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Heimatkinder
– Jubiläumsbox 4 –

E-Book 17-22

Diverse Autoren

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-840-7

Weitere Titel im Angebot:

Heiraten, wie geht denn das?

Zwei kleine Liebesboten erleben ein Abenteuer

Roman von Kathrin Singer

»Opa, wann kommt der Zug denn endlich?« Benedikt hüpfte aufgeregt von einem Bein auf das andere.

»Er müßte schon längst da sein«, murmelte der Großvater vor sich hin.

Die gedrehten Spitzen seines mächtigen Schnauzbartes zitterten leicht.

Jeder, der Simon Schubert kannte, wußte, daß das bei ihm ein Zeichen höchster Erregung war.

Seit einer halben Stunde stand der alte Schwalbenhof-Bauer bereits auf dem Bahnsteig. An der einen Hand hielt er seine Enkelin Annerl und an der anderen ihren Bruder Benedikt.

Annerl sprach kein Wort. Ihre Augen waren weit aufgerissen, und die sonst roten Wangen zeigten eine ungewöhnliche Blässe.

Endlich war in der Ferne der Triebwagen zu erkennen, und kurze Zeit später fuhr der Zug in den Bahnhof ein.

Benedikt hatte keinen Blick für die Lokomotive, obwohl er sich sonst alles, was mit der Eisenbahn zusammenhing, sehr genau ansah.

Heute war ein besonderer Tag für die Kinder: Der Vater sollte nach längerer Abwesenheit wieder einmal nach Hause kommen.

Mit weitausgreifenden Schritten ging Simon Schubert über den Bahnsteig. Er und die Kinder musterten jeden Aussteigenden.

Plötzlich stieß Benedikt einen Schrei aus. »Papa!«

Er riß sich von der Hand des Großvaters los und lief auf einen hochgewachsenen, braungebrannten Mann mit dunklem Haar zu.

»Beni, Bub! Wie schön, daß ich dich endlich wiederseh’.« Martin Schubert hatte Tränen in den Augen, als er seinen Sohn in die Arme schloß. Dann wandte er sich seiner Tochter zu.

»Mei, Annerl, bist du aber groß geworden.«

Das Madl errötete vor Stolz. Die Blässe war jetzt gänzlich verschwunden, und das niedliche Gesichterl glühte vor Aufregung und Freude.

Der Vater nahm Annerl in die Arme und drückte sie fest gegen seinen breiten Brustkorb.

Die Kinder klammerten sich an ihn. Erst nach Minuten fand Martin Schubert die Zeit, seinen Vater zu begrüßen.

Die beiden Männer tauschten einen festen Händedruck.

Die Augen des alten Schwalbenhof-Bauern waren feucht. Verstohlen wischte er sich mit dem Handrücken über die Lider.

»Bub! Wie schön, daß du endlich wieder einmal heimkommst. Deine Mutter ist vor Freude fast außer sich.«

Simon Schubert verschwieg, daß es ihm ähnlich ging wie seiner Frau, denn er war noch in dem Geist erzogen, daß es unschicklich war, wenn Männer ihre Gefühle offen zeigten.

Die vier strebten dem Ausgang zu. Simon Schubert ging mit seinem Sohn voran, die Kinder folgten.

»Bub, wie lange bleibst denn diesmal?« fragte der Alte, und seine Stimme schwankte leicht bei diesen Worten.

Benedikt hatte seiner Schwester leise eine Frage gestellt, doch Annerl winkte hastig ab. Sie wollte die Antwort des Vaters hören.

»…mehrere Monate«, hörte sie ihn gerade noch sagen und atmete erleichtert auf. Doch dann verdunkelte sich ihre Miene wieder. Wenn der Vater auch mehrere Monate daheim blieb, so bedeutete das doch, daß er irgendwann wieder fortging.

»Warum sagt der Opa zu unserem Papa allweil noch Bub?« wiederholte Benedikt nun seine Frage. »Der Papa ist doch ein erwachsener Mann und kein Bub mehr.«

Annerl schaute ihn ärgerlich an.

Darauf wußte sie keine Antwort, aber das wollte sie nicht zugeben, deshalb erklärte sie von oben herab: »Du stellst immer so dumme Fragen.«

»Meine Fragen sind net dumm«, protestierte Benedikt. Er überlegte einen Moment lang angestrengt, und dann leuchteten seine Augen auf. »Meinst, der Opa sagt Bub zu unserem Papa, weil er ihn net richtig sehen kann? Du weißt doch, wie ungern er seine Brille trägt, und die Oma sagt immer, er wird noch einmal über seine eigenen Füß’ stolpern.«

Annerl schüttelte entschieden den Kopf. »Gewiß kann er ihn auch ohne Brille sehen. Er sagt halt Bub zu ihm, weil es ja sein Sohn ist. Das ist doch ganz einfach.« Sie war zutiefst erleichtert, daß ihr diese Antwort eingefallen war.

Benedikt wirkte zwar noch nicht ganz überzeugt, aber er stellte keine Fragen mehr zu diesem Thema, denn es gab soviel anderes, was ihm durch den Kopf ging.

Er lief etwas rascher und griff nach der Hand des Vaters. Die Erwachsenen unterbrachen ihr Gespräch, und Martin Schubert beugte sich zu seinem Sohn hinunter. Stolz schaute er ihn an. »Ich freu’ mich ja so sehr, dich wiederzusehen, Beni. Was hast denn in der letzten Zeit gemacht, als ich fort war?«

»Net viel«, antwortete der Kleine treuherzig.

Der Vater lachte laut auf. Jetzt legte er den Arm um Annerl, die sich zwischen ihn und den Großvater drängte.

»So, nun erzählt mir erst einmal, was ihr euch wünscht.«

Annerl schluckte. Sie hatte einen ganz bestimmten Wunsch, aber sie ahnte, daß er nicht in Erfüllung gehen würde.

»Ich wünsch’ mir eine elektrische Eisenbahn«, erklärte Benedikt sofort.

»Und was möchtest du haben, Schatzerl?« Liebevoll strich Martin Schubert seiner Tochter über das blonde, lockige Haar.

»Ich... ich wünsch’ mir so sehr, daß du für immer daheim bleibst, Papa.«

Ein Schatten fiel über das Gesicht des jungen Schwalbenhof-Bauern. Er bemerkte nicht, daß auch sein Vater ihn gespannt von der Seite anschaute und auf seine Antwort wartete.

»Du weißt doch, daß ich einen Vertrag unterschrieben hab’, Annerl«, meinte er schließlich. »Ich hab’ jetzt mehrere Monate Urlaub, aber dann muß ich wieder zurück. Sie brauchen mich dort, verstehst du?« fügte er eindringlich hinzu.

Das Madl schüttelte den Kopf.

Wußte der Vater denn nicht, daß sie ihn auf dem Schwalbenhof genauso brauchten wie dort irgendwo in einem fremden Land?

Vor drei Jahren war Annerls und Benedikts Mutter gestorben, und Martin Schubert hatte den Verlust seiner Frau noch immer nicht überwinden können. Sie waren so glücklich miteinander gewesen auf dem Schwalbenhof und in dem kleinen Ort Talbrunn, in dem er geboren worden war und zeit seines Lebens gelebt hatte. Dort erinnerte ihn nun alles an Susanne.

Oft hatte er das Gefühl, der Schmerz zerreiße ihn. Selbst das Zusammensein mit seinen Kindern machte ihn traurig. Sie fragten oft nach der Mutter, und er war immer um eine Antwort verlegen.

Warum hatte der Herrgott Susanne auch so früh zu sich gerufen? Sie war so lebensfroh und liebenswert gewesen.

Martin Schubert wußte selbstverständlich, daß es zu einfach war, die Verantwortung für alles, was auf dieser Welt geschah, dem lieben Gott zuzuschieben. Doch so sehr er auch grübelte und nach dem Sinn des Lebens forschte, er fand keine Antwort.

Der junge Schwalbenhof-Bauer hatte es daheim nicht mehr ausgehalten. Er hatte nur noch einen Wunsch gehabt: Fortzugehen und vergessen, daß auf dem kleinen Kirchhof in Talbrunn seine geliebte Susanne begraben lag. Niemals wieder würde er ihr Lachen hören, niemals mit ihr die langen, vertrauten Gespräche führen, die sie einander so nahe gebracht hatten. Und niemals mehr würde sie in seinen Armen liegen!

Martin hatte schließlich einen Entschluß gefaßt und so fiel es ihm nicht schwer, einen Posten als landwirtschaftlicher Berater in einem Entwicklungsland zu finden.

Dort – fern von der Heimat, unter fremden Menschen, inmitten einer anderen Kultur – fiel es ihm nicht mehr ganz so schwer, all das zu verdrängen, was ihn bedrückte.

Regelmäßig kam der junge Schwalbenhof-Bauer heim. Er wußte, daß seine Eltern und seine Kinder sehnsüchtig auf ihn warteten.

Und manchmal fühlte er sich schuldig. Machte er es sich nicht zu einfach, indem er einfach fortlief?

Annerl und Beni sind bei ihren Großeltern sehr gut aufgehoben. Sie vermissen mich net, sagte er sich immer wieder.

Mit diesen Gedanken versuchte er das nagende, schlechte Gewissen zu betäuben und wußte doch, daß er sich selber belog.

*

»Bub, mei wie schön, daß du endlich einmal wieder daheim bist.«

Maria Schubert umarmte ihren Sohn. Sie reichte ihm gerade bis zum Kinn. Er drückte sie fest an sich.

»Hörst, die Oma hat auch Bub zum Papa gesagt«, tuschelte Annerl ihrem Bruder zu. »Und sie kann noch sehr gut sehen, auch ohne eine Brille. Erkennst jetzt endlich, wie dumm du bist.«

»Ich bin net dumm«, protestierte der Bub halblaut. Aber sein Protest klang recht schwach, weil ihm so viel anderes durch den Kopf ging. Er hätte den Papa am liebsten mit Fragen überschüttet, doch Beni kannte die Erwachsenen gut genug, um zu wissen, daß sie sich erst einmal sehr viel zu erzählen hatten.

Und so war es auch. Die Familie setzte sich in die Stube. Nachdem Martin Schubert das Gesinde begrüßt hatte, servierte eine der Mägde ein reichhaltiges Abendessen.

»Nun erzähl erst einmal, was du in den letzten Monaten erlebt hast«, bat die Großmutter.

Die Kinder warteten gespannt auf das, was der Vater berichten würde.

Doch der junge Schwalbenhof-Bauer winkte ab. »Da gibt’s net viel zu erzählen, Mutter. Bei mir läuft alles immer im gleichen Trott. Die Arbeit ist net leicht.« Seine Miene verdüsterte sich »Und ich wünscht’, wir bekämen mehr Unterstützung und mehr Gelder von unserem Staat.«

Er schaute zum Fenster hinaus. »Man kann die Landwirtschaft in einem Entwicklungsland net mit der unsrigen vergleichen. Wir arbeiten hier viel rationeller, und unsere Ernten fallen auch entsprechend aus.«

»Hast denn net oft Heimweh, Martin?« fragte der alte Schwalbenhof- Bauer.

»Ja, das hab’ ich«, gab der Sohn zu und lächelte seine Kinder und seine Eltern an. »Ihr glaubt gar net, wie sehr ich mich freu’, endlich wieder daheim zu sein.«

»Aber warum bleibst du denn net allweil bei uns?« wandte die Mutter ein.

»Dein Vater wird alt, und eigentlich solltest du den Hof übernehmen.«

»Dann braucht der Papa aber eine Frau!« rief Benedikt. »Das hat die Frau vom Krämer gesagt«, fügte er ein wenig verlegen hinzu, als er die Betretenheit der Erwachsenen sah.

Martin Schubert lachte kurz auf.

»Die Frau vom Krämer soll sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.«

Unbehagliches Schweigen trat ein, bis Simon Schubert sich schließlich räusperte. »Komm, Bub«, meinte er und stand auf. »Wir zwei gehen jetzt ins Wirtshaus. Du willst doch gewiß die anderen Leute aus dem Dorf wiedersehen!«

»Das ist eine gute Idee«, stimmte sein Sohn zu. »Ich hätt’ schon Lust auf eine schöne, frische Maß Bier mit einer gehörigen weißen Schaumkrone drauf.«

»Opa, dann singst heut nacht wieder, gell?« fragte Annerl.

»Und morgen früh verlangst von der Oma einen sauren Hering zum Frühstück und stöhnst, daß dein Kopf dir weh tut«, fügte Beni unschuldig hinzu.

»Geh, Kinder redet net so einen Schmarrn«, erwiderte der Großvater unwirsch.

»Wenn’s doch aber stimmt«, murmelte Benedikt vor sich hin.

Die Großmutter warf ihm einen strengen Blick zu, doch um ihren Mund spielte ein Lächeln.

»Für euch wird es Zeit, ins Bett zu gehen«, sagte sie resolut. »Sagt eurem Vater gute Nacht, und dann marsch ab ins Bad. In einer halben Stunde komm’ ich und sprech’ mit euch das Nachtgebet.«

»Ooooh... och...«, kam es einstimmig zurück. »Wir haben geglaubt, wenn der Vater da ist, dann könnten wir länger aufbleiben.«

»Es ist schon später als gewöhnlich«, gab die Großmutter zu bedenken. »Aber weil heut ein besonderer Tag ist, bekommt ihr auch noch ein leckeres Guterl.«

Das versöhnte Annerl und Benedikt ein wenig mit dem frühen Zubettgehen, gegen das sie jeden Abend heftigst protestierten. Allerdings immer ohne Erfolg.

Der Vater gab beiden noch ein liebes Busserl, und Annerl legte für einen Moment die Arme um seinen Nacken und preßte ihr Gesichterl gegen seine rauhe Wange.

»Spielst morgen früh mit uns, Papa?«

»Ja, das mach’ ich«, versprach er.

Eine halbe Stunde später gingen er und sein Vater aus dem Haus. Am Hoftor drehte Martin sich noch einmal um und schaute zurück.

Mit einem langen Blick betrachtete er alles. Das behäbige alte Bauernhaus, die sorgfältig instandgehaltenen Ställe und die große Scheune, in der das Heu und Stroh für den Winter lagerte.

Schweigend stand der Vater neben ihm und schaute ihn still von der Seite an. Simon Schubert wünschte sich so sehr, daß sein Sohn wieder daheimbleiben würde. Doch er kannte Martin gut genug, um zu wissen, daß jedes Drängen ihn eher dazu bringen würde, länger fortzubleiben.

Doch irgendwann mußte die Wunde, die Susannes Tod hinterlassen hatte, ja einmal verheilen. Auf diesen Tag wartete der alte Schwalbenhof-Bauer. Dann würde sein Sohn daheimbleiben, den Hof übernehmen, und er konnte sich in Ruhe aufs Altenteil zurückziehen.

Nebeneinander schritten sie die stille Dorfstraße entlang. Einige der Bauern kamen gerade von ihren Feldern zurück und begrüßten die Männer vom Schwalbenhof freundlich.

In Talbrunn kannte jeder jeden, und man wußte über die Verhältnisse der Nachbarn oft besser Bescheid als über die der eigenen Familie.

Simon Schubert erzählte auf dem Weg seinem Sohn den neuesten Dorfklatsch. »Der Bärenwirt hat eine neue Kellnerin, ein blitzsauberes Madl, das will ich dir sagen, Bub. Vielleicht könnt’ sie dir ja gefallen.«

Leise Hoffnung sprach aus seiner Stimme. Er dachte an die Worte, die sein Enkel beim Abendbrot geäußert hatte. So dumm war es ja gar nicht, was der Beni gesagt hatte. Wenn Martin eine passende Frau fand, die er gern hatte, dann würde er gewiß bleiben und die traurige Vergangenheit vergessen.

Doch sein Sohn brummte nur etwas Unverständliches vor sich hin.

Bald hatten sie ihr Ziel erreicht und stiegen die Stufen, die zur Eingangstür des Wirtshauses führten, hinauf. Martin öffnete die schwere Tür und ließ seinem Vater den Vortritt.

Der alte Schwalbenhof-Bauer wurde mit großem Hallo begrüßt. Am Stammtisch in der Ecke saßen einige Bauern und spielten Schafkopf.

Als Simon Schubert sich mit seinem Sohn zu ihnen setzte, legten sie die Karten fort.

»Mei, Martin, daß wir dich auch einmal wiedersehen. Warst ja lang fort.«

Der junge Bauer nickte und bestellte eine Runde Bier für alle.

Sein Vater gab ihm einen Stoß in die Seite, als die Kellnerin an den Tisch trat.

Walli war tatsächlich außerordentlich kurvenreich gebaut, und die Männer am Stammtisch bekamen Stielaugen, als sie sich über den Tisch beugte, um die Maßkrüge zu verteilen.

Plötzlich stieß sie einen Quietscher aus, drehte sich mit einer unglaublich schnellen Bewegung herum und schlug einem der Burschen auf die Hand.

»Untersteh dich noch einmal, mich zu kneifen, Dieckner-Bauer!« rief sie zornig.

»Geh, Walli, stell dich net so an«, brummte er. »Ich weiß doch, daß du es gern hast, wenn ein Mannsbild dich anfaßt.«

»Von wem ich mich anfassen laß und von wem net, das bestimm’ allweil noch ich«, fauchte sie ihn an.

»Da hörst es wieder, Dicker. Die Frauen stehen net auf dich«, meinte einer der jüngeren Bauern.

Benjamin Dieckner verzog sein Gesicht. Er konnte es nicht ausstehen, wenn man ihn Dicker rief, denn er war ausgesprochen schlank. Diesen Spitznamen besaß er schon seit vielen Jahren, und jeder Protest hatte sich bisher als nutzlos erwiesen. Doch auch heute konnte er es nicht unterlassen zu murmeln: »Ich heiß Dieckner und net Dicker.«

Warum seine Eltern ihn auch noch auf den Namen Benjamin getauft hatten, wußte niemand. Man fragte auch nicht danach, denn schließlich war man daran gewöhnt.

Es wurde ein lustiger und langer Abend beim Bärenwirt. Walli mußte sich noch öfter gefallen lassen, daß eins der Mannsbilder ihr zuzwinkerte und es nicht unterlassen konnte, sie dorthin zu kneifen, wo sie es gar nicht mochte.

Spät in der Nacht stellte sich heraus, daß Annerl mit ihrer Prophezeiung recht gehabt hatte. Der alte Schwalbenhof-Bauer sang laut, wenn auch nicht gerade sehr melodiös, als er am Arm seines Sohnes heimkam.

*

»Net so laut, Kinder«, brummte der Großvater und faßte sich mit beiden Händen an den Kopf, als hätte er Angst, ihn zu verlieren.

Benedikt wollte eine freche Bemerkung machen, doch ein strenger Blick der Großmutter hieß ihn schweigen. Trotzig schob er die Unterlippe vor. Die Erwachsenen waren manchmal wirklich kompliziert. Was man auch tat oder sagte, allweil hatten sie etwas dagegen.

»Geht schon hinaus und spielt«, bat der Vater. »Ich komm’ dann später zu euch.«

Die Kinder verließen das Haus durch die Hintertür und gingen durch den Hühnerhof. Die Hennen kamen gackernd angelaufen, weil sie sich Futter erhofften, doch sie wurden enttäuscht. Annerl, die ihnen sonst gewöhnlich eine Schaufel Körner hinwarf, hatte jetzt etwas anderes im Sinn.

Sie winkte Benedikt und er folgte ihr. Nebeneinander überstiegen sie den Zaun, hinter dem sich eine große, saftig-grüne Wiese erstreckte.

Hier spielten die Kinder oft miteinander. Annerl wand sich Kränzchen aus Gänseblümchen und Benedikt tat es ihr nach, obwohl er es eigentlich für »Weiberkram« hielt, wie er sagte.

Annerl konnte nämlich wunderbare Geschichten erzählen, und für den Buben gab es nichts Schöneres, als ihr zuzuhören.

Doch heute sprach das Madl kaum ein Wort.

»Ich hab’ nachgedacht«, verkündete sie nach einer Weile des Schweigens.

»Worüber hast du nachgedacht?« fragte Benedikt.

»Darüber, wie wir es schaffen können, daß der Papa für immer bei uns bleibt.«

»So? Und weißt du jetzt, was wir machen können?« fragte er eifrig.

Sie nickte gewichtig mit dem Kopf. »Ja, ich weiß es. Wenn der Vater wieder heiratet, dann bleibt er gewiß hier.«

»Aber das hab’ ich doch gestern schon gesagt!« Benedikt war empört. Annerl sollte sich unterstehen zu behaupten, das sei ihre Idee. Schließlich war es seine.

Und wenn man es ganz genau nahm, kam dieser Vorschlag ja von der Krämersfrau.

»Ist doch egal, wer es zuerst gesagt hat«, begehrte das Madl auf. »Wichtig ist doch nur, daß wir eine passende Frau für den Papa finden. Uns muß sie gefallen Oder willst gar eine böse Stiefmutter haben?«

Der Bub schluckte, als er an die vielen Märchen dachte, die die Großmutter ihm vorgelesen hatte. Alle Stiefmütter, die darin vorkamen, waren böse.

»Ist es denn wirklich so?« fragte er kleinlaut.

»Was?«

»Na ja, daß die neue Frau vom Papa uns vielleicht net mag.«

»Wie kommst denn darauf?« fuhr Annerl ihn an.

Der Bub schwieg verstört. Wie sollte er der Schwester auch seine Gedanken erklären? Schließlich waren es Märchen, an die er dachte. Trotzdem hatte er plötzlich ein unbestimmtes Angstgefühl. Sein Mund wurde ganz trocken.

»Vielleicht ist es doch besser, wenn der Papa net wieder heiratet«, meinte er.

»Aber dann geht er doch allweil wieder fort!« rief Annerl ärgerlich. Begriff Beni denn nicht, wie wichtig es war, daß der Vater eine neue Frau fand?

Eigentlich gefiel ihr diese Idee ja auch nicht, aber irgend etwas mußte geschehen.

»Wir müssen eine finden«, überlegte sie laut.

»Was müssen wir finden?« fragte Benedikt.

»Eine Frau, die uns gefällt und dem Vater auch. Davon red’ ich doch die ganze Zeit«, rief sie ungeduldig.

Der Bub ärgerte sich jetzt noch mehr. Annerl war heute wirklich unausstehlich. Am liebsten hätte er sich mit ihr gebalgt, aber er wußte ja, daß sie stärker war als er, und deshalb ließ er es sein.

»Und wo willst sie finden?« fragte er statt dessen.

Das Madl seufzte. »Weiß ich doch auch net.«

Benedikt dachte an all die Frauen, die er kannte. Aber ihm fiel keine ein, die er gern zur Mutter haben wollte.

»Und wenn wir die Frau vom Kramer fragen, ob sie den Papa heiratet?« schlug er unentschlossen vor.

Annerl schüttelte den Kopf und sah ihn stirnrunzelnd an. »Mei, die hat doch schon einen Mann. Nein, es muß eine ledige Frau sein.«

»Die Veronika Burger ist noch net verheiratet.« Benedikt strahlte vor Stolz, weil er diesen Gedanken gehabt hatte.

Aber auch diesmal schüttelte Annerl nur den Kopf. »Die Burger-Veronika ist viel zu jung. Die muß doch noch zur Schul’ gehen.«

»Ach so, dann geht es auch net.« Der Bub überlegte angestrengt. »Wie geht das eigentlich, heiraten?« fragte er nach einer Weile.

»Das weißt du doch«, erklärte die Schwester ungeduldig. »Wenn ein Mann und eine Frau sich gern haben, dann gehen sie zusammen in die Kirche, und dann erzählt ihnen der Pfarrer etwas. Anschließend essen und trinken sie und viele Leute kommen ins Haus, und dann legen sie sich in ein Bett.«

»Und warum gehen sie zusammen ins Bett?« wollte Benedikt wissen.

»Na ja, weil das halt so ist.« Annerl zuckte mit den schmalen Schultern. Sie wurde immer ungeduldiger. Benedikt war ja noch so dumm. Gewiß, er kam erst in die Schule, aber manchmal war es doch sehr schwer, mit ihm umzugehen.

Immer wollte er alles wissen und stellte furchtbar viele Fragen. Obwohl sie selbst ja jetzt schon in die zweite Klasse ging und sehr viel gelernt hatte, wußte sie doch nicht auf alle Fragen eine Antwort. Das ärgerte sie mächtig, denn sie war sehr ehrgeizig.

»Komm, wir gehen zum Waldrand und spielen Verstecken«, schlug der Bub jetzt vor.

»Papa kommt doch gleich«, wandte Annerl ein.

Ihr Bruder winkte ab. »Das dauert noch lang’, bis er kommt. Du weißt doch, die Erwachsenen haben sich allweil soviel zu erzählen.«

»Vielleicht hast du recht«, stimmte das Madl zu. Sie liefen durch das saftige grüne Gras und erreichten atemlos die Bank am Waldrand, einem ihrer Lieblingsplätze. Im Sommer war es schön kühl unter den schattigen Baumkronen.

Manchmal kamen auch Wanderer an diesen Ort, um zu verschnaufen. Oft waren es Fremde, die Urlaub im Sporthotel von Talbrunn machten.

Annerl und Benedikt hatten schon manche interessante Unterhaltung mit ihnen geführt. Die Fremden sprachen so komisch, daß die Kinder immer darüber lachen mußten.

Auch heute saß eine junge Frau auf der Bank am Waldrand. Sie lächelte den Kindern zu.

Benedikt, der rasch Vertrauen zu Fremden faßte, setzte sich ohne zu fragen neben sie und ließ die Beine baumeln.

Annerl baute sich vor der Frau auf und blickte sie scheu an.

»Seid ihr hierhergekommen, um zu spielen?« fragte die Fremde.

Das Madl nickte.

»Ja, wir kommen oft hierher«, erklärte Benedikt betont laut und deutlich, als sei er überzeugt, die Frau neben ihm könne ihn nur schwer verstehen. »Wir spielen Verstecken. Das ist meine Schwester, sie heißt Annerl.«

»Und wie heißt du?«

»Benedikt.« Er blickte die Frau von der Seite an. Würde sie jetzt ihren Namen sagen?

Seine Erwartung wurde erfüllt »Ich heiße Silke«, stellte sie sich vor. »Silke Jentsch. Und ich mache Ferien in Talbrunn. Aber ihr wohnt doch gewiß hier, net wahr?«

»Ja. Dort unten auf dem Hof, da leben wir mit unseren Großeltern.« Annerl wies mit der Hand in die Richtung des Schwalbenhofes.

»Mit euren Großeltern?« wunderte sich Silke Jentsch. »Wo sind denn eure Eltern?«

Die Stimme des Madls zitterte nicht, als es antwortete: »Unsere Mama lebt net mehr, und unser Papa ist nur selten daheim.«

Benedikt hatte nicht zugehört. Er war tief in Gedanken versunken und zog dabei die kleine Bubenstirn kraus. Plötzlich stellte er eine überraschende Frage:

»Wie alt bist du?«

Silke Jentsch drehte sich zu ihm herum. »Meinst du mich?« fragte sie erstaunt.

Er nickte. »Ja, dich mein’ ich. Wie alt bist du?« wiederholte er beharrlich.

»Ich bin vierundzwanzig«, antwortete sie.

»Bist du verheiratet?«

Sie lachte. »Nein, das bin ich noch nicht.«

»Würdest denn heiraten?« Benedikt ließ nicht locker, denn in seinem Köpfchen hatte sich eine Idee festgesetzt, von der er ganz begeistert war.

Die junge Frau hob verwundert die Augenbrauen. »Du hast aber eine ungewöhnlich direkte Art, Leute auszufragen«, meinte sie.

»Aber um dir auch darauf eine Antwort zu geben: Ja, ich würd’ schon irgendwann gern heiraten, wenn ich den richtigen Partner finde.«

Benedikt strahlte. Er sprang auf und stellte seine letzte Frage: »Bist du oft hier auf dieser Bank?«

»Ja, ich komm’ gern hierher. Von hier hat man so einen schönen Blick über das Tal.« Silke Jentsch schmunzelte. Dieser Bub verhielt sich zwar ein wenig eigenartig, aber sie mochte ihn und seine Schwester auf den ersten Blick. Die Kinder hatten so etwas Treuherziges, Liebes, das sie bezauberte.

Als sie davonliefen, drehten sie sich noch einmal um und winkten ihr zu.

Silke Jentsch winkte fröhlich zurück. Sie ahnte nicht, daß sie in Benedikts Zukunftsplänen eine entscheidende Rolle spielte. Aber sie sollte es bald erfahren.

*

Der junge Schwalbenhof-Bauer stand neben dem Großknecht im Stall. Sie unterhielten sich über das Vieh.

»Wir sollten mehr Milchkühe anschaffen«, meinte der Großknecht. »Wir haben genug Wiesen, und für Milch und Butter würden wir einen guten Preis erzielen.«

»Ich weiß«, stimmte Martin Schubert zu. »Aber ich denk’, es ist zuviel für meinen Vater, den Hof noch zu vergrößern.«

Der Großknecht sah ihn von der Seite an. Er sagte nichts, doch seinem Gesicht war anzusehen, was er dachte.

Warum bleibt der Jungbauer net daheim? überlegte Peter. Was muß er irgendwo in einem fremden Land arbeiten, wenn er hier dringend gebraucht wird?

Doch dieses Thema war tabu auf dem Schwalbenhof.

Martin Schubert sprach noch eine Weile mit dem Großknecht, dann ging er zurück ins Haus.

»Wo sind die Kinder?« fragte er seine Mutter.

»Sie werden gewiß bald zurück sein«, meinte sie. »Sie freuen sich ja schon darauf, daß du mit ihnen spielst, wie du es versprochen hast.«

Einige Minuten später polterten Annerl und Benedikt in die Küche. Der Bub hatte eine geheimnisvolle Miene aufgesetzt. Er lief zum Vater hinüber und fragte eifrig: »Kommst du mit uns an den Waldrand? Dort können wir Verstecken spielen.«

»Gut, das können wir machen«, stimmte Martin Schubert zu.

Er wollte gerade mit den Kindern aufbrechen, da kam einer der Knechte aufgeregt in die Küche gelaufen. »Die Kühe auf der oberen Wies’ sind ausgebrochen und laufen nun auf die Landstraße zu. Wir müssen sie so rasch wie möglich einfangen und den Zaun reparieren.«

Sofort sprang der junge Bauer auf und folgte ihm. Über die Schulter rief er den Kindern zu: »Ihr müßt leider noch eine Weile auf mich warten.«

Annerl und Benedikt nickten betreten. Sie waren sehr enttäuscht, aber sie wußten auch, daß auf einem Bauernhof die Arbeit immer vorging. Und wenn die Kühe Schaden anrichteten, dann konnte es bösen Ärger geben. Soviel verstanden die beiden schon.

Martin Schubert kam mit den Knechten erst zum Mittagessen zurück. Bald saßen sie alle um den blankgescheuerten Küchentisch. Die Knechte und Mägde lachten und plauderten, und der Jungbauer beteiligte sich lebhaft an der Unterhaltung.

Nur der Großvater machte ein mürrisches Gesicht. Heute ärgerte er sich, daß er am Tag zuvor allzuviel Bier und Schnaps getrunken hatte. Dieser verflixte Kopf schien bald zu platzen, und der Magen rebellierte immer noch. Selbst der saure Hering hatte nicht geholfen!

Nach dem Mittagessen endlich erfüllte Martin Schubert sein Versprechen und ging mit den Kindern zum Waldrand.

Benedikt erlebte eine große Enttäuschung, denn er hatte insgeheim gehofft, daß Silke Jentsch vielleicht noch droben auf der Bank sitzen würde. Mit langem Gesicht entdeckte er, daß der Platz leer war.

Doch bald hatte er seinen Kummer vergessen. Es machte soviel Spaß, mit dem Vater zu spielen, denn der war lustig und wurde überhaupt nicht müde.

Der Großvater hingegen sagte immer schon nach wenigen Minuten: »Nun spielt mal allein, ihr zwei. Ich hab’ noch zu tun.«

Doch die Kinder wußten, daß er sich dann häufig in der Stube auf die Couch legte… um ein Nickerchen zu machen.

Als Benedikt und Annerl an diesem Abend im Bett lagen, sagte der Vater ihnen Gute Nacht. Heute waren sie todmüde und sie hörten schon nicht mehr das Ende des Märchens, das er ihnen vorlas. Ihnen fielen einfach die Augen zu, und sie waren schon eingeschlafen, als der Vater hinausging.

Der junge Schwalbenhof-Bauer beschloß, noch einen Spaziergang zu machen. Die Luft war mild, lau und voller altbekannter Düfte.

Martin verließ das Haus und strebte gemächlichen Schrittes der Koppel zu, auf der die Pferde standen.

Ganz langsam lief er und schaute zu den majestätischen Berggipfeln hinüber, die sich deutlich vom dunklen Abendhimmel abhoben. Es war windstill, und das Läuten der Kuhglocken von den Almen war bis ins Tal hinunter zu hören.

Ein wehmütiger Zug lag um Martin Schuberts Mund. Wie sehr hatte er sich in den Monaten in der Fremde nach dem Anblick der vertrauten Berge gesehnt, wie sehr hatte er es vermißt, die reine, würzige Luft einzuatmen!

Dort, wo er jetzt arbeitete, herrschte ein ganz anderes Klima, und es war ihm anfangs nicht leichtgefallen, sich daran zu gewöhnen.

Doch das war nicht das schlimmste gewesen. Das Schrecklichste war das Gefühl der Einsamkeit.

»Ach, Susanne, wenn du doch jetzt neben mir gehen würdest«, flüsterte der Mann vor sich hin. »Ich bin so allein und weiß, auch die Kinder vermissen dich. Aber was können wir tun?«

Er schrak zusammen, als in diesem Moment eine dunkle Frauenstimme fast direkt neben ihm erklang.

»Reden Sie immer mit sich selber?«

Martin Schubert wandte sich überrascht zur Seite.

Dort, am Zaun der Koppel, stand eine bildhübsche Fremde, die ihn belustigt anlächelte.

»Nein, nein, selbstverständlich führ’ ich normalerweise keine Selbstgespräche«, meinte er ein wenig verwirrt. »Ich hab’ gar net gemerkt, daß ich laut gesprochen hab’«, fügte er leicht beschämt hinzu.

Die Frau reichte ihm spontan die Hand. »Ich verspreche Ihnen, niemandem davon zu erzählen.«

Martin war jetzt noch mehr durcheinander. Er nahm ihre kühlen, schlanken Finger in die seinen und hielt sie viel zu lange fest.

Erst als die Fremde ihn darauf aufmerksam machte, ließ er sie wieder los – jetzt völlig durcheinander.

Sie schaute zu den Pferden hinüber, die friedlich auf der Weide grasten. »Sind das Ihre Tiere?«

Der junge Schwalbenhof-Bauer nickte.

»Eine wunderschöne Stute«, sagte die Frau anerkennend und wies mit der Hand auf ein Pferd, auf das er immer besonders stolz gewesen war.

»Sie verstehen etwas von Pferden.« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.

»Ja, das tue ich«, gab sie lächelnd zu. »Ich bin eine begeisterte Reiterin.« Sie seufzte. »Nur kann ich mir leider in der Stadt kein Pferd halten.«

»Hätten Sie net Lust, mit mir morgen einmal auszureiten?« fragte Martin spontan.

Sie schaute ihn aus großen, dunklen Augen an und antwortete langsam: »Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen.«

Ihre offen gezeigte Freude tat Martin gut und wärmte sein Herz.

Er wunderte sich ein wenig über sich selber, denn gewöhnlich war er kein Mann, der rasch mit einem fremden Menschen vertraut wurde. Wenn er mit dieser Frau ausritt, dann würden sie sich selbstverständlich näher kennenlernen.

Aber wünschte er sich das nicht auch?

Was für eine dumme Idee, überlegte er. Ich bin doch niemals ein Träumer gewesen. Und jetzt – nachdem ich ein paar Worte mit einer schönen Frau gesprochen habe – stelle ich mir schon Dinge vor, die doch niemals Wirklichkeit werden!

»Soll ich morgen wieder hierherkommen?« fragte die Frau jetzt.

Er nickte und schlug eine Zeit vor.

Sie war einverstanden und reichte ihm noch einmal die Hand, bevor sie mit raschen Schritten davonging.

Der junge Schwalbenhof-Bauer blieb minutenlang an den Zaun gelehnt stehen und blickte ihr nach.

Wie graziös ihr Gang war!

Das Herz des jungen Mannes klopfte plötzlich rascher. Die Stunden, bis er die schöne Fremde endlich wiedersah, würden ihm lang werden, das wußte er jetzt schon.

Und ihm fiel plötzlich ein, daß er sie gar nicht nach ihrem Namen gefragt hatte.

Er schüttelte über sich selber verärgert den Kopf. »Kaum seh’ ich ein hübsches Madl, da vergeß ich alles andere!«

*

Am nächsten Morgen gleich nach dem Frühstück verließen die Kinder das Haus. Jetzt, da Annerl Ferien hatte, wollten sie jede Minute Freiheit dazu benutzen, um gemeinsam zu spielen und draußen herumzutoben.

Ohne daß sie es miteinander abgesprochen hatten, liefen Annerl und Benedikt dem Waldrand zu. Und ihre Hoffnung erfüllte sich. Auch heute saß Silke Jentsch wieder auf der Bank. Lächelnd schaute sie den Kindern entgegen.

»Guten Morgen, ihr zwei.«

Beni runzelte die Stirn. »Bei uns heißt es Grüß Gott«, erklärte er gewichtig.

Die junge Frau schmunzelte. »Gut, wenn du es möchtest, dann sage ich Grüß Gott. Bist du jetzt zufrieden?«

Der Bub nickte eifrig und starrte sie unverwandt an. Unter seinem bohrenden Blick begann die junge Frau sich unbehaglich zu fühlen.

Was überlegt dieser Bub jetzt, fragte sie sich. Irgend etwas geht ihm durch den Kopf, das kann ich sehen. Wenn ich nur wüßte, was es ist!

Doch Benedikt hatte nicht vor, seine Gedanken laut zu verkünden. Er erinnerte sich an das, was er an diesem Morgen noch vor dem Frühstück mit seiner Schwester besprochen hatte. Annerl hatte ihn davor gewarnt, gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. Und außerdem mußten sie sich diese Silke auch erst einmal etwas genauer ansehen. Annerl hatte recht. Schließlich kannten sie sie überhaupt nicht und wußten deshalb auch nicht, ob sie wirklich so nett und lieb war, wie sie ausschaute.

Doch so leicht ließ der Bub sich von einem einmal gefaßten Vorhaben nicht abbringen. Er fragte die junge Frau, ob sie mit ihnen spielen wolle.

Silke Jentsch zögerte einen Moment, dann stimmte sie zu.

Annerl, die bis jetzt erst wenige Worte gesagt hatte, schlug vor, miteinander Verstecken zu spielen.

Die nächste Stunde verlief lustig und verging wie im Flug. Silke Jentsch verstand es, auf die kindlichen Bedürfnisse einzugehen, und die Kinder faßten immer mehr Vertrauen zu ihr. Immer wieder tönte lautes Lachen durch den sonst so stillen Wald.

Später unterhielten die drei sich noch ein Weilchen, und Beni hörte interessiert zu, als die junge Frau von ihrem Leben in der Stadt erzählte.

Er bedauerte sie ein bisserl, daß sie nicht wie er und seine Familie auf dem Land leben konnte.

»Ist es net viel schöner hier bei uns?« fragte er treuherzig. Silke nickte. »Gewiß ist es schöner hier, und deshalb verbring’ ich ja auch meinen Urlaub in Talbrunn.«

»Bleibst du noch lange?« wollte Annerl wissen.

»Ja, noch vier Wochen«, antwortete Silke Jentsch lächelnd.

Spontan bat Benedikt: »Magst net einmal auf unseren Hof kommen und unsere Großeltern und den Vater besuchen?«

»Hm, ich weiß nicht so recht.« Die junge Frau war unsicher. Schließlich wußte sie nicht, ob sie auf dem Schwalbenhof willkommen war.

Annerl und Benedikt aber verstanden ihre Bedenken nicht. »Unser Vater freut sich gewiß, wenn du zu uns kommst«, behaupteten sie einstimmig.

Der drängende Tonfall machte die junge Frau stutzig. Wieder hatte sie das Gefühl, hinter dieser Bitte stecke ein besonderer Grund, den sie jedoch noch nicht entschlüsseln konnte.

Benedikt begann von seinen Spielsachen zu erzählen und hoffte so, seine neugewonnene Freundin davon zu überzeugen, daß es sich lohnte, auf den Schwalbenhof zu kommen.

Annerl glaubte die Erwachsenen besser zu kennen. Sie wußte, daß sie an anderen Sachen Interesse hatten, und so erzählte sie von den Pferden auf dem Hof.

Silke Jentsch’s Augen leuchteten auf. Sie war eine passionierte Reiterin, doch in der Stadt hatte sie nur selten Gelegenheit, diesen Sport auszuüben. Das erzählte sie nun auch den Kindern.

Das Läuten der Kirchturmglocken aus dem Dorf zeigte die Mittagsstunde an. Die Kinder fuhren erschrocken zusammen.

»Au weia«, rief der Bub. »Wir müssen sofort heim. Die Oma hat das Mittagessen schon gekocht, und sie schimpft allweil, wenn wir net pünktlich sind.«

Eilig liefen sie den Berghang hinunter. Silke Jentsch blieb auf der Bank sitzen und winkte ihnen nach. Ein gedankenvoller Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht, als die Kinder sie nicht sehen konnten.

Beim gemeinsamen Mittagessen konnte Benedikt sich nicht enthalten, mit seinen Neuigkeiten herauszuplatzen.

»Was sagst du da?« Der Kopf des Vaters fuhr ruckartig hoch. »Du hast eine junge Frau kennengelernt, die gern reitet?«

»Ja, Papa«, sprudelte der Bub begeistert hervor. »Sie heißt Silke Jentsch, und sie ist furchtbar nett.«

»Soooo«, meinte Martin Schubert gedehnt. »Du findest sie also nett.«

»Ja, sie ist sehr nett«, bestätigten die Kinder wie aus einem Mund.

Der junge Schwalbenhof-Bauer schmunzelte. »Dann kann ich euch ja eine erfreuliche Mitteilung machen«, erklärte er, »ich bin heute nachmittag mit dieser jungen Dame verabredet, und wir werden gemeinsam ausreiten.«

Benedikts Mund blieb vor Überraschung offen stehen, und Annerls Augen wurden kreisrund. Mei, was war der Papa doch für ein Geheimniskrämer!

Die Großeltern hörten interessiert zu, als ihr Sohn von seiner kurzen Begegnung mit der Urlauberin erzählte.

Maria Schubert machte bei seinen Worten ein bedenkliches Gesicht. Doch ihr Mann fuhr sich zufrieden mit der Zungenspitze über die Lippen, als der Sohn erzählte, wie hübsch und sympathisch er die junge Frau fand. Simon Schubert war gespannt darauf, diese Silke Jentsch kennenzulernen.

Nach dem Mittagessen blieben Annerl und Benedikt ständig in der Nähe des Vaters, so neugierig waren sie darauf, das Zusammentreffen zwischen ihm und der jungen Frau mitzuerleben.

Dem Vater paßte die Neugier seiner Kinder eigentlich nicht, doch er wollte die beiden nicht kränken, und so ließ er sie gewähren.

Schließlich war es ja verständlich, daß Annerl und Benedikt alles aus nächster Nähe sehen wollten. Obwohl dadurch natürlich dem Treffen mit der fremden Frau eine Bedeutung beigemessen wurde, die ihm eigentlich nicht zukam.

Der junge Schwalbenhof-Bauer wunderte sich über seine eigene Ungeduld. Was war nur mit ihm los? Seit dem vergangenen Abend dachte er fast unentwegt an diese Frau, mit er nur ein paar Worte gewechselt hatte und deren Namen er erst jetzt aus dem Mund seiner Kinder erfahren hatte.

Silke Jentsch hieß sie also. Ein hübscher Name, überlegte Martin und schalt sich im selben Augenblick selbst einen Narren.

Doch er konnte es nicht vermeiden, daß sein Herz heftig klopfte, als er am Nachmittag zu der Pferdekoppel ging, bei der er sich mit der jungen Frau verabredet hatte.

Benedikt und Annerl folgten ihm mit einigem Abstand.

Eine junge Frau kam ihnen mit graziösen Schritten entgegen, und bei ihrem Anblick erschien ein Lächeln auf dem Gesicht des jungen Schwalbenhof-Bauern.

Die Kinder blieben wie erstarrt stehen und beobachteten, daß der Vater auf die Fremde zuging.

»Grüß Gott, Frau Jentsch«, meinte er augenzwinkernd und drehte sich dann halb zu Annerl und Benedikt herum, die wie angewurzelt dastanden und die Frau sprachlos anschauten.

»Von meinen Kindern habe ich Ihren Namen erfahren«, fuhr Martin Schubert lächelnd fort.

Erst nach Sekunden spürte er, daß irgend etwas nicht stimmte.

Sein Lächeln erlosch. Er wollte gerade etwas sagen, da erklärte die junge Frau mit einem leisen Lachen, das tief in ihrer Kehle zu sitzen schien: »Sie müssen sich irren. Ich heiße nicht Silke Jentsch, mein Name ist Marion Feldhaus. Die Bekanntschaft Ihrer reizenden Kinder habe ich leider noch nicht gemacht. Hier muß ein Mißverständnis vorliegen.«

*

Nach einigen Minuten war das Mißverständnis aufgeklärt. Marion Feldhaus war überhaupt nicht ärgerlich über die Verwechslung. Sie lachte amüsiert, und Martin betrachtete bewundernd ihr hübsches Gesicht.

Die leicht schrägstehenden Augen, deren Iris in einem seltenen grün-goldenen Ton leuchtete, verliehen ihrem interessant geschnittenen Gesicht einen fremdländischen Ausdruck, der von den hohen Jochbögen noch unterstrichen wurde.

Die vollen Lippen verrieten Sinnlichkeit, und jeder Mann, der Marion anschaute, empfand unwillkürlich den Wunsch, diesen roten, verlockenden Mund zu küssen.

Auch Martin erging es nicht anders. Es kostete ihn einige Beherrschung, sich seine Gefühle nicht anmerken zu lassen. Doch einem aufmerksamen Beobachter wäre nicht entgangen, wie fasziniert er von Marion war.

Annerl und Benedikt standen schweigend neben den Erwachsenen. Sie waren enttäuscht, obwohl sie sich eigentlich nicht erklären konnten, warum.

Die junge Frau benahm sich ihnen gegenüber sehr freundlich. Doch Benedikt, der sonst rasch Vertrauen zu anderen Menschen faßte, war diesmal merkwürdig zurückhaltend.

Der junge Schwalbenhof-Bauer schickte seine Kinder schließlich ins Haus. »Geht, laß euch von der Oma ein Schmankerl geben. Ich werd’ derweil mit Frau Feldhaus ausreiten.«

Die zwei nickten stumm, faßten einander an den Händen und liefen, ohne sich noch einmal umzudrehen, über die Wiese zum Hintereingang des Bauernhauses.

Martin winkte einem Knecht. Der führte die Stute, die Marion Feldhaus am Tag zuvor so sehr bewundert hatte, zum Stall, während der junge Bauer seinen Hengst, den er immer ritt, wenn er daheim war, mit einem Zuckerstück zu sich heranlockte.

Die Pferde wurden gesattelt. Geschmeidig und mit ungewöhnlicher Grazie schwang sich Marion in den Sattel.