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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74092-818-6
Graf Andreas von Wildenstein war aus dem Wald getreten und überlegte, welchen Weg er nun einschlagen sollte. An seinem Gesicht war unschwer zu erkennen, daß ihm heute nichts vor den Lauf gekommen war.
Sein Blick glitt kurz in die Runde. Jetzt bemerkte er drüben im Hintergrund, wo die goldgelben Weizenfelder in der Sonne glänzten, einige dunkle Punkte und vernahm auch schon das monotone Geräusch des Mähdreschers. Ruckartig nahm er das Fernglas zur Hand und ließ es im selben Augenblick mit einem Fluche sinken.
»Da hört doch alles auf!«
Mit weiten Schritten eilte er den Hang hinunter und stand bald zornrot auf dem Grenzacker.
»Was soll das?« herrschte er die Leute an.
Einige Frauen wandten überrascht den Kopf. Niemand hatte den Grafen herankommen sehen. Endlich trat der Gutsverwalter Lorenzen zögernd auf ihn zu.
»Habe ich nicht ausdrücklich befohlen, daß ihr erst drüben hinter der Pappelallee beginnen sollt?«
»Aber – aber es ist doch besser, Herr Graf, wenn wir hier anfangen. Graf Rochus ist auch dieser Auffassung…«, stotterte Lorenzen und blickte etwas verlegen zu Boden. Er kannte den alten Grafen nur zu gut und ahnte in diesen Sekunden nichts Gutes.
»Ach, so ist das! Jetzt kenne ich mich aus, Lorenzen. Es ist ja nicht das erste Mal, daß Sie gegen meinen Befehl handeln, und anscheinend steckte immer schon mein Sohn dahinter, sonst würden Sie sich doch nicht so stark fühlen. Aber daß Sie sich nur nicht verrechnen! Es täte mir leid um Sie. Sie sind wirklich ein tüchtiger Bursche…«
Während der Graf aus seiner Joppentasche eine dicke Zigarre hervorholte und anzündete, glaubte der Gutsverwalter, der Zorn des Gutsherrn habe sich schon wieder gelegt. Er wollte eben eine Lanze für den jungen Grafen brechen, als Andreas von Wildenstein von neuem losdonnerte: »Daß es in Zukunft keinen Irrtum mehr gibt, Lorenzen! Noch befehle ich, oder hat Ihnen vielleicht Graf Rochus schon einmal Ihren Monatslohn ausbezahlt?«
»Aber die Felder drüben hinter der Pappelallee sind viel zu feucht. Es wäre ja direkt ein Unsinn…«
»Ein Unsinn ist es, daß ich so lange zugesehen habe«, schrie der Graf, und seine Adern an den Schläfen schwollen von neuem an. »Am besten wird es sein, Sie suchen sich eine andere Stelle. Ich kann mir das nicht länger bieten lassen.«
»Ist das Ihr Ernst, Herr Graf?«
»Ja, glauben Sie, ich rege mich nur zum Spaß auf? Sie können schon morgen gehen.«
»Und die Kündigungsfrist?«
»Sie bekommen selbstverständlich Ihr Geld für die nächsten drei Monate. Aber Leute, die nicht gehorchen können, kann ich nicht brauchen.«
»Ich pfeife auf Ihr Geld! Der Schartegg drüben nimmt mich sofort«, schrie Lorenzen jetzt nicht weniger laut. »Aber Sie werden noch manches bereuen. Und – und wenn Sie nicht auf Ihren Sohn hören wollen, geht es mit Wildenstein noch ganz bergab. Sie können sich ja nie von Ihren überalterten Ansichten trennen.«
Graf Andreas hatte die Worte des Verwalters schon nicht mehr gehört. Er schritt bereits über den sanft gewölbten Wiesenhang dem Schloß zu.
Er hatte heute keinen Blick für die Schönheit des Schloßparkes. Er vernahm auch nicht das bunte Vogelstimmengewirr aus den hohen Kronen der alten Ulmen, sondern hastete der breiten Terrasse zu, wo er bereits von dem alten Diener Joseph erwartet wurde, der ihm Gewehr und Joppe abnahm.
»Ich will in der nächsten Stunde von niemand gestört werden«, rief er dem Diener noch zu, bevor er sein Arbeitszimmer betrat.
Mißmutig hob er daher den Kopf, als er einige Zeit später durch ein dreimaliges hartes Klopfen dennoch aus seinen Gedanken gerissen wurde. Ohne das »Herein!« des Vaters abzuwarten, betrat sein ältester Sohn, Rochus, das Zimmer.
»Entschuldige, Vater, daß ich so hereinplatze! Aber die Sache duldet keinen Aufschub… Es kann doch nicht dein Ernst sein, daß du Lorenzen gekündigt hast. Das könntest du höchstens in einer uns allen unverständlichen Erregung getan haben. Ich nehme deshalb an, daß du sie jetzt, nachdem du dich beruhigt hast, wieder zurücknimmst.«
»So?« Graf Andreas sprang auf. »Du scheinst anzunehmen, daß du auch über mich verfügen kannst, wie es dir beliebt.«
»Keinesfalls, Vater. Ich bitte dich nur. Du weißt genau, daß Lorenzen bessere Angebote ausgeschlagen hat. Du kannst ihn doch jetzt nicht wegen einer Lappalie wegschicken.«
»Eine Lappalie nennst du das, wenn ihr stets gegen meinen ausdrücklichen Befehl handelt?«
Graf Andreas warf den Bleistift auf den Schreibtisch und ging langsam auf das Fenster zu. Er war ein Mann wie eine Eiche. Kein Mensch sah ihm an, daß er schon bald sechzig war. Sein Gesicht wirkte streng, aber straff und glatt spannte sich die Haut über die leicht vorspringenden Backenknochen. Schroff sprang das Kinn unter seinen schmalen Lippen vor, wie gemeißelt muteten die Linien seiner Nase und der eckigen Stirn an. Die graublauen Augen strahlten ganz selten eine gewisse Freundlichkeit und Leutseligkeit aus – meist lag ein gefährlicher grünschillernder Ton in ihnen. Dann wußte jedermann im Schloß, daß man dem Grafen am besten aus dem Wege ging. Wenn irgendetwas auf sein Alter hinwies, so waren es die zahlreichen Silberfäden, die sein Haar durchwoben.
»Lorenzen geht! Ich nehme mein Wort nicht mehr zurück. Er fällt schon seit langem unangenehm auf. Einmal läuft eben der größte Krug über.«
»Du tust ihm unrecht, Vater.«
»Außerdem gefällt mir sein anmaßendes Benehmen nicht mehr. Der Kerl glaubt, ohne ihn gehe es nicht auf Wildenstein.«
»Ich gebe zu, daß manches einen falschen Anschein erwecken mußte. Aber ich möchte dir auch jetzt wiederum versichern, daß Lorenzen nichts ohne meine Einwilligung getan hat.«
»Na also! Genauso habe ich es mir ja vorgestellt. Mein Herr Sohn sieht seinen Vater als rückständigen Menschen an. Jetzt verstehe ich alles, was ihr während meiner Abwesenheit hier getrieben habt. Aber so schnell erweise ich euch nicht wieder den Gefallen, daß ich fünf Wochen lang fortbleibe, damit ihr hier allerhand neuen Krimskrams anschaffen und vielleicht noch eine schöne Summe Geldes zur Seite bringen könnt.«
»Vater…!«
»Ich eröffne dir hiermit, daß künftig auch kein Rechen oder keine Milchkanne gekauft wird, ohne daß vorher mein Einverständnis eingeholt worden ist.«
Rochus spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß. Er wollte auffahren, aber er konnte sich bezwingen.
»Eigentlich müßte ich dir ebenfalls kündigen, Rochus, wenn du gar so warm für diesen Burschen Partei ergreifst. – Und jetzt lasse mich bitte allein!«
»Also ist der Fall Lorenzen damit erledigt?«
»Ja.«
»Du wirst dann wohl verstehen, Vater, daß ich – ich meine, daß mir dann auch keine andere Wahl bleibt. Lorenzen hat stets nur auf meine ausdrücklichen Anweisungen hin gehandelt. Ich muß mich vor ihn stellen.«
»Was willst du damit sagen?«
»Daß ich keinen Grund mehr sehe, auf Wildenstein zu bleiben, wenn Lorenzen gehen muß, zumal wir beide uns ja niemals recht verstanden haben.«
Graf Andreas lachte böse auf. Nach kurzem Besinnen schüttelte er den Kopf. Es zuckte um seine Nasenflügel.
»Ich kann dich nicht halten, mein Sohn. Tue, was dir beliebt! Stephan ist ja auch noch da. – Aber du bist dir doch im Klaren, was dieser Schritt für dich bedeutet.«
»Selbstverständlich!« In den Augen des Jüngeren lag eine tiefe Trauer. Fast versagte ihm die Stimme, als er weitersprach. »Du tust mir eigentlich leid, Vater! Man müßte beinahe den Eindruck haben, du hast ganz vergessen, aus welchem Geschlecht du stammst. Kein Wunder, wenn dich alle fürchten, da du immer nur dich und deinen Willen kennst. Jetzt ist mir endgültig klargeworden, warum auch unsere verstorbene Mutter so selten lachte.«
»Verlasse jetzt augenblicklich den Raum! Ich könnte mich sonst vergessen!« schrie Graf Andreas mit dunkelrotem Gesicht. »Ja, du hast recht. Wir haben uns niemals verstanden. Du hast dich ja schon mit zehn Jahren gegen mich aufgelehnt, als ich dich ins Internat stecken wollte. Geh jetzt! Doktor Novatius wird dir mitteilen, wann du mit der Auszahlung deines dir zustehenden Erbteiles rechnen kannst.«
Rochus wich keinen Schritt zurück, obwohl der Vater jetzt unmittelbar vor ihm stand. Er fürchtete den zornfunkelnden Blick nicht, sondern antwortete in ruhigem Ton: »Darum sollst du dir keine Sorgen machen, Vater. Nur die mir von Mutter hinterlassene Summe aus ihrem persönlichen Besitz hätte ich gerne… Und nun wünsche ich dir und Stephan alles Gute.« Er drehte sich um und verließ den Raum.
Graf Andreas ließ sich müde in einen Sessel sinken und barg den Kopf in seinen Händen. Keuchend ging sein Atem, und seine Lippen bewegten sich, aber sie brachten kein Wort hervor. Er ließ seinen Sohn gehen und rief ihn nicht zurück.
*
Der D-Zug war mit Urlaubsreisenden überfüllt. Aber als Ina Trautberg in Miesbach in die Kleinbahn umgestiegen war, hatte sie ein Abteil für sich allein.
Das Getriebe der vielen Menschen um sie her war eine Art von Einsamkeit gewichen, an die sich die schlanke dunkelhaarige Ina erst noch gewöhnen mußte. Sie haßte zwar das Geschiebe und Gedränge, aber es hatte ihr dennoch wohlgetan und sie abgelenkt von manch schweren Gedanken.
Etwas gelangweilt betrachtete sie das bunte Plakat der Bahnverwaltung. »Wir fahren immer sicher und schnell«, stand da zu lesen, und sie konnte ein leichtes Schmunzeln nicht unterdrücken, denn schüttelnd und schaukelnd bewegte sich eben der Zug durch die grüne Wiesenwelt des Alpenvorlandes. Es kam ihr vor, als wenn er direkt asthmatisch dahinkeuchte. Er schien schon ganz schöne Steigungen überwinden zu müssen, und die schrillen Pfiffe, die er wegen der zahlreichen schrankenlosen Bahnübergänge ausstieß, klangen fast wie Hilferufe.
Es konnte wohl nicht mehr lange dauern, bis sie ihr Ziel erreicht hatte. Gleichmäßig trommelte ein erst vor kurzem überraschend aufgekommener Gewitterregen an die Fensterscheibe des Abteils und lief in dünnen Rinnsalen über das blanke Glas.
Ina erhob sich und preßte ihr zartes Gesicht dicht an die Scheibe. Eine Weile stand sie so und starrte in die Landschaft hinaus, über die sich ein Regenbogen spannte. Plötzlich war ihr zum Heulen zumute, und in ihre glänzenden Augen stiegen tatsächlich Tränen, die sie jedoch entschlossen fortwischte.
Langsam setzte sie sich wieder, strich mit graziöser Bewegung das nachtdunkle Haar aus der Stirn, hielt dann die Hände im Schoß gefaltet und sah müde vor sich hin. Ihr blasses Gesicht wirkte reifer, als es einem Menschen von sechsundzwanzig Jahren zukam.
Jetzt fuhr der Zug klappernd über eine Weiche und wurde wesentlich langsamer. Der Zugschaffner ging durch den Wagen.
»Gleich halten wir in Wildenstein, Fräulein!« vernahm Ina seine freundliche Stimme.
Sie dankte mit einem zurückhaltenden Lächeln und ließ es gerne geschehen, daß er ihren Koffer aus dem Gepäcknetz herunterholte. Sie legte das bunte Seidentuch um den Hals und hüllte sich in den leichten Popelinemantel, den sie sich ganz nach ihrem eigenen Geschmack geschneidert hatte.
Als der Zug hielt, hob ihr der Schaffner den Koffer aus dem Wagen und winkte ihr freundlich zu. Sie war die Einzige, die hier ausstieg. Etwas hilflos stand sie da. Sie sah wohl das saubere Stationsgebäude mit dem roten Ziegeldach und las die Aufschrift ›Wildenstein‹, aber weit und breit zeigte sich kein Haus. Wohin ihre Augen auch schweiften – nur Wiesen und Felder, dazwischen einige kleinere Baumgruppen und dahinter die dunkle Wand des Waldes.
Glücklicherweise hatte nun der Regen wieder nachgelassen. Der Mann mit der roten Dienstmütze hatte ihren Blick richtig gedeutet. Nachdem sich das Züglein langsam wieder in Bewegung gesetzt hatte und schwer keuchend hinter der nahen Biegung verschwand, kam er gemächlich heran.
»Ja, Fräulein, das ist leider so bei uns. Die Bahnstation liegt eine gute halbe Stunde außerhalb des Dorfes. Aber Sie haben einen schönen Weg durch den Wald. Gleich hinter dem Bergrücken sehen Sie übrigens schon das Schloß, dann ist es gar nimmer weit.«
Ina fröstelte es, innen und außen. Sie schlug den Mantelkragen hoch, streifte jetzt erst die hellbraunen Lederhandschuhe über und straffte ihre schlanke Gestalt. Etwas mühsam hob sie den Koffer auf und machte sich auf den Weg, den ihr der Bahnbeamte gezeigt hatte. Wenn ich doch telegrafiert hätte, brauchte ich mich jetzt bestimmt nicht so abzuplagen, ging es ihr durch den Kopf. Graf Rochus hätte mich sicher abholen lassen. Wie er wohl aussieht?
Sie versuchte es, sich von dem Mann, der ihr einen so freundlichen Brief geschrieben hatte, ein Bild zu machen, und während sie in Gedanken bereits auf Schloß Wildenstein weilte, ging sie mit ruhigem, ausgreifendem Schritt durch den Wald. Der schmale Weg stieg leicht an. An beiden Seiten erhoben sich in schweigender, beklemmender Majestät dickstämmige Fichten und Tannen, deren Gezweig im Regen dampfte. Als sie ein Stück gegangen war, mündete der Waldweg in eine schmale Straße ein. Ina mußte öfters stehenbleiben, denn der Koffer wurde immer schwerer. Aber da vernahm sie plötzlich lautes Peitschenknallen und Räderrasseln. Sie trat an den Wegrand, um den Wagen vorbeizulassen.
Es war ein leichter Einspänner, von einer schlanken Fuchsstute gezogen, der rasch herankam. Ein junger Bursche führte die Zügel leicht in der Hand. Er hatte ein scharfgeschnittenes, sonnengebräuntes Gesicht, aus dem eine große Hakennase herausragte. Malerisch saß ihm ein grüner Jägerhut mit einer bunten Feder in verwegenem Winkel auf dem Kopf. Als das Gefährt auf gleicher Höhe mit Ina war, griff der Bursche in die Zügel und brachte den Wagen zum Stehen.
»Wollen Sie mitfahren, Fräulein?«
Ina zögerte ein wenig.
»Gerne, wenn ich darf«, sagte sie dann. Warum sollte sie sich zieren?
Der Bursche sprang flink vom Wagen und hob ihren Koffer hinauf. Dann war er auch Ina beim Aufsteigen behilflich und schwang sich neben sie. Schon knallte die Peitsche wieder, und die Fuchsstute nahm den gewohnten Trab wieder auf.
Eine Weile saßen die beiden jungen Menschen schweigend nebeneinander. Dann fragte der Bursche: »Wohin wollen Sie denn eigentlich?«
»Nach Schloß Wildenstein.«
»So, aufs Schloß? – Machen Sie einen Besuch?«
»Nein, nein. – Ich soll dort als neue Sekretärin anfangen.«
»Und da hat man Sie nicht einmal von der Station abgeholt? Ist wieder ganz typisch für den Alten. Ja, wenn Graf Rochus noch da wäre!«
»Ich war leider so unklug und habe meine Ankunft nicht mitgeteilt. Es konnte ja niemand wissen…«
Der Bursche nickte zustimmend.
Ina wollte ein paar Fragen an den fremden Burschen richten, aber sie tat es doch nicht. Schließlich konnte sie nicht den erstbesten Menschen, der ihr begegnet war, über Schloß Wildenstein ausfragen.
Deswegen war der Faden des Gesprächs zwischen den beiden schon wieder abgerissen aber der sympathische Bursche schien nicht einer von den Redseligen zu sein.
Sie hatten unterdessen die ersten Häuser des Dorfes erreicht.
»Sehen Sie! Da drüben liegt das Schloß!« Der Bursche deutete mit der Peitsche nach links und ließ das Pferd in eine Seitenstraße einbiegen, die wiederum leicht anstieg. »Ich muß zwar nach Bruckegg hinunter, und es ist ein kleiner Umweg für mich, aber ich fahre Sie hinauf. So ein schwaches Geschöpf und so ein schwerer Koffer…«
»Aber das – das kann ich doch nicht annehmen«, stotterte Ina und war doch froh über sein Angebot.
»So! Da wären wir«, sagte der Bursche wenig später, sprang vom Wagen und holte den Koffer herunter. »Ich bin der Bichler- Hannes vom ›Sonnenblick‹. Wenn Sie einmal der Weg zum Jochberg hinüberführt, müssen Sie bei uns einkehren.« Etwas leiser setzte er noch hinzu: »Lassen Sie sich von dem alten Tyrannen da drin nicht alles gefallen!«
»Vielen Dank fürs Mitnehmen, Herr Bichler!«
Nun stand Ina vor dem schmiedeeisernen, kunstvoll gefertigten Tor mit dem Wappen derer von Wildenstein darüber: ein Helm, darunter zwei gekreuzte Schwerter von Rosen umrankt. Das Schloß mit seinen beiden Rundtürmen war erst im Frühling neu geputzt worden, denn hell leuchteten seine Mauern.
Zögernd ging Ina über den Kiesweg der breiten Terrasse zu, spürte den Duft des frischgemähten Rasens und warf einen Blick auf die viereckigen Beete von Vergißmeinnicht. Sie bewunderte den niedrigen Buschflieder und freute sich an dem satten Grün der Linden und Ulmen.
Während sie sich in ihren Gedanken ganz dieser ausgeglichenen Ruhe hingab, die über dem Schloßpark lag, war sie bei der Terrasse angekommen, wo der alte Diener Joseph sie mit seinem gewohnt mißtrauischen Blick in Empfang nahm.
Graf Andreas hatte inzwischen eben einen Berg von Rechnungen und Belegen vor sich liegen, die er kontrollieren wollte. Sein Bleistift glitt über das Papier, und seine Miene hellte sich zusehends auf, da alles auf Heller und Pfennig stimmte.
»Hätte ich mir ja gleich denken können«, brummte er. »Der Rochus hat doch noch niemals für sich gewirtschaftet. Wenn er nur nicht gar so aufsässig gewesen wäre…« Er wurde in seinen Gedanken durch ein bekanntes Klopfen an der Tür unterbrochen. »Ja, herein!« rief er ungeduldig.
Der alte Diener, der auf der Schwelle stand, sagte mit seiner monotonen Stimme: »Ein Fräulein Trautberg möchte Sie gerne sprechen, Herr Graf. Sie sagt, es sei in einer dienstlichen Angelegenheit. Darf ich Sie hereinlassen?«
»So?« Das klang recht unfreundlich. »Ich kenne weder den Namen Trautberg, noch könnte ich mir vorstellen, in welcher Angelegenheit sie kommt.« Graf Andreas schüttelte den Kopf. »Soll hereinkommen!« knurrte er dann ärgerlich. Schon beugte er sich wieder über die Papiere, addierte einige Zahlen und war so in seine Arbeit vertieft, daß er gar nicht bemerkte, wie Ina eintrat.
Sie blieb an der Tür stehen.
»Grüß Gott, Herr Graf! Mein Name ist Ina Trautberg. Ich möchte mich hiermit zum Dienstantritt melden.«
Der Graf hob den Kopf. Seine Augen zogen sich unmerklich zusammen, als er Ina musterte. Er hatte die Gabe, sich in wenigen Sekunden ein scharfumrissenes Bild von einem Menschen zu machen. Sein schneller Blick umfaßte Inas ganze Erscheinung.
Das Bemerkenswerteste an ihr waren zweifellos die großen dunklen Augen, die klar und offen auf ihn gerichtet waren und doch von einer seltsamen, rätselhaften Tiefe zeugten.
»Zu welchem Dienst wollen Sie sich denn bei mir melden?«
Diese unfreundliche Frage schnitt Ina ins Herz.
»Als die neue Sekretärin«, erwiderte sie trotzdem mit fester Stimme.
»Sekretärin? – Da hat sich wohl jemand einen schlechten Scherz mit Ihnen erlaubt. Ich brauche keine Sekretärin. Die dafür anfälligen Arbeiten macht seit Jahr und Tag die Kleebach.«
»Ja, aber Sie haben doch die Stelle im Deutschen Anzeiger ausgeschrieben. Ich habe mich darum beworben, und Sie haben mir auch schriftlich zugesagt.« Ina entnahm ihrem Handtäschchen einige Briefe und hielt sie dem Grafen hin.
Der Graf entfaltete langsam das erste Schreiben und hatte den Inhalt schnell überflogen.
»Natürlich!« brummte er und wies mit dem Finger auf die Unterschrift. »Der Herr Rochus hat wieder einmal selbständig gehandelt, ohne mich nur mit einer Silbe davon in Kenntnis zu setzen.«
Ina bemerkte, wie sich das Gesicht des Grafen verfärbte. Sein Atem keuchte, als er losdonnerte: »Da müssen Sie sich eben von Rochus von Wildenstein anstellen lassen. Der ist aber leider nicht mehr hier. Ich werde Sie nicht brauchen.«
Unwillkürlich fielen ihr die Worte des Bichler-Hannes ein. Dieser Mann, der hier schaltete und waltete, schien tatsächlich ein Tyrann zu sein. Plötzlich stieg eine Welle des Zorns in ihr auf.
»Sie machen sich’s sehr leicht, Herr Graf. Abgesehen davon, daß ich die Strapazen der Fahrt hierher ganz umsonst auf mich genommen haben sollte, wäre da noch einiges zu klären, bevor ich wieder zurückfahre.«
In ihren Augen blitzte es auf, und sie hatte ganz gegen ihre Gewohnheit mit einem heftigen Ruck den Kopf in den Nacken geworfen. Sie senkte auch den Blick nicht, als der Graf nahe an sie herantrat und seine Augen sie zu durchbohren schienen.
Für einen flüchtigen Augenblick wurde die Falte zwischen seinen Brauen wieder sichtbar, ein Zeichen, daß das Barometer auf Sturm stand, dann aber glättete sich plötzlich seine Stirn.
»Sie können natürlich im Schloß übernachten, und ich werde Ihnen eine entsprechende Entschädigung zukommen lassen, aber…«
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür. Stephan, der jüngste Sohn des Grafen, stand auf der Schwelle.
»Verzeihung, Papa! Ich wollte nicht stören.« Dann verbeugte er sich leicht vor Ina.
»Dein Herr Bruder hat sich da wieder etwas geleistet. Will, ohne mich zu fragen, eine Sekretärin einstellen! – Kümmere du dich jetzt um Fräulein Trautberg! Sie wird müde sein. – Von mir aus können Sie auch ein paar Tage hierbleiben«, wandte er sich nun an Ina.
»Wenn Sie mich nicht einstellen wollen, reise ich auch sofort wieder ab. Ich habe weder Zeit noch Geld, um hier Urlaub zu machen! Ich habe mir die Sache überlegt. Ich verzichte auf Ihre Entschädigung. Sie sollen nicht glauben, daß man mit einer gewissen Geldsumme alles erledigen kann. Ich werde mit dieser Enttäuschung fertig. Der Empfang hier war eine eiskalte Dusche auf den freundlichen Brief des Herrn Rochus.«
Graf Andreas holte tief Atem. Er wollte schon wieder auffahren. Eine solche Sprache war er keinesfalls gewohnt. Aber irgendwie verspürte er, daß dieses sympathische Mädchen, das da vor ihm stand, eigentlich im Recht war.
Er holte eine dicke Zigarre aus der Tasche, schnitt die Spitze ab, entzündete sie langsam und tat ein paar tiefe Züge. Versonnen sah er dem Rauche nach, der kräuselnd in die Höhe stieg.
»Wenn ich mir erlauben darf, Papa!« ließ sich Stephan nun vernehmen. »Tante Kleebach kann es wirklich nicht mehr schaffen, schon wegen ihrer Augen nicht. Ich möchte dich nicht kränken, aber in diesem Fall hat Rochus wirklich recht gehandelt.«
Stephan Wildenstein war ein hübscher Bursche. Groß gewachsen wie der Vater, zeigte er auch sonst in seinem äußeren Erscheinungsbild eine auffallende Ähnlichkeit mit ihm. Nur sein Antlitz wirkte etwas weicher, war nicht so von Kraft, Herrschsucht und Stolz gezeichnet.
Etwas ängstlich blickte er nun an dem Gesicht des Vaters vorbei. Er fürchtete wohl eine harte Zurechtweisung und war deshalb nicht wenig erstaunt, als er dessen Stimme vernahm, in einem Tonfall, den er nur höchst selten kannte.
»Also – wenn Sie jetzt noch bei uns bleiben wollen, Fräulein Trautberg…«
Sie nickte und griff zögernd nach der Hand, die ihr der Graf entgegenstreckte. Dabei stellte sie fest, daß er sogar lächeln konnte.
*
Inas Zimmer lag im linken Flügel des Gutshauses, wo auch der neue Verwalter wohnte, der wenige Stunden nach ihrer Ankunft hier eingezogen war.
Wie ein Schmuckkästchen wirkte der nicht allzu große Raum, in den durch ein modernes, breites Fenster viel Licht und Sonne hereinflutete.
In der Mitte stand ein rechteckiger Tisch aus Lindenholz mit vier Stühlen, links das Bett und ein breiter Schrank, gegenüber eine kleine Kommode und eine bequeme Couch. Über der Kommode hing ein großer Spiegel in breitem Barockrahmen. Die hellen Vorhänge, die feingemusterten Tapeten und der zart getönte Teppich verbreiteten echte Wärme.
Ina hatte den ersten Arbeitstag hinter sich. Sie warf sich müde und abgespannt auf die Couch und dachte über alles nach, was sie an diesem Tag erlebt hatte.
Ich sollte eigentlich noch einen Spaziergang machen, fuhr es ihr durch den Kopf.
Schnell sprang sie auf und trat vor den Spiegel. Sie strich zuerst ihr lindgrünes weitschwingendes Baumwollkleid zurecht, kämmte sich und betrachtete lange prüfend ihr Gesicht. Es wirkte blaß und abgehärmt, aber das war kein Wunder, da sie ja erst vor drei Wochen das Krankenhaus nach einer schweren Lungenentzündung verlassen hatte. Kein Wunder auch, daß alles andere nicht spurlos an ihr vorübergegangen war, was sie im vergangenen Jahr durchzustehen hatte. Das bitterste war wohl die Enttäuschung, die ihr ein Mann bereitet hatte, den sie mit allen Fasern ihres jungen, reinen Herzens geliebt hatte. Aber noch schlimmer waren der unerwartete Tod des Vaters und die langwierige Krankheit der Mutter gewesen.
Ina verspürte eine eigenartige Enge in ihrem Halse, fühlte die Tränen aufsteigen, und es wollte sie ein ungeahntes Heimweh nach der Mutter überfallen. Aber nein, sie wollte sich heute nicht unterkriegen lassen. Mit wirbelndem Schwung war sie bei der Tür und stürmte aus dem Haus.
Ziellos schlenderte sie über schmale Wiesenpfade und an Feldrainen entlang. Der rötliche Sonnenball stand schon bedenklich nahe dem Horizont, aber von abendlicher Kühle war eigentlich noch nichts zu spüren. Im Gegenteil! Die Luft zitterte noch von dem heißen Brodem des vergangenen schwülen Tages. Bewegungslos hingen die Zweige an den Bäumen, denn kein Lüftchen regte sich.
Ina hatte einen schmalen Waldweg erreicht und sah plötzlich die gleißende Fläche eines kleinen Sees vor sich auftauchen. Welch eine wunderbare Badegelegenheit, dachte sie voller Freude. Jetzt wird es mir hier in Wildenstein noch einmal so gut gefallen! Sie überlegte, ob sie nicht sofort umkehren sollte, um ihre Badesachen zu holen und noch an diesem Abend ein erfrischendes Bad zu nehmen. Aber dann entschied sie sich doch anders und lief noch einige Schritte weiter auf den See zu, um gleich darauf staunend innezuhalten.
Durch das Grün der Zweige erkannte sie zwei Gestalten.
Es war Stephan von Wildenstein mit einem Mädchen, das einen grellroten Badeanzug trug. Der junge Graf frottierte eben mit einem großen Handtuch seinen Körper ab, und das Mädchen schien mit einer ähnlichen Tätigkeit beschäftigt zu sein. Die beiden hatten wohl gar eine richtige Auseinandersetzung, denn Ina erkannte es an ihren Gesten und an ihren erregten Stimmen. Sie konnte alles genau verstehen, was sie sich – vermeintlich ohne Zeugen – zu sagen hatten.
»Ich fürchte, du vergreifst dich im Ton, Franziska«, schrie der junge Graf.
»Ach! Franziska sagst du auf einmal…?« höhnte das Mädchen. »Sonst bin ich immer deine Franzi.«
»Wenn du nicht anders mit mir sprechen willst, gehe ich sofort nach Hause. Ich habe sowieso keine Zeit und auch keine Lust mehr.«
»Mich ins Jagdhaus einzuladen, dazu hast du immer Lust gehabt, du Schuft, du!«
»Ich verbitte mir, Franziska…«
»Du hast dir gar nichts zu verbitten. Du hast dich höchstens daran zu erinnern, was du mir alles versprochen hast.«
Ina fühlte sich nicht besonders wohl in ihrer Lauscherrolle. Sie brauchte aber nicht zu befürchten, daß sie hier entdeckt wurde, wenn sie sich still verhielt. Da vernahm sie schon wieder die Stimme des jungen Grafen, die nun merklich ruhiger klang.
»Eine Heirat habe ich dir nie versprochen, Franzi.«
»Nicht direkt, aber – aber nach all dem, was geschehen ist, mußte ich doch annehmen…«
»Da bist du eben einem gefährlichen Irrtum erlegen.«
»Wunderbar! Wie leicht dir das fällt, mir so etwas ins Gesicht zu schleudern! Ja, ich glaube nun selber schon, daß es so ist, wie du sagst. Ich habe immer gedacht, der Name Wildenstein bedeutet Ehre und Anständigkeit. Glaubst du, ich weiß es nicht, daß du dich seit Wochen schon mit dem Fräulein von Wernberg triffst? Und du bildest dir ein, man kann eine Franziska Bichler wie ein Spielzeug benützen, und wenn man es satt hat, wirft man es in die Ecke? Ich warne dich! Glaube ja nicht, daß ich mich so ohne weiteres abwimmeln lasse.«
»Franzi! Ich bitte dich. Dramatisiere die Dinge doch nicht!«
»Ich dramatisiere gar nichts. Ich sehe die Dinge nur so, wie sie sind. Du gehörst mir. Ich warne dich…«
»Du drohst mir etwa?« rief Graf Stephan jetzt unbeherrscht. »Da hast du aber den falschen Weg eingeschlagen. Ich bin kein kleiner Bub mehr, der sich fürchtet. Mußt mich halt verklagen, wenn du meinst, ich hätte dir die Ehe versprochen. Mir ist jedenfalls nichts davon bekannt. Aber ich habe es satt, mir deine Drohungen und unberechtigten Vorwürfe noch länger anzuhören.«
»Was? – Habe ich dich betrogen oder du mich? Aber die Leute haben schon recht mit all dem, was sie von dir behaupten. Es ist wirklich verwunderlich, daß du der Bruder von Rochus bist. Dich hätte dein Vater aus dem Hause jagen sollen!«
»Ach, laß mich doch in Ruhe!« schrie Stephan wütend und ging einfach davon.
»Du wirst noch an mich denken!« rief ihm Franziska zornig nach, und Ina merkte, wie ihre Worte in Tränen erstickten.
Sie blickte dem Mädchen, das nun auch fortging, noch lange nach. Ja, die Liebe bringt nicht nur Freude, dachte sie. Das habe auch ich schon erfahren müssen. Eine Weile stand sie noch da, bevor sie an den Heimweg dachte. Es überkam sie ein leichter Unwille, weil sie die beiden belauscht hatte, aber schließlich konnte sie doch nichts dafür, daß der Zufall sie um diese abendliche Stunde hierher geführt hatte.
Aber als sie bereits im Bett lag, schwirrten ihr immer noch die seltsamsten Gedanken durch den Kopf.
*
Stephan von Wildenstein stand auf der Terrasse des Schlosses und betrachtete die Glyzinien und den wilden Wein, der sich am Rand der Terrasse emporwand. Ab und zu warf er einen Blick auf die gepflegten Rabatten, die Ziersträucher und die Bäume. Aber seine Gedanken waren weit weg.
Er war selber erstaunt, auf welche Höhe ihn die Liebe zu Franziska Bichler getragen hatte. Jedenfalls war das, was vor ihr gewesen war, ein bedeutungsloses Flirten gewesen. Er hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, wie alles werden sollte, war mit Franzi einfach in ein Boot gestiegen und hatte sich treiben lassen, ohne nach einem Ufer Ausschau zu halten.
Freilich hatte er sich auch schon einige Male gefragt, ob er sie heiraten sollte. Sie war schön, sehr schön. Der Aufenthalt im Internat hatte sie sogar ein wenig hochmütig gemacht. Aber der Vater würde niemals seine Einwilligung zu einer solchen Verbindung geben. Ein Graf und die Tochter eines Gastwirts? Außerdem würde sie kaum mehr als fünfzigtausend Mark mitbringen, und das war auf alle Fälle viel zu wenig.
Nun, die Unterredung am Waldsee drunten hatte wenigstens eine Entscheidung gebracht. Freilich hatte Stephan sich eine Trennung von Franzi anders vorgestellt, aber sie wollte es ja nicht anders. Es war vielleicht am besten so, denn das Mädchen konnte ihm wirklich gefährlich werden. Er hatte jetzt noch ihre drohenden Worte in den Ohren.
Ein bißchen gesitteter hätte sie sich schon aufführen können, dachte er und ärgerte sich, daß sie ihn in so unschöner Form mit Rochus verglichen hatte. Aber er war ehrlich genug, sich einzugestehen, daß sie auch damit recht gehabt hatte. Rochus war wirklich ein Ehrenmann vom Scheitel bis zur Sohle. Eigentlich war es schade, daß Rochus Wildenstein verlassen hatte. Schließlich hätte für ihn, den jüngeren, auch Gut Waldstein genügt.
»Kann mir nicht vorstellen, daß alles so bleiben soll. Wildenstein braucht Rochus’ Hand«, brummte er, drehte sich um und ging zu dem großen Gutsgebäude hinüber, um im Büro einige Anweisungen zu geben, wie ihm der Vater schon vor zwei Stunden aufgetragen hatte.
Er fuhr ein wenig zusammen, als er Ina nicht allein antraf, wie er es als sicher angenommen hatte.
»Guten Morgen allerseits!« grüßte er betont freundlich. »Das ist aber ordentlich, daß sich unsere gute Tante Kleebach immer noch ein bißchen der neuen Sekretärin annimmt. Ich glaube allerdings, daß sich Fräulein Trautbert schon eingearbeitet hat.«
»Mein lieber Junge«, begann Fräulein von Kleebach, eine sehr weitentfernte Verwandte des Gutsherrn, mit ihrer näselnden Stimme, »ich wundere mich eher über dich, daß du seit kurzem so viel und so oft im Büro zu tun hast. Das war doch früher nicht der Fall. – Fräulein Trautberg«, setzte sie um einen Ton lauter fort, »ich muß Sie allen Ernstes vor diesem Charmeur warnen.«
»Aber Tantchen, das ist nicht fair von dir«, lachte er und trat nahe an Ina heran. Er trug eine helle Flanellhose über dem Gürtel blähte sich ein hellblaues Hemd mit offenem Kragen. Er war groß und schlank und wirkte trotz seiner achtundzwanzig Jahre wie ein großer Junge, der eben aus der Schule entlassen worden war. »Ich habe folgende Aufträge meines Vaters zu übermitteln«, begann er nun betont ernst. »Fräulein Trautberg, Sie sollen heute noch schriftlich im Sägewerk wegen der Lieferung der Bretter für die beiden neuen Scheunen anmahnen, die noch diese Woche fertiggestellt werden sollen. Außerdem sollen Sie in der Mühle anfragen, wieviel Zentner Weizen noch heute geliefert werden können. Ferner möchten Sie bitte bei Freiherrn von Schartegg anrufen, ob die Tauschgeschichte wegen des Waldes am Zirnberg nicht noch Zeit hätte bis nach der Ernte.« Er griff nun in die hintere Hosentasche und zog einige Papiere heraus. »Hier sind die Unterlagen. Soll ich diktieren?«
Fräulein von Kleebach blickte Stephan aus großen Augen an. Von dieser Art kannte sie ihn noch gar nicht.
»Gib mir das Zeug! Ich werde alles andere veranlassen. Und jetzt marsch – hinaus! Störe uns nicht bei der Arbeit!«
Stephan nahm diese Aufforderung des alten Fräulein keinesfalls ernst. Er lächelte nur, und seine Augen waren unverwandt auf Ina gerichtet.
Sie trug eine bezaubernde weiße Spitzenbluse mit losen, kurzen Ärmeln und einem dezenten Ausschnitt, die einen wundersamen Kontrast zu ihrem dunklen Haar hervorrief. Es hatte den Anschein, als hätte auch ihr Gesicht heute ein wenig mehr Farbe als sonst.
Gerade jetzt steckte ein Mädchen von etwa achtzehn Jahren den Kopf zur Tür herein.
»Fräulein von Kleebach möchte ins Schloß hinüberkommen. Doktor Karthoff ist da, aber er hat heute nicht viel Zeit.«
»Hat er den neuen Tee dabei wegen meiner Galle? Ja, da muß ich sofort…«, erwiderte Fräulein von Kleebach ganz aufgeregt und trippelte schon zur Tür, nicht ohne zuvor Stephan noch einmal mit einer unmißverständlichen Handbewegung angedeutet zu haben, er solle endlich auch verschwinden. Er kümmerte sich aber nicht im Geringsten darum. Im Gegenteil!
Er setzte ein freches Lachen auf und schien sich mächtig zu freuen, daß der störende Dritte weggerufen worden war.
»Finden Sie es eigentlich nicht scheußlich, Fräulein Trautberg, an einem solch herrlichen Tag hier drinnen sitzen zu müssen?«
Er hatte sich leicht an den Schreibtisch gelehnt und spielte mit einem Bleistift. Unbekümmert richtete er seine Augen auf Inas Blusenausschnitt.
»Sie sollten mich wirklich nicht von der Arbeit ablenken. Fräulein von Kleebach hat schon recht.«
»Buuuuh…!« tat er künstlich aufgebracht. »Sind Sie tatsächlich von einem derartigen Arbeitsgeist beseelt, oder können Sie mich nicht leiden?«
Sie konnte ein leichtes Schmunzeln nicht unterdrücken. Sie blickte ihm offen ins Gesicht, und als er sie jetzt schallend anlachte, mußte sie sich seinem Lachen ergeben. So bezwingend, so ansteckend wirkte es auch bei ihr, deren Gesicht sonst von einem stillen, feierlichen Ernst gezeichnet war.
»Sie haben mir doch selber eben erst einen Stoß Arbeit vorgesetzt und…«
»Jaja, und Sie werden heute bestimmt noch damit fertig.«
»Sie haben wohl gar nichts zu tun? Oder nützen Sie die Gelegenheit, weil Ihr Herr Vater auf der Jagd ist?«
»Erraten! Die Katze ist aus dem Haus, und Thurner, der würdige Nachfolger unseres tüchtigen Lorenzen, arbeitet für zwei. Es wäre übrigens gar nicht auszudenken, wenn alle Leute so gewissenhaft wären wie Sie. Ich versichere Ihnen, wenn Sie so schön brav bleiben, wird Ihnen mein Vater bestimmt schon im nächsten Monat Ihr Gehalt aufbessern.«
»Wie Sie reden!« Ina tat ganz entrüstet. »Haben Sie überhaupt schon einmal einen Menschen ernst genommen?«
»O doch, Sie beispielsweise. Sie muß man ja ernst nehmen. Mein Vater hat Sie übrigens bereits mächtig gelobt. Nicht nur die Art, wie Sie gleich bei Ihrer Ankunft hier aufgetreten sind, hat ihm imponiert, auch Ihre präzise und saubere Korrespondenz hat ihm seine Anerkennung abgerungen. Und das will schon was besagen! Er findet sonst selten ein gutes Wort oder eine Anerkennung.«
Er hatte plötzlich seine Hand auf ihrem Unterarm, und sein Blick ruhte unverwandt auf der feingezeichneten Rundung ihrer Lippen, aber Ina zog ruckartig ihren Arm zurück.
»Bitte, lassen Sie das!«
»Sie sollten nicht so abweisend zu mir sein, Fräulein Ina! Eigentlich haben Sie Ihre Stellung doch mir zu verdanken…«
»Und wenn es so wäre! Das gibt Ihnen noch lange kein Recht, zudringlich zu werden und mich noch länger von der Arbeit abzuhalten.«
»Verzeihung, gnädiges Fräulein! Ich wußte nicht…« Dabei machte er ein so übertrieben bekümmertes Gesicht, daß sie unwillkürlich wieder lachen mußte.
»Ich bewundere Sie, Graf Stephan! Ich…«
»Herrlich! Das hat noch niemand zu mir gesagt!«, freute er sich knabenhaft.
»Aber Sie haben mich noch gar nicht ausreden lassen«, schmollte sie. »Ich wollte sagen, ich bewundere Ihre…«
»Lebenskunst«, lachte er erneut dazwischen. »Das wollten Sie doch sagen, nicht wahr?«
Sie konnte sich nicht verhehlen, daß ihr diese lockere, selbstsichere Art Stephans gefiel. Es kostete sie jetzt tatsächlich ein wenig Überwindung, ein ernstes Gesicht aufzusetzen.
»Warum schauen Sie mich schon wieder so ernst an?« fragte er gleich.
»Weil Sie nur spotten können.«
»Ach, es kommt mir vor, als könnten Sie es mir nie im Leben verzeihen, daß ich Ihnen soeben einige Minuten gestohlen habe. Freilich, mein Bruder Rochus wäre bestimmt sofort gegangen, wenn Sie ihn so schön davonkomplimentiert hätten wie mich.«
Ina starrte vor sich hin. Der Name Rochus, den sie immer wieder zu hören bekam, obwohl der junge Graf nach einem schweren Zerwürfnis mit dem Vater das Schloß verlassen hatte, bedeutete auch ihr bereits etwas Besonderes. Er war es doch, der sie eigentlich nach hier geholt hatte.
»Wissen Sie, Fräulein Ina, ich kann nicht so gut philosophieren wie mein Herr Bruder. Ich kann auch nicht so verständnisvoll über Kunst und ähnliche Dinge reden. Ich bin so ungefestigt, daß mich jede kleine Verlockung des Lebens aus dem Gleichgewicht schleudert. Ich liebe die Sonne und das Wasser. Und Sie würden erröten, wenn Sie noch mehr hörten, was für einer ich bin. Ich liebe die Jugend, ich liebe die Mädchen!«
Sie lachte belustigt über dieses Bekenntnis, aber sie fand im Augenblick kein passendes Wort der Erwiderung.
»Wenn man Sie ansieht, Fräulein Ina, so verrät Ihr blasses Gesicht nur allzudeutlich, daß Sie Sonne, Luft und Wasser viel zu wenig genießen.« Er hatte den Bleistift weggelegt und blickte in ihre dunklen Augen. »Und deswegen sollten Sie auf mich hören und sich mir anvertrauen, um dem eigentlichen Sinn des Lebens nachzuspüren.«
»Was soll ich darunter verstehen?«
»Daß ich Sie zum Beispiel eben eingeladen habe, mit mir einmal zum Waldsee zu gehen, um ein kühles Bad zu nehmen.«
»Und was dann?«
Die Augen, die aus seinem sonnengebräunten Gesicht strahlten, schauten sie unverständig an.
»Haben Sie Angst vor mir? Wir können ja den Verwalter mitnehmen.«
Da lachte sie hell auf. Zum erstenmal seit langer Zeit hatte sie wieder aus vollem Herzen gelacht. Ihr Blick fiel auf seine verächtlichen Lippen. Komisch, dachte sie, sie passen zu seinen ungeschminkten Worten.
»Ich will mir’s überlegen«, murmelte sie und erschrak, denn damit hatte sie ihm eigentlich schon zugesagt.
*
Der Wettergott hatte es diesmal mit der Erntezeit ausnehmend gut gemeint. Ein Tag nach dem anderen spannte sich in wolkenloser Bläue über das Land. Alle Hände hatten zu tun, die reichliche Ernte zu bergen. Auch Stephan ritt nun jeden Tag über die Felder und kontrollierte im Auftrag des Vaters die Arbeit.
Ina hatte ihn schon die ganze Woche nicht zu Gesicht bekommen. Er hatte wohl seine Einladung zu einem Bad im Waldsee ganz vergessen, aber sie wußte nicht, welche Sorgen sein Herz bewegten.
Es war ein lauschiger Abend. Sie saß auf einer kleinen Bank in der Nähe des Springbrunnens. Sie stützte den Kopf in die Hände und sah traumverloren vor sich hin. Ihr Gesicht wirkte müde und war heute besonders blaß. Der Glanz ihrer Augen schien erloschen.
Sie öffnete das kleine moderne Handtäschchen und entnahm ihm einen Brief, den ihr heute der Postbote gebracht hatte. Sie las ihn schon zum wiederholten Male.