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Der Weg der
verlorenen Träume

Rebecca Michéle

edition oberkassel

Dieses Buch widme ich meiner Großmutter und meiner Mutter, beide geboren in Sensburg, ­Ostpreußen, ...

... und den Millionen von Frauen, Männern und Kindern, denen durch einen furchtbaren Krieg, durch Flucht und Vertreibung die Möglichkeit ­genommen wurde, ihre Träume zu verwirklichen.

Prolog

Meersburg am Bodensee, Sommer 1994

Still und blau breitete sich der See vor ihm aus. Segelschiffe glitten geruhsam über das Wasser, in Ufernähe kreuzten Ruder- und Tretboote, die Menschen darin lachten und freuten sich über diesen herrlichen Sommertag. In den Sträuchern zwitscherten Vögel, um die Blüten der Sommerblumen summten Bienen und Hummeln auf der Suche nach süßem Nektar.

Werner Dombrowski ließ seinen Blick über die Idylle schweifen. Unterhalb der inmitten der Weinberge gelegenen Aussichtsterrasse lag Meersburg mit seinen historischen Häusern in der Unterstadt, dem alten Schloss mit den dicken, grauen Festungsmauern und dem Neuen Schloss linker Hand. Am gegenüberliegenden Schweizer Ufer zeichneten sich schemenhaft die Umrisse der Alpen ab. Einige Schritte von ihm entfernt hatte ein älteres Ehepaar auf einer Bank Platz genommen und genoss wie er die herrliche Aussicht. Werner Dombrowski hörte, wie der Mann sagte: »Ist das nicht wunderschön? Zu dumm, dass wir den Feldstecher vergessen haben, mit ihm könnten wir die Alpen noch besser erkennen.«

Die Frau seufzte und erwiderte: »Ich glaube, auf den Bergen liegt sogar noch Schnee.«

Dombrowski schmunzelte, schlenderte zu den beiden hinüber, grüßte freundlich und sagte: »Verzeihen Sie, aber ich habe zufällig Ihr Gespräch mitangehört. Heutzutage verwendet kaum noch jemand den Ausdruck Feldstecher.«

Die Frau lächelte und erwiderte: »Sie haben recht, in meiner Kindheit war die Bezeichnung durchaus üblich.«

Die Frau und ihr Mann waren in Dombrowskis Alter, und er nickte wissend.

»Auf einen solch wundervollen Ausblick waren wir nicht vorbereitet«, sagte der Herr in einem rheinischen Dialekt. »Obwohl man es in jedem Reiseführer nachlesen kann – die Wirklichkeit ist viel schöner und großartiger.«

Werner Dombrowski nahm seinen Rucksack vom Rücken, öffnete ihn, holte sein Fernglas hervor und reichte es der Frau.

»Sie können gern meines nehmen.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen, vielen Dank«, erwiderte der Mann.

»Wenn Sie genau schauen, dann erkennen Sie, dass die Bergkuppen tatsächlich noch schneebedeckt sind«, erklärte Dombrowski. »Ich komme regelmäßig und zu jeder Jahreszeit an den Bodensee und beobachte gern den Wandel der Natur.«

Zuerst blickte die Frau durch das Fernglas, dann reichte sie es ihrem Mann.

»Einfach traumhaft!«

»Sie verbringen Ihren Urlaub am Bodensee?«, fragte Werner Dombrowski.

Die Frau nickte. »Wir wohnen in einem Hotel in Konstanz. Gestern haben wir uns Stein am Rhein, Schaffhausen und den Rheinfall angesehen.«

»Sie sind zum ersten Mal in dieser Gegend? Verzeihen Sie, ich möchte nicht neugierig oder gar aufdringlich wirken«, fügte Dombrowski rasch hinzu.

Die Frau lachte, die Fältchen um ihre Augen hüpften.

»Das sind Sie nicht. Wir mögen den Kontakt zu den Einwohnern.«

»Oh, ich lebe nicht hier, sondern in Rottweil, einer Kleinstadt etwa hundert Kilometer nördlich, an der Autobahn nach Stuttgart gelegen«, erklärte Dombrowski. »Ich bin Mitglied im Schwäbischen Albverein und heute mit dem Bus nach Meersburg gekommen. Allerdings habe ich mich von den anderen abgesondert, manche Momente erlebe ich gern allein.«

»Das verstehe ich«, erwiderte der Mann und gab Dombrowski das Fernglas zurück. »Ich danke Ihnen, Sie sind sehr freundlich. Ich bin Hans Bruckmann, und das ist meine Frau Ingeborg. Verzeihen Sie, dass wir uns bisher nicht vorgestellt haben. Wir leben in Bacharach am Rhein.«

»So was habe ich mir gedacht, denn Ihr Dialekt klingt rheinisch.« Werner Dombrowski schmunzelte. »Leider war ich noch nie in dieser Gegend, es soll aber auch eine sehr schöne Landschaft sein.«

»In der Tat«, bestätigte die Frau, kniff die Augen zusammen und musterte Dombrowski. »Sie sind aber auch kein gebürtiger Schwabe, nicht wahr?«

Dombrowski schüttelte den Kopf. »Obwohl ich seit über vierzig Jahren in Rottweil lebe, habe ich mir das Schwäbische nie richtig angeeignet. Sie, Frau Bruckmann, sprechen aber auch nicht rheinisch.«

»Nein, ursprünglich komme ich aus Ostpreußen«, erwiderte Frau Bruckmann. Bei diesem Wort wurde es Werner Dombrowski warm ums Herz. Er lächelte und antwortete leise: »Ich auch.«

»Das überrascht mich nicht«, sagte die Frau. »Da ist so ein Klang in Ihrer Stimme, den wir Ostpreußen niemals verlieren, gleichgültig, wie lange es her ist, dass wir die Heimat verlassen haben. Aus welcher Gegend Ostpreußens kommen Sie?«

»Aus Sensburg«, antwortete Dombrowski bereitwillig. »Die Polen nennen es heute Mrągowo.«

Die zuvor rosigen Wangen der Frau verloren ihre Farbe. »Auch ich wurde in Sensburg geboren und wuchs dort auf, bis wir fortgingen ... fortgehen mussten.«

»Das gibt es doch nicht!«

»Wie ist denn Ihr Name?«, fragte Frau Bruckmann.

»Dombrowski.«

»Dombrowski?«, wiederholte sie fassungslos, wankte zu der Bank und setzte sich. Ihr Mann eilte an ihre Seite und legte einen Arm um ihre Schultern.

»Was ist mit dir, Inge? Du bist kalkweiß.«

Sie beachtete ihren Mann nicht, sondern starrte Dombrowski an.

»Sind Sie ... sind Sie ... vielleicht mit Hedwig Dombrowski verwandt? Sie hatte eine Schneiderei am Altstädter Markt, aber nein, das kann nicht sein ...«

»Hedwig Dombrowski ist meine Mutter.« Werner Dombrowskis Stimme klang belegt. Er setzte sich neben Frau Bruckmann und griff nach ihrer Hand. Sie war eiskalt. »Kennen Sie meine Mutter?«

Die Frau nickte, das Sprechen fiel ihr sichtlich schwer, und ihre Stimme war so leise, dass Dombrowski Mühe hatte, ihre Worte zu verstehen: »Dann sind Sie ... bist du Werner. Der Bruder von Grete.« Tränen schossen in ihre Augen, und auch Dombrowski hatte einen dicken Kloß im Hals.

»Margarethe ist meine Schwester, ja, und früher nannten wir sie Grete.«

Auf Frau Bruckmanns Gesicht spiegelte sich Ungläubigkeit.

»Ich bin Inge ... Ingeborg ... Bantlin, die Freundin von Grete. Wir ... du, Werner, Grete und ich haben früher im See gebadet, im Winter sind wir mit dem Schlitten den Kilimandscharo hinuntergesaust, wir sagten auch Tivoli zu dem Hügel. In den Ferien war immer ein Cousin von euch aus Königsberg da, ich glaube, sein Name war Gustav.«

Die Erinnerung holte Werner Dombrowski mit einer Wucht ein, als würde die Erde unter seinen Füßen beben. Jetzt erkannte er Inge Bantlin auch.

Ihr Gesicht war zwar von Falten durchzogen, das Haar ergraut, ihre Augen hatten sich aber nicht verändert. Es hatte mal eine Zeit gegeben, da war er ein wenig in die Freundin seiner Schwester verliebt gewesen, aber Inge hatte in ihm nie mehr als einen guten Kameraden gesehen. Und dann war ohnehin alles vorbei ...

»Grete ...«, flüsterte Inge Bruckmann, eine bange Frage im Blick.

Wie in Zeitlupe nickte Werner Dombrowski. »Sie lebt ebenfalls in Rottweil, in der Nähe von Mutter und mir.«

Ingeborg Bruckmann sprang so schnell auf, als wäre sie ein Teenager.

»Ich wähnte euch tot! Viele Jahre habe ich nach Grete und ihrer Familie gesucht, es gab aber keinen Anhaltspunkt, dass ihr es geschafft habt. In den letzten Jahren konnte ich elf Mädchen aus unserer Schule finden, mit Grete sind wir nun dreizehn. Wir treffen uns einmal im Jahr, immer in einer anderen Stadt, wo heute eine von uns wohnt.«

Werner Dombrowski stand auf.

»Sind Sie ... seid ihr mit dem Auto hier?« Inge nickte, und er fuhr fort: »Sollen wir nach Rottweil fahren? Ich melde mich bei meiner Gruppe ab.«

»Das wäre wunderbar!«

Nun strömten Tränen über Inge Bruckmanns Wangen. Ihr Mann legte stützend seinen Arm um ihre Hüfte, und gemeinsam gingen sie zu ihrem Wagen, den sie in der Nähe des Aussichtspunktes geparkt hatten.

Knappe neunzig Minuten später hielt Hans Bruckmann vor einem Mehrfamilienhaus mit blumengeschmückten Balkonen in einer ruhigen Rottweiler Wohngegend.

»Ich spreche zuerst mit ihr«, sagte Werner Dombrowski. »Meine Schwester hat Herzprobleme, ich muss sie langsam vorbereiten.«

Grete öffnete die Tür, erstaunt runzelte sie die Stirn.

»Werner? Was willst du hier?«

Es kam selten vor, dass Werner seine Schwester besuchte. Dombrowski schob sie in die Wohnung und sagte: »Ich glaube, du solltest dich setzen.«

»Ist etwas mit Mutter?«, fragte Grete erschrocken.

Ihre und Werners Mutter war bereits einundneunzig, gesund zwar, in diesem Alter wusste man jedoch nie.

»Mutter geht es gut«, antwortete Werner, »aber unten vor dem Haus stehen Inge und ihr Mann, sie möchten dich besuchen.«

»Inge?«

»Ingeborg Bruckmann, früher hieß sie Bantlin.«

Grete taumelte, griff Halt suchend nach einer Stuhllehne und ließ sich auf diesen fallen.

»Du machst Scherze, Werner!«

Er schüttelte den Kopf und sagte ernst: »Wir trafen uns zufällig in Meersburg. Zuerst konnte ich es auch nicht fassen, es gibt aber keinen Zweifel. Soll ich sie heraufbringen oder regt dich das zu sehr auf? Brauchst du deine Tabletten?«

»Mir geht es gut.« Grete nickte mechanisch. Ihr Herz machte zwar ein paar Stolperer, wenn es aber wirklich stimmte, was Werner behauptete, würde sie jedes gesundheitliche Problem ignorieren.

Eine Minute später fielen sich die Frauen in die Arme.

Jede hatte die andere gleich erkannt, als wären nicht beinahe fünfzig Jahre seit ihrer letzten Begegnung vergangen.

Werner Dombrowski legte eine Hand auf Hans Bruckmanns Schulter und murmelte: »Weiter unten in der Straße gibt es eine Kneipe. Wir sollten ein Bier trinken und die Frauen besser allein lassen.«

Land der dunklen Wälder

und kristall’nen Seen,

über weite Felder

lichte Wunder geh’n.

Starke Bauern schreiten

hinter Pferd und Pflug,

über Ackerbreiten

streift der Vogelzug.

Und die Meere rauschen

den Choral der Zeit,

Elche steh’n und lauschen

in die Ewigkeit.

Tag ist aufgegangen

über Haff und Moor,

Licht hat angefangen,

steigt im Ost empor.

»Ostpreußenlied«

Musik: Herbert Brust (1900–1968)

Text: Erich Hannighofer (1908 – 1945 – verschollen)

EINS

Sensburg, Ostpreußen, 11. November 1918

»Hedi ...«

Der Ruf wurde von einem bellenden Husten unterbrochen. Hedwig legte den Lappen, mit dem sie das Geschirr abgewaschen hatte, beiseite und eilte die Stiege in den ersten Stock hinauf. Mit fieberglänzenden Augen saß die kleine Anna aufrecht in ihrem Bettchen. Als die Schwester das Zimmer betrat, keuchte das Kind: »Tut so weh ...« Ihre Worte gingen in einem weiteren Hustenanfall verloren. In Annas Brust rasselte es wie bei einem Schwertkampf.

»Ich weiß, mein Schatz, ich weiß.« Hedwig schloss den fieberheißen Körper ihrer siebenjährigen Schwester in die Arme. »Du wirst bald wieder gesund sein, du musst nur immer schön die Medizin nehmen.«

»Die ist so bitter.« Tränen kullerten über die blassen Wangen des Kindes.

»Je bitterer eine Medizin schmeckt, umso besser wirkt sie«, sagte Hedwig leichthin, dabei war ihr nicht zum Scherzen zumute. Seit zwei Wochen hielt die schwere Erkältung Anna im Griff, und sie hatten alles versucht, eine Lungenentzündung zu verhindern. Der Arzt hatte eine schwere Bronchitis diagnostiziert und eindringlich darauf hingewiesen, dass das Kind warm gehalten werden und regelmäßig kräftige Nahrung zu sich nehmen müsse.

»Wo ist Mutti?«, keuchte Anna und schnappte nach Luft. »Warum kommt Mutti nicht?«

»Mutti ist sehr müde und schläft. Du weißt doch, dass sie um diese Jahreszeit immer starke Schmerzen hat.«

Anna nickte ernst. »Muss Mutti sterben?«

Schnell schloss Hedwig die kleine Schwester in die Arme.

»Aber nein, Anna! Mutti braucht nur ein wenig Ruhe, morgen kommt sie wieder zu dir.«

Elf Kindern hatte Auguste Mahnstein das Leben geschenkt, sieben hatten das Säuglingsalter überlebt: drei Jungen und vier Mädchen. Die ständigen Geburten hatten an Auguste gezehrt und sie zu einer kränkelnden Frau gemacht. Nach der Geburt des jüngsten Sohnes hatte Hedwig, damals selbst noch ein Kind, zufällig mitangehört, wie ihre Mutter zum Vater sagte, sie wolle nun niemals wieder ein Kind haben. Hermann Mahnstein hatte das mit versteinertem Gesicht zur Kenntnis genommen, und Auguste war seitdem auch nicht wieder schwanger geworden. Hedwigs Vater war Beamter in der preußischen Polizei, eine Tätigkeit, die er stolz und mit großer Strenge ausführte. Einer Strenge, die er auch zu Hause an den Tag legte und seine Kinder mit preußischer Disziplin erzog. Nicht nur Hedwig hatte Respekt und fürchtete sich vor dem Lederriemen, der im Schlafzimmer der Eltern an der Wand hing und mit dem alle Kinder der Mahnsteins regelmäßig Bekanntschaft machten. Gehorsam und Pflichterfüllung waren die obersten Gebote in diesem Haus. Nie hätte eines der Kinder gewagt, Widerworte gegenüber dem Vater zu äußern oder seinen Wünschen nicht sofort nachzukommen. Hermann Mahnstein war für die Sicherheit und das Wohl der knapp achttausend Einwohner der Stadt Sensburg in Masuren zuständig. Stolz trug er seine Uniform und den »Helm mit Spitze« und verbot seinen Kindern, die Kopfbedeckung »Pickelhaube« zu nennen. Seiner Ansicht nach war Pickelhaube eine respektlose und abwertende Bezeichnung, auf Amtsdeutsch war dieser Ausdruck auch nicht geläufig. Hermann Mahnstein hatte ein rundes Gesicht, und seine Ohren standen beinahe in einem rechten Winkel ab. Das sah lustig aus und erschwerte ihm manchmal, sich als Polizist den nötigen Respekt zu verschaffen. Deshalb trat er in seinem Haus besonders streng auf und sparte auch nicht mit Schlägen.

Vor zweihundert Jahren waren die Mahnsteins aus dem Salzburger Land nach Ostpreußen gekommen, die Linie ihrer Vorfahren konnten sie weitere hundert Jahre zurückverfolgen. Einst trugen sie einen Adelstitel und verfügten über Landbesitz vor den Toren der heutigen österreichischen Stadt. Seit dem Westfälischen Frieden war die Familie protestantisch. Da Leopold von Mahnstein nicht bereit gewesen war, zum römisch-katholischen Glauben zurückzukehren, wurde ihm sein Besitz aberkannt und die Familie im Jahr 1732 aus Salzburg ausgewiesen. Ein Schicksal, das sie mit Tausenden weiteren Protestanten teilten.

Der preußische König Friedrich Karl I. holte einen Großteil dieser Emigranten nach Ostpreußen, das durch eine verheerende Pestepedemie Anfang des 18. Jahrhunderts nahezu entvölkert worden war. Leopold von Mahnstein legte seinen Adelstitel ab, und um seine kinderreiche Familie zu ernähren, arbeitete er nunmehr als einfacher Bauer in der Nähe von Gumbinnen.

Zwei Generationen später siedelte sich ein Mahnstein in Obermühlental an, heute ein Stadtteil von Sensburg. Dessen Nachkommen waren die letzten der Familie, alle anderen Zweige waren im vergangenen Jahrhundert ausgestorben. Hedwig, ihre Schwester Paula und ihr Bruder Karl waren noch in dem windschiefen, kleinen Haus in Obermühlental am südlichen Ufer des Junosees geboren worden.

1910 erhielt Hermann Mahnstein von der Stadt Sensburg ein größeres Haus aus roten Backsteinen, nur von einer sandigen Promenade vom Schoß-See getrennt, dem größten See der Gegend. Die wachsende Kinderzahl machte es notwendig, ein größeres Heim zu beziehen, und Hermann Mahnstein wurde damit für seine Arbeit als Polizist belohnt.

Hedwig liebte dieses Haus. Zwei Vollgeschosse, mehrere große, helle Zimmer, eine geräumige Küche, der zentrale Mittelpunkt der Familie; hinter dem Haus ein sonniger Garten, in dem sie Gemüse und Obst anbauten; an der anderen Seite des Hofes ein Schuppen und Stallungen, in denen sie Hühner hielten und täglich frische Eier hatten. Das Erste, was Hedwig sah, wenn sie nach dem Aufwachen aus dem Fenster schaute, war der See mit seinen uralten, mächtigen Weiden. Im Schilfrohr am Ufer nisteten im Frühjahr unzählige Vögel und Enten, in den warmen Monaten quakten die Frösche ohne Unterlass. Hedwig liebte Sensburg und Masuren. Irgendwann würde sie heiraten – das wurde schließlich von jedem Mädchen erwartet –, auf keinen Fall aber einen Mann, mit dem sie aus der Heimat fortgehen musste. Sich heute über eine Ehe den Kopf zu zerbrechen, war jedoch müßig, sie war ja erst fünfzehn Jahre alt.

Hedwig flößte ihrer Schwester einen weiteren Löffel von dem dunkelbraunen, zähen Hustensaft ein. Anna verzog angewidert das Gesicht und schluckte widerwillig. Dann legte Hedwig ein frisches, mit kaltem Wasser getränktes, Tuch auf Annas fieberheiße Stirn und blieb auf der Bettkante sitzen, bis das Mädchen eingeschlafen war. Ein Schlaf, der dem Kind ein paar schmerzfreie Stunden bescherte und hoffentlich Besserung bringen würde.

»Bitte nicht auch noch sie«, murmelte Hedwig. »Lieber Gott, sie ist doch noch so klein und unschuldig!«

Der Arzt hatte zwar von keiner akuten Lebensgefahr gesprochen, seit ihrer Geburt aber war Anna ein zartes und schwächliches Kind. Ob Masern, Mumps oder Windpocken – in ihren jungen Jahren hatte Anna schon alle Krankheiten gehabt und unter den damit einhergehenden Beschwerden stärker gelitten als ihre Geschwister. Die Schwester zu verlieren, wäre mehr, als Hedwig ertragen könnte. Nicht auch noch Anna…

Aufgeregte, laute Stimmen und das Geräusch, als würde eine Menschenmenge auf der Straße herumrennen, lenkten Hedwig von der Erinnerung an ihren Bruder ab. Unwillig runzelte sie die Stirn. Wer machte einen solchen Lärm? Hoffentlich wachte Anna nicht wieder auf. Sie öffnete das Fenster und blickte hinunter auf den Fußweg, der direkt neben dem Haus von der Uferpromenade aus in die Stadt hinaufführte. Vor einer halben Stunde noch war der Weg ruhig und verlassen gewesen, inzwischen war es dunkel, und Dutzende von Menschen strömten in die Stadt, ungeachtet des Nieselregens und der Kälte des Novembertags. Viele trugen Petroleumlampen oder Fackeln, ihre Gesichter leuchteten im Schein der Lichter, alle lachten und jubelten.

Eine solch ausgelassene Fröhlichkeit war in den letzten vier Jahren selten geworden. Worte konnte Hedwig keine verstehen, sie spürte aber, dass etwas Entscheidendes geschehen sein musste. Über die Dächer der Nachbarhäuser hinweg erkannte sie einen Lichtschein, der vom Marktplatz kommen musste. Sie schloss den Fensterladen, um die Geräusche zu dämpfen, und eilte nach unten. Was ging hier vor? Die Haustür wurde aufgerissen. Zusammen mit der eiskalten Luft strömte Karl Mahnstein in den langen, schmalen Hausflur.

»Füße abtreten!«, wies Hedwig den ein Jahr jüngeren Bruder scharf zurecht. »Ich habe erst vorhin aufgewischt.«

Karl kümmerte sich nicht um Hedwigs Ausruf. Er umarmte sie, hob sie mühelos hoch und wirbelte sie im Kreis herum. Trotz seiner Jugend war er einen Kopf größer als seine Schwester.

»Es ist vorbei!«, schrie er, bevor Hedwig ihn ermahnen konnte, aus Rücksicht auf Anna keinen Lärm zu veranstalten. »Der Krieg ist aus! Vorbei, hörst du, Hedi? Es ist endlich vorüber!«

Er stellte sie wieder auf die Füße, und Hedwig lehnte sich schwer atmend an die unverputzte Wand.

»Was sagst du?«

»Es stimmt.« Karl nickte mit geröteten Wangen, seine Augen glänzten, als habe er Fieber. »Zuerst wollte ich es nicht glauben, aber die Meldung kam gerade auf dem Telegrafenamt an. Seit heute Mittag herrscht Waffenstillstand. Das Töten hat endlich ein Ende. Komm, Hedi, wir wollen feiern! Die anderen sind alle schon in der Stadt, Paula und Luise bei Tante Martha, sie hat für alle Kakao gekocht.«

»Wo ist der Vater?«, fragte Hedwig, aber Karl schüttelte den Kopf.

»Keine Ahnung, ist auch egal. Kommst du jetzt?«

»Ich muss das Essen vorbereiten«, murmelte Hedwig automatisch. »Wenn Vater nach Hause kommt …«

»Unsinn«, unterbrach Karl sie. »Heute denkt niemand ans Essen.« Er sah seine Schwester an. »Hast du verstanden, was ich gesagt habe, Hedi? Der Krieg ist beendet! Deutschland hat ihn zwar verloren und musste bedingungslos kapitulieren, das wussten wir aber schon seit Monaten. Jetzt schweigen die Waffen, und niemand wird mehr sterben.«

Nur langsam drang die Bedeutung seiner Worte in Hedwigs Kopf. Konnte es tatsächlich wahr sein? War dieser Irrsinn, der über vier Jahre die Welt in Atem gehalten und unendlich viele Tote gefordert hatte, wirklich vorüber? Und wenn ja, was würde nun folgen?

»Geh schon mal vor in die Stadt, ich komme nach«, sagte Hedwig leise und schob ihren Bruder zur Tür. »Ich muss mich um Mutter und Anna kümmern.«

Karl nickte, stürmte aus dem Haus, schwenkte seine Mütze und Hedwig hörte ihn »Juchhe!« rufen.

Sie kehrte in die Küche zurück, die von einer Glühbirne in schwaches Licht getaucht war. Das abgespülte Geschirr stand noch im Schüttstein, zwei Kohlrüben lagen bereit, die Hedwig putzen, zerkleinern und für das Abendessen hatte zubereiten wollen. Immer mehr Menschen zogen am Haus vorbei, der Schein ihrer Fackeln leuchtete gespenstisch durch den neblig-trüben Abend.

»Frieden! Endlich Frieden!«, hörte Hedwig die Leute jubeln.

Hedwig sah zu dem Korbsessel in der linken Ecke der Wohnküche, einst der Lieblingsplatz von Heinrich. Ein kalter Schauer rann über ihren Rücken. Für ihn kam der Frieden zu spät. Heinrich war das älteste der Mahnsteinkinder gewesen, zwei Jahre vor ihr geboren. Zum Leidwesen des Vaters war Heinrich weder groß noch stark, und der eher sensible, feinfühlige Junge hatte seine Nase lieber in Bücher gesteckt, als mit seinen Kameraden auf Bäume zu klettern oder Krieg zu spielen. Trotzdem oder gerade deswegen hatte Hedwig ihren älteren Bruder zärtlich geliebt, und auch sie war seine Lieblingsschwester gewesen, was er die anderen nie hatte spüren lassen.

»Manchmal denke ich, wir wären Zwillinge«, hatte Heinrich oft augenzwinkernd zu ihr gesagt. »Wir sind uns viel ähnlicher als die anderen.«

Dass ein Krieg kein Spiel mit Holzschwertern war, hatte Heinrich im Herbst des vergangenen Jahres erfahren müssen. Gerade erst sechzehn war er gewesen, als der Einberufungsbescheid gekommen war. Obwohl er den Befehl stillschweigend entgegengenommen und seine Sachen gepackt hatte, hatte Hedwig gespürt, dass Heinrich längst nicht mehr an einen Sieg glaubte. Nach außen hin war er voller Enthusiasmus Seite an Seite mit seinen gleichaltrigen Schulkameraden durch die von jubelnden Passanten gesäumten Straßen zum Bahnhof geschritten. Zum Abschied hatte Hermann Mahnstein ihm wohlwollend auf die Schulter geklopft.

»Nun bist du kein Junge mehr, sondern ein Mann, auf den der Kaiser stolz sein kann.«

Heinrich war noch keine zwei Monate fort gewesen, als Hedwig eines Abends die Küche aufräumte. Sie war allein, die Geschwister bereits im Bett, die Eltern saßen in der guten Stube, als das Korbgeflecht des Sessels knarzte, als hätte sich ihr Bruder hineingesetzt. Das Geräusch war Hedwig so vertraut wie ihr eigener Atem.

»Heinrich!«

Hedwig war herumgeschnellt, hatte den leeren Stuhl angestarrt und sich verwirrt über die schweißnasse Stirn gewischt. Sie zitterte am ganzen Körper, Hitzewallungen und Schüttelfrost wechselten sich ab. Sie konnte die Anwesenheit ihres Bruders körperlich spüren, was natürlich Unsinn war. Niemand außer ihr befand sich in der Küche, alles war ruhig. Nur die Standuhr in der Diele schlug in diesem Moment die neunte Abendstunde. Dieser Schlag brannte sich wie mit einem glühenden Eisen in Hedwigs Gedächtnis ein.

Zwei Wochen später hatten die Mahnsteins den Brief erhalten. In knappen, unpersönlichen Worten war der Familie mitgeteilt worden, der Soldat Heinrich Mahnstein sei am 24. November 1917 bei der Schlacht von Cambrai verwundet worden und einen Tag später exakt um einundzwanzig Uhr seinen Verletzungen erlegen. Sein Leichnam wurde vor Ort in einem Kriegsgrab beigesetzt.

Seitdem war kaum eine Nacht vergangen, in der Hedwig nicht von Heinrich träumte. Nun war der Krieg zu Ende, aber die gefallenen Männer, die vielen Söhne, Brüder und Väter, würden niemals zurückkehren. Kaum eine Familie in Sensburg, die keine Verluste zu beklagen hatte. Wie die Mahnsteins hatten die meisten kein Grab, an dem sie trauern und um ihre Lieben weinen konnten.

»Hedi! Warum versteckst du dich hier?« Hedwig zuckte zusammen. Sie hatte ihre Schwester Paula nicht kommen hören und erschrak, als die Neunjährige sie am Arm packte. »Karl schickt mich, dich zu holen. Die Menschen singen und tanzen, einige haben auch Instrumente dabei.«

Hedwig seufzte und strich sich eine Strähne ihres dunkelblonden, glatten Haares, die sich aus dem Dutt gelöst hatte, hinters Ohr, dann nahm sie Paulas Hand.

»Ich sehe nur kurz nach Mutter und Anna, dann komme ich.«

Auguste Mahnstein hatte von dem Trubel nichts mitbekommen. Hedwig rüttelte ihre Mutter mehrmals an der Schulter, bis sie aufwachte. Ungläubig lauschte sie den Worten ihrer Tochter.

»Was für ein glücklicher Tag«, sagte sie leise, »sofern es kein Gerücht ist.«

»Anna schläft«, erwiderte Hedwig. »Kann ich euch allein lassen? Ich möchte zu Tante Martha gehen.«

»Geh nur, Kind, und feiere mit den anderen. Ich selbst fühle mich zu schwach, um in die Stadt zu gehen, und werde nach Anna sehen.«

Hedwig schlüpfte in ihre Schuhe aus festem Leder, zog den warmen Mantel an und machte sich auf den Weg. Von den Einwohnern Sensburgs waren so gut wie alle, die der Krieg verschont hatte, auf den Straßen, und es herrschte eine ausgelassene Stimmung wie an einem Jahrmarktstag. Obwohl Hedwig bei Kriegsausbruch erst elf Jahre alt gewesen war, erinnerte sie sich noch gut daran, wie die ersten Männer zum Bahnhof gezogen waren, um im kaiserlichen Heer ihr Vaterland zu verteidigen. Die Uniformen mit Blumen geschmückt und in der festen Überzeugung, an Weihnachten wieder zu Hause zu sein, waren die Burschen in einen Krieg gezogen, der in den darauf folgenden Jahren alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen und so viele Opfer – auch unter der zivilen Bevölkerung – fordern sollte wie kein Krieg zuvor. Auch Ostpreußen war von der russischen Armee mehrmals angegriffen worden. Die Schlacht von Tannenberg aber hatte den Wendepunkt gebracht, seitdem wurde Paul von Hindenburg als glorreicher Sieger und Held verehrt. Der kaiserlichen Armee war es gelungen, die Feinde aus dem Land zu treiben. Neben der Stadt Königsberg waren fünf weitere Landkreise von den Angriffen verschont worden, darunter Sensburg. Hier hatte die Bevölkerung die Schrecken des Krieges nicht hautnah miterleben müssen. Niemand musste Hunger leiden, denn die Felder rund um Sensburg waren gut bestellt, das Vieh stand auf saftigen Weiden und die Wälder waren wildreich. Wenn nicht wöchentlich die langen Verlustlisten eingetroffen und immer mehr Frauen in schwarzer Kleidung durch die Straßen gegangen wären, hätte man glauben können, der Krieg wäre eine Angelegenheit, die die Sensburger nicht betraf. Ein trügerischer Schein, denn jetzt hatte das Deutsche Reich verloren, und Hedwig ahnte trotz ihrer jungen Jahre, dass von einem Tag auf den anderen nicht alles wirklich vorüber sein würde, aber wenigstens schwiegen die Waffen.

Tante Martha, die ältere Schwester von Hermann Mahnstein, war seit vielen Jahren verwitwet. Sie hatte zwei Söhne bei Verdun verloren, ihre Tochter war verheiratet und lebte in Allenstein. So kümmerten sich die Mahnsteinkinder regelmäßig um die Tante, die immer leckere Kuchen oder köstliche Saure Klopse für Besuch bereithielt. Über dem Verlust ihrer Söhne war Martha Mahnstein nicht zerbrochen, zumindest zeigte sie es nach außen hin nicht, obwohl sie die Trauerkleidung nicht mehr ablegte. Heute hatte sie Platten mit belegten Broten und kleinen, süßen Kuchenstücken bereitgestellt, die Kinder erhielten Kakao und die Männer Bier. Ihr Mann war ein vermögender Kaufmann gewesen, so hatte Tante Martha keine finanziellen Sorgen, und sie lebte in einem schmalen, zweistöckigen Haus in einer Seitenstraße des Marktplatzes. Dort angekommen traf Hedwig auf den Vater und die Geschwister. Nach Heinrichs Tod war Hedwig die Älteste, ihr folgten Karl, Paula, Luise, die kranke Anna, und das Nesthäkchen war Fritz, der trotz seiner fünf Jahre ausgelassen auf der Straße herumhüpfte.

»Vater …« Hedwig trat näher. »Stimmt es, was die Leute sagen? Der Krieg ist wirklich vorbei?«

Wenn es jemand genau wissen musste, dann Hermann Mahnstein, er war schließlich kaiserlicher Beamter. Er nickte, allerdings sah er äußerst grimmig und alles andere als erfreut aus.

»Der Kaiser ist nach Holland geflohen.« Hermann Mahnstein versuchte nicht, seinen Zorn zu verbergen, eine Ader schwoll auf seiner Stirn, und seine Augen verengten sich. »Er hat Deutschland und sein Volk im Stich gelassen und ist feige abgehauen.«

»Beruhige dich, Hermann.« Martha legte eine Hand auf den Arm ihres Bruders. »Der Krieg war seit Monaten verloren, der Kaiser musste sicher auf Druck des Parlaments das Land verlassen, sonst wäre es nie zu einem Ende gekommen.«

Hermann schüttelte ihre Hand ab, als wäre sie ein lästiges Insekt.

»Misch dich nicht in Dinge ein, von denen du nichts verstehst«, herrschte er seine Schwester an. »Nur gut, dass keine Weiber in den Krieg gezogen sind, sonst hätten wir schon nach ein paar Wochen kapitulieren müssen.«

Hermann Mahnstein war der Überzeugung, Politik könne von Frauen nicht verstanden werden, da deren Gehirne für solch komplexe Vorgänge nicht geschaffen waren. Frauen gehörten früh verheiratet, sollten viele Kinder gebären und sich um den Haushalt kümmern. Einzig Aktivitäten in der Kirchengemeinde fanden Mahnsteins Wohlwollen, denn die Familie war gläubig und besuchte regelmäßig den Gottesdienst.

Martha trat einen Schritt zurück und schenkte den Kindern frischen Kakao in die Tassen. Sie wusste, wann es besser war zu schweigen, auch Hedwig vertiefte das Thema nicht länger. Der Vater war durch und durch kaisertreu und hatte es nie überwunden, dass er aufgrund eines angeborenen leichten Herzfehlers für das Militär und den aktiven Dienst an der Front untauglich war. Dieser Fehler erlaubte ihm zwar, ein normales Leben zu führen, nur in den Kampf hatte er nicht ziehen dürfen. Wenigstens konnte er als Polizist für Recht und Ordnung sorgen.

»Komm, lass uns tanzen!« Karl zog sie an der Hand aus dem Haus. »Soll Vater ruhig ein Gesicht machen, als hätte er Essig getrunken – wir lassen uns das Feiern nicht verbieten.«

Obwohl auf Hedwigs Schultern die Erziehung der Geschwister und der Haushalt ruhten, war sie doch nur ein Mädchen, das sich von der allgemeinen Heiterkeit und Freude anstecken ließ. Bis vor eineinhalb Jahren hatte sie die Volksschule besucht, seit Herbst 1917 ging sie bei einer Schneiderin in die Lehre. Gegen diese Ausbildung hatte ihr Vater nichts eingewendet, denn nähen zu können, war eine Aufgabe, die Frauen anstand. Solange Hedwig ihre häuslichen Pflichten nicht vernachlässigte, akzeptierte er, dass seine älteste Tochter in die Lehre ging, außerdem brachte ihr Lohn ein paar Mark zusätzlich in die Haushaltskasse. Es verstand sich von selbst, dass Hedwig ihrem Vater jeden Pfennig aushändigte und nicht für sich selbst behielt. Hedwig arbeitete gern bei Erna Ballnus, deren einziges Lehrmädchen sie war. Fräulein Ballnus war auch so freundlich gewesen, Hedwig ein paar Tage frei zu geben, damit sie ihre Schwester Anna pflegen konnte, denn die Schneiderin wusste, dass die Verantwortung für die Familie auf Hedwigs Schultern lastete.

Auf dem Marktplatz herrschte dichtes Gedränge, am nördlichen Rand wurde zu den Klängen, die aus einem Gasthaus auf die Straße drangen, ausgelassen getanzt. Hedwig überließ sich Karls Führung, wirbelte mit ihm im Kreis, ihre Füße bewegten sich im Rhythmus einer Trommel. Plötzlich fand sie sich in den Armen von Detlef, einem Nachbarsjungen, wieder, dann tanzte sie mit dem gutmütigen Bäcker mit den immer geröteten Wangen. Hunderte von Lampen tauchten den Marktplatz in helles Licht. Die Wirtin des Gasthauses, deren Mann im Krieg geblieben war, stand auf den Stufen und rief: »Freibier für alle, für die Frauen und Kinder Limonade!«

Von ihrem Bruder war Hedwig getrennt worden und das Tanzen hatte sie durstig gemacht. Sie drängte sich durch die Menschen in die Schankstube. Ihr Vater würde sie rügen, sollte er erfahren, dass sie allein ein Wirtshaus betrat, heute waren die Regeln jedoch außer Kraft gesetzt.

Vor dem Tresen drängten sich die Männer, denn niemand wollte sich das Freibier entgehen lassen. Auf dem Klavier wurde ein beschwingter Walzer von Johann Strauß geklimpert. Hedwig wurde hin und her geschubst, ein zufälliger, kräftiger Stoß in den Rücken ließ sie zuerst taumeln, dann stolpern und sie purzelte dem Klavierspieler direkt auf den Schoß. Er unterbrach sein Spiel, umfasste mit beiden Händen ihre Hüften und zog sie an sich.

»Hoppla, was fällt mir denn hier Hübsches in die Arme?«

Hedwig sah in zwei dunkelbraune, lachende Augen.

»Lassen Sie mich sofort los!« Mit hochrotem Kopf befreite Hedwig sich aus der Umarmung. »Was fällt Ihnen ein?«

Der Mann zwinkerte ihr zu.

»Verzeihen Sie, Fräulein, aber ich dachte, Sie konnten meinem Charme nicht widerstehen und begaben sich freiwillig in meine Arme. Ich stehe Ihnen jederzeit gern wieder zur Verfügung.«

Unwillig runzelte Hedwig die Stirn. Mit einem gemurmelten »unverschämter Kerl« drückte sie sich durch die Menschenmenge zur Tür. Der Durst war ihr vergangen. Kriegsende hin oder her – was erlaubte sich dieser Mann, sie derart vertraulich anzufassen, dazu seine anzüglichen Worte! Eigentlich hatte er ganz nett ausgesehen, dunkle Augen, pechschwarzes Haar und ein schmaler Oberlippenbart über vollen Lippen. Hedwig drehte sich um und versuchte, durch die Leute einen Blick auf den Klavierspieler zu erhaschen, der sein heiteres Spiel fortgesetzt hatte. Schnell und routiniert flogen seine Finger über die Tasten. Hedwig hatte ihn nie zuvor gesehen und er war noch sehr jung, kaum älter als sie selbst.

»Da bist du ja.« Karl war plötzlich wieder an ihrer Seite. »Vater möchte nach Hause, er hat Hunger.«

Hedwig folgte ihrem Bruder. Sie dachte daran, dass die Kohlrüben noch roh in der Küche lagen. Die Familie würde sich heute mit Butterbroten begnügen müssen. Trotz der besonderen Umstände des Abends stand Hedwig eine Strafpredigt ihres Vaters bevor, der sie aber gelassen entgegensah. Längst hatte sie sich angewöhnt, dessen Vorwürfe an sich abprallen zu lassen.