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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74092-842-1
Silvia Pattern, vierundzwanzig Jahre jung, lebenslustig und normalerweise voller Schwung und Tatendrang, unterdrückte bereits etliche Male ein herzhaftes Gähnen. Sie beschloß, den Sender in ihrem Autoradio zu wechseln; bisher hatte sie mit halbem Ohr der ziemlich drögen Stimme eines so genannten »Experten für Liebes- und Ehefragen« zugehört.
Der Mann tat so, als wüßte er tatsächlich für alle Probleme eine Lösung – etwas, das ihm Silvia nicht so ohne weiteres abnahm. »Vermutlich ist er selbst schon dreimal geschieden«, brummte sie unwillig, ehe sie dem »Lebensberater« mitten im Wort den Saft abdrehte und einen Sender suchte, der Rock und Popmusik brachte, während sie gleichzeitig aus dem Augenwinkel heraus den zwar wunderschönen, aber gleichzeitig geheimnisvoll, ja sogar ein wenig unheimlich anmutenden Wald links und rechts beobachtete.
Sie konnte diesmal dem Gähnreflex nicht widerstehen, da sie vergangene Nacht sehr schlecht geschlafen hatte. Das war immer so, wenn sie am nächsten Tag »auf Tour« war. Obwohl sie ihren Job bereits seit zwei Jahren zur großen Zufriedenheit ihrer beiden Chefs in Düsseldorf erledigte und ihr die Arbeit Spaß machte, war sie in der Nacht davor jedes Mal schrecklich aufgeregt. Die Nervosität legte sich im Normalfall, sobald sie angelangt war und sich konkret auf die Suche begeben konnte.
Aber noch war es nicht so weit.
Das schlanke Mädchen mit den schulterlangen aschblonden Haaren, war, aus Aachen kommend, mit ihrem kleinen roten Peugeot auf die belgische Route Nationale gelangt und näherte sich einer Kreuzung.
»Aha, da ist es ja«, murmelte sie zufrieden, als sie das Schild »St. Pierre sur Roc, 10 Kilometer« las.
Sie bog nach rechts ab und drehte das Radio um eine Idee leiser. Es war kurz nach vier Uhr nachmittags an einem prächtigen, milden Herbsttag, Mitte September. Es war einer jener traumhaft schönen Tage, voll Erinnerung an den vergangenen heißen Sommer, aber ohne dessen verzehrende Glut, dafür mit der Verheißung von Reife und Fülle, mit einem Himmel wie lichtblaue Seide, ohne ein Wölkchen und ohne den geringsten Windhauch, jedoch mit dem betäubenden Geruch nach Erde, Wald und Gras.
›Wenn ich Glück habe, dauert das wunderschöne Wetter noch etliche Tage lang an; und es müßte schon mit dem Teufel zugehen, wenn ich nicht fündig würde‹, ging es Silvia Pattern, deren korrekte Berufsbezeichnung »Adventure Scout« lautete (was bei weitem nicht so
holprig klang wie das deutsche »Abenteuerpfadfinderin«), durch den Kopf, als sie in das schmale Sträßchen eingebogen war.
Als der Weg plötzlich ziemlich steil anstieg, schaltete sie nochmals einen Gang herunter. Das hatte den Vorteil, daß das Getriebe geschont wurde und daß sie sich bei dem geringen Tempo in aller Ruhe die Gegend anschauen konnte.
Links und rechts der kurvenreichen Fahrstraße erhob sich eine kleine Böschung mit reichem Wildblumenbewuchs zwischen den Schlehdornbüschen und Heckenrosen, während sich dahinter der Hochwald ausbreitete.
Es schien ein gesunder Mischwald zu sein aus verschiedenen Nadelbäumen, abwechselnd mit Birken, Eichen, Buchen und Ebereschen, deren Beeren in einem strahlenden Rotorange durch das noch grüne Laub schimmerten.
»Schätze, daß dies der besagte Gemeindewald von ›St. Pierre sur Roc‹ ist«. Die hübsche junge Fahrerin war jetzt hellwach und schon mächtig gespannt auf dieses ganz versteckt liegende belgische Städtchen ›St. Peter auf dem Felsen«.
Die smarte Düsseldorferin arbeitete für die Agentur »Managing and Training Agency«, kurz MATA genannt, und als »Adventure Scout« oblag es ihr, geeignetes Gelände zu finden, um es Führungskräften aus Wirtschaft, Politik und Industrie, welche Erholung und Entspannung gepaart mit Abenteuer suchten, zu ermöglichen, ein sogenanntes »Überlebenstraining« in freier Natur zu praktizieren.
Es kam durchaus nicht jeder Wald dafür in Frage – nein, die Anforderungen an einen solchen Fleck Natur waren sogar ziemlich hoch. MATA konnte es sich nicht leisten, frustrierte Kunden zu haben, die halb verhungert und verdurstet regelrecht »aus der Wildnis« flohen und sie womöglich anzeigten und Schadenersatz verlangten.
Die Herren mit der wohlgefüllten Brieftasche wollten zwar das Gefühl haben, »Abenteurer« zu sein – in jedem von denen steckte ein kleiner Junge, der Robinson Crusoe spielen wollte, aber irgendwo waren auch Grenzen. Der Wald, in dem sie sich etwa eineinhalb Wochen lang aufhalten und selbständig ernähren sollten, mußte tatsächlich die Möglichkeiten bieten, sich eine Unterkunft aus primitiven Mitteln zu bauen, sowie auf relativ einfache Weise an Nahrung zu gelangen.
Vielen Gemeindevorstehern und Stadtvätern hatte Silvia zu deren bitterer Enttäuschung schon Absagen erteilen müssen. Der übliche Stangenwald aus schnell wachsenden Fichten, wie er in Deutschland leider noch üblich war – ohne Unterholz und bar aller Sträucher –, war schlichtweg zu kümmerlich.
Keine Nüsse, keine Bucheckern, keine Beeren, keine Pilze; kein noch so kleines Bächlein oder winzige Quelle mäanderte durch moosigen Grund und fiel somit als Frischwasserreservoir flach. Und was die Möglichkeit anbetraf, etwa ein Eichhörnchen oder ein Kaninchen mittels einer selbst gebastelten Schlinge, beziehungsweise mit einer Steinschleuder zu erlegen – ebenfalls Fehlanzeige.
»Wir kommen leider nicht ins Geschäft«, hatte Silvia den Herren gesagt, welche gemeint hatten, durch diese interessanten »Überlebenscamps« als Ferienorte auch für andere Erholungssuchende bekannt zu werden. Aber so lief es nun mal nicht.
Jedoch dieses Städtchen in den Ardennen auf einer etwa sechshundert Meter hohen Hochfläche in wahrhaft traumhafter Landschaft gelegen – das Wenige, was die junge Frau bisher gesehen hatte, erschien ihr sehr viel versprechend – könnte dieses Mal ein Volltreffer zu sein.
›Mal sehen, wie der Bürgermeister sich dazu stellt‹, überlegte sie. Aber meistens waren diese Herren nicht das Problem…
»Liebe Güte, hören denn die Kurven überhaupt nicht mehr auf?«
Silvia hatte ihren Wagen immer mehr verlangsamt; sie fuhr zudem äußerst rechts und hoffte, daß ihr kein anderes Fahrzeug auf der schmalen Straße entgegenkam. Sie sehnte jetzt das Ende der Fahrt herbei.
Plötzlich erkannte sie rechts vorne in beunruhigend großer Nähe eine seltsame Bewegung im Wald. Es schien beinahe so, als brauste auf einmal ein Sturmwind durch die Baumwipfel, so daß die Äste einer Anzahl alter Baumriesen heftig ins Schwanken gerieten.
Gerade als Silvia erneut vom Gas ging, legte sich der annähernd orkanartige Sturm, alle Bäume beruhigten sich wieder – bis auf einen, eine dicke Tanne nämlich, die mit einem geradezu ohrenbetäubendem Getöse quer über die Straße krachte und einer Bahnschranke gleich den Weg versperrte.
Silvias Notbremsung erfolgte automatisch; sie kam etwa einen halben Meter vor dem Baumstamm zum Stehen. daß sie laut geschrieen hatte, kam ihr überhaupt nicht zu Bewußtsein, aber daß sie nun zitterte wie Espenlaub, blieb ihr natürlich nicht verborgen.
»Oh, mein Gott«, flüsterte sie, »wenn dieses Monstrum von Baum mein Auto erwischt hätte, wäre es jetzt platt wie eine Flunder – und ich auch.«
Sie schaltete den Motor aus und stieg nach einer Weile, als sie sich wieder ein wenig beruhigt hatte, aus ihrem Auto aus, um sich das unerwartete Hindernis genauer zu betrachten.
Etwa einen halben Meter über dem gewaltigen Wurzelstock war die Tanne einfach abgebrochen, wobei Silvia die Bruchstelle äußerst merkwürdig vorkam: keineswegs so zersplittert, wie es oft bei einem schweren Sturm und morschen Bäumen vorkam, sondern ziemlich glatt und vor allem: der Baumstamm war innen kerngesund!
›Es bestand überhaupt kein Grund dafür, daß die Tanne umgefallen ist‹, dachte Silvia Pattern verblüfft. ›Wenn wir jetzt schon so weit sind mit den Umweltschäden, daß vollkommen intakte Bäume, ohne Fäulnisschäden oder Wurm- und Käferfraß, einfach mir nix, dir nix umkippen, dann gute Nacht!‹
Auch die Nadeln der Tanne zeigten frisches Grün, die Äste und Zweige erschienen voller Saft und Silvia konnte nur den Kopf schütteln – und sich dazu gratulieren, daß sie nicht ein klein wenig schneller gefahren war…
Aber nun hatte sie ein weiteres Problem: sie konnte das Hindernis seitlich nicht umfahren. Sie mußte versuchen, auf der schmalen Straße zu wenden und dann zurückfahren zur Kreuzung und von da aus einen anderen Zugang zum Ort finden.
›Viele Wege führen nach Rom, sagt man; da werden wenigstens zwei auch nach St. Pierre sur Roc führen.‹
Nachdem sie ihren kleinen Peugeot nach einem halben Dutzend Wendemanövern in die richtige Fahrtrichtung platziert hatte, fuhr die junge Frau retour zur Kreuzung, an der sie vor einiger Zeit schon einmal abgebogen war, fädelte sich erneut in die Route Nationale ein, in der Hoffnung, eine weitere Abzweigung in das Städtchen zu finden.
Als erstes würde sie dann den Vorfall mit der umgestürzten Tanne auf der Polizeistation melden.
*
Monsieur André Lacourbe, das fünfundfünfzigjährige Stadtoberhaupt von St. Pierre sur Roc tobte in seinem Amtszimmer in der »Mairie«, dem Bürgermeisteramt der Stadt, herum.
Gerade hatte er von der Abholzfirma »Adolphe Mahonney« eine Absage bekommen und seine Sekretärin, Mademoiselle Ginette Balanche, mit ihren neununddreißig Jahren ein »spätes« Mädchen und angeblich hinter ihrem verwitweten Chef her, guckte ihn an wie ein verschrecktes Huhn.
Das tat sie immer, wenn André Lacourbe sich lautstark aufregte und dann meistens seinen Unmut an ihr ausließ.
»Was denken sich diese Brüder eigentlich?« brüllte der Bürgermeister, nachdem er den Hörer seines Amtstelefons aufgeknallt hatte. Er war so rot im Gesicht wie ein gekochter Hummer und Ginette befürchtete schon, es könnte ihn der Schlag treffen.
»Was haben die Mahonney-Leute denn gesagt, Monsieur?« erkundigte sie sich schüchtern.
»Gesagt, gesagt! Dieser Ignorant von einem Juniorchef hat mir mitgeteilt, daß sie in der nächsten Zeit die geplante Fällaktion im Gemeindewald nicht durchführen könnten, weil sie erst ihre anderen, bereits zugesagten Aufträge abarbeiten müßten! Das hat der arrogante Schnösel mir eiskalt ins Gesicht gesagt!«
»Ach so.« Ginette atmete auf. »Nun, das hört sich doch ganz vernünftig an, Monsieur. Sie müssen eben die Arbeiten der Reihe nach durchführen, so wie sie sie angenommen haben. Außerdem: soo furchtbar eilig ist es uns doch nicht, oder?«
Lacourbes Zorn wandte sich jetzt umgehend gegen seine unscheinbare Untergebene.
»Sie sind doch …«
Gerade konnte sich der Gemeindevorsteher noch bremsen, ehe er etwas gesagt hätte, was ihm sogar die gutmütige Ginette Balanche übel genommen hätte. Die alte Jungfer verteidigte ihren Chef zwar eisern gegen alle Kritiker in der Stadt, aber beleidigen ließ sie sich von ihm auf keinen Fall – trotz ihrer unbestreitbaren Sympathien für den immer noch attraktiven Witwer.
»Mademoiselle Ginette, Sie sind einfach zu gut für diese schlechte Welt! Ihnen fehlt das Gespür für alles Hinterhältige im Leben. Meine Nase hingegen« – und er tippte dabei an sein ziemlich mächtiges Riechorgan – »schnuppert Verrat schon aus meilenweiter Entfernung, während Ihr entzückendes Näschen nichts davon wahrnimmt – selbst wenn der Misthaufen meterhoch direkt vor dem Rathaus liegen sollte.«
»Ich verstehe Sie nicht, Monsieur!«
Hilflos zuckte Ginette die Schultern, aber das »Näschen« für ihre etwas zu lang und spitz geratene Nase hatte sie jedenfalls umgehend versöhnt.
»Schauen Sie, Mademoiselle Ginette, das liegt doch auf der Hand. Diese Abholzfirma steckt mit unseren Feinden im Stadtrat unter einer Decke! Ich glaube diesen Kerlen kein Wort, von wegen ›anderen Aufträgen, die angeblich Vorrang haben‹. Welchen Großauftrag sollten die denn schon haben, frage ich Sie? Vielleicht in Südamerika am Amazonas oder im Kongo? In Belgien jedenfalls nicht! Und wenn sie zu wenige Leute haben, sollen sie gefälligst Holzfäller einstellen, ehe sie versuchen, mich für dumm zu verkaufen.«
»Aber, wieso? Was hätte ›Alphonse Mahonney« davon, wenn er uns absichtlich hängen läßt?« Die Sekretärin blieb hartnäckig und blickte ihren Chef verständnislos an.
Monsieur André warf die Arme zum Himmel, zuckte mit den Achseln und meinte:
»Vielleicht hat man sie geschmiert – was weiß denn ich? Sie wissen, meine Liebe, daß mir und meinen Freunden im Stadtrat viel daran liegt, möglichst zügig mit der Fällaktion zu beginnen, um die geplanten Bauarbeiten an den neuen Projekten schnell zu verwirklichen. Je länger nun gezögert wird, umso mehr Zeit bleibt unseren Gegnern, weitere Verbündete zu finden und vor allem die Schwankenden auf ihre Seite zu ziehen.«
»Aber, Monsieur, der Stadtrat hat doch neulich mehrheitlich entschieden…«
»Ja, ja, ja! Das weiß ich, Teuerste (der Bürgermeister war darauf bedacht, ihr zu schmeicheln – was täte er denn ohne sie?), aber so lange noch kein Axthieb erfolgt ist, kann diese äußerst wacklige Mehrheit immer noch kippen und dann wäre Essig mit unseren schönen Plänen. Kein Flughafen, kein Erlebniscenter, kein Hotel!«
»Oh, Monsieur le Maire, das müssen Sie natürlich unbedingt verhindern!« Aufgeregt flatterte Mademoiselle Ginette, eine kleine hagere Person, um den ziemlich beleibten Bürgermeister herum. »Das wäre ja eine Katastrophe!«
Wie viele andere Befürworter des ehrgeizigen Bauprojektes wollte sie ihr sauer Erspartes in die Errichtung des Flugplatzes und des Vergnügungsparks investieren und hoffte dabei auf beste Rendite.
»Deswegen müssen diese Holzköpfe endlich spuren und unverzüglich anfangen, den Gemeindewald abzuholzen, damit Tatsachen geschaffen sind, die man nicht mehr rückgängig machen kann. Sonst funken uns die so genannten ›Naturschützer« noch gewaltig dazwischen, wenn die erst einmal gemerkt haben, wie groß die Fläche überhaupt sein wird, die wir für den Fortschritt zu opfern bereit sind«, meinte er hochtrabend. »Verstehen Sie jetzt meine Ungeduld, Teuerste?«
»Oh, ja, Monsieur!«
Ginette war eben erst klar geworden, daß der gewiefte Bürgermeister vor der Abstimmung im Stadtrat offensichtlich nicht mit der ganzen Wahrheit herausgerückt war. Recht hatte er!
»Sie müssen diese Firma unbedingt irgendwie dazu zwingen, so bald wie möglich anzufangen. Vielleicht würde eine höhere Summe sie geneigter stimmen…«
»Pah! Von wegen! Ich werde den Brüdern mit einer Klage wegen Schadensersatz drohen und zwar in dreistelliger Millionenhöhe und …«
Mehr konnte die treue Seele Ginette leider nicht verstehen, denn das Telefon auf ihrem Schreibtisch hatte geklingelt und sie stöckelte eilig aus dem pompösen Eckzimmer ihres Chefs in ihr vergleichsweise bescheidenes Reich, um den Anruf entgegen zu nehmen.
›Hoffentlich keine neue Hiobsbotschaft‹, dachte Ginette noch. Falls es sich die Behörden in Brüssel noch einmal überlegen sollten und die zugesagten erheblichen Zuschüsse für den Flughafen streichen würden – immerhin zig Millionen Euro – wäre das vermutlich der Anfang vom Ende aller hochfliegenden Pläne der »Fortschrittlichen« in St. Pierre.
Das vollkommen unbedeutende Städtchen würde weiter vor sich hindämmern und irgendeine andere Gemeinde, in der es nicht so viele »naturfreundlich« Gesinnte gab, würde mit Kußhand den Reibach machen.
*
Silvia Pattern gelangte auf einem Umweg von zirka fünfzehn Kilometern in den gesuchten Ort und landete direkt auf dem Marktplatz in der Mitte von St. Pierre sur Roc.
Sie stieg aus, streckte sich erst einmal und schaute sich dann interessiert um. Ihre Müdigkeit war seit dem Zwischenfall mit dem Baum wie weggeblasen. Sie hatte genau vor dem Hotel »Le Cerf Bleu« – dem »Blauen Hirschen« also – geparkt.
»Nicht schlecht«, murmelte das junge Mädchen vor sich hin, »unsere gestreßten Manager werden es begrüßen, nach eineinhalb Wochen ›Leben in Gottes freier Natur‹ die Gemütlichkeit eines belgischen Kleinstädtchens mit Flair zu genießen.«
Doch, ja, dieser Ort schien Silvia durchaus geeignet für die Ansprüche ihrer verwöhnten Klientel.
Einige Momente lang dachte sie unvermittelt an Stefan Dormagen, ihren langjährigen Beinaheverlobten, von dem sie sich vor einiger Zeit – in aller Freundschaft – getrennt hatte.
Es war eine »Sandkastenliebe« gewesen, welche die beiden verbunden hatte und irgendwann war »die Luft raus« und die Liebe verflogen; aber geblieben waren eine tiefe Freundschaft, sowie eine echte Kameradschaft. Silvia wußte, daß sie sich auf Stefan, einen fünfundzwanzigjährigen Pharmaziestudenten, stets würde verlassen können.
›Stefan würde es hier auch gefallen‹, dachte sie, als sie den Mittelpunkt dieses niedlichen Fachwerkstädtchens betrachtete. Alles, was ein Gemeinwesen benötigte, war um einen alten, blumengeschmückten Marktbrunnen aufgereiht: das Rathaus (als »Mairie« gekennzeichnet), eine barocke Stadtpfarrkirche, die Polizeistation, der Gemeindesaal, ein kleines Kaufhaus, sowie Metzger- und Bäckerladen plus kleinem Café, dazu ein »Magasin d’ Alimentation«, also ein Lebensmittelladen.
Silvia entdeckte zu ihrem Entzücken neben dem »Blauen Hirschen«, in welchem sie beabsichtigte ein Zimmer zu nehmen, einen Bücherladen, der auch Zeitschriften und Ansichtskarten verkaufte, sowie ein winziges Antiquitätengeschäft.
›Dem werde ich einen ganz besonders intensiven Besuch abstatten, sobald es meine Zeit erlaubt‹, nahm die junge Frau sich vor. Sie liebte es geradezu, zwischen alten Bildern, Lampen, Schmuck und Möbeln herumzustöbern.
Auf diese Weise hatte sie schon das eine oder andere Juwel für ihre schnuckelige Jungesellinnenwohnung erstanden, um die sie von ihren Freundinnen glühend beneidet wurde. Sie selbst hätte es allerdings vorgezogen, wenn ihr Auszug aus Stefan Dormagens geräumiger und urgemütlicher Altbauwohnung nicht nötig gewesen wäre. Aber gleichzeitig wußte sie, daß dieser harte Schnitt das Richtige gewesen war…
Sie riß sich beinahe gewaltsam los von dem attraktiven Anblick, den der Ortskern dieses Städtchens bot. Als erstes lenkte sie ihren Schritt zur Gendarmerie, wo sie den Vorfall mit dem umgestürzten Baum zu Protokoll gab. Der Dienst habende Beamte – ein Schild auf seinem Schreibtisch wies ihn als Jean-Pierre Lacourbe, Leiter der Dienststelle, aus – nahm sich mit Eifer dieses Falles an.
Der junge Mann – Silvia schätzte ihn um die dreißig – schien allerdings mehr an ihr, als an der Beinahekatastrophe interessiert zu sein. Als sie jedoch ihre Beobachtungen genau schilderte und davon sprach, daß es ihrer Ansicht nach keinen vernünftigen Grund für einen Sturz der Tanne gegeben hatte, wurde er stutzig.
»Ich werde dieser Sache sofort persönlich nachgehen«, versprach er, »sowie die Feuerwehr alarmieren, daß sie das Hindernis von der Straße räumt, ehe noch jemand dagegen knallt.«
Dann dankte er ihr geradezu überschwenglich, ehe er die Frage riskierte, ob sie längere Zeit in der Stadt zu verbringen gedachte. Es war nicht zu übersehen, daß er sich das erhoffte. Aber ehe er sie einladen konnte, machte Silvia ihm klar, daß sie zum Arbeiten hierher gekommen war und nicht zum Urlaubmachen.
Im gleichen Atemzug fragte sie ihn, ob er wüßte, wann der Bürgermeister von St. Pierre sur Roc zu sprechen wäre. Dies entlockte dem jungen Mann ein strahlendes Lächeln.
»Oh! Mademoiselle möchte zu meinem Vater? Welch’ ein Zufall! Heute sitzt er zwar nicht mehr in seinen Amtsräumen, aber morgen früh ab neun Uhr wird er für Sie da sein, Mademoiselle Pattern.«
Silvia, die genau gemerkt hatte, daß ihr Gegenüber vor Neugierde beinahe platzte, dachte nicht im Traum daran, ihm den Gefallen zu tun und ihr Anliegen vor ihm auszubreiten. Sie fand, es wäre besser, zu gehen, um nicht noch Öl aufs Feuer zu gießen. Für ihren Geschmack hatte der oberste Ordnungshüter von St. Pierre nämlich ein wenig zu schnell Feuer gefangen…
*
Der Besitzer des »Cerf Bleu« bemühte sich höchstpersönlich um den neu angekommenen, weiblichen Gast. Monsieur Gaston Rienne, der einundfünfzig Jahre alte Hotelier, war sehr angetan von der aparten Deutschen.
Als sie auf Befragen erwiderte, vorerst würde sie nur drei Tage bleiben wollen, schien er ein wenig enttäuscht zu sein: so charmante Gäste wünschte er sich eigentlich das ganze Jahr über.
»Es ist jetzt sehr ruhig bei uns«, meinte er bedauernd, »wenn der Sommer vorüber ist, ist gewöhnlich bis Weihnachten so ziemlich Schluß mit Übernachtungsgästen.«
»Das könnte sich möglicherweise demnächst ändern, Monsieur Rienne«, kündigte Silvia ein wenig voreilig an und erregte damit sofort die größte Aufmerksamkeit des smarten Geschäftsmannes.
Kurz informierte ihn die hübsche Deutsche über ihr Vorhaben und der Hotelier schien entzückt.
»Ach? Sie wollen uns wirklich deutsche Herren nach St. Pierre sur Roc bringen, welche das primitive Leben in unseren Wäldern ausprobieren und sich anschließend von den Segnungen der Zivilisation wieder verwöhnen lassen wollen? Eine geradezu grandiose Idee, Mademoiselle Pattern! Sie hätten für Ihr Vorhaben gar keinen besser geeigneten Ort als den unseren finden können.«
»Beinahe hätte ich ihn überhaupt nicht gefunden, Monsieur«, lächelte Silvia und erzählte dem Gastwirt, welcher eigenhändig ihr Gepäck in den ersten Stock hievte, von ihrem erschreckenden Erlebnis mit der unvermittelt umstürzenden Tanne, die jetzt quer über der Straße lag und die Zufahrt zum Ort blockierte.
»Mon Dieu! Eine Katastrophe!« rief der lebhafte Monsieur Rienne aus, welcher Silvia sehr stark an Hercule Poirot, den cleveren Detektiv aus Agatha Christies Kriminalromanen, erinnerte.
»Ich werde sofort die Gendarmerie verständigen, sowie unsere Jungs von der Feuerwehr, damit sie das Hindernis beseitigen«, kündigte er an, nachdem er das Zimmer für die attraktive Demoiselle aus dem Nachbarland aufgesperrt hatte.
»Schon erledigt, Monsieur. Ich war bereits bei der Polizei«, beruhigte ihn Silvia, als Herr Rienne ihren Koffer abstellte. Offenbar imponierte dem Mann die Umsicht seines weiblichen Gastes. Er lächelte breit.
»Voila! Hier ist Ihr Zimmer mit Bad und Balkon. Der Blick geht auf den Marktplatz hinaus. Da sieht man mehr und kann das Leben und Treiben besser beobachten, vor allem am Samstag, wenn Markttag ist und alle Bauern aus der Umgebung zu uns kommen und ihre Agrarprodukte anpreisen. Oder hätten Sie es lieber ganz ruhig und ein Zimmer nach hinten hinaus? Unser Innenhof ist ebenfalls sehr hübsch mit lauschigen Lauben und vielen Pflanztrögen…«
»Oh, nein, Monsieur Rienne! Ich mag das lebhafte Markttreiben. Dieses Zimmer ist geradezu perfekt für meinen Geschmack«, rief Silvia, welche nach einem raschen Blick ins moderne Duschbad zurück zur Balkontür geeilt war, diese aufriß und hinaustrat, um den Stadtmittelpunkt von erhöhter Warte aus in Augenschein zu nehmen.
»Ab sieben Uhr können Sie unten im Hotelspeisesaal zu Abend essen, Mademoiselle. Unsere Küche ist weithin berühmt. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt und viel Erfolg bei Ihrer Suche nach einem geeigneten Waldstück für Ihre Robinsone aus Deutschland.«
»Merci beaucoup, Monsieur«, bedankte sich Silvia, die vom Balkon wieder ins Zimmer getreten war und machte sich an ihrem Gepäck zu schaffen. Sie haßte es nämlich, »aus dem Koffer zu leben«. Sobald sie ein Hotelzimmer bezogen hatte, räumte sie als erstes ihre Sachen in die Schränke und Schubladen ein.
Kurz vor dem Verlassen ihres Hotelzimmers mit der Nummer sieben, drehte der Hotelier sich noch einmal um:
»Daß ohne den geringsten Windstoß ein solcher Baumriese einfach umkippt, ist schon sehr schwer zu begreifen.«
Monsieur Gaston Rienne schüttelte ratlos den Kopf und zuckte die breiten Schultern. Dann meinte er: »Ich bin gespannt, was unser Feuerwehrkommandant dazu sagen wird. Unseren Bürgermeister aber wird’s auf jeden Fall freuen, wenn ihm die Bäume den Gefallen tun und von selbst umfallen.«
Silvia horchte auf, aber der Gastwirt des »Blauen Hirschen«, dem zu dämmern schien, daß er bereits zu viel gesagt haben könnte, kniff jetzt die Lippen zusammen, murmelte »à bientôt (auf bald), Mademoiselle«, und verschwand auf einmal ganz eilig.
Monsieur Rienne schalt sich im Geiste einen Idioten. Am liebsten hätte er sich auf die Zunge gebissen. Welcher Teufel hatte ihn nur geritten, daß er jetzt davon anfing? Er konnte nur hoffen, daß die Deutsche nicht so gut französisch verstand, sonst würde sie gewiß so bald wie möglich das Weite suchen.
*
›Nanu?‹ fragte sich Silvia einigermaßen verblüfft. Was konnte der Hotelier nur damit gemeint haben? Wieso sollte der Bürgermeister sich freuen, wenn die Bäume umknickten? Sie sprach zwar recht gut französisch – glaubte sie jedenfalls bisher – aber jetzt zweifelte sie doch daran, denn dieser Satz ergab für sie gar keinen Sinn. Der Maire einer – wenn auch noch so kleinen Gemeinde – mußte seine fünf Sinne beisammen haben und konnte kein Spinner sein, der sich an Katastrophen delektierte. Na, in Kürze würde sie den Herrn ja selbst kennenlernen...
Routiniert räumte sie ihre Kleidung in den geräumigen Schrank ein. Ein kurzer Blick auf ihre Armbanduhr – ein Geschenk von Stefan zu ihrem letzten Geburtstag im Sommer – sagte ihr, daß es erst kurz nach fünf Uhr nachmittags war, also waren es noch zwei ganze Stunden bis zum Abendessen.
Sie würde in die Stadt gehen und sie genauer erkunden. Sicher fand sie in einem Geschäft einen Ortsplan, der ihr vor allem die Wälder und die verschiedenen Wege darin aufzeigte.
*
Der zweistündige Spaziergang hatte das junge Mädchen sehr hungrig gemacht; außer einem reichlichen Frühstück daheim und einer Banane zu Mittag hatte sie heute noch nichts zu sich genommen; infolgedessen freute sie sich auf das Abendessen. Da sie keineswegs unter Gewichtsproblemen zu leiden hatte, würde sie tüchtig zugreifen.
Der Speisesaal im Erdgeschoß des »Cerf Bleu« ging auf den Stadtplatz hinaus; er war reichlich mit Grünpflanzen und blühenden Blumen in Kübeln ausgestattet und erschien jetzt, im dämmerigen Schein gedämpften Lampenlichtes und zahlreicher Kerzen auf den mit weißem Damast gedeckten Tischen sehr heimelig und romantisch.
Unwillkürlich schweiften Silvias Gedanken zu Stefan, aber geschwind schob sie diese beiseite; dafür tauchte vor ihrem geistigen Auge jetzt das gut aussehende Gesicht des Polizeikommissars auf. Sie hatte seine kecken, dunklen Augen, die sie so bewundernd angestarrt hatten, keineswegs vergessen…
Aber auch diesen Gedanken ließ sie sofort in der Versenkung verschwinden. Dieser Jean-Pierre Lacourbe schien ein rechter Windhund zu sein. Wahrscheinlich war er hinter jedem Weiberrock her und sie wäre gut beraten, ihn gar nicht mehr zu beachten…
Ein freundlicher älterer Kellner komplimentierte Silvia an einen Ecktisch am Fenster, von wo aus sie sowohl auf die abendliche Stadt, wie auf den Speisesaal einen ausgezeichneten Blick hatte. Zum Glück war der Gastraum keineswegs so menschenleer, wie Silvia befürchtet hatte.
Nichts empfand die junge Frau so trostlos wie gähnend leere Speisesäle. Aber der »Blaue Hirsch« schien sich auch bei der einheimischen Bevölkerung großer Beliebtheit zu erfreuen. Ein gutes Zeichen für seine Qualität fand Silvia – und sie hatte diesbezüglich reichlich Erfahrung.
Monsieur Gaston Rienne hatte sich am Abend einen schwarzen Smoking angezogen, ähnelte mehr denn je Hercule Poirot und ging von Tisch zu Tisch, um »die honneurs zu machen«. Mit jedem einzelnen Gast wechselte er ein paar liebenswürdige Floskeln. Das Publikum, meist ältere Paare, waren gut angezogen und Silvia war dankbar dafür, daß sie die Eingebung gehabt hatte, sich ebenfalls für diesen Abend ein wenig »aufzubrezeln«.
Nicht zu sehr natürlich, aber genügend, um nicht unangenehm aufzufallen. Dies war entschieden kein Haus, wo man sich in Jeans und Sweatshirt an der Abendtafel niederließ. Ebenfalls ein Pluspunkt für ihr Vorhaben, wie sie fand:
Oftmals war es so, daß die Ehefrauen oder Freundinnen der Herren, welche zehn Tage »in der Wildnis« verbrachten, ihre Männer in angenehmer und »zivilisierter« Umgebung erwarteten, um mit ihren Liebsten anschließend noch ein paar Tage in einem gewissen Luxus zu verbringen.
Sie spitzte die Ohren, als sie am Nebentisch einen Gast – offenbar einen Bürger St. Pierres – ziemlich laut sagen hörte:
»Gabrielle, bitte glaube mir, ich höre in meinem Garten wirklich diese Stimmen, welche nur von den Bäumen kommen können. Sie jammern regelrecht: ›Gnade für uns! Gnade für uns!‹ Ich bilde mir das doch nicht ein!«
Die junge Deutsche hätte sich um ein Haar an ihrem französischen Rotwein verschluckt. Eigentlich sah der distinguierte, ältere Herr, der in Begleitung einer mit Schmuck behängten, nicht mehr ganz jungen Dame erschienen war, doch ganz normal aus…
Monsieur Rienne, der sich ihr gerade zugewandt hatte, um zu fragen, ob alles zu ihrer Zufriedenheit wäre, hatte bemerkt, daß sie die Worte des Gastes vom Nebentisch verstanden hatte; er rollte heimlich mit den Augen und lächelte dabei entschuldigend.
Silvia vermutete, daß er sich am liebsten an die Stirn getippt hätte… Sie vergaß den kleinen Vorfall umgehend, lobte die Küche des Hotels und widmete sich weiter ihrem Abendessen, einem ausgezeichneten »Coq au vin«; als Dessert würde sie sich eine geradezu göttliche Crème brûlée leisten.
Die überzähligen Kalorien könnte sie am nächsten Tag mit Leichtigkeit durch ihren Marsch durch die umliegenden Wälder wieder loswerden.
Ehe sie ziemlich früh zu Bett ging, telefonierte sie noch rasch mit einem ihrer beiden Chefs, um ihm Mitteilung zu machen, daß sie mit beinahe hundertprozentiger Sicherheit ein geeignetes Terrain gefunden hätte, um streßgeplagte Manager für viel Geld der Illusion auszusetzen, für etwa zehn Tage wie weiland Robinson Crusoe mutterseelenallein und ohne irgendwelche technische Erfindungen – wozu beispielsweise auch Streichhölzer zählten – für ihr Überleben selbständig sorgen zu können.
»Ich habe mich während eines Spaziergangs durch den Ort mit verschiedenen Leuten unterhalten und was ich über die Möglichkeiten, in den hiesigen Wäldern für ein paar Tage leben zu können, erfahren habe, klingt geradezu sensationell, Herr Steigleder«, meldete sie ihrem Juniorchef.
Steigleder senior hatte vor zehn Jahren bereits die Idee zu solchen Überlebenscamps gehabt und inzwischen war dies der Renner geworden.
Silvia hatte beinahe ein schlechtes Gewissen, weil sie so schamlos übertrieb. In Wirklichkeit hatte sie – von einem vagen, ersten Eindruck einmal abgesehen – überhaupt keine Gewißheit, ob dieses St. Pierre sur Roc in Frage käme.
»Vergessen Sie ja nicht, zum Bürgermeister dieses Kaffs zu gehen und Bescheid zu geben, daß Sie in den nächsten beiden Tagen die Gegend unsicher machen wollen. Es ist zu Ihrem eigenen Schutz! Falls Sie im Wald verunglücken sollten, wüßte sonst kein Mensch, wo er nach Ihnen suchen sollte und außerdem erfahren Sie auf diese Weise, wo eventuell gejagt wird.«
Das sagte er jedes Mal und Silvia unterdrückte ein Gähnen. Als ob sie das nicht selber wüßte!
»Klar, Chef«, beruhigte sie den Junior, »das mache ich doch immer.«
Florian Steigleder brummte etwa, was wohl ein Lob für ihre Findigkeit und Umsicht sein sollte und wünschte ihr noch einen schönen Abend.
Silvia Pattern legte auf, um noch einmal auf den Balkon zu gehen. Die Bewohner von St. Pierre – diesem »Kaff«, wie ihr Chef es genannt hatte – schienen tatsächlich mit den Hühnern schlafen zu gehen. Kurz nach neun Uhr abends war der Marktplatz bereits wie leergefegt.
Da der Abend lau war, ließ sie die Balkontür offen. Bald darauf war die junge Frau eingeschlafen.
*
Im Wald auf dem Pic Noir, der höchsten Erhebung der Gegend um St. Pierre sur Roc, herrschte in dieser lauen, sternklaren Nacht gewaltiger Aufruhr. Falls sich allerdings Menschen dort aufgehalten hätten, hätten sie davon gar nichts wahrgenommen.
Unhörbar für menschliche Ohren planten die Waldbewohner den Aufstand. Die Geister – welche in jedem Baum lebten – hatten von dem perfiden Vorhaben erfahren, ihre Heimstatt – und damit sie selbst – für immer zu vernichten!
Eine Gruppe von Stadträten war nämlich vor einiger Zeit im Wald aufgetaucht und hatte laut darüber debattiert, was alles der Kettensäge zum Opfer fallen müßte. Bald war klar, daß der gesamte Stadtwald abgeholzt werden würde.
Eine hundertjährige Tanne war der Wortführer und alle übrigen Geister der einzelnen Bäume gaben ihren Kommentar dazu ab. Die Tanne sagte gerade:
»Hoffentlich hat sich das freiwillige Opfer unserer heldenmütigen Schwester unten vor der Stadt gelohnt. Völlig selbstlos hat sie ihr Leben hingegeben und sich quer über die Zufahrtstraße gelegt.«
»Ich befürchte, daß die Menschen in ihrer kleingeistigen Beschränktheit gar nicht begreifen, was unsere Schwester damit ausdrücken wollte«, widersprach eine Buche und schüttelte aufgeregt ihre Äste.
»Das denke ich auch«, meldete sich eine Esche zu Wort, »sie werden glauben, der Baum wäre alt und morsch gewesen und hätte daher seinen Halt verloren.«
»Ach, was«, lachte eine dicke Eiche bitter auf, »so dämlich sind die Zweibeiner nun gerade nicht! Sie werden doch sehen, daß das Holz der Tanne kerngesund war. Aber ob sie den richtigen Schluß aus dieser Tatsache ziehen, das wage ich allerdings auch zu bezweifeln.«
»Sicherlich wollte dieser weibliche Mensch, der mit einem lauten und stinkenden Auto ankam, die Stadt und seine Bewohner bei ihrer mörderischen Aktion auch noch unterstützen«, mutmaßte die Esche und fuhr dann fort:
»Eigentlich schade, daß unsere Schwester nicht auf das Auto…«
Aber da fuhr die Hundertjährige barsch dazwischen:
»Sprich es nicht aus, Schwester! Das wäre zu schlimm und wir wären dann um kein Blatt und um keine Nadel besser als die unvernünftigen Zweibeiner. Eigentlich sind die Menschen ja nicht wirklich böse, sie besitzen nur zu wenig Verstand und sehen bloß ihren materiellen Vorteil.«
»Das glaube ich auch«, versuchte eine kleine Fichte die aufgebrachten Gemüter ein wenig zu besänftigen, »man müßte einen Weg finden, um den Leuten klar zu machen, wie sehr sie sich selbst schaden, wenn sie uns, die Wälder, zerstören und alles zubetonieren, nur weil sie sich ein gutes Geschäft davon versprechen.«
»Diese Meinung teile ich auch«, riß die uralte Tanne, welche alle übrigen Bäume überragte, die Gesprächsleitung wieder an sich. »Wir werden uns etwas einfallen lassen müssen, um die Menschen aufzurütteln in ihrem kurzsichtigen Denken. Vielleicht gelingt es uns noch in letzter Sekunde, die Zahl der Gegner dieses Flughafenprojektes zu vergrößern, so daß der Bürgermeister eine neue Abstimmung machen lassen muß und die Naturfreunde sich dieses Mal durchsetzen.
Leicht wird es allerdings nicht werden«, sprach der Geist der greisen Tanne weiter, »denn die Pläne für unseren Tod sind schon sehr weit gediehen und ich warne euch alle vor allzu großem Optimismus. Wenn wir uns sehr anstrengen und jeder, der in diesem Wald lebt – ich meine damit auch die Tiere – sein Bestes gibt, dann stehen unsere Aussichten halbe-halbe, daß wir ungeschoren davonkommen, meine Schwestern und Brüder.«
»Ja«, meinte ein Ahorn, der sich bis jetzt in der Diskussion zurückgehalten hatte, »wir werden alle sehr angestrengt nachdenken müssen, wie wir den Widerstand gestalten wollen. Ich bin optimistischer als du, Schwester, und glaube, daß unsere Chancen viel besser stehen.«
»Ja, ja!« jubelte eine noch junge Blutbuche, »wir werden es schaffen! Ich bin noch so jung, weshalb sollte mich die Axt des Holzfällers treffen?«
»Eher die Kettensäge«, brummte der Geist einer schon recht betagten Fichte, die bereits ihre sämtlichen Zweige traurig hängen ließ.
»Keine Unkenrufe«, gebot die weise Tanne streng. »Schlechte Gedanken beeinflussen unsere Ideen und wir brauchen gute Einfälle, wenn wir etwas erreichen wollen, Freunde.«
Die Tiere des Waldes aber hatten aufmerksam der Debatte der Bäume gelauscht und alle wurden dadurch aus ihrer Lethargie gerissen, welche sich bereits ihrer Herzen und Gehirne bemächtigt hatte.
Viele von ihnen hatten schon mit ihrem Leben abgeschlossen gehabt. Wohin sollten sie sich wenden, wenn die große Abholzaktion zu Ende und die Lebensgrundlage jedes Einzelnen mutwillig zerstört waren?
Nicht nur Rehe und Hirsche, Hasen und Füchse oder Wildschweine wären dann dem Tod geweiht, auch für die Kleinen, wie Käfer, Würmer, Ameisen und Schmetterlinge, bedeutete dies das Ende…
*
Als Silvia am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie sich voller Tatendrang. Die junge Frau sang sogar unter der Dusche – etwas, was sie seit der Trennung von Stefan nicht mehr getan hatte. Als sie sich gründlich einseifte, fiel ihr auf einmal ihr merkwürdiger Traum von vergangener Nacht ein. Sie hatte ganz deutlich Stimmen gehört, welche um Hilfe und Mitleid gebeten hatten: »Helft uns!« »Laßt nicht zu, daß sie uns umbringen!« »Habt Erbarmen mit uns!«
›Vermutlich ist mir im Schlaf der Gedanke an den älteren Gast von gestern abend durch den Sinn gegeistert‹, dachte sie und schmunzelte. Der Herr hatte doch davon gesprochen, daß er Bäume gehört hätte, die um Hilfe gerufen hätten, oder so ähnlich. Hm. Eigenartig war das Ganze aber schon.
›Irgendeine vernünftige Erklärung gibt es für alles‹, dachte die junge Frau und zwängte sich rasch in ihre neuen, engen Jeans, wählte eine roséfarbene Bluse und ein farblich passendes Sweatshirt dazu und schlüpfte zum Schluß in flotte, bequeme Laufschuhe. Geeignetes Schuhwerk war in ihrem Job das A und O.
Als sie nach dem Frühstück das Hotel verlassen wollte, hielt Monsieur Gaston Rienne, sie auf.
»Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Tag, Mademoiselle, und viel Erfolg bei Ihrer Suche. Hoffentlich gestaltet sich der Tag angenehmer als die vergangene Nacht, nicht wahr?«
Auf Silvias fragenden Blick hin trat er näher und senkte vertraulich seine Stimme: »Haben Sie letzte Nacht nicht die Totenvögel schreien gehört, Mademoiselle Pattern?«
»Welche ›Totenvögel‹, Monsieur?« fragte diese verdutzt und leicht beunruhigt. Unwillkürlich war sie zusammengeschaudert, als hätte ein eiskalter Windhauch sie gestreift. Unbemerkt von beiden war auch der Ober von gestern abend herangetreten und flüsterte jetzt beinahe:
»Ich hab’ die Schleiereulen, Uhus und Käuze auch gehört, Chef. Die ganze Nacht hindurch haben diese Biester schaurig geheult und gekrächzt und mich
nicht schlafen lassen. Es müssen Hunderte gewesen sein.«
»So ging es mir ebenfalls«, beschwerte sich Monsieur Rienne, »kein Auge habe ich zugetan, so unheimlich war das.«
»Oh, das tut mir aber leid, Messieurs.« Silvia hatte irgendwie das unbestimmte Gefühl, sich dafür entschuldigen zu müssen, daß sie ihrerseits hervorragend geruht hatte, aber lügen wollte sie keinesfalls. »Ich habe nichts dergleichen gehört; im Gegenteil, ich habe selten so tief und fest geschlafen. Ich hatte bloß einen seltsamen Traum.«
»Das spricht zum einen für Ihre Jugend und zum anderen für unsere guten und bequemen Betten, Mademoiselle«, lächelte der Hotelier, der heute dunkle Ringe unter seinen braunen Augen hatte. »Das beruhigt mich sehr. Es wäre doch zu peinlich, wenn unsere geschätzten Gäste wegen ein paar Nachtvögeln ihre verdiente Nachtruhe einbüßten.«
Allmählich war Silvia ein klein wenig beunruhigt. Der Kellner sprach von »Hunderten« und sein Chef versuchte jetzt wieder abzuwiegeln, in dem er von »ein paar« redete. Sie war nicht gerade scharf darauf, ihre Kunden in einen Ort zu lotsen, wo es anscheinend üblich war, daß Uhus und Käuze die Leute am Schlafen hinderten.
Und wie war das mit den seltsamen Stimmen gewesen, die sie gehört hatte und was genau hatten sie gesagt? Aber das hatte sie ja bloß geträumt. Außerdem wollte sie jetzt keine große Debatte beginnen, sondern schleunigst gegenüber zum Rathaus und ihr Vorhaben beim Bürgermeister ankündigen.