als Geschöpf der Politik, der Haupt- und Staatsaktionen, der Machthaber und Priester:

Ich, ein Bewohner der Alleghanies, handle von ihm, wie er ist nach eigenen Rechten,

Ertaste den Puls des Lebens da, wo es sich bisher nur selten aus sich selbst nach außen setzte (den großen Wert des Menschen, den er in sich selbst trägt);

Ein Sänger des Persönlichen, zeichne ich das, was erst im Werden ist

Und entwerfe die Geschichte der Zukunft.

Idole

Ich traf einen Seher;

Er schritt durch Braus und Schau der Welt,

Der Kunst und Wissenschaft Gebiete, der Freuden und der Sinne

Idole zu sammeln.

Nimm in dein Lied, sprach er,

Nicht so die kunterbunte Stunde und den Tag, noch Ausschnitte, noch Teile;

Vielmehr vor allem andren nimm als Licht für alles und als Anfangslied

Das von Idolen.

Ewig Beginn aus Dunkel

Wachstum ewig und des Zirkels Rundung,

Ewig Gipfelhöhe und Versinken schließlich (sicher nur zu Neubeginn);

Idole! Idole!

Ewig Veränderung,

Ewig Wechsel der Stoffe, ihr Zerfall und ihre neue Einheit;

Ewige Werkstätten und göttliche Fabriken,

Die Idole ausströmen;

Sieh! Sei's ich, sei's du,

Sei's Mann, sei's Weib, Zustand, Bekannt oder Unbekannt:

Wir alle, scheinbar fester Reichtum, Kraft, Gebild der Schönheit:

In Wirklichkeit gestaltete Idole.

Vergängliches Gebild,

Substanz für eines Bildners Stimmung oder eines Weisen mühevollen Fleiß,

Des Kriegers, Märtyrers, des Helden Arbeit hat

Zum Vorbild sein Idol.

Und jeglich Menschenlebens,

(Die Einzelteile genommen und hingestellt, kein einziger Gedanke ausgenommen, kein Gefühl und keine Handlung)

Weit oder knapp gefaßte und aufaddierte Summe

Ist in ihrem Idol.

Der alte, alte Trieb,

Sieh! errichtet auf den früheren Gipfeln neue, höhere Gipfel

Von Wissenschaft und Neuzeit stets getrieben,

Der alte, alte Trieb: Idole.

Und allerjüngste Gegenwart,

Amerikas Betriebsamkeit, ihr trächtiger und verzwickter Strudel,

Von vereinten wie getrennten Stoffen für immer nunmehr tief entbindend,

Jüngste Idole.

Dazu Vergangenheit:

Von verschwundnen Ländern, alten Königreichen, jenseits der See,

Erobern der Vorzeit, Feldzügen und Meerfahrten:

Eine Reihe von Idolen.

Dichtheit, Wachstum, Oberfläche,

Gebirgszug und Gelände, Fels und Riesenbaum,

Urzeitgeboren und in ferner Zukunft sterbend, langlebig, dann mal aufzuhören:

Ewige Idole.

Exaltation, Entrücktheit und Ekstase;

Das Sinnfällige ihr Geburtsschoß doch,

Das Rund mit seinem Triebe zu gestalten, gestalten und gestalten,

Das ungeheure Erd-Idol.

All' Raum und alle Zeit,

(Die Sterne, die furchtbaren Sonnenrevolutionen; Sie schwellen auf und sinken, enden, erfüllen ihren längeren oder kürzeren Zweck):

Einzig gefüllt sie von Idolen.

Die stillen Myriaden,

Die unendlichen Ozeane, in die alle Ströme münden,

Die abgesonderten, zahllosen freien Identitäten, wie das Sichtbare,

Die wahren Realitäten: Idole.

Nicht dies die Welt,

Noch diese die Weltalls, noch sie alle Weltalls:

Sinn und Ende und des Lebens ew'ges Leben,

Idole! Idole!

Über deine Vorlesung hinaus, gelehrter Lektor,

Über alle deine Teleskope, deine Spektroskope, scharfsichtiger Beobachter, und über alle Mathematik,

Über des Arztes Chirurgie und Anatomie hinaus und aller Chemiker Chemie

Des Seienden Sein: Idole.

Unstetes oder Stetes:

Immer werden sein, immer sind gewesen, immer sind

Und schwingen Gegenwärtiges in Zukunft endlos

Idole! Idole! Idole!

Der Seher und der Sänger,

Soll sie noch wahren und in höhere Stufen leiten jetzt,

Vermitteln jetzt der Demokratie und Neuzeit und soll ihnen deuten:

Gott und die Idole.

Und meine Seele, du!

Deine Wonnen, unablässigen Betätigungen und Begeisterungen,

Dein unersättlich Sehnen, schließlich doch gestillt, geschaffen um gestillt zu werden, Sind deine Weggeleiter: Idole!

Dein ewiger Leib,

Dein in diesem Leib verborgener Leib,

Der einzige Sinn der Kunstform und das wahre Ich und Selbst:

Ein Bild und ein Idol.

Deine wahren Lieder, die nicht deine Lieder sind,

Und nicht besondre Singweisen und nicht um ihrer selber willen sind,

Sondern aus dem Ganzen kommen und steigen bis zum Höchsten und fluten:

Ein volles und gerundetes Idol.

Für ihn, den ich singe

Für ihn, den ich singe,

Baue ich die Gegenwart auf die Vergangenheit,

(Gleich einem immerdauernden, von seinen Wurzeln emporsteigenden Baum die Gegenwart auf die Vergangenheit),

Erweitere ihn mit Zeit und Raum und verschmelze die ewigen Gesetze,

Um durch sie ihn selbst zu seinem eigenen Gesetz zu machen.

Auf Reisen durch die Staaten

Auf Reisen durch die Staaten brechen wir auf,

(Ja, durch die Welt von diesen Liedern getrieben,

Treiben wir hinfort zu jeglichem Land, zu jeglicher See),

Wir, willig alles zu lernen, alles zu lehren, alles zu lieben.

Wir haben beobachtet, wie die Jahreszeiten sich selbst entfalteten und vorübergingen,

Und haben gesagt: weshalb sollte ein Mann oder ein Weib nicht ebenso tun, wie die Jahreszeiten und ebenso sich entfalten?

Wir verweilen eine Zeit in jeder Stadt und jedem Flecken;

Wir ziehen durch Kanada, den Nordosten, das weite Mississippital und die Südstaaten;

Wir verhandeln in gleicher Weise mit jedem der Staaten:

Wir stellen Prüfungen mit uns selbst an und laden Männer und Weiber, uns zu hören;

Wir sagen zu uns selbst: Sei eingedenk, fürchte dich nicht, sei lauter, verkünde den Leib und die Seele,

Verweile eine Zeit und ziehe dann weiter; sei ergiebig, mäßig, keusch und magnetisch,

Und was du ergießest, wird dann wiederkehren, wie die Jahreszeiten wiederkehren

Und wird genau so viel wert sein wie sie.

Der ich unerschütterlich

Der ich unerschütterlich und mit Gelassenheit in der Natur stehe,

Herr oder Herrin über alles, fest mitten im Bereich der vernunftlosen Dinge,

Beseelt wie sie, passiv, empfänglich, und wie sie in Schweigen,

Finde meine Beschäftigungen, Armut, Ruhm, Schwächen, Verbrechen weniger wichtig als ich glaubte;

Ich, an der mexikanischen See, oder in Mannahatta, oder in Tennessee, oder fern im Norden oder im Inland,

Ein Mann vom Fluß, oder ein Mann der Wälder, oder irgendein Farmer dieser Staaten, oder von der Küste oder den kanadischen Seen,

Ich, wo immer auch ich mein Leben lebe: o, Zufällen gegenüber im Gleichgewicht zu sein!

Der Nacht, dem Sturm, Hunger, Spott, Unfällen, Niederlagen Widerstand zu leisten wie Baum und Tier!

Als ich meine Studien begann

Als ich meine Studien begann, gefiel mir der erste Schritt so wohl;

Die bloße Tatsache des Bewußtseins, diese Gestaltung, die Kraft der Bewegung,

Das geringste Insekt oder Lebewesen, die Sinne, Gesicht, Liebe;

Der erste Schritt schon, sag' ich, erweckte mir Ehrfurcht und gefiel mir so wohl.

Rüstig rückte ich vor und wünschte, rüstig wohl noch weiter vorzurücken;

Doch steh' ich nun und vertändle alle Zeit, dies alles in verzückten Liedern zu besingen.

Ich höre, daß man mich anklagt, ich wolle die Institutionen zerstören

Ich höre, daß man mich anklagt, ich wolle die Institutionen zerstören;

Doch in Wirklichkeit bin ich weder für noch gegen die Institutionen.

(Was überhaupt habe ich mit ihnen gemein, oder was mit ihrer Zerstörung?)

Einzig will ich in Mannahatta und in jeder Stadt dieser Staaten, im Inland und an der Seeküste,

In den Feldern und Wäldern, und über jeden Kiel, groß und klein, der das Wasser furcht,

Ohne Bauwerke, Regeln, Vertrauensmänner oder irgendeine Beweisführung

Einrichten die Institution der teuren Liebe von Kameraden.

Beginner

Wie sie für das Erdendasein vorbestimmt sind, (und periodisch auch erscheinen),

Wie wertvoll und fruchtbar sie der Erde sind;

Wie sie sich mit sich selbst zurechtfinden, ebensogut wie mit irgend etwas anderem – so paradox ihr Zeitalter sich darstellt;

Wie die Menge auf sie reagiert, ohne sie doch zu erkennen;

Wie da in allen Zeitaltern in ihrem Schicksal etwas Erbarmungsloses liegt;

Wie alle Zeitalter sich in den Gegenständen ihrer Verehrung und Belohnung vergreifen;

Und wie derselbe unerbittliche Preis immer wieder gezahlt werden muß für denselben großen Kauf.

Den Staaten

Den Staaten oder einem beliebigen von ihnen oder einer beliebigen Stadt der Staaten:

»Widersetzt euch viel, gehorcht wenig!«

Einmal unbesehens gehorcht heißt einmal völlig versklavt,

Einmal völlig versklavt aber wird weder eine Nation, noch ein Staat, noch eine Stadt der Erde nachher jemals ihre Freiheit wiedergewinnen.

Obgleich ich immer die Einheit singe

Obgleich ich immer die Einheit singe,

(Die jedoch aus Widersprüchen wird): so weih' ich doch der Nation, Laß ich in ihr doch den Aufruhr. – (Oh heimliches Recht der Empörung! Oh unauslöschliches und unentbehrliches Feuer!)

Ich höre den Gesang Amerikas

Ich höre den Gesang Amerikas; höre seine mannigfachen Hymnen;

Die der Werkleute; jeder singt die seinen, je nachdem, heiter oder ernst;

Der Zimmermann die seine, wenn er seine Bohle mißt oder seinen Balken;

Der Maurer die seine, wenn er sich an seine Arbeit begibt oder Feierabend macht;

Der Bootsmann singt, was mit ihm und seinem Boot zu tun hat; der Matrose singt auf seinem Dampfboot;

Der Schuhmacher auf seinem Schemel, der Hutmacher Sonnenuntergang.

Das Preislied des Sägemüllers, des Pflugknechtes auf seinem Stand;

Das wundersame Lied der Mutter oder des jungen Weibes bei seiner Arbeit, oder des

Mädchens beim Nähen oder Waschen;

Ein jeder singt das, womit er zu tun hat, oder sie, und von nichts sonst;

Der Tag, was des Tages ist – und zur Nachtzeit die Kumpanei der jungen Burschen: fröhlich, herzhaft

Singt sie aus voller Kehle ihre kräftigen und melodischen Lieder.

Dichter der Zukunft

Dichter der Zukunft! Redner, Sänger, Musiker der Zukunft!

Nicht das Heute kann mich rechtfertigen noch Antwort geben auf die Frage nach meiner Bestimmung,

Wohl aber ihr, ein neues Geschlecht, eingeboren, athletisch, festländisch, größer als alle bisherigen.

Erhebt euch! Denn ihr müßt mich rechtfertigen!

Ich für mein Teil schreibe nur ein Wort oder zwei andeutungsweise für die Zukunft;

Nur für einen Augenblick tret' ich hervor, um dann gleich wieder in Dunkel zu tauchen.

Ich bin ein Mann, der dahinschlendert ohne völlig anzuhalten, der einen gelegentlichen Blick euch zuwirft und dann sein Gesicht wieder abwendet,

Der es euch überläßt, zu beweisen und zu deuten,

Und der die Hauptsache von euch erwartet.

Schließt eure Tore nicht

Schließt eure Tore nicht vor mir, ihr Bibliotheken;

Denn das, was auf euren wohlgefüllten Brettern fehlte und doch am dringendsten gebraucht wird, das bring' ich!

Aus Kampf und Streit tauch' ich empor und habe ein Buch verfaßt:

Nichts seine Worte, alles sein Geist.

Ein Buch für sich, nicht verwandt mit den andern und vom Intellekt nicht begriffen,

Aber ein ausgesprochen Geheimes wird euch von jeder Seite entgegenschauen.

Salut au monde

1.

Oh nimm meine Hand, Walt Whitman!

All das Gleiten solcher Wunder! All solche Gesichte und Töne!

All solche Verknüpfung unendlicher Glieder, ein jedes an das nächste gekettet;

Jedes allen andern entsprechend; jedes die Erde mit allen andern teilend!

Was dehnt sich in dir, Walt Whitman?

Was für Wogen und was für dampfendes Erdreich?

Was für Klimate? Was sind das hier für Menschen und Städte?

Wer sind diese Kinder? Einige beim Spiel, andre im Schlummer?

Wer sind diese Mädchen? Wer sind diese Eheweiber?

Wer sind diese Gruppen von Greisen, die langsam einherschreiten, die Arme einander auf den Nacken gelegt?

Was für Flüsse sind das? Was sind das für Wälder und Früchte?

Wie heißen die Berge, die so hoch in den Nebel hineinsteigen?

Was für Myriaden von Wohnungen sind dies, die von Bewohnern wimmeln?

2.

In mir weitet sich Weite, dehnt sich Länge.

Asien, Afrika, Europa liegen im Osten – für Amerika vorgesehen ist der Westen;

Den Bauch der Erde umgürtend windet sich der heiße Äquator;

Sorgsam im Norden und Süden dehnen sich die Enden der Achse.

In mir ist der längste Tag – in schrägen Ringen kreist die Sonne, monatelang geht sie nicht unter.

Zu ihrer Stunde steigt in mir die Mitternachtssonne empor; sie hebt sich kaum über den Horizont und sogleich senkt sie sich wieder.

In mir sind Zonen, Meere, Katarakte, Forste, Vulkane, Gruppen,

Die Sunda-Gruppe, Polynesien und die großen Inseln von West-Indien.

3.

Was hörst du, Walt Whitman?

Ich höre den Handwerker singen und höre das Farmerweib singen,

Aus der Ferne hör' ich in der Morgenfrühe die Laute der Kinder und der Tiere;

Ich höre die wetteifernden Schreie der Australier, die wilden Pferden nachjagen;

Ich höre den spanischen Tanz mit Kastagnetten im Schatten der Kastanien, zu Geige und Gitarre.

Ich höre endloses Getöse von der Themse her;

Ich höre wilde französische Freiheitslieder;

Ich höre des italienischen Gondoliers melodisches Rezitativ alter Gedichte;

Ich höre die Heuschrecken in Syrien, wie die Schauer ihrer schrecklichen Wolken niederrauschen auf Getreide und Gras;

Ich höre den koptischen Kehrreim bei Sonnenuntergang schwermütig auf die Brust der dunklen, ehrwürdigen, mächtigen Mutter herabfallen, den Nil;

Ich höre das Zirpen des mexikanischen Maultiertreibers und die Glöckchen des Maultieres,

Ich höre den Ruf des arabischen Muezzin von der Zinne der Moschee herab,

Ich höre die christlichen Priester vor dem Altar ihrer Kirchen, ich höre den respondierenden Baß und Sopran;

Ich höre den Schrei des Kosaken und die Stimme des Matrosen, wenn er bei Otosk in See sticht;

Ich höre das Keuchen des Sklavenzuges, wenn die Sklaven vorwärts marschieren,

wenn die heiseren Scharen vorbeischreiten zu zwei und drei, mit Hand- und Fußschellen aneinander gebunden;

Den Hebräer höre ich seine Chronik und seine Psalmen lesen;

Ich höre die rhythmischen Mythen der Griechen und die kräftigen Legenden der Römer;

Ich höre die Erzählungen vom göttlichen Leben und blutigen Tod des holden Gottes, des Christ;

Ich höre den Hindu seine Lieblingsschüler die Sprüche der Liebe und der Kriege lehren, die von Dichtern, welche vor 3000 Jahren schrieben, treulich bis auf diesen Tag überliefert wurden.

4.

Was siehst du, Walt Whitman?

Wer sind die, die du grüßest, und die einer nach dem andern dich grüßen?

Ein großes rundes Wunder seh' ich sich durch den Raum wälzen;

Ich sehe kleine Güter, Dörfer, Ruinen, Friedhöfe, Gefängnisse, Fabriken, Paläste,

Spelunken, Hütten der Wilden, Nomadenzelte auf der Oberfläche;

Ich sehe den beschatteten Teil auf der einen Seite, wo man schläft, und den von der Sonne beleuchteten auf der andern Seite;

Ich sehe den seltsamen raschen Wechsel von Licht und Schatten;

Ich sehe ferne Länder, ihren Bewohnern nicht sicherer und näher als mir mein Land.

Ich sehe gewaltige Wassermassen.

Ich sehe Bergspitzen, ich sehe die Sierren der Anden sich aneinander reihen;

Deutlich gewahre ich den Himalaja, den Tschian-Schan, den Altai und die Ghats;

Ich sehe die mächtigen Zinnen von Elbrus, Kasbek und Basardjusi;

Ich sehe die steirischen Alpen und die karnischen Alpen;

Ich sehe die Pyrenäen, den Balkan, die Karpathen und nach Norden die Dovrefjields und fern im Meer den Hekla;

Ich sehe den Vesuv und Ätna, das Mondgebirge und die roten Berge von Madagaskar;

Ich sehe die libyschen, arabischen und asiatischen Wüsten;

Ich sehe die ungeheuren, furchtbaren arktischen und antarktischen Eisberge;

Ich sehe die größeren Ozeane und die kleineren, den atlantischen und den stillen

Ozean, das Meer von Mexiko, das brasilianische und das Meer von Peru;

Die Gewässer von Hindostan, das chinesische Meer und den Busen von Guinea;

Die japanischen Gewässer, die liebliche Bucht von Nagasaki, eingeschlossen in ihren Bergen;